Читать книгу Die Verwandlung - Claudia Rack - Страница 5

3. Kapitel

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Sie war gut. Er hatte noch keine menschliche Frau gesehen, die beim Kickboxen austeilen konnte, wie sie das tat. Kein Wunder, dass Rafael sie im Blick haben wollte. Jetzt verstand Sariel, was er damit meinte, sie sei kein gewöhnlicher Mensch. Die anderen Menschen konnten es nicht sehen. Sie dachten, sie sei talentiert oder hatte Glück. Jeder Hieb von ihr war ein Volltreffer. Ihr Partner beim Training hatte keine Chance. Er schwankte bedrohlich und würde jeden Moment umfallen. Sie war außergewöhnlich flink, zu flink für einen gewöhnlichen Menschen. Er stand abseits am Eingang der Halle und studierte ihre Technik. Niemand beachtete ihn. Sie konnten ihn nicht sehen. Für das menschliche Auge war er unsichtbar. Er wollte es ungern zugeben, aber er sah ihr gern zu. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Erst als sie einen harten Schlag abbekam und kurz die Hand hob, als Zeichen für eine Pause, erstarb das Lächeln. Ariana bedeckte ihr rechtes Auge mit der Hand und krümmte sich vor Schmerzen. Verdammt, wie hatte er sie so hart treffen können? Sie konzentrierte sich und sah sich um. Irgendetwas hatte sie abgelenkt. Sie hatte irgendetwas gespürt. Oder jemanden? Das rechte Auge zusammengekniffen, versuchte sie die Leute um sich herum auszumachen. Sobald der Trainer sie ansprach, sah sie ihn direkt an. Er musste sich wiederholen, weil sie ihn nicht verstanden hatte.

„Willst du aufhören, Ari?“, fragte er sie besorgt. Zuerst schüttelte sie ihren Kopf, bis irgendetwas Feuchtes in ihr Auge lief. „Du blutest, Ari. Das reicht für heute. Lass dich vom Arzt versorgen. Das war gut heute“, meinte ihr Trainer noch zu ihr. Sie wischte mit der Hand über das Auge und erschrak. Blut. Ihr Trainingspartner musste sie ungünstig erwischt haben, sodass es blutete. Es versperrte ihre Sicht und sie schwankte leicht, sobald sie den Ring verließ. Mit unsicherem Gang lenkte sie ihre schwerfälligen Füße in Richtung Arztzimmer. Auf dem Weg dorthin lief sie direkt in kräftige Arme, die sie auffingen, bevor sie fiel. Sie sah auf und blickte in grüne, wachsame Augen. Der attraktive Mann lächelte und hielt sie. Ariana löste sich sofort aus seinem Griff und trat zurück. Er hatte dunkelblondes Haar, welches kurzgeschoren war. Seine Muskeln steckten in einem dunklen Pullover. Da war irgendetwas an ihm, was sie misstrauisch machte. Sie kannte dieses Gefühl, welches sich in ihr ausbreitete. Der Schmerz an ihrem Auge nahm zu, sodass sie den Gedanken verwarf und sich kurz bei ihm bedankte, bevor sie ihn stehen ließ. Erst im angrenzenden Zimmer dachte sie noch über die seltsame Begegnung mit diesem Mann nach. Der Arzt untersuchte ihr Auge und war behutsam. Sie dankte es ihm, die Schmerzen waren höllisch. Ihr war leicht schwindelig, sodass sie sich auf der Trage mit den Händen abstützte.

„Das sieht nicht gut aus, Ariana“, meinte der Arzt zu ihr. „Ich schätze, das muss genäht werden. Ich kann das direkt tun, wenn du willst? Oder du fährst in ein Krankenhaus.“ Sie lächelte ihn an.

„Sie können das gern jetzt tun. Ich vertraue ihnen, Henry.“ Er lächelte bei ihren Worten und wandte sich kurz ab, um die nötigen Utensilien zu holen. Henry war ein pensionierter Arzt, der keine Lust verspürte, daheim zu hocken und nichts zu tun. Somit half er im Sportstudio aus und versorgte die Verletzten. Henry war die gute Seele im Studio. Sobald er zurückkam und mit einer Nadel vor ihrem Gesicht fuchtelte, schluckte sie leicht. Seine rechte Hand zitterte bedrohlich, sodass sie Panik bekam. Er schien es zu bemerken.

„Keine Sorge, ich bin vorsichtig. Dein hübsches Gesicht werde ich nicht verunstalten.“ Ariana lachte bei seinen schmeichelnden Worten und ließ ihn seine Arbeit verrichten. Jeder Stich schmerzte, sodass sie tapfer den Atem anhielt und die Zähne zusammenbiss. Es war ihr unbegreiflich, wie das hatte passieren können. Entweder ließen ihre Fähigkeiten nach oder irgendetwas war geschehen, was sie ablenkte. Sogar ihr Trainingspartner war total überrascht gewesen und hatte sie entgeistert angesehen, nachdem sein rechter Fuß sie hart getroffen hatte. Sofort hatte er sich entschuldigt und schuldbewusst auf sie eingeredet. Wenn er wüsste, was sie erlebt hatte, würde er das eventuell anders sehen. Ariana lächelte in Gedanken und zuckte jedes Mal kurz zusammen, sobald die Nadel sich in ihr Fleisch bohrte. „Das muss fürs Erste reichen. Ich werde ein desinfiziertes Pflaster darauf machen, damit die Wunde nicht verschmutzt wird. Ich kann dir nicht versprechen, dass keine Narbe zurückbleiben wird, Ari.“ Sie nickte kurz und hörte kaum zu, was Henry sagte. Sobald er sie verarztet hatte, sprang sie auf. Sie ging zur Tür und spähte kurz hinaus. Der Mann war verschwunden. Seltsam. Sie hätte schwören können, dass er auf sie warten würde. Ariana drehte sich zu Henry um.

„Haben sie den Mann vorhin gesehen, der am Eingang stand, Henry?“ Er kam auf sie zu und sah auf die Stelle, die sie meinte. Er schüttelte ratlos den Kopf.

„Nein, da stand niemand.“ Er ging zurück in den Raum. Ariana runzelte die Stirn.

„Sind sie sicher? Dort stand kein Mann, sagen sie?“ Henry schaute sie an.

„Ich bin mir absolut sicher, Ariana. Ich habe dein Training beobachtet, wie immer, weil ich dich fantastisch finde“, meinte er mit einem bewundernden Lächeln, „ich habe niemanden gesehen. Bist du sicher, dass es nur das Auge ist? Eventuell hast du eine leichte Gehirnerschütterung davon getragen.“ Ariana versicherte ihm, dass es ihr gut ging, und verabschiedete sich von ihm. Sobald sie vor dem Eingang vom Sportstudio stand, atmete sie die angenehme frische Luft ein. Argwöhnisch sah sie sich um. Die Sonne war untergegangen und es war nach zehn Uhr abends. Kurz überlegte sie, ein Taxi zu nehmen. Sie beschloss, zu Fuß zu gehen. Das Escala lag in der Nähe. Den mysteriösen Mann mit den grünen Augen sah sie nicht mehr, obwohl sie das insgeheim gehofft hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie verfolgen würde. Ariana wusste nicht, wieso sie das annahm. Irgendetwas an diesem Mann schrie nach Gefahr. Sie ahnte, dass sie den Mann nicht zum letzten Mal gesehen hatte.

Ein gellender Schrei ließ ihn aus dem Schlaf hochfahren. Kurz orientierte er sich, wo er war, bevor er die Decke wegschob und aufsprang. Nackt stand er im Dunkeln und horchte. Da war er erneut. Jemand schrie da draußen um Hilfe. Eine Frau. William schlürfte schlaftrunken ins Zimmer und knipste das Licht an, sodass seine Augen sich automatisch zusammenkniffen, bevor er sich daran gewöhnte.

„Was ist los?“, meinte er noch fast im Schlaf. Jazar lachte über ihn und hob zur Beruhigung die Hand.

„Es ist nichts, Bill. Ich glaube, da draußen braucht eine Frau Hilfe, sie schreit.“ William nickte bedröppelt und tätschelte den Kopf von Mirabel, die schwanzwedelnd um seine Beine tänzelte.

„Nein Mirabel, wir gehen noch nicht raus. Platz!“, befahl er dem Hund. Dieser gehorchte und legte sich enttäuscht auf die Hundedecke. Jazar war im Begriff sich anzuziehen. „Was hast du vor, John?“ Er sah den alten Mann an und zuckte mit den Schultern, sobald er die Stiefel überzog.

„Ich gehe nachsehen, was denkst du? Falls jemand Hilfe braucht, sitze ich nicht herum und hoffe darauf, dass jemand der Frau zu Hilfe kommt.“ William sah ihn skeptisch an. Sicher vermutete er, er hätte es geträumt und diese Frau gab es in Wirklichkeit nicht. Aber er hielt ihn nicht auf. Das Beste war es, wenn er das mit seinen eigenen Augen feststellte. Sobald er die Tür aufriss, fegte ein eisiger Wind durch die Hütte. William schimpfte leicht verärgert und ging zurück ins Bett. Jazar machte sich auf den Weg und stampfte mitten in der Nacht durch den Schnee. Durch den Schneesturm sah er so gut wie nichts und das Schreien war verstummt. Hatte er sich das eingebildet? Der eisige Wind war unangenehm und erschwerte das Vorwärtskommen. Er wollte schon aufgeben und umdrehen, bis er eine kurze Bewegung ein paar Meter vor sich wahrnahm. Jazar beschleunigte den Schritt und eilte zu ihr. Die Frau lag im Schnee und schien Schmerzen zu haben. Sie verzog gequält ihr Gesicht. Ihre roten Locken wehten im Wind. Sobald er sie erreichte, sah sie hilfesuchend zu ihm auf. Ihre grünen Augen bohrten sich in seine und er hielt kurz den Atem an. Sie war wunderschön. Sobald er sich gefasst hatte, half Jazar ihr auf und hielt sie mit der Hand, damit sie stehen konnte.

„Haben sie sich irgendetwas gebrochen?“, fragte er sie. Sie sah an sich hinunter, wischte sich den Schnee vom dunkelblauen Wollkleid und stützte sich an seiner Schulter ab.

„Ich fürchte schon, mein rechter Fuß schmerzt und ich kann nicht auftreten“, antwortete sie erschöpft und wehleidig. Jazar hockte sich herunter und sah sich ihren Fuß genauer an. Vorsichtig tastete er ihn ab. Sofort zuckte sie vor Schmerz zurück und drohte zu fallen. Blitzschnell fing er sie in seinen Armen auf. Die Frau lächelte ihn an und ihre Blicke trafen sich. „Danke“, meinte sie einschmeichelnd, „sie sind mein Held, hm?“ Jazar lächelte zurück und trug sie den weiten Weg bis zur Hütte auf seinen Armen. Sie bettete ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Er betrachtete ihr zauberhaftes Gesicht. Was hatte eine Schönheit wie sie allein hier draußen zu suchen? Vor allem mitten in der Nacht und bei diesem Wetter? Sie war ihm eine Erklärung schuldig. Jazar wollte sie vorerst zur Hütte bringen und sie versorgen. Im Anschluss konnte sie ihm ihre Geschichte erzählen. Er war gespannt und konnte es nicht erwarten, mehr über diese Frau zu erfahren. Sein Herz pochte, jedes Mal, wenn sie ihn mit ihren grünen geheimnisvollen Augen ansah. Aus der Ferne beobachtete Calliel das Geschehen und verzog missbilligend den Mund. Ihre vier Flügel boten ihr Schutz vor dem Schneesturm, sie lagen wie ein Kokon um ihre Gestalt. Skeptisch dachte sie über Ophelia nach. Was hatte sie vor? Wieso hatte sie sich Jazar genähert und spielte eine gewöhnliche Frau? Das erschwerte ihr Vorhaben, den abtrünnigen Engel zu Rafael zu bringen. Jazar war tabu für sie. Calliel musste sich entscheiden. Der Wind blies kräftig um ihre Gestalt und lenkte sie ab. Genervt seufzte Calliel auf und schloss die Augen. Im nächsten Moment öffnete sie die Augen, die pechschwarz wurden. Es dauerte einen Moment, bis der Wind nachließ und der Sturm abebbte. Calliel war zufrieden mit ihrem Werk und entspannte sich. Mit einem Lächeln auf dem Mund nahmen ihre Augen die normale Farbe an. Es bereitete ihr Vergnügen, sobald sie eine ihrer Fähigkeiten einsetzen konnte. Den Wind zu beherrschen war keine Schwierigkeit für Calliel. Sie beschloss, Jazar und Ophelia weiterhin zu beobachten. Sie musste herausfinden, was Ophelia im Schilde führte, bevor sie einschritt. Sie musste aufpassen, Jazar außen vor zu lassen. Rafael wollte sich selbst um Jazar kümmern. Sollte sie ihm sagen, dass sie Jazar gefunden hatte? Calliel hielt das zur Zeit für unwichtig. Sobald sie sich auf den Weg machen wollte, hörte sie ein Geräusch und spitzte die Ohren. War ihr jemand gefolgt? Calliel sah sich um und kniff die Augen zusammen. Instinktiv griff sie zu ihrem gesegneten Dolch und hielt ihn angriffsbereit in der Hand. Vorsichtig schritt sie vorwärts und suchte die Gegend ab. Ihre weißen knielangen Stiefel fraßen sich in den Schnee und ließen Calliel schleppend vorankommen. Das Knirschen, sobald ihre Stiefel auf den Schnee trafen, kam ihr übermäßig laut vor. Eine Bewegung ließ sie kurz zusammenzucken. Sie drehte sich um. Eine dunkle Gestalt kam auf sie zu. Sie dachte zuerst, dass es ein Engel war, jemand von ihren Leuten, bis sie überrascht die Augen aufriss. Der Junge kam mit Gebrüll und erhobenen Fäusten auf sie zugerannt. Die Gesichtszüge kampfbereit verzogen, stürzte er auf sie zu. Calliel betrachtete die schlaksige Statur und schüttelte fassungslos ihren Kopf. Er war viel zu schmächtig und ein Mensch. Dieser Junge wollte sie mit seinen Fäusten überwältigen. Ernsthaft? Sie respektierte den Mut des Jungen. Jedoch wusste sie, dass sein Vorhaben töricht war. Calliel ließ sich alle Zeit der Welt, um ihren Dolch an seinen Platz im Waffengürtel zurückzuschieben. Entspannt wartete sie darauf, dass der Junge sie erreichte. Es dauerte ein paar Minuten, bis er schweratmend bei ihr ankam und sein rechter Haken gefährlich nahe ihrem Gesicht kam. Geschickt wich sie dem Schlag aus und grinste ihn an. Sein linker Haken verfehlte sie ebenfalls. Ihr Grinsen wurde breiter. Der Junge blieb hartnäckig, sah sie wütend an und versuchte erneut, sie zu schlagen. Im Endeffekt konnte sie seine Bemühungen nicht länger mit ansehen. Ihre Hand schoss vor und umschloss seine rechte Faust, sobald er erneut ausholen wollte. Überrascht versuchte er sich aus dem Griff zu befreien und sah sie wütend an. Calliel benötigte nicht viel ihrer Kraft, um die Faust festzuhalten.

„Gib auf!“, meinte sie selbstbewusst. Er knirschte mit den Zähnen. Abrupt ließ sie ihn los, sodass er den Halt verlor und kurzerhand nach hinten umkippte. Er landete im Schnee und schnaubte verärgert. Erzürnt sah er zu ihr auf. Calliel stand über ihm. Die Hände auf ihren Hüften abgestützt, betrachtete sie ihn eingehend. Seine braunen, leicht gewellten, Haare umrahmten das Gesicht. Braune wachsame Augen ließen sie nicht los. Die schlaksige Gestalt lag im Schnee, verhüllt von einer dunklen Jeans, Stiefel und einem dunklen Parka, der ihn vor der Kälte schützen sollte. „Wie heißt du?“, fragte sie ihn. Sie reichte ihm ihre Hand, um ihn aufzuhelfen. Der Junge blieb misstrauisch und ergriff die dargebotene Hand nicht sofort. „Ich will dir nicht wehtun, Junge“, ergänzte sie milde mit einem Lächeln. Das schien ihn zu überzeugen. Calliel zog ihn blitzschnell auf die Beine, sodass er verwundert direkt vor ihr stehenblieb. Unsicher unterbrach er den Blickkontakt mit ihr und klopfte den Schnee von der Kleidung. „Und? Willst du mir nicht deinen Namen verraten?“

„Wozu? Ich kenne deinen Namen auch nicht“, meinte er stoisch. Calliel lachte auf, sodass er sie direkt ansehen musste. Erst jetzt bemerkte er, wie attraktiv sie war. Ihr Lächeln war bezaubernd. Hatte sie zwei Augenfarben? Er sah genauer hin. In der Tat, ein braunes und ein blaues Auge. Sein Blick wanderte über ihre eleganten Kurven, die in hautengen weißen Hosen und einem schwarzen Gewand steckten. Wie sie es mit einem Bustier bekleidet in der Kälte aushielt, war ihm schleierhaft.

„Ich bin Calliel“, meinte sie beschwichtigend. Er nickte und überlegte noch, ob er ihr trauen sollte. Allerdings hätte sie ihn schon dreimal überwältigen können, wenn sie das gewollt hätte. Er hatte gespürt, dass sie kräftiger war, als sie aussah.

„Du musst ein Engel sein, korrekt?“, fragte er direkt. Verdutzt sah sie ihn an.

„Woher weißt du von Engeln?“

„Ich habe geraten. So wie du aussiehst und anhand deiner Kraft, wundert es mich nicht, wenn du einer von ihnen bist“, meinte er ein wenig verärgert.

„Wie sehe ich denn aus?“

„Tja du bist ..., ich meine ..., ihr seid alle imposant, kräftig und attraktiv“, versuchte er zu erklären. Calliel lachte erneut.

„Du dürftest mich nicht wahrnehmen, Junge. Es sei denn, du bist schon einmal mit einem Engel in Kontakt geraten“, sinnierte sie. Er mied ihren forschenden Blick und ging nicht auf diese Anspielung ein. Ihre Neugier war geweckt.

„Ich bin Nicholas, falls es dich noch interessiert“, meinte er. Calliel erschrak, sobald er seinen Namen nannte. Sie betrachtete ihn von oben bis unten, mit nachdenklichem Blick und eindeutig zu intensiv, für seinen Geschmack. Leichte Röte überzog seine Wangen bei ihrer Musterung. Der Junge, der sich tapfer gegen sie gestellt hatte, obwohl er keine Chance gegen sie hatte, war niemand anderer, als der berüchtigte Nicholas. Der beste Freund der Auserwählten. Jetzt war ihr klar, weshalb er sie sehen konnte. Sie kannte die Geschichte von Nicholas und Ramael. Der abtrünnige Engel hatte ihn unter seine Kontrolle gebracht und für seine Zwecke missbraucht.

„Du gehörst zur Auserwählten“, rutsche es Calliel heraus. Sein Misstrauen war sofort zurück, sobald sie die Auserwählte erwähnte. Beschwichtigend hob sie ihre Hände, sobald er sich erneut auf sie stürzen wollte. „Warte, ich bin auf eurer Seite“, sagte Calliel. Nicholas warf ihr einen skeptischen Blick entgegen, die Faust auf Augenhöhe haltend. Anscheinend begriff er nicht, dass er ihr nichts anhaben konnte. Sie war ein Engel.

„Das hat mir ein Engel schon einmal gesagt“, blaffte er sie an. Calliel schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.

„Ramael war ein hinterhältiger Engel. Er hat eigennützig gehandelt und wäre bestraft worden, wenn der Gefallene ihn nicht schon getötet hätte. Ich gehöre zu den guten Engeln. Ich will helfen, Nicholas.“ Ihre einschmeichelnde Stimme lud Nicholas ein, ihr zu vertrauen.

„Wieso bist du dann hier und beobachtest Jazar? Wieso hilfst du nicht, indem du sein Gedächtnis zurückholst?“

„Das kann ich nicht. Es gibt vereinzelt Engel, die diese Fähigkeit haben, aber ich nicht. Ich bin nicht hinter Jazar her.“ Nicholas stutzte und sah sie fragend an. „Ich bin wegen Ophelia hier.“ Nicholas hörte den Namen aus ihrem Mund und konnte kein Wort herausbringen. Die Erinnerungen fraßen sich in seinen Kopf. Ramael, wie er ihn geheilt hatte. Ramael, wie er hinter ihm stand und ihn bedrohte. Ramael, wie er die Dolchspitze an die Kehle gehalten hatte. Panisch schüttelte er den Kopf und versuchte die Bilder loszuwerden, die auf ihn einstürzten. Er wusste, wer Ophelia war. Sie war die Verlobte von Ramael. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn sie bei Jazar. „Geht es dir nicht gut, Nicholas?“, hörte er sie fragen. Vorsichtig kam sie auf ihn zu und wollte ihn am Oberarm berühren. Blitzschnell sprang er zurück und sah sie warnend an.

„Rühr mich nicht an, Engel!“, brüllte er. Calliel zuckte zusammen und nahm ihre Hand herunter. Der Ausbruch erschrak sie. „Ist Ophelia hier?“, fragte er alarmierend. Calliel dachte kurz darüber nach, ob sie ihm darauf antworten sollte. Er schien nicht in bester Verfassung zu sein. Hatte er mit Ophelia Kontakt gehabt?

„Das ist sie. Ich habe sie beobachtet, wie sie zu Jazar Kontakt aufgenommen hat“, sagte Calliel. Nicholas fluchte.

„Das darf nicht wahr sein! Wieso haltet ihr sie nicht auf? Ich verstehe euch nicht. Ihr wollt angeblich das Beste, doch wenn Gefahr droht, schaut ihr seelenruhig zu, anstatt irgendetwas zu unternehmen“, ereiferte er sich wütend. Calliel verstand ihn gut. Sie konnte ihm darauf nicht die Antwort geben, die er jetzt hören wollte. Das war nicht für seine Ohren bestimmt. Er war ein Mensch. Ein gewöhnlicher Mensch, der zufällig in Kontakt mit Engeln geraten war, mehr nicht. Außerdem stand es ihr nicht zu, ihm das zu sagen. Rafael würde das nicht gutheißen. Ihr Auftrag lautete, Ophelia finden und zu ihm bringen. Dass die Verlobte von Ramael bei Jazar aufzufinden war, war auch für sie überraschend.

„Ich bin hier um Ophelia gefangen zu nehmen. Ich wusste bis jetzt nicht, dass ich auf Jazar treffen würde, sobald ich sie aufspürte.“ Nicholas sah sie prüfend an, nachdem sie ihm das sagte. Calliel wusste, dass er abwägte, ob sie ihn anlog. Armer Nicholas. Sein Misstrauen gegenüber Engel konnte er nicht verbergen. Sie konnte es ihm nicht verübeln, nach allem, was er durchgemacht hatte. Sie hoffte, dass er ihr glauben würde. Aus einem ihr unerfindlichen Grund war Nicholas ihr sympathisch. Soweit man das für einen gewöhnlichen Menschen sagen konnte. Menschen, die mit Überzeugung für eine Sache kämpften, waren Calliel schon immer wohl gesonnen. Schwierig ist es, wenn ein Mensch in die Gefilde der Engel hinein manövriert wurde, ob freiwillig oder nicht. Es gab Regeln. Es gab Dinge, die ein Mensch nicht verstehen würde. Und Dinge, die ein Mensch niemals über die Engel erfahren durfte, egal wie sympathisch sie waren oder nicht. Calliel räusperte sich kurz. „Und was tust du hier? Was dachtest du, dass du tun könntest, hm?“ Ihre Frage war berechtigt, musste Nicholas zugeben. Ariana wusste nicht, dass er bei Jazar war. Er betrachtete Calliel argwöhnisch, bevor er entschied, es ihr zu sagen.

„Ich versuche, Jazar zu beschützen.“ Calliel stutzte. Das war selbst für ihn überraschend. Kein Wunder, dass der Engel vor ihm genauso verwundert war. „Ich weiß, dass ich nicht in der Lage bin, ihm zu helfen, sollte er angegriffen werden. Ich bin ihm etwas schuldig. Er weiß nicht, wer er ist oder woher er stammt, nicht wahr? Er ist schutzlos, eine direkte Zielscheibe“, versuchte er zu erklären. Er konnte sie nicht ansehen und starrte auf die Hütte, in der Jazar zurzeit lebte. Calliel wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Dieser Mensch vor ihr war entweder mutig oder naiv. Es würde noch eine Weile brauchen, bis sie Nicholas verstand, wusste sie. Calliel beschloss in diesem Moment, dass sie die Herausforderung annehmen würde. Sie wollte diesen Menschen kennenlernen und ihn verstehen. Ab sofort würde sie auf Nicholas ein Auge haben. Er wusste es zwar noch nicht, aber das war Calliel herzlichst egal.

Die Verwandlung

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