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Säugetier Mensch: Die Trinkmilch

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Milch war als Nahrungsmittel zu allen Zeiten wichtig; in früheren Gesellschaften hatte sie regelrecht den Status eines Luxusgutes, sie galt als etwas Besonderes. So wurde Milch z. B. bei den ältesten Opferzeremonien der Römer anstelle von Wein verwendet.

Im goldenen Zeitalter, das die römischen Dichter Ovid (43 v. Chr. –17 n. Chr.) und Horaz (65 v. Chr. –7 n. Chr.) besingen, im ersten Weltalter der Menschheit, in dem nach römischer Vorstellung noch überall Frieden und paradiesische Zustände herrschten, durchflossen Milch und Nektar das Land. Von einem „Land, in dem Milch und Honig fließt“, sprach auch Martin Luther (1483–1546) in seiner Bibelübersetzung – der Ausdruck wurde zu einer festen Redewendung.

Heute ist dieser Traum wahr geworden, er hat sich jedoch mittlerweile zu einem Alptraum entwickelt: In den westlichen Industriestaaten fließen Ströme von Milch. Die weltweite Produktion belief sich im Jahr 2000 auf 484 895 Millionen Tonnen. In Deutschland liefert eine Kuh im Durchschnitt pro Jahr rund 6300 Liter, während es 1870 gerade einmal 1300 Liter waren. Das bevorzugte Milchtier der Armen war in früheren Zeiten im Übrigen nicht die Kuh, sondern die Ziege. Sie stellte weit weniger Ansprüche, und diese Genügsamkeit, gepaart mit einer bescheidenen Größe, machte die Ziege zur unentbehrlichen Begleiterin aller großen Entdeckungsreisen. Robinson Crusoe lernte ihren Wert erst in der Not richtig schätzen:

Es ging mir mit den Ziegen, wie es mit vielen Dingen zu gehen pflegt, ohne ihre ganze Nutzbarkeit zu kennen. Lange hatte ich deren zwei ohne Nutzen; nachher eine Herde, und begnügte mich, bloß von Zeit zu Zeit eine zu schlachten. Ein Zickelchen, das ich saugen sah, führte mich erst lange nachher auf den Einfall, meine Ziegen zu melken. Seitdem erhielt ich täglich ein bis zwei Eimer Milch, und sie war eines meiner liebsten Lebensmittel.8

Milchkonsum gestern und heute

Der Milchverbrauch führt uns weit mehr als der Kaffee- oder Teekonsum eine Zäsur von epochaler Bedeutung vor Augen: Es ist der Wandel von der Konsum- zur Überflussgesellschaft. „Dem vormodernen Teufelskreis der Unterernährung steht der moderne Teufelskreis der Überernährung gegenüber“, so bringt es Wolfgang Reinhard in seiner lesenswerten Kulturgeschichte auf den Punkt.9

Doch was für die Ernährung gilt, ist in dieser eindeutigen Form für das Trinken nicht gültig. Wir trinken heute nicht mehr als früher, wir trinken anders. Der geschätzte durchschnittliche Jahresverbrauch von Milch im Deutschen Reich lag um 1870 pro Kopf bei 120 Litern. 2004 betrug der Milchkonsum in Deutschland gerade noch 67 Liter – dieser Trend ist auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten.

Die Milch als Getränk hat wie das saubere Trinkwasser den Status des Besonderen verloren. Das ist paradox, denn Milch ist alles Andere als ein profanes Getränk. Milch begleitet uns seit den Anfängen unserer eigenen Existenz: Es ist die Muttermilch, die uns nach unserer Geburt nährt. Konnte eine Mutter ihr Kind nicht selbst stillen, so war in früheren Zeiten das Überleben des Säuglings gefährdet, denn Kuhmilch ist in den ersten Lebensmonaten nur ein schlechter Ersatz. Die Muttermilch ist also Nahrung, ein „Lebens“-Mittel im eigentlichen Sinn des Wortes.

Der Mensch ist in der Regel erst nach einer gewissen Zeit in der Lage, auch die Milch von Tieren zu verdauen. Diese Fähigkeit ist das Ergebnis einer einzigartigen Anpassung. Als einziges Säugetier hat sich der Mensch daran gewöhnt, nach der Stillzeit die Milch artfremder Tiere zu trinken. Dazu melkt der Mensch nicht nur Kühe, Ziegen und Schafe, sondern auch Pferde (Stutenmilch), Esel und Rentiere. In Asien werden zudem Wasserbüffel gemolken, und im arabischen Raum wird die Milch von Kamelen konsumiert.

Milch als Säuglingsnahrung

In den städtischen Oberschichten hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Einstellung zur Milch durchgesetzt, die der der Unterschichten diametral entgegengesetzt war. Hier galt die Milch als gesund, dort als ungesund. Ganz falsch ist beides nicht, denn es kann z. B. Tuberkulose durch infizierte Kühe übertragen werden. Schon den Zeitgenossen fiel die hohe Sterblichkeit von „künstlich“ ernährten Säuglingen auf. 1885 lag sie im Deutschen Reich siebenmal höher als beim natürlichen Stillen. Die Unterschiede in der Sterblichkeit waren beachtlich, weil man in bestimmten Gegenden das Stillen einschränkte oder ganz darauf verzichtete. Während in Norddeutschland 1910 drei Viertel der Säuglinge gestillt wurden, verzichtete man in Bayern mehrheitlich darauf. Anstelle der Muttermilch fütterte man die Säuglinge mit Mehl-, Kartoffelbrei und normaler Kuhmilch. Das Zuführen von Kuhmilch war keine einfache Sache, Darmerkrankungen waren die häufige Folge. Erst die Fortschritte in der modernen Kinderernährung brachten eine Verbesserung.

Milch ist allerdings nicht für jeden ein ideales Lebensmittel bzw. Getränk. Viele Menschen leiden an einer Milchunverträglichkeit, die sich darin manifestiert, dass Milchbestandteile im Körper nicht hinreichend aufgespalten werden können. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Fähigkeit, den in der Milch enthaltenen Milchzucker (Lactose) als Erwachsener verdauen zu können, genetisch eine recht junge Entwicklung (ca. 8000 Jahre alt) ist, die sich vermutlich im Zusammenhang mit der Viehhaltung entwickelte. Die Anlage des Menschen, Milch zu trinken und sie zu verdauen, ist also einerseits einer körperlichen und andererseits einer kulturellen Anpassung zu verdanken.

Milchbruder, Milchschwester

Während heute der Begriff der Blutsbrüderschaft noch geläufig ist, ist die Bezeichnung Milchbruder bzw. Milchschwester in Vergessenheit geraten. Johann Christoph Adelungs Kritisches Wörterbuch aus dem Jahr 1801 definiert die beiden Begriffe folgendermaßen: „1) Ein Bruder der Muttermilch nach, derjenige, welcher mit einer andern Person einerley Brüste gesogen hat, mit ihr von einer Amme gesäuget worden; Collactaneus. Die Milchschwester, eine solche Person weiblichen Geschlechtes. 2) Im gemeinen Scherze auch eine Person männlichen Geschlechtes, welche gern Milchspeisen isset; ein Milchbart, Milchmaul.“

Heutzutage versteht man unter einem Milchbart, Milchgesicht oder -bubi einen unreifen Jüngling.

Haltbare Milch — Kampf den Keimen

Mit dem Genuss von roher Milch oder unbehandelten Milchprodukten können eine Reihe von ansteckenden Krankheiten übertragen werden wie die Salmonellose, die Listeriose oder die Darmtuberkulose. Diese Gefahren wurden erst durch das Verfahren der Pasteurisierung gebannt. Louis Pasteur (1822–1895) erkannte, dass sich durch kurzzeitige Erhitzung die meisten Mikroorganismen abtöten lassen. Bei Lebensmitteln wird die Haltbarkeit dadurch sogar gesteigert. Die Pasteurisierung von Milch wurde 1886 von Franz von Soxhlet (1848 –1926) vorgeschlagen. Im großen Stil umgesetzt wurde sie jedoch erst im 20. Jahrhundert. Die so genannte ultra hoch erhitzte Milch (UHT-Milch; auch H-Milch genannt) – für wenige Sekunden wird eine Temperatur von 130 bis 150 Grad Celsius erzielt – wird nachträglich noch mit Vitaminen angereichert und erfreut sich heute steigender Beliebtheit. Sie drängt die weniger stark erhitzte und weniger lang haltbare Milch (pasteurisierte Milch; Frischmilch) immer mehr zurück.

Kondensmilch — konzentriert und haltbar

Spricht man von der Pasteurisierung, so muss man auch die Kondensmilch (Dosenmilch) erwähnen. Das Verfahren, Milch in eine „konzentrierte“ und haltbare Form zu bringen, gelang erstmals 1856 in den USA. Dabei wurde die Milch zur Keimabtötung während zehn bis zwanzig Minuten erhitzt und anschließend bei Unterdruck eingedickt. Ohne geeignete Kühlvorrichtungen – der Kühlschrank fand erst in den 1930er Jahren zunächst in den amerikanischen und später in den europäischen Haushalten größere Verbreitung – hatte diese Milch den Vorteil, lange haltbar zu sein. Das Militär erkannte dies rasch: Die Kondensmilch feierte im Amerikanischen Sezessionskrieg ihren Siegeszug.

Im zivilen Bereich stand sie am Anfang einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte: Justus von Liebig (1803 –1873) hatte 1865 die Muttermilch vollständig analysiert; Henri Nestlé (1814 –1890) nutzte die dabei gewonnenen Erkenntnisse. Er entwickelte in Vevey das so genannte „Kindermehl“. Heute würde man von Milchpulver bzw. Trockenmilch sprechen. „Ein Esslöffel voll Mehl mit sechs Esslöffeln voll Wasser“10 seines Produkts sollte die Muttermilch ersetzen können. Mit einer genialen Verkaufsstrategie stellte sich der Erfolg des neuen Nahrungsersatzes bald ein. Nestlé wandte sich direkt an Ärzte und Apotheker. Er wollte sie nicht nur von der Qualität seines Kindermehls überzeugen, sondern er beteiligte sie auch großzügig am Gewinn. Der Pionier der Säuglingsernährung war auch ein gewiefter Verkäufer, der sich neue Vertriebskanäle zu erschließen wusste. 1873, sechs Jahre, nachdem er seinen Betrieb gegründet hatte, verkaufte Henri Nestlé bereits 500 000 Büchsen Kindermehl in aller Herren Länder.

Nestlés Konkurrenz, die Anglo-Swiss Condensed Milk Company, war nicht weniger erfolgreich. Das von zwei Amerikanern 1866 in Cham (Zug) gegründete Unternehmen machte sein Geld mit Kondensmilch. Der Wettbewerb war äußerst hart, und so machte man schließlich aus der Not eine Tugend: 1905 fusionierte man mit Nestlé. Der Grundstein für ein Weltimperium war gelegt. Beide Unternehmen hatten ihren Aufstieg technisch veränderten Milchprodukten sowie der Fähigkeit, einen neuen Markt zu erobern, zuzuschreiben.

Vor Kondensmilch und Trockenmilch wurden jedoch auch schon andere technisch veränderte Lebensmittel, so genanntes Design-Food, entwickelt. Den Auftakt machte hydrolytisch aus Stärke gewonnener Zucker (1811), gefolgt von löslichem Kakaopulver (1828), walzengetrocknetem Milchpulver (1855), Liebigs Fleischextrakt (1862), Margarine (1869), Milchschokolade (1876) und Cornflakes (1876). All diesen Produkten ist eines gemeinsam: der technische Eingriff des Menschen. Die Massenproduktion, wie sie in der Textil- oder Metallindustrie durch die Industrielle Revolution schon eingeleitet war, wurde zügig auf die Nahrungs- und Getränkemittelindustrie übertragen. Um mit Marx zu sprechen, fand nicht nur eine Entfremdung des Menschen von seinen Produktionsgütern, sondern auch von der Nahrung statt. Diese Entwicklung hält bis heute an.

Milchkonsum in der vorindustriellen Zeit

Milch hatte eine Vorreiterrolle bei den technisch veränderten Nahrungsmitteln und Getränken. Milch und Milchprodukte gehörten in der vorindustriellen Gesellschaft wie das Brot zur Grundlage einer einfachen Ernährung. Um Unruhen und Hungerrevolten zu vermeiden, kümmerte sich der Staat um eine gesicherte Versorgung mit Milch. Im Kanton Luzern war die Obrigkeit darum besorgt, den städtischen Markt jederzeit mit genügend Milch, Rahm, Butter, Käse und Zieger (Quark) zu versorgen. Senne in der unmittelbaren Umgebung der Stadt riefen die Milch in den Straßen aus oder überließen den Verkauf am Wochenmarkt dem Grempler (Kleinhändler). Damit sich auch ärmere Leute zu erschwinglichen Preisen eindecken konnten, war das Aufkaufen von Milch zum Zweck des preissteigernden Zwischenhandels untersagt. Am Wochenmarkt wurde zudem Sauermilch angeboten, die im Ruf stand, ein exzellentes Stärkungsmittel bei strenger Arbeit zu sein. Halb entrahmte Milch verwendete man in der Stadt und auf dem Land für die Zubereitung von Mus (Brei), ganz entrahmte Buttermilch war als durststillendes Getränk beliebt.

Die Bedeutung der Milch in der vorindustriellen Gesellschaft wird in der Institution der städtischen Milch- oder Mushäuser, die der Beherbergung ärmerer Leute dienten, sichtbar. Sie leiteten ihren Namen von der Vorschrift her, dass sie ihren Gästen nur Milch und Mus vorsetzen durften. Den Gastwirten waren die Milchhäuser ein Dorn im Auge, da sie in ihnen eine unliebsame Konkurrenz erblickten, die Obrigkeit hingegen schützte sie aus sozialen Gründen.

Milch und Kaffee

Im 18. und 19. Jahrhundert erfreute sich der Milchkaffee einer großen Beliebtheit. Vorwitzig lässt Lawrence Sterne (1713– 1768) seinen Protagonisten in Tristram Shandy sagen: „Ich hatte meine zwei Tassen Milchkaffee getrunken (was, nebenbei gesagt, ein vortreffliches Getränk ist, nur muss Milch und Kaffee zusammen gekocht werden, denn sonst ist es weiter nichts als Kaffee mit Milch).“11

Besonders beliebt war der Milchkaffee im bäuerlichen Umfeld, wo man auf den Geschmack kam: Die Milchsuppe als Frühstück wurde vom dünnen Kaffee abgelöst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das, einem Bericht des Niederösterreichischen Bauernbündlers zufolge, in weiten Teilen Österreichs der Fall. Der Milchverbrauch auf dem Land nahm dadurch ebenso rasch ab, wie er in den Städten zunahm. Dieser Trend war nicht nur in Österreich zu beobachten. Massiv verbesserte Transportmöglichkeiten und riesige Fortschritte in der Lebensmittelindustrie sicherten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Versorgung der Städte in weiten Teilen Europas mit frischen Lebensmitteln. Das Trinken von frischer Milch gehörte jetzt zum guten Ton in der Stadt und galt als gesund.

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