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Kapitel 4

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Das Hinterzimmer, in dem sie sich trafen, war dunkel und kalt. Es roch nach feuchtem Schimmel und Rattenkot und der einzige Luftzug, der hereinkam, drang durch den kaum sichtbaren Schlitz unter der morschen Holztür hindurch. Nebenan, im Hauptraum, war alles still. Die letzten Gäste waren schon lange fort.

„Bist du sicher, dass niemand dich gesehen hat?“ flüsterte eine Stimme aus einer Ecke, nachdem sich die Tür zum zweiten Mal an diesem Abend geöffnet und wieder geschlossen hatte.

„Niemand. Ich habe die Straße eine ganze Stunde beobachtet, bevor ich herkam.“ Der zweite Besucher setzte sich unaufgefordert an den wackeligen Holztisch. Er hätte gern eine Kerze angezündet, um seinem Gegenüber in die Augen zu sehen, doch obwohl die Kammer keine Fenster hatte, wollten sie kein Risiko eingehen.

„Du hast davon gehört?“ fragte der Erste.

„Dass Wandan nach Semon-Sey gerufen wurde? Ja, das habe ich. Sie hat es heute in der Versammlung angeordnet.“

„Er könnte uns Schwierigkeiten machen.“

„Dieser verrückte, alte Kauz? Den nimmt doch niemand ernst. Und er weiß auch nichts.“

„Unterschätze ihn nicht. Und zumindest die Shaj wird ihn ernst nehmen.“

„Lennys? Wie ich höre, hat ihr Befehl keine Begeisterung hervorgerufen.“

„Nein, aber auch keinen ernsthaften Widerspruch. Wir sollten Wandan im Auge behalten. Ich gebe mich nicht mit Gerüchten über seinen Geisteszustand zufrieden, solange ich mich nicht selbst davon überzeugt habe. Und selbst dann wäre ich mir nicht sicher, ob er nicht vielleicht allen etwas vorspielt.“

Der zweite Mann wirkte milde beunruhigt. „Ich werde mich darum kümmern, dass uns nichts verborgen bleibt. Du kannst dich darauf verlassen.“

Plötzlich klang die Stimme des Ersten sehr bedrohlich.

„Ich habe gesehen, dass ich genau das nicht kann.“

„Was meinst du damit?“

„Du scheinst längst nicht so sorgfältig zu arbeiten, wie ich es von dir erwartet hätte. Oder wie erklärst du sonst, dass eine Rechnung über eine besonders große Pergamentbestellung, die zudem noch mit zweieinhalb Deben Gold bezahlt wurde, in Lennys' Hände gerät?“

Der Zweite erstarrte. „Sie kann gar nicht wissen, dass dieser Handel....“

„Da irrst du dich. Und Lennys hat bereits Ermittlungen eingeleitet. Sie traut der Sache nicht. Und ich frage mich natürlich, wie sie überhaupt davon erfahren konnte....“

„Ich... ich habe wirklich keine Erklärung...“

„Ach nein? Dann solltest du dich sehr schnell darum bemühen, eine zu finden, bevor die Shaj es tut. Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass eine Aufzeichnung über diese Lieferung angefertigt wurde? In der auch noch die Bezahlung in Gold erwähnt wurde! Und damit nicht genug, wie konnte diese Notiz in die Unterlagen geraten, die der Shaj vorgelegt wurden?“

„Vielleicht hat der Händler, der die Pergamente transportiert hat...“

„Es ist mir egal, wer dafür verantwortlich ist!“ unterbrach ihn der Erste zischend. „Viel wichtiger ist es, dass wir alles beseitigen, was den Verdacht auf uns oder auf die Rollen an sich lenken könnte! Lass dir etwas einfallen! Wir müssen dafür sorgen, dass Lennys eine Erklärung für diese Rechnung erhält, mit der sie sich auch zufriedengibt. Und wir sollten ganz nebenbei noch andere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen...“

„Worauf willst du hinaus?“

„Ist dir das nicht klar? Sie ruft Wandan zurück. Sie erfährt von den Pergamenten und dem Gold. Sie beruft Leute in den Rat, die dort nichts verloren haben. Aber das ist noch längst nicht alles. Sie ist lebend aus Iandals Burg gekommen. Sie hat Cycalas verlassen, um diesen Todesfällen auf den Grund zu gehen. Und sie hat sogar Sagun überlebt und den Ritualspruch gebannt! Was muss eigentlich noch geschehen, damit du endlich einsiehst, dass sie eine ernsthafte Gefahr darstellt?“

„Aber …. aber wir waren uns doch einig, dass wir nichts gegen sie unternehmen könn....“

„Wir waren uns einig, dass es unklug wäre, sie anzugreifen, solange sie unsere Pläne nicht direkt durchkreuzt. Und im Augenblick ist sie im Begriff, genau das zu tun!“

„Aber... du willst doch nicht etwa...“

„Ich habe genug von ihrem Starrsinn und ihrer Unberechenbarkeit. Wir müssen dafür sorgen, dass sie uns nicht mehr in die Quere kommt!“

Der Zweite wurde leichenblass. „Du... du willst die Shaj... töten?“

Der Erste lachte grimmig. „Nur, wenn es nötig ist. Es wäre zu auffällig. Aber wir könnten dafür sorgen, dass sie... für eine Weile.. aus dem Verkehr gezogen wird. Dass sie handlungsunfähig ist, bis wir unsere Angelegenheiten geregelt haben.“

„Aber.... wie?“

„Nun, das lass meine Sorge sein. Wie du weißt, bin ich Spezialist, wenn es um kleinere und größere Unfälle geht. Unfälle, die niemand mit mir oder dir in Verbindung bringen wird....“

Als der zweite Besucher bald darauf die finstere Kammer verließ, schlug ihm sein Herz bis zum Hals. Der Mutigste war er nie gewesen. Und er war froh, dass sein Gesprächspartner ihn nicht so genau in seine Pläne einweihte.

Sara hatte sich tief über den Stapel Briefe gebeugt, der bislang nur grob sortiert worden war und sie hatte Mühe, im flackernden Schein des Kaminfeuers die zum Teil recht unleserliche Schrift zu entziffern. Dennoch genoss sie den Moment. Hier direkt vor dem Kamin war es herrlich warm, sie kam mit ihrer Arbeit gut voran und neben dem Prasseln der Flammen war Lennys' gleichmäßiger Atem das einzige Geräusch.

Die Shaj war auf ihrem Lehnstuhl eingeschlafen, obwohl die Nacht nicht einmal zur Hälfte vorüber war. Es mochte an den zwei Flaschen Sijak liegen, die sie seit dem Mittag geleert hatte oder auch an den Anstrengungen der letzten Tage und Wochen, dass sie jetzt nicht, wie sonst, mehrere Nächte durchwachte. Sara hatte beschlossen, die Sendschreiben auf jeden Fall noch vollständig durchzuarbeiten, bevor sie sich selbst ein wenig Ruhe gönnte, zumal sie inzwischen einen Blick dafür entwickelt hatte, welchen Briefen und Passagen sie besondere Bedeutung beimessen musste. Lennys hatte ihr genau eingeschärft, was in den Zusammenfassungen berücksichtigt werden sollte, doch Sara hatte sich heimlich noch weitere Notizen gemacht. Zuerst nur Randbemerkungen, später sogar kurze Abschriften und Kommentare auf einem eigenen Bogen. Vielleicht irrte sie sich und ihre Beobachtungen waren bedeutungslos. Dann konnte sie diese Blätter schnell verschwinden lassen. Und wenn nicht... Daran mochte sie gar nicht denken. Doch es war jetzt wichtig, nicht überstürzt zu handeln oder leichtsinnig zu werden. Sorgfältig las sie auch noch die restlichen Schreiben durch, notierte hier und da die relevantesten Stellen, sortierte die Bögen dann auf die richtigen Stapel. Bis zum Morgengrauen würde es noch eine Weile dauern... Zeit genug, um doch noch ein wenig Schlaf nachzuholen. Sie stand auf und betrachtete unschlüssig ihre Herrin. Sollte sie sie wecken? Oder einfach gehen, ohne etwas zu sagen? Beides erschien ihr nicht gerade höflich. Sie sah sich um. Hinten in der Ecke mit den Sitzpolstern lag eine zusammengelegte Wolldecke.

'Ich kann ebenso gut hier vor dem Kamin schlafen.' dachte sie. Doch gerade, als sie die Decke auseinanderfalten wollte, ließ Lennys' Stimme sie zusammenzucken.

„Warum hast du mich nicht geweckt?“

„Weil... weil ich es für wichtig halte, dass ihr schlaft. Und weil ich gut vorangekommen bin.“

„Hast du noch etwas herausgefunden?“ Ihre Worte klangen ein wenig schwer.

„Vieles und doch nichts. Ich habe euch alles zusammengeschrieben und auch noch eigene Notizen gemacht. Vielleicht sind sie irgendwann einmal wichtig.“

Lennys dachte nicht weiter darüber nach.

„Du kannst in dein Zimmer gehen. Hattest du vor, hier zu schlafen?“

„Ich hielt es für das Beste. Ich wollte euch weder wecken noch wollte ich ohne eure Erlaubnis gehen.“

„Dann merke dir, dass du jederzeit gehen kannst, wenn du müde bist. Ich werde es dich wissen lassen, wenn ich diese Erlaubnis zurückziehe.“

„Danke...“

Lennys stand auf, hielt sich aber gleich darauf an der Lehne ihres Stuhls fest. Die Wirkung des Sijaks war noch längst nicht verflogen. Sie rieb sich den Nacken.

„Ich könnte euch massieren.“ bot Sara an.

„Wie bitte?“

„Ihr ward die halbe Nacht nahezu unbeweglich auf diesem Stuhl gesessen. Ihr seid sicher völlig verspannt. Selbst wenn ihr jetzt bis zum Morgengrauen schlaft, werdet ihr euch so nicht ausgeruht fühlen.“

„Das könnte auch andere Gründe haben.“ meinte Lennys sarkastisch und nickte zu den beiden leeren Flaschen. Sara konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es kam selten vor, dass Lennys so etwas wie einen Anflug von Humor erkennen ließ.

„Nun ja, aber dann wüsstet ihr in ein paar Stunden zumindest, dass eure Kopfschmerzen nicht von einer verhärteten Muskulatur kommen.“

Lennys' Mundwinkel zuckten, als wolle auch sie lächeln. Für eine Sekunde verwandelte sich ihr sonst so ernste und abweisende Miene in einen freundlichen und anziehenden Gesichtsausdruck, doch der Moment war sofort wieder vorüber.

„Du darfst nicht in die oberen Zimmer. Nachts ist es nicht einmal den Burgdienern erlaubt, dort zu sein.“

„Ich weiß...“ gab Sara zu. „Aber ihr dürft überall hingehen.“

Lennys' schwarzes Gewand hing über einer Stuhllehne und ihr silberner Stirnreif lag auf dem Tisch. Ein Strahl Mondlicht, der durchs Fenster fiel, spiegelte sich darin und malte leuchtende Muster auf die weißen Seidenlaken. Auf einem schmalen Sims an der Wand flackerte eine Kerze und der schwache Duft von Rosenöl wehte durch das Zimmer.

Sara hatte Mühe gehabt, ihren Blick von Lennys abzuwenden, als diese die Kleider abstreifte. Die helle glatte Haut hatte wie Samt im Kerzenschein geschimmert und ihre Aufmerksamkeit weit mehr angezogen als die schwarzglänzende Wäsche, die Lennys unter dem Gewand trug. Besonders aufgefallen war ihr aber die Lederbandage um Lennys' rechten Oberschenkel, an der ein zierlicher Dolch befestigt war. Auch wenn die Shaj ihre Sichel abgelegt hatte, auf diese letzte Waffe wollte sie nicht verzichten.

Ohne auch nur ein weiteres Wort zu sprechen, hatte Lennys sich auf Saras Bett in dem kleinen Dienstbotenzimmer gelegt und kaum hatte die Novizin mit ihren warmen Händen ihre Schultern berührt, hatte die Kriegerin die Augen geschlossen.

Mit geschickten Bewegungen begann Sara, die Muskeln ihrer Herrin zu lockern.

„Von dir könnten einige meiner Diener noch etwas lernen...“ murmelte Lennys schläfrig und mit recht schwerer Zunge.

„Und ich sicher von ihnen.“ antwortete Sara leise.

„Du weißt, dass sie das jetzt nicht gern sehen würden.“

„Es sei denn, sie könnten an meiner Stelle hier sein...“

„Glaubst du, das würden sie gern...?“

„Einige sicher. Vielleicht die meisten.“ Saras Hände strichen nun etwas sanfter über die Haut. Hier und da verblassten die letzten Spuren, die die Tage im Verlassenen Land hinterlassen hatten. Peitschenstriemen, Blutergüsse.

„Darf ich?“ fragte Sara vorsichtig und zog sachte an dem Band, das die Corsage hinten zusammenhielt.

„Die meisten von ihnen taugen schon kaum zum Küchendienst...“ erwiderte Lennys, ohne zu antworten. Als Sara das Band langsam löste, zuckte sie kurz zusammen, entspannte sich aber gleich darauf wieder.

„Sie sind vielleicht nur nervös in eurer Nähe...“

„Das bin ich gewöhnt. Du warst anfangs nicht anders.“

„Es hat sich bis jetzt nicht geändert...“

„Dann hast du gelernt, es gut zu verbergen.“

„Ich habe vieles gelernt. Aber nicht genug...“

„Nicht genug für wen?“

„Für euch. Und für mich....“

„Deine Erwartungen an dich.... sind vielleicht höher als meine...“

Sara sagte nichts, sondern versuchte, sich ganz auf die Massage zu konzentrieren. Es fiel ihr nicht leicht. Wie von selbst glitt ihre rechte Hand über Lennys' Hüfte hinab und berührte sachte die Lederbandage. Sofort wirbelte Lennys herum und packte Saras Handgelenk.

„Nein.“ zischte sie schlicht.

„Verzeihung... das war keine...Absicht.“

Nur langsam ließ Lennys den Arm der Novizin wieder los.

„Ich weiß.“ Zu Saras großem Erstaunen ließ sie sich wieder zurück sinken und drehte sich erneut auf den Bauch.

„Mach weiter...“

Immer noch etwas verlegen begann Sara wieder die Schultern zu massieren, doch als sie merkte, dass Lennys' Atem wieder gleichmäßig und ruhig wurde, verminderte sie erneut den Druck.

„Eigentlich solltest du schlafen...“ murmelte Lennys.

„Und eigentlich solltet ihr euch deshalb keine Gedanken machen...“

„Es kann gefährlich sein, wenn man gedankenlos wird...“

Sara erschauerte. Plötzlich sah sie sich selbst wieder, wie sie mit Lennys in der Nacht des Erntefestes allein auf der Waldlichtung stand. Dachte an Tibanai, die morgens am Rand von Fangmor gewartet hatte. Es wäre so leicht, die Vernunft einfach auszuschalten und das Risiko einer Verbannung in Kauf zu nehmen. So leicht.

'Gefährlich, wenn man gedankenlos wird...'

Wie gefährlich? Sie spürte, dass es in diesem Moment nicht Lennys war, die das Geschehen kontrollierte. Sie selbst, Sara, hielt alles weitere in ihren Händen. In den Händen, die jetzt nur noch sanft und bebend über Lennys Rücken strichen, hinunter bis zur Taille....

Die Morgenluft war eisigkalt und kristallklar. Man konnte den Winter förmlich riechen, auch wenn die aufgehende Sonne einen herrlichen Tag versprach. Sara füllte im Brunnenhof den Steinkrug aus ihrem Zimmer mit frischem Wasser und gönnte sich einige stille Minuten am Brunnenrand. Das Krächzen der Raben und der vereinzelte Gesang kleinerer Vögel vermittelten ihr das Gefühl von stiller Harmonie, die so gar nicht zur Shajburg inmitten des sichellländischen Reiches passen mochte.

„So früh schon auf?“

Erschrocken zuckte Sara zusammen.

„Guten Morgen, Rahor....“

„Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich bin froh, dich allein zu treffen. Ich muss dringend mit dir sprechen.“

Beunruhigt sah Sara auf. „Ist etwas passiert?“

„Nein. Noch nicht jedenfalls. Aber nicht hier. Auch in der Festung gibt es zu viele neugierige Ohren. Könnten wir vielleicht auf ein paar Worte in dein Zimmer gehen?“

Sara konnte ihre Nervosität kaum verbergen.

„Nein, ...das.. das geht nicht. Tut mir leid. Ich … ich meine, könnten wir nicht woanders hingehen?“

„Oh...“ lächelte Rahor. „Ich verstehe. Du musst dich nicht verstellen, Sara, es ist völlig in Ordnung, wenn du hier auch ein paar Bekanntschaften schließt. Leider bleibt uns Cas dieses Privileg versagt, zumindest innerhalb der Burgmauern.“

„Es ist nicht so...“

Doch Rahor wehrte ab.

„Nein, bitte, es ist wirklich in Ordnung. Ich wollte auch nicht neugierig sein.“ Dann wurde er schlagartig wieder ernst. „Sara, ich muss dich unter vier Augen sprechen, irgendwo, wo uns niemand belauscht. Es ist wirklich wichtig.“

Sara nickte. „Ich bringe nur schnell den Krug in mein Zimmer, ich bin sofort zurück.“

„Danke...“ Nachdenklich sah Rahor ihr nach. Er glaubte nicht so recht an einen Liebhaber im Zimmer der Novizin, doch er konnte sich auch nicht vorstellen, was sie sonst verbarg. Natürlich ging es ihn nichts an, aber er hatte Lennys versprochen, das Mädchen im Auge zu behalten. Selbst in einer Stadt wie Semon-Sey und sogar in einem Anwesen wie der Burg Vas-Zarac gab es immer wieder Taugenichtse und Grobiane. Was war wichtiger? Sich Saras Vertrauen als würdig zu erweisen? Oder Lennys' Befehle zu befolgen, die letztendlich ja auch nur Saras Sicherheit dienten?

'Ich werde mit niemandem darüber sprechen.' dachte er, während er den Pfad zum Dienstboteneingang einschlug. 'Aber ich muss jede Gefahr im Keim ersticken, auch wenn ich dadurch meine Nase in Saras Angelegenheiten stecken muss...'

Lennys knurrte nur ungehalten, als Sara vorsichtig an ihrer Schulter rüttelte. Für einen Augenblick überlegte die Novizin, ob sie nicht einfach eine Nachricht hinterlassen sollte. Doch gerade in diesem Moment setzte sich die Cycala abrupt auf. Gleich darauf riebsie sich die Schläfe.

„Wie spät ist es?“ fragte sie, während sie sich mit sichtlichem Unbehagen an die Wand lehnte.

„Kurz nach Sonnenaufgang. Es tut mir leid, ich hätte euch nicht wecken sollen...“

Erstaunt sah sich Lennys in dem kleinen Raum um.

„Ich dürfte gar nicht hier sein...“

Verlegen füllte Sara einen Becher mit Wasser und reichte ihn Lennys. „Möchtet ihr Bashra-Pulver? Es ist gut gegen Kopfschmerzen...“

„Nein. Oder vielleicht...“ Nur langsam schien sich die Shaj zu orientieren. „Was mache ich hier überhaupt?“

„Nun ja....“ Doch bevor Sara antworten konnte, scharrte etwas an der Tür. Es klang wie Metall. Schnell wie ein Blitzschlag stürzte Lennys aus dem Bett und obwohl Sara noch versuchte, ihr in den Arm zu fallen, konnte sie nicht verhindern, dass die Shaj die Tür aufriss.

Rahor stand kreidebleich auf dem Flur und ließ gerade die Sichel unter dem Umhang verschwinden, die eben noch ungewollt am Holz gekratzt hatte. Der Cas starrte betreten zu Boden und bemühte sich, seinen Blick auf keinen Fall zu seiner Shaj hinaufwandern zu lassen, die zwar noch Corsage und Nachtwäsche trug, aber so auch um einiges leichter bekleidet war, als er es von seiner Herrin gewohnt war. Das schien Lennys gerade in diesem Moment auch klar zu werden, doch es war zu spät, sich daran zu stören.

„Was machst du hier?“ fauchte sie Rahor an.

'Das wollte ich auch gerade fragen...' dachte der Cas, doch er hütete sich davor es auszusprechen. Stattdessen sagte er:

„Du wolltest, dass ich auf Sara achtgebe. Ich hätte nicht lauschen dürfen, aber ich wollte verhindern, dass sie auf einen Mann hereinfällt, der ihrer nicht würdig... also... ich wollte...“

„Es ist mir egal, was du wolltest!“ Wütend machte Lennys einen Schritt auf Rahor zu, der unwillkürlich zurückwich. „Wenn auch nur eine Menschenseele davon erfährt, dann werde ich dich an deinen Eingeweiden am höchsten Turm aufhängen, das schwöre ich!“

Rahor war immer noch so perplex, dass er nur stumm nickte. Schließlich fing er sich aber und wagte einen für Saras Begriffe recht mutigen Vorstoß.

„Es ist recht schwer, dich zu beschützen, wenn wir nicht wissen, wo du bist...“

„Verlangst du von mir Rechenschaft? Verschwinde, bevor du dazu keine Gelegenheit mehr hast!“

Bevor Rahor dem Befehl seiner Herrin nachkam, wandte er sich jedoch noch an Sara.

„Es tut mir sehr leid, ich wollte dich nicht ausspionieren. Und was ich vorhin gesagt habe, hat immer noch Gültigkeit. Ich warte in der Bibliothek.“

„Was will er von dir?“ fragte Lennys einige Minuten später. Sie saß wieder in ihr Ritualgewand gekleidet am Tisch und spülte das bittere Bashra-Pulver mit dem Brunnenwasser hinunter. Den Kopf hatte sie auf ihre Hände gestützt und insgesamt machte sie nicht gerade den Eindruck, als wäre sie voller Tatendrang.

„Er wollte mich sprechen.“

„Weshalb?“

„Das weiß ich nicht. Er sagte nur, es wäre dringend und wir sollten keine Zuhörer haben.“

Ein wütendes Schnauben ertönte. „Keine Zuhörer. Das sagt gerade er. Jeder andere hätte dieses Handeln mit seinem Leben bezahlt.“

„Er hat es sicher nicht böse gemeint...“ versuchte Sara Rahor in Schutz zu nehmen, doch Lennys fuhr sofort dazwischen.

„Nicht böse? Dir ist doch hoffentlich klar, dass es nicht üblich ist, dass die Shaj ihre Nächte im Dienstbodenflügel verbringt?“

Doch kaum hatte sie zu Ende gesprochen, versteinerte ihre Miene.

„Ich hätte nicht hier sein dürfen. Nicht eine Minute.“ Sie sah zum Bett hinüber, zog die Brauen zusammen, als würde sie angestrengt nachdenken, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich kann mich nicht einmal erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Vielleicht ist das auch besser so.“

„Es... es ist alles in Ordnung.“ sagte Sara unsicher. „Ich meine, es gibt nichts was ihr... also... ihr habt hier nur geschlafen, sonst nichts und...“

„Und was?“

Betreten dachte Sara an die vergangenen Stunden. Sie dachte daran, wie Lennys unter ihren Händen eingeschlafen war und wie ein nie gekanntes Verlangen in ihr aufgestiegen war. Daran, dass Lennys zwar lange Zeit kein Wort gesagt hatte, aber ihr auch nicht Einhalt geboten hatte, als ihre Berührungen ganz offenkundig nicht mehr die einer medizinischen Massage waren. Daran, wie sie am Atem ihrer Herrin gehört und an ihrem leichten Beben gespürt hatte, dass die diese Momente genoss. Und daran, wie sie all ihre Selbstbeherrschung aufgeboten und die Schnürung der Corsage ihrer Herrin wieder zugezogen hatte, um Lennys anschließend mit einem der Seidenlaken zuzudecken, kaum dass diese eingeschlafen war. Und auch daran, wie sie die Zeit bis zum Morgengrauen nur damit verbracht hatte, bewegungslos auf einem Stuhl zu sitzen und Lennys zu beobachten, stets bemüht, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, die ihr nicht erlaubt waren.

„..und es tut mir leid.“ antwortete sie schließlich. „Es war meine Schuld, dass ihr hier ward. Ich hätte wissen müssen, dass … also... dass das nicht sein sollte.“

Misstrauisch starrte Lennys Sara an. Tatsächlich konnte sie sich nicht mehr an die vergangenen Stunden erinnern. Kopfschmerzen und Übelkeit verrieten ihr den Grund dafür. Waren es wirklich zwei Flaschen Sijak gewesen, wie es ihr lückenhaftes Gedächtnis gerade noch verriet? Was war hier geschehen? Warum war sie hier, warum war sie nur noch leicht bekleidet in Saras Bett aufgewacht und warum roch es hier nach Rosenöl? Sie wollte nicht nachfragen. Es gab wohl kaum eine Antwort, die sie beruhigt hätte.

„Wir werden nicht mehr davon sprechen.“ sagte sie endlich, doch die Worte schmeckten ebenso bitter, wie das schmerzstillende Pulver, dessen Wirkung immer noch auf sich warten ließ. „Bis zum Mittag kannst du tun, was du willst. Dann erwarte ich dich im Kaminzimmer, damit wir mit unserer Arbeit weiterkommen.“

Rahor wartete in einer Leseecke im hinteren Teil der Bibliothek, doch kaum trat Sara ein, erhob er sich und eilte ihr entgegen.

„Lass uns nach nebenan ins Kartenarchiv gehen. Dort sind wir ungestört. Bitte...“

Angespannt folgte Sara dem Cas in den Nebenraum. Er sah nervös und müde aus und als sich die Tür hinter ihnen schloss, verstärkte sich dieser Eindruck noch.

Sie befanden sich in einem geräumigen Zimmer, dessen Wände ringsum durch Regale verdeckt wurden, in denen hauptsächlich große Pergamentrollen lagerten. In der Mitte stand ein quadratischer Tisch mit mehreren Stühlen. Erschöpft ließ sich Rahor nieder.

„Bitte setz dich. Du fragst dich sicherlich, was ich von dir will und warum ich so ein großes Geheimnis darum mache.“

Sara nickte.

„Bevor ich dir das sage... es tut mir leid, aber ich muss noch einmal auf .. auf diese unangenehme Situation in deinem Zimmer zurückkommen.“

„Sie möchte sicher nicht, dass wir davon sprechen.“

Schuldbewusst zuckte Rahor die Achseln. „Da hast du recht. Aber manchmal muss ich anderen Umständen als nur ihrem bloßen Willen Bedeutung beimessen. Ich will auch gar nicht wissen, was ihr... also warum sie bei dir war.“

„Es ist nicht so, wie du denkst.“

„Dann glaube ich dir das natürlich, wobei es für mich keine Rolle spielt. Und ich euch beide verstehen könn... lassen wir das. Für mich ist etwas anderes viel wichtiger. Nämlich ihre Sicherheit. Deine natürlich auch, aber du musst mich verstehen. Meine oberste Pflicht ist es, unser Land und auch unsere Shaj zu beschützen. Du kannst noch nicht alles begreifen, was mit unserem Land und seinen Herrschern zusammenhängt. Aber du hast schon vieles gesehen. Und deshalb... Sara, ich weiß, es geht mich nichts an. Aber Lennys hat die Nacht heute in einem recht ungeschützten Bereich der Burg verbracht. Ohne dass jemand es bemerkt hat. Ich muss wissen, ob euch wirklich keiner gesehen hat. Und warum sie das überhaupt getan hat. Verstehst du? Ich kann sie nicht beschützen, wenn sie so unberechenbar ist. Sie sagt immer, dass sie keinen Schutz braucht, aber du weißt genauso gut wie ich, dass… das nicht stimmt. Es sind gefährliche Zeiten. Denk an Makk-Ura. Als Lennys vor einigen Wochen, ohne uns etwas zu sagen, nach Süden gereist ist....meine Güte, du glaubst nicht, was wir durchgemacht haben. Wir wussten nicht, wo sie ist, ob sie entführt wurde oder vielleicht sogar schon tot ist. Erst nach einigen Tagen erhielten wir eine Nachricht. Und in den Wochen danach fielen die Berichte immer spärlicher und unregelmäßiger aus. So etwas hätte nie geschehen dürfen und eigentlich wusste sie das. Sie neigt manchmal dazu, die Gefahr zu unterschätzen, in der sie selbst schwebt. Und heute nacht... Zahlreiche Krieger umstellen die Burg, um jeden Eindringling sofort zu überwältigen, aber ich kann nicht persönlich für jeden die Hand ins Feuer legen, der sich hier bereits aufhält. Natürlich war es mein Fehler. Ich müsste Wachen in der Festung postieren, aber das will sie nicht. Sie will nicht überwacht werden. Aber wie sonst soll ich sie beschützen? So etwas wie heute nacht hätte nie geschehen dürfen. Natürlich bin ich jetzt erleichtert, dass sie bei dir war, nachdem ich sie die ganze Zeit gesucht hatte. Aber wer weiß, wo sie das nächste Mal ist und dann kommt mir vielleicht kein Zufall mehr zur Hilfe.“

Sara spürte, dass Rahor ernsthaft besorgt war. Hier konnte sie niemand hören. Wenn sie Rahor, dem höchsten Cas, nicht vertrauen konnte, wem dann? 'Shajs können niemandem vertrauen.' hatte Lennys gesagt. Aber sie war keine Shaj. Sie war eine mittelländische Tempelnovizin und hier ging es um mehr als um ihren Stolz.

„Es war nicht deine Schuld.“ sagte sie dann. „Sondern meine. Lennys und ich waren bis spät in der Nacht im Kaminzimmer und haben gearbeitet. Sie hatte zu viel getrunken. Ich habe ihr einfach nur eine Massage angeboten und da ich nicht in ihre Gemächer darf, kam sie mit zu mir. Das ist alles. Sie hat in meinem Zimmer geschlafen bis heute morgen. Ich bin sicher, dass uns niemand gesehen hat.“

Rahor wirkte eine Spur erleichterter. „Danke. Lennys wird zuweilen etwas unvorsichtig, wenn sie getrunken hat. Sie weiß, dass das eine ihrer Schwächen ist. Aber sie hat eine Stärke, die vieles wieder ausgleicht. Und ich spreche nicht davon, dass sie im Zweikampf so gut wie unbesiegbar ist.“

„Ist sie das wirklich?“

Rahor lächelte stolz. „Ja, ich denke schon. Hast du sie nie kämpfen sehen?“

„Doch.... schon. Aber ich verstehe nicht viel davon.“

„Du hast sie gegen eine Handvoll Hantua gesehen. Hättest du sie, so wie ich, einmal in einer wahren Schlacht erlebt, dann würdest du keinen Zweifel mehr hegen. Aber wie gesagt, davon spreche ich nicht. Lennys... traut niemandem. Das weißt du, oder?“

„Ja, sie hat es gesagt.“

„Diese Tatsache hat ihr vielleicht bisher mehr als alles andere das Leben gerettet. Und deshalb spreche ich hier mit dir.“

„Ich verstehe nicht...“

„Ich will ganz ehrlich sein. Seit ich weiß, dass du seit dem Nebeltempel an ihrer Seite bist, habe ich mich gefragt, warum sie dies zulässt. Und warum du all diese Strapazen auf dich nimmst. Für Letzteres hatte ich nur zwei Antworten. Entweder du spionierst sie aus oder wartest gar auf eine günstige Gelegenheit, sie zu töten oder aber... du bist ihr so treu ergeben, wie es sonst nur ein Cycala sein kann. Doch inzwischen habe ich keinen Zweifel mehr. Sie vertraut niemandem, das ist richtig, aber ich weiß, dass du zuverlässiger bist als all ihre anderen Untergebenen. Ich kann in niemanden hineinsehen, an wen also sollte ich mich wenden? Aber allein schaffe ich es nicht mehr. Und wenn es jemanden gibt, der mein Vertrauen verdient und der mir helfen kann, dann bist du das, Sara. Deshalb bist du jetzt hier.“

„Wobei helfen?“

„Ihr Leben zu schützen.“

Sara schüttelte den Kopf. „Ich bin keine Kämpferin. Ich kann sie nicht gegen Angreifer verteidigen oder sie...“

„Das sollst du auch nicht.“ unterbrach Rahor hastig. „Sara, hör mir gut zu. Du bist klug und längst nicht so naiv und vertrauensselig, wie man es euch Mittelländern immer so gern nachsagt. Und nur durch diese Eigenschaften kann man die größte Gefahr von ihr abwenden.“

„Und welche Gefahr ist das? Und warum sprichst du nicht mir ihr selbst darüber oder zumindest in ihrem Beisein?“

Etwas beunruhigt sah sich Rahor um, als wolle er sich noch einmal vergewissern, dass nicht doch jemand hinter einem der Regale lauerte. Dann senkte er die Stimme zum Flüsterton.

„Weil das, was ich jetzt sage, in Lennys' Augen an Verrat grenzt. Es steht dir völlig frei, ihr davon zu erzählen, aber bitte denke genau darüber nach, ob es dafür nicht noch zu früh ist. Ich glaube, dass Iandal nicht der einzige Verräter in unseren Reihen ist.“

Sara war sprachlos und zugleich längst nicht so überrascht, wie sie es eigentlich hätte sein sollen. Doch Rahor fuhr fort:

„Es gibt zu viele Ungereimtheiten. Zu vieles, was darauf hindeutet, dass Iandals Wissen allein ihn nicht zu den Schritten befähigen konnte, die er bislang unternommen hat. Und wenn du ganz ehrlich bist, hast du auch schon daran gedacht.“

„Nun ja...“

„Du musst es mir nicht sagen. Falls du schon einen solchen Verdacht hattest, musstest du natürlich auch in Betracht ziehen, dass ich ebenfalls ein Feind sein könnte. Sara, Lennys ist in großer Gefahr. Sie ist nicht sicherer, nur weil sie wieder zu Hause ist. Vielleicht ist sogar genau das Gegenteil der Fall. Traue niemandem. Hinterfrage alles, was dir undurchsichtig erscheint. Halte Augen und Ohren offen. Hier tagt der Hohe Rat. Die beiden Shaj, die neun Cas, Würdenträger, Kundschafter, Verbündete... Wer auch immer unser Land angreifen will, muss früher oder später an Lennys vorbei. Sie ist vielleicht das größte Hindernis für unsere Feinde. Für einen dummen Hantua mag ein Kampf im freien Feld die einzige Möglichkeit sein, sie in einen Kampf zu verwickeln. Aber ich rede nicht von Zrundir. Was ist, wenn es eine Verschwörung gibt? Einen Verräter, der mit Iandal zusammen arbeitet? Ein abtrünniger Cycala? Jemand, der hier ein und ausgeht und der hier Zugriff auf alles hat, was Lennys plant oder darauf, wie die Cas sie schützen? Denkst du wirklich, Makk-Ura hatte einen Unfall? Niemand glaubt das! Aber Makk-Ura war nicht einmal ein Stolperstein für die Hantua. Wenn sie den Shaj der Nacht besiegen, dann haben wir ihnen weit weniger entgegenzusetzen als du glaubst. Und du kennst Lennys, sie macht es ihren Garden alles andere als einfach.“

„Aber... warum? Warum ist sie so wichtig? Iandal hatte so viele Möglichkeiten, sie zu töten... Und auch hier... ich meine, wenn euer Schicksal so an Lennys Leben gebunden ist...“

„Es gibt Dinge, von denen kaum jemand weiß. Nicht einmal die Cas, mit einer einzigen Ausnahme, und die sitzt hier vor dir. Aber bitte, Sara, du musst mir glauben. Mit jedem Tag, der vergeht… Mit jedem Tag, an dem Lennys unsere Verteidigung aufbaut und den Angriff gegen Zrundir vorbereitet, … mit jedem Tag, an dem sie Erkundigungen einzieht, wird die Gefahr größer und größer. Sie ist schon fast greifbar. Noch können es sich die Feinde nicht erlauben, einen offenen Angriff gegen sie zu wagen. Aber bald können sie es. Hier, hinter diesen Mauern lauert die wahre Bedrohung. Man wird versuchen, Lennys zu töten. Und sie weigert sich, auch nur eine Sekunde daran zu denken, weil sie einen Verrat durch einen Sichelländer für ausgeschlossen hält.“

„Aber du bist dir sicher...“

Rahor sah sie traurig an. „Ja, das bin ich. Alles deutet darauf hin. Begreifst du jetzt, warum ich mit dir sprechen wollte? Mit dir und mit keinem sonst und warum ich es nicht vor Lennys tun konnte?“

„Ja, ich … ich denke schon.“

„Und... glaubst du mir?“

Sara schwieg. Sie dachte lange über Rahors Worte nach und über all das, was sie erlebt und erfahren hatte. Es gab viele, für die sie die Hand ins Feuer gelegt hätte. Akosh natürlich. Imra. Menrir. An Oras hatte sie gezweifelt, aber inzwischen war ihr Ärger verflogen. Aber auch Rahor hatte sie von Anfang an vertraut und auch Sham-Yu. Mondor mochte ein alter Fanatiker sein und Talmir vielleicht ein wenig weich und ängstlich, aber auch an ihrer Treue hatte sie keinerlei Zweifel. War unter all diesen Menschen vielleicht tatsächlich jemand, der sich schon längst auf Iandals Seite gestellt hatte? Oder einer der anderen Cas, die doch eigentlich die vertrauenswürdigsten Krieger überhaupt waren? Oder die Burgdiener? Der Bibliothekar? Wandan, den man aus den Wäldern zurückrief? All das ging ihr durch den Kopf, aber auch die Merkwürdigkeiten, die ihr selbst schon aufgefallen waren. Die sie zusätzlich zu Lennys' Zusammenfassungen notiert hatte. Die Fragen, die nicht nur bei den Ratstreffen, sondern auch bei belanglosen Gesprächen der einzelnen Mitglieder immer wieder gestellt wurden. Und nicht zuletzt diese mysteriöse Pergamentrechnung, der Akosh gerade in Askaryan auf den Grund ging.

Dann rang sie sich zu einer Antwort durch.

„Ja, ich glaube es. Oder sagen wir, ich halte es nicht für unmöglich. Aber ich wüsste nicht, was ich tun kann...“

Rahor schien erleichtert.

„Lennys wird den Gedanken an einen Verräter nie zulassen, wenn wir ihr keinen Beweis liefern. Und wir können sie nicht vor einem Angriff schützen, wenn wir nicht wissen, wer dort im Verborgenen gegen uns arbeitet. Wir beide haben die Möglichkeit, immer in ihrer Nähe zu sein, ohne dass Lennys selbst oder irgendjemand anders Verdacht schöpft. Im Augenblick können wir nur wachsam sein und versuchen, mehr herauszufinden..“

„Und wenn du selbst es wärst....“

„Dann könntest du mich nicht aufhalten, Sara. Ich kann dir nicht beweisen, dass ich Lennys ebenso treu ergeben bin wie du. Aber selbst, wenn du dich jetzt von mir fernhältst und alles dir Mögliche tust, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, so bin ich froh. Dann werde ich dasselbe tun. Ob mit dir oder ohne dich. Nur gemeinsam... wären unsere Aussichten vielleicht besser. Vergiss nicht, Sara, wenn ich es wäre, der Lennys töten will, dann könnte es niemand besser verhindern als sie selbst. Auch du nicht.“

„Du kommst spät.“ Lennys sah noch nicht einmal auf, als Sara das Kaminzimmer betrat. Ihrem Tonfall nach fühlte sie sich immer noch nicht allzu gut.

„Verzeihung.“ Sara wusste, dass ihre Herrin nicht in der Stimmung war, sich Ausreden und Entschuldigungen anzuhören. Und im Moment war es ihr auch bedeutend lieber, nicht genau darüber Auskunft zu geben, warum sie erst jetzt kam. Sie hatte sich beeilt, ihre eigenen handschriftlichen Notizen noch einmal durchzugehen und verschiedene Abschriften miteinander zu vergleichen. Konnte Rahor wirklich recht haben mit seinem Verdacht? Derartig in Gedanken vertieft hatte sie beinahe die Zeit vergessen.

„Hier...“ Lennys reichte ihr eine schwere Mappe, die zahlreiche Bögen enthielt, die allesamt mit kleinen, nahezu unleserlichen Buchstaben bedeckt waren. Wer auch immer dieses Werk verfasst hatte, hatte sich sichtlich Mühe gegeben, den Leser zu ärgern. „Das ist eine Abhandlung über cycalanische Handelsverbindungen zwischen den großen Städten. Silberproduktion, Waffenschmiede, Pergamenthersteller, Kunstgegenstände und so weiter. Wie die Preise und Werte festgesetzt werden, wie der Transport abläuft, wer für den Verkauf zuständig ist und alles was dazu gehört. Quasi eine Beschreibung der gesamten cycalanischen Wirtschaft.“

Verblüfft nahm Sara den ersten Bogen heraus und überflog ihn. „Klingt wie ein Lehrbuch. Wonach soll ich suchen?“

„Du sollst gar nichts suchen. Du sollst es lesen.“

„Ich verstehe nicht...“

„Es wird Zeit, dass du mehr über mein Land lernst als das, was dir die Legenden von Batí-Priestern verraten oder das, was Akosh dir über den Säbelkampf beibringt.“

Sara spürte, dass Lennys sie unterschwellig bestrafen wollte. Wohl nicht für ihr Zuspätkommen, sondern eher über die außerplanmäßige Übernachtung der Shaj in ihrem Gemach. Und obwohl die Novizin nicht die geringste Lust verspürte, sich durch die trockenen Wirtschaftsberichte zu arbeiten, so musste sie sich doch eingestehen, dass sie tatsächlich nicht allzu viel über die Verhältnisse des Sichellandes wusste. Und gerade jetzt, da jede noch so kleine Auffälligkeit von entscheidender Bedeutung sein konnte, war es umso wichtiger, dass sie mit Cycalas vertrauter wurde.

Folgsam setzte sie sich vor das Kaminfeuer und begann, die Abjandlung zu studieren.

Die Stunden vergingen zäh und die monotonen Worte des anonymen Verfassers quälten Sara geradezu. Ständig musste sie sich wieder zur Aufmerksamkeit zwingen und selbst als von draußen Fußtritte ertönten, glaubte sie zuerst, ihr Gehirn gaukle ihr eine nichtvorhandene Abwechslung vor. Doch dann klopfte es zu laut und deutlich, als dass es sich um eine Täuschung hätte handeln können.

„Was ist denn?“ rief Lennys ungehalten. Eine Burgdienerin schob sich schüchtern herein. Sara hatte sie schon ein paar Mal in den Küchenräumen gesehen.

„Eine... N..nachricht für euch, hohe Shaj...“ Zitternd reichte das Mädchen Lennys ein Tablett, auf dem eine frisch versiegelte Pergamentrolle lag. Gleichgültig nahm Lennys das Schreiben und schickte die Dienerin wieder hinaus, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Lustlos brach sie das Siegel und überflog den Text, der, soweit Sara es erkennen konnte, in Cycalanisch verfasst war.

Ein Hauch von Zufriedenheit spiegelte sich in Lennys Zügen, aber sie erklärte sich nicht weiter. Schließlich nahm sie sich wieder ihre Schriftstücke vor, die sie kurz beiseite gelegt hatte und tat als sei nichts gewesen. Erst als Sara einige Zeit später das Buch zuschlug, das sie hatte lesen sollen, zeigte Lennys wieder eine Regung.

„Fertig?“

„Ja.“

„Hast du alles verstanden?“

„Nein. Es würde Jahre dauern, alle Regeln, Gesetze und Traditionen zu kennen. Aber ich kann mir jetzt ein besseres Bild machen.“

„Immerhin etwas. Es wird wohl noch ein oder zwei Tage dauern bis Akosh aus Askaryan zurückkommt, aber es ist möglich, dass ich zunächst keine Zeit habe, ihn zu empfangen. In diesem Fall möchte ich, dass du mit ihm über seine Ermittlungsergebnisse sprichst und mir darüber berichtest, wenn ihr zu wichtigen Erkenntnissen gelangen solltet.“

„Und was ist mit Zarcas? Ist dort auch jemand, um den Absender der Rollen ausfindig zu machen?“

„Talmir wollte sich umhören. Aber ich mache mir keine große Hoffnung. Jede Woche gehen hunderte von Pergamentrollen aus Zarcas auf dem Weg zu ihren neuen Besitzern. Es ist leichter festzustellen, wer in Askaryan die Ware aus der Hauptstadt bezieht.“

„Ja, aber wenn es doch Tempelschriften waren?“

„Dann wird Talmir das herausfinden. Niemand im Tempel von Zarcas würde es wagen, ihn anzulügen.“

Auch im Laufe des Abends maß Lennys der Angelegenheit mit den Pergamentrollen kaum noch Aufmerksamkeit bei. War sie tags zuvor doch sichtlich interessiert an diesem Geheimnis gewesen, so schien es sie plötzlich kaum noch zu kümmern. Im Stillen sagte Sara sich, dass es vielleicht mit dem versiegelten Schreiben zu tun haben könnte. Seit ihre Herrin dieses erhalten hatte, schien sie in Gedanken versunken und gar nicht mehr so recht bei der Sache zu sein. Selbst als Sara dank der Aufstellung eines besonders gewissenhaften Schreibers den Betrug eines Stiefelhändlers aufdeckte, der minderwertiges Leder verarbeitete, zuckte sie nur ungerührt die Achseln.

„Die Rechtsprecher werden sich darum kümmern.“ war ihr einziger Kommentar.

Inzwischen hatte die angehende Heilerin ihren eigenen Vorteil in Lennys' Desinteresse erkannt. Die Shaj achtete nicht darauf, dass ihre Dienerin sich eigene Notizen machte und verschiedene Schreiben miteinander verglich. Im Grunde konnte Sara ihr diese Nachlässigkeit nicht verdenken. In den letzten Tagen war ihr immer deutlicher bewusst geworden, dass Lennys nicht nur eine einfache Kriegerin, sondern eine der Regenten eines mächtigen Reiches war. Zusätzlich zu ihren eigenen Pflichten musste sie sich auch noch um die Angelegenheiten des toten Makk-Ura kümmern, der ja eigentlich für Handel und Handwerk zuständig war. Und obwohl Sara Talmir mochte und sich sicher war, dass er ein außergewöhnlicher Priester war, so musste sie doch zugeben, dass der alte Mann nicht die Energie und den Tatendrang aufbot, der in seinem Amt zu solch schweren Zeiten unbedingt notwendig war. Nein, sie beneidete Lennys nicht. Im Gegenteil. Und sie war sich sicher, dass ihre Herrin selbst nicht dieses Schicksal gewählt hätte, wenn sie denn die Freiheit gehabt hätte, ihr Leben selbst zu bestimmen. Das Amt des Shajs war ein Fluch, ein mindestens ebenso unbarmherziger wie der, den die Batí auf sich gezogen hatten. Lennys musste ihr Land auf einen Krieg vorbereiten, einen Verräter in Schach halten, zerstrittene Priester beruhigen und sich mit einem scheinbar größenwahnsinnig gewordenen König Log herumärgern... Was waren da schon ein paar Ungereimtheiten auf den Märkten von Zarcas und Askaryan?

Einige Stunden später schickte die Shaj Sara zu Bett. Heute würden sie nichts mehr erreichen. Zum ersten Mal, seit sie Cycalas erreicht hatten, war Sara müde. Nicht, weil sie zu wenig Schlaf bekam, sondern weil sie das Gefühl hatte, dass auch ihr all die Schwierigkeiten über den Kopf wuchsen. Wie schön wäre es, jetzt wieder mit Lennys und Akosh, vielleicht auch mit Imra, Oras und Menrir durch die mittelländischen Wälder und Ebenen zu streifen und auf Hantua zu lauern.

Es war Rahor, der Sara am nächsten Morgen durch halblautes Klopfen weckte. Erschrocken warf sie sich einen dünnen Umhang über ihr Nachtgewand und öffnete die Tür.

„Guten Morgen, Sara. Verzeih, dass ich dich so früh schon störe...“

„Aber bitte, Rahor, du musst dich doch nicht entschuldigen.“ erwiderte sie verlegen.

„Doch, das muss ich, denn eigentlich dürfte ich jetzt gar nicht hier sein. Wenn Lennys mich noch einmal in der Nähe deines Zimmer erwischt... Nun ja, du kannst dir ja denken, was sie dann mit mir anstellt.“

„Hoffentlich hat sie dich nicht gesehen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du meinetwegen Ärger bekommst...“

Doch Rahor schüttelte den Kopf.

„Nein, sie kann mich nicht gesehen haben. Lennys ist nämlich gar nicht in der Burg.“

„Was?“ rief Sara erschrocken. „Sie... sie ist nicht da? Aber....“ Doch sofort machte Rahor eine beschwichtigende Geste.

„Du musst dir keine Sorgen machen. Sie hat Semon-Sey nicht verlassen. Gerade eben meldete ein Wachposten, dass sich ein vermummter Reiter von Norden her der Stadt nähert. Und Lennys ist sofort losgeritten – auf ihrem Mondhengst wohlgemerkt – um ihn noch am Stadttor zu empfangen.“

„Sie reitet ihm entgegen?“ fragte Sara erstaunt.

„Ja, das ist eine hohe Anerkennung für Wandan. Aber nach allem, was ich von ihm weiß, hat er sie auch verdient. Was ist, kommst du mit?“

„Ich? Wohin?“

„Na zum Stadttor. Es wird dir gut tun, mal aus dieser Burg herauszukommen. Außerdem halte ich es für besser, wenn wir sie nicht zu lange aus den Augen lassen. Ich wäre am liebsten gleich mit ihr geritten, aber ich dachte, ich frage dich lieber zuerst.“

Sara war unschlüssig. „Ich weiß nicht. Es ist, als würden wir sie ausspionieren und sicher will sie nicht, dass wir ihr folgen. Außerdem hat sie es mir verboten, in die Stadt zu gehen.“

„Nun ja....“ druckste Rahor herum. „Sie hat mir verboten, dich in die Stadt gehen zu lassen, wenn man es genau nimmt. Aber das ist ja auch nicht der Fall. Du ziehst dir deinen Umhang an und reitest zusammen mit mir auf meinem Pferd aus der Stadt hinaus.... das ist ja wohl ein Unterschied. Außerdem merkt es ja keiner. Aber ich möchte sie nicht zu lange ohne Bewachung herumziehen lassen. Du weißt, warum. Also, was ist? Wenn du lieber hierbleiben möchtest, ist das in Ordnung, ich verstehe das. Ich für meinen Teil werde gehen.“

„Dort vorne ist das Tor, siehst du es?“ rief der Oberste Cas über seine Schulter nach hinten.

„Ich habe es mir viel größer vorgestellt. So wie das Haupttor im Süden.“ antwortete Sara verwundert. Und wirklich, das Nordtor Semon-Seys war nur ein etwas breiterer Bogen, der von zwei Wachen flankiert war. Dahinter erstreckten sich dunkelgrüne Hügel und gleich darauf ein Wald gewaltigen Ausmaßes.

„Wir lassen das Pferd besser hier. Es ist zu auffällig. Dort vorn, an dem alten Turm, dort können wir uns verstecken. Früher hing darin eine Feuerglocke, aber jetzt ist es nur noch eine Ruine.“

„Und wenn uns doch jemand sieht?“

„Keine Sorge. Und wenn schon, alle Stadtwachen Cycalas' unterstehen meinem Befehl. Wenn jemand das Recht dazu hat, hier zu sein, dann bin ich das. Und du bist einfach meine Begleitung.“

Er schwang sich vom Pferd und half Sara beim Absitzen. Dann führte er sie im Schatten eines Wachgebäudes zu der Turmruine, die nur einen Steinwurf von der Stadtmauer entfernt stand. Die Leiter im Innern war noch gut erhalten und führte zu einem Zwischengeschoss, das ebenfalls noch einen stabilen Eindruck machte. Nur weiter oben, wo früher die Glocke geläutet worden war, war das Mauerwerk brüchig und verkohlt.

„Ein ausgebrannter Feuerturm. Seltsam, nicht wahr?“ scherzte Rahor. „Hier, durch diese Scharten kannst du nach draußen sehen. Nein, geh dort hinüber. Von da hast du den besten Blick auf die Gegend nördlich von Semon-Sey. Und? Kannst du sie sehen?“

Sara nickte stumm. Sie kniete auf dem staubigen Boden des Glockenturmes und sah durch den nur handbreiten Mauerspalt hinaus, doch der Anblick verschlug ihr die Sprache.

Unweit des Stadttores und zugleich mitten in der wilden Landschaft Cycalas' bot sich ein beeindruckendes Bild. Noch nie hatte Sara einen solchen Sonnenaufgang gesehen – feuerrot und unbezähmbar loderte das Morgenlicht über die Landschaft. Und dort, auf einem Hügel, stand der herrliche Mondhengst, den sie in Shanguin gefunden hatten. Auf ihm thronte die Herrin der Krieger, ihr schwarzes Haar und ihr Umhang flatterten im aufwallenden Wind und so standen die beiden – Pferd und Reiterin – unbeweglich und starrten erwartungsvoll nach Norden. Sara konnte sich kaum von diesem Anblick losreißen. Auch die Stadtwachen verharrten bewegungslos am Torbogen und genossen diesen schlichten Ausdruck der Macht. Obwohl sie keine Sichel gezogen hatte und einfach nur ruhig auf ihrem Hengst saß, strahlte Lennys eine geradezu übernatürliche Kraft aus und niemand in ganz Sacua hätte in diesem Moment daran zweifeln können, dass sie die Herrin des Sichellandes war. Nicht Talmir. Kein toter Makk-Ura. Sie war es.

Auch Rahor hatte eine Scharte gefunden, die nach Norden wies und auch er schwieg einige lange Momente, nachdem er hindurchgespäht hatte.

„Das ist ein großes Geschenk an Wandan.“ sagte er dann. „Sie zeigt sich selten so. Ohne Begleiter, nur sie allein draußen in der Natur und doch für jeden sichtbar.“

„Aber...was ist das?“ fragte Sara verwirrt. „Dieses Licht, der Wind... sie selbst... Es ist alles so....“

„Unwirklich? Ja, ich weiß. Sie ist einfach nur da und doch hätte kein anderer an ihrer Stelle diese Wirkung. Es ist, als ob sie ein untrennbarer Teil dieses Landes wäre und zugleich spürt man, dass sich alle Kräfte Cycalas in diesem Moment in ihr vereinen.“

Sara nickte. Sie hätte es nicht besser in Worte fassen können.

„Da ist Wandan!“ rief Rahor plötzlich.

Zwischen zwei Ausläufern des riesigen Waldes kam gerade in diesem Moment ein zweiter Reiter hervor. Er ritt kein Mondpferd, doch auch sein Tier war schwarz, ebenso sein Umhang mit der hochgeschlagenen Kapuze. Aber trotz der Entfernung konnte Sara auch die Unterschiede zu Lennys erkennen. Der Mann trug keine Sichel und trotz seiner muskulösen Figur machte er einen weniger starken Eindruck als seine Shaj. Der Rücken war leicht gebeugt als hätte er in seinem Leben schon zu viele Lasten getragen und der lange Bart war grau und verfilzt. Wie Lennys ritt auch er ohne Sattel, doch an einem Riemen, den er um den Leib des Pferdes geschlungen hatte, baumelte eine Provianttasche und ein knorriger Stab.

Jetzt hielt er direkt auf seine Herrin zu, aber er trieb sein Tier nicht an, sondern hielt es im Schritt. Etwa hundert Meter von Lennys entfernt stieg er mühsam ab, zog den Stab aus dem Riemen und humpelte darauf gestützt auf die Shaj zu, die immer noch unbeweglich auf ihrem Mondhengst saß. Als er sie erreicht hatte, fiel Wandan auf die Knie.

Lange Zeit verharrten die beiden Krieger so. Sara konnte nicht sehen, ob sie miteinander sprachen. Dann richtete sich der Mann wieder auf, ging zurück zu seinem Pferd und zog sich hinauf.

„Sie kommen.“ sagte Rahor.

„Wir müssen weg, bevor sie uns sehen.“ erwiderte Sara.

„Nein. Wir werden ihn begrüßen, wie es für einen Cas angemessen ist.“

Als Rahor und Sara sich der Stadtmauer näherten, durchritten Lennys und Wandan gerade das Tor. Sofort verbeugte sich Rahor tief und Sara, die nicht wusste, wie sie sonst Lennys' Zorn hätte abwenden können, tat es ihm gleich. Die mystische Aura, die Lennys gerade noch umgeben hatte, verschwand, als die Shaj die beiden mit kalter Stimme ansprach.

„Wer hat euch erlaubt, Vas-Zarac zu verlassen?“

„Es ist meine Schuld. Ich hielt es für meine Pflicht den ehrwürdigen Wandan im Namen der Cas zu begrüßen. Dabei wollte ich aber auch mein Wort halten und eure Leibdienerin beschützen.“

„Seit wann veranlasst dich Neugier dazu, solche Dummheiten zu begehen, Rahor? Du hättest Wandan ebenso in der Festung begrüßen können.“

„Es tut mir leid.“

Augenscheinlich störte Lennys sich nicht weiter an der unverhofften Anwesenheit Rahors und Saras. Stattdessen war es Wandan, der jetzt wieder vom Pferd glitt und den beiden gegenüber trat.

Er hatte dieselben schwarzen Augen wie Mondor und Lennys, feuriger als die Akoshs und so durchdringend, dass es Sara wieder einen Schauer über den Rücken jagte. Seine verwitterten Züge waren abweisend und ließen ihn viel älter wirken als er wohl tatsächlich war und dennoch vermittelte er einen freundlichen Eindruck. Sein linkes Bein schien steif und auch die tiefen Narben an Armen, Händen und im Gesicht zeugten von zahlreichen Kämpfen.

Wandan sagte kein Wort, sondern musterte Rahor und Sara ungewöhnlich lange. Sein Blick wanderte zu Rahors Sichel und dann wieder hinauf, wobei sein Gesicht nicht einmal eine Armlänge von dem Antlitz des jungen Cas entfernt war.

„Du also.“ flüsterte er heiser. Ohne eine weitere Bemerkung winkte er sein Pferd herbei, stieg auf und folgte Lennys zurück zur Burg.

„Ich habe seinen Platz eingenommen.“

Rahor war immer noch sichtlich mitgenommen von der Begegnung mit Wandan. Jetzt saß er zusammen mit Sara in der Bibliothek und ging unruhig auf und ab. Lennys und Wandan hatten sich ins Kaminzimmer zurückgezogen.

„Seinen Platz?“ fragte Sara.

„Der Cas, der dem Shaj am nächsten steht. Das war er. Er war Satons rechte Hand. Natürlich... Lennys möchte niemanden so nah an sich heranlassen. Aber es gibt einige Dinge, die sie... ach, es klingt sicher hochgestochen, aber manches lässt sie eben nur durch mich erledigen. Ich habe es dir ja schon einmal erklärt. Nachdem Wandan weg war und Lennys offiziell zur Shaj geweiht wurde, ernannte sie mich zu Wandans Nachfolger. Das hat nicht nur für Zustimmung gesorgt. Und ich habe seither alles dafür getan, dass sie diese Wahl nicht bereut. Aber wie muss es für Wandan sein, wenn er jetzt sieht, dass ein junger, unerfahrener Mann wie ich an seiner Stelle steht. Im Vergleich zu ihm bin ich ein Nichts,… ein Niemand....“

„Hör auf!“ platzte Sara heraus. Doch sogleich besann sie sich. „Verzeih mir... ich .. ich glaube bloß, dass ...du dir zu Unrecht Sorgen machst...“

Rahor lächelte. „Sara, du musst nicht mit mir reden wie mit deiner Herrin. Du gehörst zu den wenigen, denen ich hier noch vertraue, auch wenn wir uns kaum kenne. Also sage mir, was du denkst und sprich zu mir, wie du es zu einem Freund tun würdest.“

Sara errötete leicht.

„Wenn Wandan der Shaj wirklich so treu ergeben ist, dann wird er deine Wahl nicht in Zweifel ziehen. Es heißt, er wäre ein großer Krieger. Dann weiß er auch, dass das Alter allein nichts aussagt. Auch er war einmal jung und sicher war er damals auch schon seines Amtes würdig.“

„Aber er schien enttäuscht als er mich sah. 'Du also' hat er gesagt. Hast du das nicht gehört?“

„Ja, das habe ich und...“ Sara stockte. „Warum eigentlich? Ich meine, ich dachte er spricht nicht mehr.“

Ratlos ließ sich Rahor auf ein Sitzpolster fallen. „Ja, das dachte ich auch. Er ist eben immer für eine Überraschung gut. Ich hätte ja auch nicht gedacht, dass mich das alles so durcheinander bringt. Ich habe mich benommen wie ein aufmüpfiger Wichtigtuer. Um ihn zu begrüßen.... meine Güte, was für eine Antwort. Ich hätte offen zugeben sollen, warum wir dorthin gekommen sind. Um die Shaj zu beschützen, meinetwegen auch aus Neugier... aber das, was ich gesagt habe, war einfach dumm...“

„Und ich habe es wohl nur noch schlimmer gemacht. Ich hätte ja nicht einmal die Burg verlassen dürfen.“ fügte Sara hinzu.

Die Bibliothekstür klappte, doch ein Regal verstellte ihnen die Sicht. Rahor kümmerte sich nicht darum. Er war sichtlich angeschlagen.

„Du darfst nicht glauben, dass ich auf Mitleid aus bin.“ seufzte er weiter. „Wirklich nicht. Ich bin ein guter Cas. In meiner Ausbildung war ich der beste Sichelkämpfer. In Vas-Zarac gab es unter meiner Hand nie Schwierigkeiten und ich weiß mich inzwischen auch bei allen durchzusetzen. Es gab keine Übergriffe, die Stadtwachen versehen einen vorbildlichen Dienst... und das alles unter meinem Befehl. Eigentlich könnte ich mit mir zufrieden sein. Aber wenn ich an Wandan denke.... oder die anderen Cas von damals. Außer Faragyl und Haz-Gor sind alle tot oder haben ihr Amt niedergelegt. Sie waren erfahren, besonnen, ...machtvoll. Ich war im Großen Krieg – so wie alle Cas heute, aber wie viele andere habe auch ich nur kleine Schlachten geschlagen. Im Grenzgebiet, nicht im Süden. Nur Faragyl und Haz hatten Anteil an den Kämpfen in Orio, nur sie verdienen es, große Krieger genannt zu werden. Und Lennys natürlich. Und eben Wandan.“

„Hast du... Angst?“ fragte Sara zaghaft.

Rahor sah sie nicht an.

„Ja. Ja, ich habe Angst. Aber ich darf sie nicht haben. Und doch... ich fühle, dass etwas anders ist als damals. So als hätten unsere Gefährten einen Kampf bestritten, den wir jetzt an ihrer Stelle zu Ende führen müssen. Ich kenne seinen Sinn und sein Ziel nicht. Über das Wenige, was ich weiß, darf ich nicht sprechen, aber es stellen sich so viele Fragen, die ich nicht beantworten kann und deren Antwort aber vielleicht unser einziger Weg zum Sieg ist. Verstehst du mich?“

„Ich weiß nicht...“

„Ich würde so gern mit jemandem darüber reden. Aber ich darf es nicht. Ich habe immer das Gefühl, dass alles, was ich wissen muss, vor mir liegt wie ein Haufen Getreidekörner, in dessen Innern der Schlüssel verborgen ist zu der Tür, die mich auf den richtigen Weg führt. Ich müsste die Körner ausbreiten, um ihn zu finden, aber in meinem Kopf ist dafür kein Platz. Könnte ich sie mit jemandem teilen, hätte ich vielleicht eine Chance. Und jetzt sitze ich hier und jammere vor dir herum wie ein kleiner dummer Junge. Sag mir, sieht so ein würdiger Nachfolger des großen Wandan aus?“

Sara öffnete ihren Mund um etwas zu sagen, doch die Stimme, die plötzlich sprach, war nicht die ihre.

„Auch der große Wandan sprach mit anderen über seine Gedanken und tat das, was du Jammern nennst.“

Hinter dem schweren Bücherregal, das ihre Sitzecke vor der restlichen Bibliothek abtrennte, trat der einstige Cas hervor. Rahor und Sara machten Anstalten, sich zu verneigen, doch Wandan winkte ab.

„Dies ist weder Zeit noch Ort für Ehrbekundungen. Und sie wären auch fehl am Platz.“ Ächzend setzte er sich auf ein Polster. Beim Anblick des verlegenen Rahor und der sprachlosen Sara huschte ein belustigtes Lächeln über Wandans sonst so ernstes Gesicht.

„Ich wollte nicht hierher zurückkommen. Und wenn ich sehe, mit welchen Menschen sich die Shaj umgibt, sehe ich auch keinen Grund dafür.“

„Darf ich … euch etwas fragen?“ Rahor wirkte nervös.

„Du willst wissen, warum ich mich hier mit euch unterhalte, obwohl es hieß, ich hätte seit jenen dunklen Tagen kein Wort gesprochen.“ stellte Wandan fest.

„Ja....“

„Ich spreche nur, wenn es nötig ist. Und nicht mit jedem. Doch die lange Zeit des Schweigens ist nun vorbei. Und um es gleich zu sagen... ich habe nicht vor, hier mit jedem Kontakt aufzunehmen. Dem Hohen Rat bleibe ich wenn möglich fern und der einzige Grund, der mich zurück nach Vas-Zarac geholt hat, ist Lennys' Befehl. Eher würde ich sterben, als mich ihrem Willen zu widersetzen.“

„Hat sie... euch um Hilfe gebeten?“

„Du stellst viele neugierige Fragen, junger Rahor. Oh nein, kein Grund, sich zu schämen. Du bist offen und direkt. Nur vorhin hast du gelogen. Du kamst nicht mit dieser jungen Dame ans Stadttor, um mich zu begrüßen.“

„Nein. Ich wollte....“

„Du wolltest das tun, was jeder gute Cas an deiner Stelle tun würde. Und um deine Frage zu beantworten... nein. Lennys hat mich nicht um Hilfe gebeten. Und wenn sie das getan hätte, hätte sie mir verboten, euch davon zu erzählen. Aber sie hat es nicht. Sie wollte nichts weiter als eine einfache Antwort auf eine schwierige Frage. Aber noch ist es dafür zu früh. Mehr müsst ihr nicht wissen.“

Sara stand auf.

„Möchtet ihr vielleicht etwas trinken? Oder darf ich euch ein Frühstück servieren?“

„Nein, Sara. Bitte setz dich wieder.“

„Ihr... kennt... meinen Namen?“

Wandan lehnte sich behaglich in seinem Polster zurück. „Aber ja. Auch wenn ich kein Krieger in den cycalanischen Heeresreihen mehr bin, so bin ich doch stets recht gut informiert, was Lennys' engste Vertraute angeht.“

„Aber ich bin nicht...“

„Ach nein? Nun, als was würdest du dich denn dann bezeichnen? Du bist nicht dumm. Und du weißt sehr genau, dass sie mit dir mehr Wissen teilt als mit vielen anderen. Ich muss ehrlich sagen,... ich glaube sogar, dass du einiges von dem, was hier geschieht, vielleicht sogar besser erkennen magst als sie selbst. Und dasselbe gilt für dich, Rahor.“

Rahor und Sara konnten nicht anders, als einen bedeutungsvollen Blick zu wechseln. Beide dachten in diesem Augenblick genau das gleiche und beide waren überzeugt, dass Wandan eine sehr genaue Ahnung von dem hatte, was in ihnen vorging.

„Ich glaube zu wissen, was euch Sorge bereitet. Und dich Rahor, beschäftigen zudem noch viele weitere Entscheidungen, die du zu treffen hast. Lass dir gesagt sein, dass es dafür noch nicht an der Zeit ist. Denke daran, wie wenigen dieses Wissen zuteil wurde. Gehe kein Risiko ein. Erinnere dich, was deine oberste Pflicht ist. Auch wenn wir uns heute zum ersten Mal seit vielen Jahren begegnen... zum ersten Mal, seit dir bestimmte Ehren zuteil wurden... haben wir doch einiges gemeinsam.“

Sara verstand in diesem Moment gar nichts. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Wandan sie hinausgeschickt hätte, denn im Augenblick kam sie sich vor wie ein dummes Kind, vor dem Erwachsene große Geheimnisse hatten. Doch als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte Wandan sich sofort an sie.

„Und du, junge Dame, solltest endlich zu dir selbst finden. Du hast einen Willen, du hast Stärke und Mut, du hast Intelligenz und Gefühl. Hör auf, dich hinter einer unterwürfigen Dienerin zu verstecken. Weißt du, wo du bist? Weißt du, was du tust? Deine Herrin hat dich bis hierher gebracht, bis ins Herz von Cycalas. Sie lässt dich an Ratsversammlungen teilnehmen. Sie spricht mit dir. Weißt du eigentlich, wie selten sie das tut? Mit jemandem reden? Und du glaubst immer noch, du wärst einfach nur eine kleine, unbedeutende Dienstbotin, deren größtes Talent darin besteht, Lennys nicht jeden Tag zur Weißglut zu treiben? Löse dich endlich von diesem Gedanken. Tu nicht nur, was du für richtig hältst. Sondern tu, was notwendig ist! Überlege dir, was wirklich wichtig ist. Es geht nicht darum, dass Lennys ihren Sijak pünktlich gereicht bekommt oder dass jemand für sie Briefe fälscht....“ An dieser Stelle errötete Sara erneut, doch Wandan achtete gar nicht darauf. „Lennys ist kein unselbständiges Prinzesschen. Sie kommt sehr gut ohne Diener aus. Damals, vor zwölf Jahren hat sie vieles verloren, was einen Menschen menschlich macht. Sie mag dir oft hart und gefühlskalt erscheinen. Unnahbar, abweisend, vielleicht sogar böse. Und manchmal hast du damit sicher recht. Aber tief in ihr drin steckt noch Satons Erbe. Vielleicht weiß sie bis heute nicht, warum sie dich an ihrer Seite duldet. Und doch tut sie es. Sie erlaubt, dass du ihr näher bist als jeder andere, wenn man von wenigen Ausnahmen wie Rahor einmal absieht. Und genau das ist es. Sie tut das Richtige, ohne dass es ihr bewusst ist. Und du wirst auch das Richtige tun, wenn du endlich einmal lernst, du selbst zu sein und dich nicht länger zu verstecken. Ich weiß, dass du es kannst. Es gab Momente, in denen du den richtigen Weg schon eingeschlagen hattest. Als du ihr nachgelaufen bist, obwohl sie dich im Nebeltempel zurücklassen wollte. Oder vor ein paar Tagen, als du ohne ihren ausdrücklichen Befehl im Kaminzimmer standest und für sie die Schriften sortiert hast. Ja, ich weiß mehr als du denkst. Heute, als du Rahor begleitet hast. Dieses Land ist im Krieg. Und es ist ein Krieg des Blutes, des Schmerzes und der Macht. Und nicht ein Krieg der Diener und des Gehorsams.“

„Aber...ich kann doch nicht gegen ihren Willen...“

„Sie wird sterben.“

Sara und Rahor erstarrten. Wandans Augen glühten und obwohl er nur sehr leise gesprochen hatte, waren seine Worte wie ein Donnerhall gewesen. Qualvolle Sekunden vergingen, bevor er weitersprach.

„Lennys wird sterben, wenn ihr nicht das Richtige tut. Ich weiß es. Und du Rahor, du weißt es auch.“

Saras Kopf wirbelte herum und sie sah Rahor fassungslos an. Dieser nickte nur stumm.

„Rahor und ich, wir sind Batí.“ erklärte Wandan. „Und wie alle Batí verbrachten wir vor und während unserer Kampfausbildung immer wieder längere Zeit in Mondors Tempel. Viele Eigenschaften der Batí bleiben den anderen Stämmen für immer verborgen. Und nicht alle sind ein Segen. Seit Menschengedenken besitzen wir eine Gabe, für die es keinen Namen gibt, aber die es uns möglich macht, mit unserem Innersten zu sehen. Hast du dich nie gefragt, Sara, warum Rahor sich so sicher ist, dass es einen Verräter gibt, obwohl er keinen wirklichen Beweis hat? Hast du dich nicht gefragt, warum ich hier mit euch beiden über so gefährliche Dinge spreche, obwohl ich euch nicht kenne? In deinem Land gibt es Scharlatane, die sich Hellseher nennen. Niemand kennt die Zukunft, Sara, auch wir nicht. Wir sind keine Hellseher. Weder die, die sich in betrügerischer Absicht so nennen, noch echte. Wahre Hellseher gibt es nicht. Aber wir haben Ahnungen. Nenne es einen erweiterten Instinkt, wenn du willst. Tief in uns ist etwas verwurzelt, das unserem Stamm erlaubt hat, zu überleben, obwohl wir doch als „Verfluchte“ gelten. Und alles, was unseren Stamm oder auch unser Land bedroht, legt sich wie ein dunkler Schatten über unsere Seele und wir können es spüren. Vor zwölf Jahren verriet uns Iandal. Er löste Ash-Zaharrs Schutz auf. Und Saton starb. Drei tödliche Gefahren für Cycalas. Und jeder Batí hat es gespürt. So viele schwarze Gespenster in unseren Köpfen und in unserem Herzen, zu vage um sie richtig zu deuten, zu intensiv um sie zu leugnen. Aber einige von uns....“ Er sah kurz zu Rahor auf, der nur noch starr ins Leere sah, „... einige sehen mehr als andere. Du bist ein guter Cas, Rahor. Ich weiß das. Lennys ist dem Tod geweiht, wenn ihr den falschen Weg einschlagt. Sie steht nur noch eine Handbreit von einem Abgrund entfernt, der sie unweigerlich verschlingen wird. Sie ist die größte Herrscherin, die Cycalas je gesehen hat, größer noch als Saton selbst. Und doch verbirgt sie es. Aber du, Rahor... du und ich, wir beide wissen, dass es so ist. Und genau deshalb schwebt sie in größerer Gefahr, als Saton damals. Und diese Gefahr nähert sich von vielerlei Seiten. Hört nicht auf ihren Willen. Hört auf eure inneren Stimmen. Ich bin nicht nur zurückgekommen, weil sie es wollte. So gesehen habe auch ich gelogen. Vor zwölf Jahren hätte ich ohne zu zögern mein Leben gegeben, um sie zu retten und ich würde es immer wieder tun. Deshalb bin ich hier. Wenn ihr euch weiterhin eurem Gefühl und eurem Instinkt verschließt, nur um ihr Wohlgefallen zu finden... wird Lennys sterben.“

Rahors Stimme war trocken und hohl. „Aber Mondor... er ...“

„Mondor sieht mehr und doch weniger. Sein Leben gehört Ash-Zaharr und dem Tempel, doch er ist blind für alles, was darum liegt. Er wird noch eine entscheidende Rolle spielen. Ebenso wie ihr. Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Ich kann euch nicht helfen auf eurem Weg. Aber vielleicht kann ich eure Zweifel ein wenig auslöschen. Die ganze Zeit über fragt ihr euch beide, wie vertrauenswürdig der andere ist, denn im tiefsten Herzen wisst ihr, dass ihr es allein nicht schaffen könnt. Und ich kann nichts anderes tun als euch zu sagen, dass ihr es gemeinsam könnt. Euer Gefühl sagt euch, dass ihr zusammen um Lennys' Leben kämpfen müsst. Und ich sage euch, dass ihr recht tut.“

Sara stand auf und ging rastlos auf und ab. Ihre Gedanken wirbelten herum, sie begriff immer noch nicht alles, was Wandan ihnen da sagte.

„Dann... gibt es also wirklich einen Verräter....?“ sagte sie mehr zu sich selbst.

„Ja und zugleich auch mehr als nur das. Sara, du kannst noch nicht alles erfahren. Noch nicht. Es ist noch zu früh. Aber es kann sehr bald zu spät sein. Der Horizont ist schwarz und vielleicht werden weder Sonne noch Mond noch einmal aufgehen. Wenn Lennys stirbt, versinkt Cycalas im Tod. Ihr habt nicht mehr viel Zeit.“

„Aber was können wir denn schon ausrichten?“ fragte Rahor. „Wir beide? Und dann vielleicht auch noch gegen Lennys' Willen? Das ist zu groß für uns, Wandan.“

„Vielleicht ist es das. Aber ihr habt keine Wahl. Tut alles, um eure Feinde zu erkennen und um sie zu besiegen. Und gleichzeitig dürft ihr euren Blick nicht vor den Dingen verschließen, die ihr jetzt noch nicht ernst nehmt. Wie ich schon sagte, Lennys' Leben wird nicht nur durch einen Verräter bedroht. Und Cycalas sieht sich mehr Gefahren gegenübergestellt als einer bloßen Armee aus Hantua. Traut... niemandem, hört ihr? Nur euch selbst. Nicht jeder, der euch begegnet, steht auf der falschen Seite. Und doch müsst ihr euch so verhalten, als wenn genau das der Fall wäre. Früher oder später werdet ihr herausfinden, wer mit euch kämpft und wer gegen euch.“

Er stand auf. „Ich muss jetzt gehen. Die Shaj erwartet mich noch einmal und was ich mit ihr zu besprechen habe, duldet weder Aufschub noch Zuhörer. Wir werden uns sicher wiedersehen.“

Ohne ein weiteres Wort des Abschieds verließ Wandan die Bibliothek und ließ einen niedergeschlagenen Rahor und eine verwirrte Sara zurück.

"Wie kann er... all das wissen?" Sara war fassungslos. "Dass du an einen Verräter glaubst. Dass ich nachts ins Kaminzimmer gegangen bin... Woher...?"

"Er weiß es einfach. Er ist ein Batí. Er war ein Cas. Und er... er ist ihr wohl sehr nah."

„Glaubst du ihm?“ fragte die Novizin schließlich.

„....Ja. Wenn nicht ihm, wem dann? Und ich spüre, dass er recht hat. Beim großen Dämon... Was sollen wir nur tun?“ Ratlos und sichtlich mit den Nerven am Ende vergrub Rahor sein Gesicht in den Händen.

Doch Sara gab sich nicht so einfach geschlagen.

„Wir tun genau das, was Wandan uns gesagt hat. Und was wir auch ohne seinen Rat getan hätten. Wir werden herausfinden, von wem die Bedrohung ausgeht. Und wir fangen damit an!“ Sie reichte Rahor ein kleines, zusammengefaltetes Stück Pergament.

„Was ist das?“

„Eine Abschrift über eine Rechnung.“ In wenigen Sätzen fasste Sara die spärlichen Informationen über die Pergamentbestellung des askaryschen Turmpostens zusammen und fügte die Überlegungen hinzu, die sie und Lennys angestellt hatten.

„Zugegeben...“ murmelte Rahor nachdenklich, „... zugegeben, das ist eine merkwürdige Sache. Aber bist du sicher, dass sie uns auf eine Spur führt?“

„Ja. Ich habe lange darüber nachgedacht. Iandal hat Informationen, die er nur von anderen Sichelländern haben kann. Er wusste über das Sagun-Ritual weit mehr, als Talmir ihm damals erzählt hat. Er kennt die Namen der Cycala, die im Mittelland und in Manatar leben, obwohl es kein Verzeichnis über sie gibt und obwohl er die meisten Orte anscheinend nie selbst besucht hat. Und es gibt noch viele andere Ungereimtheiten. Und das hier...“ Sie tippte auf die Notiz. „...Das hier ist der Beweis dafür, dass Tempelschriften aus Zarcas an jemanden verkauft wurden, der mit Gold bezahlt hat. Tempelschriften, verstehst du? Wandan sagte, dass Lennys mit mir viel Wissen teilt, aber an diese Dokumente hat sie mich nicht herangelassen. Ich bin sicher, dass nur wenige überhaupt Einsicht haben. Wer sind diese Wenigen? Und wie gefährlich kann der Inhalt dieser Schriften für Cycalas sein? Wer bezahlt so viel Gold dafür und geht dabei ein ungeheures Risiko ein, dass alles aufgedeckt wird?“

„Nicht zu vergessen: Wer ist so dumm und führt darüber auch noch Buch, ganz zu schweigen davon, dass Lennys diese Rechnung auch noch zu sehen bekommen hat?“ führte Rahor Saras Gedanken weiter.

„Ja, das stört mich auch. Aber wir müssen alles herausfinden, sonst kommen wir nicht weiter!“

„Was hat Lennys wegen dieser Bestellung veranlasst?“

„Sie hat Akosh nach Askaryan geschickt, damit er die Turmwache verhört. Und sie hat Talmir davon in Kenntnis gesetzt, er will jemanden nach Zarcas in den Tempel schicken, der dort Nachforschungen anstellt.“

„Traue niemandem....“ flüsterte Rahor. „Bei Akosh und Talmir sind diese Ermittlungen sicher in den besten Händen. Aber Wandan hat Recht, wir dürfen nicht das geringste Risiko eingehen. Ich werde selbst nach Askaryan reiten und...“

Sara schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe mir alles genau überlegt. Ich glaube, du solltest in Zarcas anfangen.“

„Warum dort? Wir müssen doch unbedingt herausfinden, an wen diese Schriften verkauft wurden!“

„Ja, aber noch wichtiger ist es, zu wissen, welche Geheimnisse überhaupt an den Feind weitergegeben wurden. Und von wem. Wir wissen schon, dass letztendlich alles bei Iandal gelandet ist. Aber er muss einen Verbündeten in den Tempeln haben, jemand, der die alten Texte abgeschrieben oder sogar die Originale herausgeschmuggelt und verkauft hat. Wer auch immer diese Pergamente in Empfang genommen hat... er hat sie an Iandal übergeben. Aber wir müssen den Ursprung des Verrates finden!“

„Nach Zarcas brauche ich nicht einmal einen Tag, wenn ich schnell reite. Aber ich bin ein Krieger, Sara. Ein hochgestellter Cas, das ja, aber eben ein Krieger. Viele Bereiche des Tempels werden mir verschlossen bleiben. Nur durch einen ausdrücklichen Befehl eines Shajs habe ich dort unbegrenzten Zugang.“

Es versetzte Sara einen tiefen Stich als sie antwortete: „Wandan sagte, wir müssen vielleicht Dinge gegen Lennys' Willen tun. Es geht aber um viel mehr als nur um ihr Wohlgefallen. Und deshalb...“ Sie holte tief Luft. „Deshalb werde ich dir geben, was du benötigst, damit dir keine Tür verschlossen bleibt.“

Zweiundvierzig. Sara zählte noch einmal. Zweiundvierzig Silberraben saßen auf dem Dach des Hauptflügels der Burg. Stumm und unbeweglich, wie ein böses Omen. Die junge Frau fühlte sich elend. Beinah wünschte sie sich, sie wäre Wandan nie begegnet. Die Aussage des alten Cas war eindeutig gewesen. 'Traue Rahor. Und sonst niemandem.' Was sich zuerst recht einfach angehört hatte, erwies sich nun als eine Last, von der sie nicht wusste, wie sie sie tragen sollte. Sie dachte an ihren alten Lehrer Menrir, den Freund und Verbündeten der Sichelländer. Er war in diesem Lande fast so hoch angesehen wie die Cas und er war ihr immer wie ein Vater gewesen. Nur dank ihm war sie Lennys überhaupt begegnet. Und Akosh. Akosh, der treue, freundliche Schmied, der sich immer wieder hinter sie gestellt hatte, der sie ermutigt hatte und der sich schon fast als Freund der Shaj bezeichnen konnte. Niemanden sonst hatte Lennys in den letzten Wochen so oft in ihrer Nähe geduldet wie ihn. Niemand sonst durfte so ehrlich und offen mit ihr sprechen. Imra. Der alte, zurückhaltende Weber aus Fangmor. Zu ihm fühlte Sara das gleiche unsichtbare Band wie zu Menrir. Er war so still, so gelassen, so weise. Sara kannte kaum jemanden, in dessen Augen so viel Güte strahlte, kaum jemand, der so sehr von Grund auf ehrlich und verlässlich war. Oras. Ja, sie hatte an ihm gezweifelt. Aber Oras hatte ihnen Sicherheit gegeben. Er hatte mehr als nur sein Leben riskiert. Und er hatte sie aus Iandals Burg befreit. Sogar die Tiere vertrauten ihm. Und all die anderen. Talmir, der große Shaj des Himmels, der ihr stets freundlich gegenübergetreten war und der wie kein anderer die Gegenseite zum Bösen verkörperte. Mondor, der düstere, unheimliche Batí-Priester. Konnte ein Batí überhaupt ein Verräter sein? Nichts erschien Sara abwegiger. Die Cas. Der ungestüme, fröhliche Sham-Yu. Der stets traurige und doch starke Balman. Faragyl, der alte Kämpfer, der schon vor zwölf Jahren seine Treue bewiesen hatte. Und dann tauchte ihr eigenes Bild vor ihrem geistigen Auge auf. Wie würden all diese Diener Lennys' wohl sie selbst sehen? Sara, die junge, unsichere Novizin aus dem Mittelland, die sich nicht nur bis nach Semon-Sey durchgeschlagen hatte, sondern sogar an den geheimsten Sitzungen teilnahm. Und die im Begriff war, tatsächlich einen Verrat zu begehen. Einen Betrug an ihrer eigenen Herrin.

Und der Beweis dafür lag in ihren zitternden Händen. Erst wenige Wochen war es her, dass sie etwas ähnliches getan hatte. Es schien zu einem anderen Leben zu gehören. Damals hatte sie keine Gewissensbisse gehabt. War sogar stolz auf sich gewesen. Und jetzt? Sie verabscheute sich dafür. Fast schon wünschte sie sich, dass ihre Herrin jetzt unerwartet hinter der Hecke hervortreten und ihr diesen Gegenstand der Selbstverachtung entreißen würde, sie zur Strafe in den Kerker sperren würde... nur damit diese Last von ihrer Seele genommen würde. Kerker? Nein. Sie wusste, dass es nur eine Strafe für ihr Verbrechen geben würde. Und doch schien ihr der Tod eine Gnade zu sein im Vergleich zu den Qualen des Gewissens, die sie gerade erlitt.

'Genug Selbstmitleid!' schalt sie sich. 'Dafür ist es zu spät. Von diesem Weg gibt es kein Zurück mehr!'

Eine Glocke läutete. In wenigen Minuten begann die nächste Ratssitzung. Diesmal würde sie nicht daran teilnehmen. Nur die verbliebenen Cas und Talmir, der vor wenigen Stunden zurückgekehrt war, waren geladen. Sie würden über Makk-Ura sprechen, das wusste Sara von Rahor.

Sie zog den Umhang etwas fester um sich. Regen setzte ein. Widerwillig ging sie zurück zur Seitenpforte der Burg. In ihrer Umhangtasche ruhte das gefälschte Befehlsschreiben mit Lennys' Siegel.

Sichelland

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