Читать книгу Götter, Gipfel und Gefahr - Christina Hupfer - Страница 6

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Die Tische auf der Terrasse vor dem dunklen, samtenen Abendhimmel wurden durch dutzende Kerzenstummel beleuchtet. Ein köstlicher Geruch wehte aus der Küche herüber, in einfachen Gläsern leuchtete rot der Wein und aus der Ferne grüssten die glitzernden Lichter der großen Hafenstadt.

Normalerweise hätte ich das alles und auch das kurzweilige Gespräch sehr genossen. Wir, das hieß in diesem Moment nur Sylvie und Jonas, hatten ja viel zu erzählen und auch Mark – so hieß der Rübezahl, aus dessen Gesichtsbehaarung ein paar vergnügte blaue Augen blickten – hatte einiges zum Gespräch beizutragen, so dass es nicht auffiel, dass ich ziemlich wortkarg dabei saß. Aber so verschwand ich nach der Bestellung erst mal auf der Toilette.

„Ich muss mal – ich glaube, ich habe heute irgendetwas Komisches erwischt”, sagte ich und dachte: Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, was! Dort saß ich erst mal fünf Minuten – hier hatten sie immerhin eine normale und auch sehr saubere Toilettenschüssel, Standard schwäbische Hausfrau – und sortierte meine Gedanken.

Erstens: Riki hatte definitiv nichts Gestohlenes dabei. Aus diesem Grund wurde er also sicher nicht gesucht.

Zweitens: Ich habe ihn schließlich nicht entführt. Ich habe ihm nur geholfen.

Drittens: Ich fühlte mich, obwohl ich nach gegenteiligen Argumenten suchte, für ihn verantwortlich.

Viertens: Ich wusste eigentlich genau, was man eigentlich tun müsste und was Jonas ganz bestimmt tun würde, wenn ich ihn einweihte: Den nächsten Polizeiposten aufsuchen und Riki den Beamten dort anzuvertrauen. Aber der nächste Polizeiposten wäre wahrscheinlich in Patras...

Fünftens: Ich werde nachher nochmals einen Toilettengang vorschützen und den Onkel anrufen. Und dann werde ich weitersehen.

„Geht es wieder?”, fragte mich Sylvie mitleidig, als sie sah, wie ich mir demonstrativ den Bauch hielt, als ich zurückkam.

„Wird schon werden.” Es war mir gar nicht recht, sie so anzulügen. „Es zwickt nur noch ein wenig.”

Ich setzte mich und griff nach dem herrlich kühlen, milchigen Ouzo. „Der wird mir schon helfen.”

„Ich habe Mark gerade von deiner Beobachtung heute Mittag im Hafen erzählt.

„Oh, ja?”, fast hätte ich mich verschluckt. „Das war wirklich sehr seltsam.”

„Das wird einer von diesen illegal Reisenden gewesen sein”, meinte Mark. „Diese Menschen, die sich später ohne Papiere in Länden wie Italien, Deutschland oder wo auch immer aufhalten, sind ein richtiges Problem geworden. Da sie keine Papiere und Aufenthaltsgenehmigungen haben, können sie nirgends eine reguläre Arbeit bekommen. So sind sie dazu verdammt, sich im Untergrund durchzuschlagen. Wobei illegale Beschäftigung, Diebstahl und Einbrüche noch die kleineren Probleme sind. Die Behörden sind hier also sehr kitzlig”, erklärte er und schaute uns warnend an. „Seid bitte vorsichtig, wenn Ihr morgen auf die Fähre geht, und schaut, dass sich niemand in euren Wohnwagen oder euer Auto hineinschleicht. Das auswärtige Amt warnt sogar davor, dass man nicht mal auf den Parkplätzen vor der Hafenzufahrt pausieren soll.”

„Davon haben wir auch schon gehört. Aber dieser Junge hat sich doch erst, nachdem er aus einem Wagen entwischt ist, versteckt.” Ich war überzeugt, mein Herzklopfen würde gerade die Bouzuki-Musik im Hintergrund übertönen.

„Vielleicht hatte man ihn schon mal aufgegriffen und er ist ihnen wieder entkommen”, vermutete Jonas.

Einen Moment lang stolperte mein Herz eine ellenlange Treppe hinunter. War ich vielleicht auf einen Trick reingefallen? Aber nein – die Verfolger hatten doch behauptet, er hätte gestohlen...

„... wie ich in einem Dorf fast im Gefängnis gelandet wäre. Und das nur, weil ich meinen Ausweis nicht gleich gefunden habe”, hörte ich, als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, Mark erzählen. Ein Schauder überlief mich kalt. Das Thema passte.

„Und, wie bist Du dann mit den griechischen Behörden zurechtgekommen?”, fragte ich betont beiläufig und so gut ich das mit meinem ausgetrockneten Mund vermochte.

„Diese Erfahrung möchtest Du nicht wirklich machen. Man darf zwar aus meinen Erlebnissen nicht auf alle schließen, aber ich war froh, dass ich ausreichend Griechisch kann. Ich hatte mich schon darauf eingerichtet, das Wochenende in einer sehr hässlichen Zelle mit einem noch hässlicheren Zerberus vor der Tür zu verbringen. Dass er wegen mir dableiben musste, hat auch nicht gerade zur Besserung seiner Laune beigetragen. Aber ich konnte niemanden erreichen, der mich identifizieren konnte. Nicht mal die deutsche Botschaft konnte mir so kurzfristig helfen.” Er lachte. „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie froh ich war, als mein Gastwirt, bei dem ich mich zwecks Tiefenreinigung, was ja so alle paar Tage nötig ist, einquartiert hatte, mit meinem Ausweis wedelnd in der Wachstube erschien. Er war beim Bettenmachen wieder aufgetaucht. Allerdings hatte ich nicht den gleichen frohen Ausdruck im Gesicht meines Wächters entdeckt. Der hätte mich wohl noch zu gerne ein Weilchen in seinen Fängen behalten – trotz Wochenende.“

„Dieses Dörfchen hast Du dann sicher gleich abgehakt?”, meinte Jonas.

„Nein, ganz im Gegenteil.” Er lächelte bei der Erinnerung. „Die Wirtsleute haben mich zur Wiedergutmachung fast mit einem ganzen Lamm vollgestopft und auch sonst mit allem, was die Küche hergab. Und den ganzen Abend hat die Geschichte die Runde in der Taverne gemacht, wir haben gelacht, gesungen und getanzt. Es war eines der schönsten Erlebnisse meiner Reise. Auch sonst habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Ich liebe Griechenland.”

„Ja, es ist wunderbar hier.” Ich seufzte. „Ich überlege ernsthaft, ob ich nicht noch eine Woche bleiben soll.”

„Das könntest Du doch”, zwinkerte mir Sylvie zu. „Wir haben das ja schon mal angedacht.”

Die blauen Augen lächelten mich an „Dann könnten wir uns ja noch mal sehen. Ich bleibe hier auch noch ein paar Tage.”

Das wurde ja immer komplizierter.

„Ich glaube, ich muss noch einmal...”, flüsterte ich Sylvie zu. „Ich hole nur schnell ein paar Feuchttücher aus dem Zelt.”

„Aber beeile Dich, ich glaube, das Essen kommt gleich.”

„Ich versuche es, aber ich habe sowieso keinen

Hunger.”

Und ich stürzte davon. Sie mussten annehmen, ich hätte mir ernsthaft den Magen verdorben.

Der wirkliche Grund für meine Appetitlosigkeit schlief immer noch, als ich schnell ins Zelt schlüpfte, das Handy aus dem Ladegerät zog und in unserem „Comic” nach der Nummer des Onkels, Leon Berisha, suchte. Laut Riki verstand der Onkel sowohl Deutsch als auch Englisch.

In der Hektik vertippte ich mich natürlich ein paar Mal, bis die Nummer vollends im Display erschien. Dann wartete ich eine Ewigkeit, bis endlich eine Mailbox ansprang: „This number is not available at present .../ Der Ansprechpartner ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. Sie werden zurückgerufen.”

Na toll. Diese Ansagen ohne Angabe eines Namens habe ich immer schon gehasst.

„Hallo, falls Sie der Onkel von Lorik Berisha sind, hier ist Carola Müller. Ihr Neffe befindet sich im Moment bei mir und braucht dringend Ihre Hilfe. Bitte rufen sie mich an.” Zur Sicherheit wiederholte ich das Ganze in Englisch. Von hinten zupfte mich etwas ganz leicht am Kleid.

„Mein Onkel?”, fragte Riki aufgeregt.

„Ja, mein Junge”, nickte ich. „Aber er ist nicht da. Er ruft zurück – morgen.” Hoffte ich wenigstens.

Dann wählte ich noch mal.

„Hallo, hier nochmals Carola Müller. Ich schalte jetzt das Handy aus. Sprechen Sie mir bitte auf die Mailbox, wie ich Sie am besten erreichen kann.”

Ich wollte nicht riskieren, dass das Ding zur Unzeit bimmelte.

Anschließend bedeutete ich Riki, dass ich nochmals wegmusste und dass er wieder schlafen sollte. Einigermaßen entspannt verbrachte ich den restlichen Abend und ließ dabei auch noch ein paar Loukanikos, die feinen mit Fenchel und Orangen gewürzten Bratwürste, in meine Tasche gleiten. Mein Plan, meinen Urlaub nun doch eine Woche zu verlängern und morgen früh für den kommenden Samstag einen Flug zu buchen, nahm dabei immer genauere Konturen an. So hätte ich auf jeden Fall Zeit genug, dieses Kind an seinen Onkel zu übergeben. Ein rascher Blick aufs Handy beim nächsten Toilettenbesuch zeigte mir allerdings leider ein immer noch leeres Postfach.

Dank meiner „Unpässlichkeit” konnte ich mich relativ früh verabschieden. Ich saß noch ein Weilchen vor meinem Zelt, hörte das leise Atmen des wieder schlafenden Jungen, der mich zuvor mit offenen, ängstlich fragenden Augen erwartet hatte, schaute zwischen den Bäumen hinaus aufs Meer (auf die Flächen, die nicht von Caravans, Zelten und dicht behängten Wäscheleinen verborgen wurden) und kontrollierte immer wieder mein Postfach. Vergeblich.

Irgendwann schnappte ich mir meine Handtücher, Rikis Hose und ein Waschmittel – das Shirt wanderte gleich in den Müll – und ging zum Waschhaus.

Götter, Gipfel und Gefahr

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