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Prolog

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Meine Heimat. Erstfeld.

Ein beschauliches Städtchen am oberen Ende des unteren Urner Reusstals. Die Sonneneinstrahlung ist im Winter gering, die Lebensqualität dennoch hoch, weil Erstfeld das Glück hatte, dass der unweit gelegene Sankt-Gotthard-Pass auserkoren wurde, eine der wichtigsten Nord-Süd-Transitrouten zu werden. Zuerst kamen die Säumer mit ihren Mauleseln, später die Eisenbahn, welche am Nordrand der damals sehr kleinen Siedlung ausgedehnte Landflächen erwarb und riesige Gleisanlagen mit Depot, Werkstätten und Bahnsteigen errichtete. Mit der Eisenbahn kam der wirtschaftliche Aufschwung Erstfelds, schnell wurde die Gemeinde eine der reichsten des Landes. Die Kantine der Bahnbeamten war rund um die Uhr geöffnet, jahrelang verbanden Nachtzüge Erstfeld mit den Metropolen Europas: Amsterdam, Mailand, Brüssel, Dortmund, Köln, Turin. Wir waren der Mittelpunkt, den jeder kannte.

Auch die örtliche Bevölkerung profitierte, Gewerbe aller Art siedelte sich an, freilich auch das horizontale. Die Gotthardstrasse, welche sich wie ein Boulevard parallel zur Bahnlinie hinzieht, hat sich über Jahrzehnte einen Namen als Kneipenmeile gemacht.

Leider hat Erstfeld an Bedeutung für die Eisenbahn verloren, seit vor wenigen Jahren eine Hochgeschwindigkeitsstrecke eröffnet wurde, welche den Ort links liegen lässt. Zwar wurden als Gegenmassnahme neue Geschäftsbereiche angesiedelt, doch ein grosser Teil der Bahnanlagen liegt seitdem brach. Die internationalen Personenzüge rauschen nun einige Kilometer ausserhalb des Ortes durch den Berg, nachdem sie ihre früher hier üblichen Halte längst verloren hatten. Auch die Schichtwechsel bei den Güterzügen gehören der Vergangenheit an, die Kantine sucht einen neuen Pächter. Bislang erfolglos - wen wundert’s?

In die Bresche sprang die Autobahn, vor über dreissig Jahren als weitere Transversale errichtet, zuerst beschäftigte die Baustelle zahlreiche Arbeiter, heute ist es die Raststätte am nördlichen Ortsende, welche für hohe Steuereinnahmen sorgt.

Da fällt mir ein, ich habe mich dem geneigten Leser noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Alessandro Varela, ein junger Mann, der fast sein ganzes Leben hier in Erstfeld und dem Tal verbracht hat.

Ich husche durch die Strassen, die fast ausgestorben wirken, das Leben spielt nicht mehr hier in Erstfeld, von der Eisenbahn profitieren längst andere. Irgendwie war es immer am Arsch der Welt gelegen, nur weil man damals keine Alternative beim Eisenbahnbau hatte, war Erstfeld zum Handkuss gekommen.

Ich betrete das Auld Triangle, ein im irischen Stil eingerichtetes Pub an der Gotthardstrasse, eines der wenigen Lokale, das noch geöffnet war. An unserem Stammtisch warten bereits meine besten Freunde auf mich.

Marija Kuzmanovic, eine junge Frau mit beeindruckendem Willen.

Severin Gisler, nicht gerade arbeitsfreudig - heute mal ausnahmsweise ohne seine Freundin Leandra, mit der er quasi über Nacht seine ehemalige Freundin Silvia ersetzt hatte.

Marcel Hendl, dessen sonniges Gemüt ihn mehr Rosen oder auch Körbe verteilen liess als manchen dieser Junggesellen im Privatfernsehen.

Alexander Weiss, der älteste in der Runde, aber bei weitem nicht die Papafigur der Gruppe, weil er in seinem Innern doch jung geblieben war.

Alles scheint auf eine fröhliche Runde hinzudeuten, die Kellnerin Natascha, die immer ein offenes Ohr für uns hatte, hat mich offenbar bereits erblickt, jedenfalls kommt sie an unseren Tisch geeilt, um die Bestellungen aufzunehmen.

„Hallo Alessandro“, begrüsst sie mich und lässt ihre perfekten weissen Zähne aufblitzen. „Was darfs denn sein?“

Just als ich ihre Frage beantworten will, ertönen laut dumpfe, tiefe Klänge, welche das Blut in unseren Adern gefrieren lässt. Ich kenne diese Töne, die Gefahr ihres Erklingens schwebt seit Jahrzehnten wie ein Damoklesschwert über Erstfeld und dem Reusstal. Wir befinden uns nicht nur an einer der wichtigsten Nord-Süd-Routen Europas, sondern auch wenige Kilometer nördlich - und vor allem flussabwärts - eines der grössten Stauseen des Landes – der Göscheneralpsee. Der Wasseralarm, der Alarm, vor dem wir uns alle fürchteten – und den wir alle erfolgreich verdrängt hatten.

Bis heute.

„Ist auf der Göscheneralp oben was los?“, fragt Severin, der als erster seine Sprache wieder gefunden hat. Wir eilen nach draussen, wo sich wohl das halbe Städtchen auf den Strassen versammelt hat und alle lauschen gebannt den Sirenen, welche unaufhörlich versuchten, die Bevölkerung zu warnen. Vor einer Gefahr, der man nicht lebend entkommen konnte. Auf meinem Rücken hatte sich eine Gänsehaut gebildet.

Wir halten uns alle an den Schultern, im Wissen, dass unser Leben bald vorbei ist. Offenbar hat Alexander denselben Gedanken wie ich.

„Jungs und Marija, es ist Zeit unser Leben zu reflektieren. Was habt ich in eurem geschafft?“

Unsere alle Augen blicken gespannt auf Marija, hat sie doch den grössten Wandel unserer Clique hinter sich.

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Wenn das Leben dir Zitronen gibt...

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