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Jeder Mensch ist einzigartig

»Alle Tiere sind gleich.« Das war der Traum, den der Eber Old Major den Tieren auf der Farm von Bauer Jones erzählte. Das war das Ideal, für das sie den Farmer verjagten, auf das sie ihre neue »Farm der Tiere« bauten.

»Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher.« Das war der Satz, mit dem George Orwell das endgültige Umkippen der freiheitlichen Revolution aller Tiere in eine neue Diktatur der Schweine beschrieb.

Die kommunistischen Diktaturen, gegen die der Anarchist George Orwell 1945 seine »Animal Farm« geschrieben hatte, gibt es seit 20 Jahren nicht mehr. Sie büßten dafür, aus einem Traum ein Terror-Regime gemacht zu haben. Doch der Traum von der Gleichheit aller Menschen, entstanden aus dem Kampf gegen König und Adel, gegen Armut und Unterdrückung, ist heute mehr verwirklicht als jemals zuvor in der Geschichte.

Jetzt ist es Zeit für einen neuen Traum. Auf der Farm der Tiere hieße er: »Alle Tiere sind gleicher.« Und für uns Menschen: »Wir sind Elite.«

Elite zu sein bedeutet: etwas Besonderes zu sein; etwas Einzigartiges zu sein. Es fällt uns schwer, 80 Millionen Deutschen oder gar sechs Milliarden Weltbürgern ihre jeweils eigene Einzigartigkeit zu bescheinigen. Aber dafür fällt es den meisten relativ leicht, das für sich selbst zu tun – wer würde nicht von sich selbst behaupten, etwas Besonderes zu sein?

Die Aufklärung und der Kapitalismus haben uns erlaubt, einzigartig zu sein. Die Aufklärer haben uns Gott genommen, nach dessen Bilde wir geformt sein sollten: Wir wurden wir selbst, waren nicht mehr die unvollkommene Kopie eines vollkommeneren Wesens. Und Adam Smith, der Philosoph des Kapitalismus, hat uns erlaubt, uns selbst in den Mittelpunkt all unseren Strebens zu stellen: »Jeder Mensch hat, solange er nicht die Gesetze verletzt, vollkommene Freiheit, seine eigenen Interessen auf seine Weise zu verfolgen und beides, seinen Fleiß und sein Kapital, mit dem anderer Menschen in Wettbewerb zu setzen.« Jene unsichtbare Hand, die das allgemeine Wohl hervorbringe, arbeite am effektivsten, wenn jeder seinen eigenen Nutzen zu optimieren trachte.

Die Genetiker schließlich haben uns gezwungen, einzigartig zu sein. Sie haben uns nachgewiesen, dass in jeder unserer Zellen 3,2 Milliarden Paare von Adenin (A) und Thymin (T) oder von Cytosin (C) und Guanin (G) stecken, den vier Nukleobasen, die das menschliche Genom bilden. Nur bei eineiigen Zwillingen sind diese Milliarden von Paaren genau gleich angeordnet. Ansonsten gab es noch nie einen Menschen, der genau so war wie ein anderer vor ihm, und solange wir uns nicht klonen, wird es auch niemals einen solchen Menschen geben. Das Muster, in dem A und T, C und G angeordnet sind, enttarnt Verbrecher und erweist Unschuld. Der genetische Fingerabdruck kann mit praktisch hundertprozentiger Sicherheit belegen, oder eben widerlegen, ob ein Mann der Vater eines Kindes ist.

Im 21. Jahrhundert werden wir die Konsequenzen dieser Einzigartigkeit noch in einer Vielzahl von Fällen zu spüren bekommen.

• Positiv zumeist: Eine stetig steigende Zahl von Medikamenten wird in der Zusammensetzung individuell auf die genetische Ausstattung des jeweiligen Patienten abgestimmt werden.

• Ambivalent: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn Partnerschafts-Institute die passenden Pärchen anhand eines DNA-Abgleichs ermitteln? Sollen bei künstlicher Befruchtung Keimzellen ausgeschlossen werden, die Gene für eine Erbkrankheit tragen? Und sollen sich die zukünftigen Eltern die gewünschten Eigenschaften des Sprösslings selbst aussuchen dürfen?

• Manchmal bestimmt auch gefährlich: Was hätten die Nazis mit den Erkenntnissen der modernen Genforschung anfangen können! Wie lässt sich verhindern, dass aus diesen Erkenntnissen neue Herrenrassen-Ideologien entstehen? Und vielleicht laufen wir sogar Gefahr, das gleiche Schicksal wie die meisten Hochleistungs-Nutzpflanzen zu erleiden: Super-Gene, Super-Leistungen, Super-Aussehen – und super-unfruchtbar. Noch kann jeder beliebige Hans jede beliebige Grete finden und mit ihr Hänsel und Gretel zeugen; doch es gibt keine Garantie, dass das nach einem Jahrhundert voller genetischer Experimente immer noch so sein wird.

Ob positiv, negativ oder umstritten: Es wird im 21. Jahrhundert unsere Diskussionen und unser Leben prägen, dass die Menschen eben NICHT gleich sind. Dass JEDER etwas Besonderes ist.

Gut so! Wir kommen aus einer Zeit, in der die Masse etwas Positives war. Massenproduktion war günstig, Massenkonsum bedeutete Wohlstand, Massenmotorisierung war eine Verheißung: »Wohlstand für alle« war die Devise des Wirtschaftswunders, und der Sozialismus zelebrierte gleichzeitig die Tonnenideologie: Würde nur jeder Arbeiter die gleichen 24,4 Kubikmeter Kohle pro Schicht fördern, die »Held der Arbeit« Adolf Hennecke am 13. Oktober 1948 aus dem Berg schlug, wäre der Kapitalismus in Windeseile eingeholt, überholt und besiegt. Vorbei.

Wir leben in einer Zeit, in der es darum geht, sich von der Masse abzuheben. Es sind längst nicht mehr alle Autos gleich und auch nicht alle Handys. Und wenn sie doch einmal genau gleich aussehen sollten, dann unterscheiden sich mit Sicherheit ihre Klingeltöne. Ganze Zubehör-Industrien leben davon, dass wir Standard-Produkte ein bisschen individualisieren möchten. Die ganze bunte Welt von Werbung und Marketing gibt es nur, weil wir den kleinen Unterschied wollen. Die Märkte sind gesättigt, Zahnpasta, Cola und T-Shirt werden nicht jeden Tag neu erfunden, und doch findet die Industrie immer wieder Wege der Differenzierung. Bald vorbei.

Denn wir kommen in eine Zeit, in der es die Masse gar nicht mehr geben wird, von der man sich abheben könnte. Es ist die Ära der Individualproduktion, und ein bisschen hat sie auch schon begonnen.

1. November 2008, Messegelände Nürnberg. Die Erfinder-Zwillinge Philipp und Dominik Danner präsentieren einen Durchbruch in der Keks-Kreation. Ihr »PC-gesteuerter Kleingebäckplotter« sticht ein am Computer entworfenes Design direkt aus einer Teigplatte aus. Auch Garnierung und Dekoration wandern direkt aus dem PC in die Plätzchen-Produktion, die die Danners allerdings noch nicht hauptberuflich betreiben können – sie sind erst 16 Jahre alt und Schüler des Maristengymnasiums Fürstenzell.

Aber wenn heute schon Schüler den Individualkeks produzieren können – wer braucht dann in Zukunft noch Keksfabriken? Wer Zeitungsdruckereien, wer Lackiermaschinen, all die High-Tech-Roboter-computergesteuerten Produktionsanlagen, die im 20. Jahrhundert zur Basis unseres Wohlstands wurden? Der »Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion« habe gerade erst begonnen, schreiben Holm Friebe und Thomas Ramge in ihrem Buch »Marke Eigenbau«, und prognostizieren die Rückkehr der Produktion in heimische Gefilde: Die »Nutzergetriebene Wertschöpfung« werde völlig neue Wirtschaftsstrukturen schaffen.

Das klingt so, als ginge nun die Ära der Massenproduktion endgültig zu Ende, mit der im 19. Jahrhundert die Industrielle Revolution begann. Immer bessere Maschinen stellten immer mehr der immer gleichen einfachen Produkte her: Garn, Stoff, Eisen, Stahl. Im 20. Jahrhundert trat zur Massenproduktion noch der Massenkonsum hinzu – nach der Erfindung des Fließbands in einer Fabrikhalle der Ford Motor Company in Dearborn im Jahr 1913, der Verdopplung der Löhne der Ford-Arbeiter im Jahr 1914 und der anschließenden millionenfache Herstellung des immer gleichen Ford T (»in jeder Farbe, solange sie schwarz ist«).

Und jetzt soll die Produktion nach zwei Jahrhunderten wieder aus der Fabrik zurück in Wohnstuben und Hinterhöfe kommen? Hoffentlich nicht: Arbeits-, Energie- und Ressourcenproduktivität von Eigenbau-Produktionen sind dramatisch niedriger als bei Herstellung der gleichen Güter in einer Fabrik, von Arbeits- und Umweltschutz ganz zu schweigen. So sinnstiftend das Heimwerken im Einzelfall sein kann, bei millionenfacher Multiplikation führt es zu katastrophalen Ergebnissen für Mensch und Umwelt.

Aber die Industrieunternehmen haben auch schon eine Lösung gefunden, um das Bedürfnis der Konsumenten nach Individualität selbst befriedigen zu können. »Mass Costumization« heißt sie, individualisierte Massenproduktion. Sie wird sich zu einer der mächtigsten Umwälzungen des 21. Jahrhunderts entwickeln. Jedes Produkt wird ein Unikat werden, »Losgröße 1« heißt der Fachbegriff für diese individuelle Fertigung nach Kundenwunsch, und das, ökonomisch und ökologisch nachhaltig, in hoch technisierten und rationalisierten Industrieanlagen. Der Backstraße in der Keksfabrik muss es dann egal sein, ob sie zehntausend gleiche Plätzchen in den Ofen schiebt, ob sie zehn Designs von Dominik Danners Kundschaft dazwischen packt, oder ob sie direkt an den Server von mycake.com angeschlossen ist, der »realtime« die Bestellungen von Keksgestaltern aus aller Welt übermittelt, und danach auch noch die Packstraße und die Lieferkette so bestückt, dass jeder Keks in der richtigen Verpackung zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.

So wie der medizinische Fortschritt uns immer individuellere Medikamente und Therapien beschert, wird uns der technische Fortschritt immer individuellere Produkte bescheren, vom Keks bis zum Fahrrad. Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird also nicht nur etwas Besonderes SEIN. Er wird auch etwas Besonderes HABEN. Also könnte unser Bildungssystem dem Kind des 21. Jahrhunderts dabei helfen, etwas Besonderes zu WERDEN. Noch besonderer, als es ohnehin schon ist.

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