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Jedes Kind ist speziell

Lassen Sie uns nicht darüber streiten, wie viele Prozent der Persönlichkeit eines Menschen durch seine Gene vorbestimmt sind, wie viele Prozent auf das Elternhaus, wie viele auf die übrige Umwelt und wie viele auf die eigenen Entscheidungen eines Menschen zurückgehen. Es gibt dazu ungefähr so viele Meinungen wie Studien, und außerdem müssten wir uns erst noch darauf einigen, was denn unter »Persönlichkeit« zu verstehen ist. Lassen Sie uns erst einmal nur festhalten: Jedes Kind ist anders.

Hebammen sehen das im Kreißsaal. Eltern sehen das zu Hause, sofern sie nicht nur ein Kind haben, ansonsten sehen sie es in der Krabbelgruppe, auf dem Spielplatz, bei Kindergeburtstagen, im Kindergarten, in der Schule, überall. Es kann zwar alles genau so sein, wie es in den Ratgeber-Büchern und Elternzeitschriften steht – aber auf nichts kann man sich verlassen, alles muss selbst erfahren werden. Weil Kinder gerne im Garten spielen, suchten wir mit einem, bald zwei kleinen Kindern ein halbes Jahr lang in Hamburg eine Wohnung mit Garten. Aber Leonie schätzte es überhaupt nicht, sich dreckig zu machen, was sich allerdings in Gärten kaum vermeiden lässt – nur sporadisch gingen ihre Ausflüge über die Terrasse hinaus.

Und weil kleine Kinder sich bemerkbar machen, wenn sie nachts aufwachen und niemand sich um sie kümmert, stellten wir am Hochzeitstag ein Babyphone in Leonies Zimmer und zu den Nachbarn und gingen endlich mal wieder ganz alleine zu zweit aus. Aber als Leonie wach wurde, schlich sie in unser Schlafzimmer, fand uns nicht und ging zurück in ihr Bettchen,wo sie ebenso ruhig wie ängstlich darauf wartete, dass wir zurückkamen. Die Nachbarn waren beeindruckt über den festen Schlaf unserer Tochter, und wir verschenkten am nächsten Tag das Babyphone an frische Eltern, die bestimmt ganz andere Erfahrungen damit machten.

Jeder, der mit mehreren Kindern zu tun hat, sieht diese Unterschiede. Manche fallen mehr auf, manche weniger, manche sind gefährlich, manche lästig, manche angenehm. Erzieher sehen sie, Lehrer sehen sie, Freunde und Verwandte, die Kinder selbst natürlich auch.

Und auch Jürgen Baumert. Der langjährige Direktor des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung sieht eine der größten Herausforderungen für die deutschen Schulen darin, mit der Verschiedenheit der Kinder umzugehen. Einer Verschiedenheit, mit der die Kinder bereits eingeschult werden: »Bereits am ersten Tag nach der Geburt vergrößern sich die in die Wiege gelegten Unterschiede. Wie liebevoll Eltern für ihre Kinder sorgen, wie sie mit ihnen reden und spielen, wie sie zuhören, ob und was sie vorlesen: Alles wirkt sich im Wechselspiel mit der natürlichen Mitgift auf die Lebenschancen des Kindes aus.«

Und die liegen, so die Erkenntnisse der Bildungsforschung, schon zu einem großen Teil fest, bevor ein Kind erstmals auf einen Lehrer trifft. »Kein menschliches Merkmal bleibt über das ganze Leben so konstant wie der Intelligenzquotient«, sagt der Marburger Psychologieprofessor und Bildungsforscher Detlef Rost. Abweichungen von mehr als zehn Punkten zwischen den Test-Ergebnissen als Grundschüler und als Erwachsener sind äußerst selten. Diese Zeit des konstanten Intelligenzquotienten (IQ) beginnt dabei schon bei den ersten Messungen. Und das heißt: mit sechs Jahren. Der IQ, der bei Erstklässlern bei Tests gemessen wird, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit durch die ganze Schullaufbahn hindurch und während des gesamten weiteren Lebens nicht wesentlich ändern. Selbst intensive Programme zur Intelligenzförderung erreichen allenfalls eine Steigerung von etwa zehn Punkten, und auch die ist nicht nachhaltig, sondern fällt nach einigen Jahren wieder ab.

Intelligenz ist zwar nicht alles. Aber für den Bildungs-Erfolg, und für die Psychologen, eine ganze Menge. Gerade weil der IQ fast unveränderlich ist, können die Wissenschaftler ihn mit allen möglichen menschlichen Verhaltensweisen, Eigenschaften und Entwicklungen korrelieren. Dabei finden sie dann beispielsweise heraus, dass Menschen mit höherem IQ besonders oft kurzsichtig sind und im Berufsleben besonders häufig erfolgreich. Juden sind im Schnitt intelligenter als Muslime, Lehrerkinder intelligenter als Arbeiterkinder und die Deutsch-Note von Schülern ist in größerem Ausmaß vom IQ abhängig als die Mathe-Note. Über die Ursachen für solche Zusammenhänge sagen die Statistiken zwar nichts aus, aber in der hochgradig subjektivitätsverdächtigen Psychologie sind die Forscher ja schon froh, wenn sie überhaupt auf derart objektive Daten zurückgreifen können.

Und nicht nur die Intelligenz, auch eine ganze Reihe anderer Merkmale sind schon von klein auf weitgehend festgelegt. So das Ergebnis einer 20 Jahre dauernden Längsschnitt-Studie an 200 deutschen Kindern (am Ende der Studie natürlich alle junge Erwachsene). Die Wissenschaftler, anfänglich vom Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München, später ein Team von der Universität Würzburg unter Leitung des Psychologen Wolfgang Schneider, untersuchten regelmäßig sowohl die Versuchspersonen als auch deren familiäres und soziales Umfeld.

Das zentrale Ergebnis, so Schneider: »Wir hätten nicht erwartet, dass so viel in der Entwicklung bereits sehr früh festgelegt ist. Über fast alle Persönlichkeitsbereiche hinweg stellte sich heraus, dass die Unterschiede zwischen den Kindern, die wir mit 3 oder 4 Jahren gemessen haben, mit 23 Jahren immer noch weitgehend bestanden.« Untersucht worden waren dabei neben den intellektuellen Fähigkeiten der Kinder unter anderem ihre Feinmotorik, ihr Moralverständnis und ihr soziales Verhalten. Und auch da, leider, weitgehend konstante Messwerte über die Jahrzehnte hinweg: »Jene, die bereits früh als aggressiv auffielen, zeigten auch als Erwachsene soziale Auffälligkeiten. Sie sind häufiger straffällig oder nehmen vermehrt Drogen, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.« Auch Schneider bestätigt: Die wichtigsten Merkmale in der Persönlichkeit der Untersuchten waren im frühen Grundschulalter bereits festgelegt.

Eigentlich also ist dann, wenn die Schule beginnt, im Kind bereits der Mensch angelegt, der daraus werden wird. Das traditionelle und wohl nicht zufällig weltweit verbreitete Einschulungsalter von sechs Jahren trennt deshalb nicht einfach nur zwischen der Zeit unbeschwerten Spielens und dem Ernst des Lebens – es trennt zwischen der Zeit, in der die Potenziale und Anlagen eines Menschen entstehen, und der Zeit, in der diese Potenziale erkannt und ihre Entfaltung gefördert werden müssen, in Abwandlung des alten Beton-Werbespruchs »IQ – Es kommt drauf an, was man draus macht«.

Denn auch wenn alle Anlagen vorhanden sind, ist damit das Leben noch längst nicht vorbestimmt. Schauen wir uns dafür erst einmal einen ebenso populären wie bildungsfernen Bereich an: Fußball. Fußball spielen (fast) alle Jungen, sie kennen die jeweils aktuellen Stars der Vereine und der Nationalmannschaft, und Fußballprofi ist einer der absoluten Traumberufe für Jungs. Wer immer also eine Begabung zum Fußballspielen hat, wird diese vermutlich entdecken und bestrebt sein, sie bestmöglich zu entwickeln.

Zur bestmöglichen Entwicklung gehört es, dass andere auf diese Begabung aufmerksam werden und sie fördern. Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit wohl nirgends so groß wie beim Fußballspielen, dass das passiert: Jeder der großen Vereine betreibt seine eigene Nachwuchsförderung, und jeder beschäftigt Scouts, die über die Dörfer fahren und bei Schüler- und Jugendturnieren nach auffälligen, begabten Spielern Ausschau halten. Diese werden dann, das Einverständnis der Eltern vorausgesetzt, in den vereinseigenen Fußballschulen oder -ausbildungseinrichtungen weiter gefordert und gefördert. Jeder zweite Maradona, Matthäus oder Beckenbauer müsste also entdeckt werden und seinen Weg machen.

Doch als der US-Autor Malcolm Gladwell für sein Buch »Die Überflieger« die Lebensläufe von Fußballprofis studierte, stieß er auf eine Merkwürdigkeit: Überdurchschnittlich viele von ihnen sind in den ersten drei Monaten des Jahres geboren. Das kann nichts mit den Sternzeichen zu tun haben, und vermutlich auch nicht damit, dass sie besonders abgehärtet wären, weil sie ihre ersten Ausfahrten als Baby in klirrender Winterkälte machen mussten. Gladwell fand eine einfachere Erklärung: den Stichtag für die Altersklasseneinteilung bei Jugendmannschaften. Das ist in aller Regel der 1. Januar, weshalb in einer Mannschaft einer Altersklasse die ältesten Mitspieler im Januar geboren sind. Gerade in den untersten Klassen, bei den neun- oder zehnjährigen, machen ein paar Monate Unterschied im Lebensalter noch eine Menge Unterschied in der körperlichen Entwicklung aus. Wenn dann die Talent-Scouts der großen Vereine unterwegs sind, so Gladwell, »meinen sie, dass sie die talentiertesten jungen Spieler herauspicken – tatsächlich aber sind es die körperlich reifsten.«

Und durch diese Auswahl im frühen Alter wird die weitere Karriere in starkem Ausmaß vorbestimmt. Die ausgewählten Jugendlichen werden optimal physiologisch und psychologisch betreut, und verbringen wesentlich mehr Zeit mit Trainieren als ihre Altersgenossen, die weiterhin auf normale Schulen gehen und in normalen Fußballvereinen trainieren. Ursprünglich kleine Unterschiede, geradezu zufällig durch Tagesform oder eben durch ein paar Monate Altersunterschied entstanden, vergrößern sich so von Jahr zu Jahr. Und am Ende werden weder der so herangewachsene Elite-Fußballer noch der hobby-kickende Bäckerlehrling, der damals mit ihm zusammen in der F-Jugend spielte, sich vorstellen können, dass ihrer beiden Karrieren auch genauso gut andersherum hätten verlaufen können.

Gladwell zieht daraus den Schluss, dass es nicht so sehr das Talent eines Menschen sei, das über seinen späteren beruflichen Erfolg entscheide, sondern vielmehr eine ganze Fülle von Zufällen, die über die Lebensjahre verteilt die Entwicklung eines Menschen beeinflussen. Man kann auch einen ganz anderen Schluss ziehen: Die Zahl derjenigen Kinder, die das Zeug dazu haben, eine außerordentliche Karriere zu machen, ist wesentlich größer als die Zahl derjenigen, die es dann tatsächlich schaffen. Würde man hingegen jedem Kind eine ähnlich sorgfältige und intensive Förderung angedeihen lassen wie jener kleinen Gruppe, die es an Elite-Ausbildungsstätten welcher Art auch immer geschafft haben, dann könnte dadurch ein Vielfaches der heute entdeckten Potenziale freigelegt und zur Entfaltung gebracht werden.

Dieses wiederum stellt für das Bildungssystem eine Herausforderung dar, die an eine Zumutung grenzt. In den Worten des Hamburger Sonderpädagogen Ingo Würtl: »In der Pädagogik wird immer deutlicher, dass jeder Mensch eine unverwechselbare Einzigartigkeit ist, ein Unikat, eine Unteilbarkeit (In-Dividualität), und insofern eine nur auf ihn zugeschnittene Form der Pädagogik braucht, und so gewinnt der alte Gedanke der Sonderpädagogik >Jeder Schüler braucht eine Sonderschule für sich allein< wieder an Bedeutung.«

Jeder Schüler braucht seine eigene Sonderschule? Unmöglich! Das wären ja zehn Millionen Schulen in Deutschland, zwei Milliarden Schulen in der Welt! Also formulieren wir den Satz etwas anders: Jeder Schüler ist ein besonderer Schüler. Das wäre schon eher vorstellbar. Und so wie die Fabriken von morgen nicht mehr Massenprodukte, sondern große Mengen von Individualprodukten herstellen werden, so können es auch Schulen und Universitäten schaffen, große Mengen an Individuen auf individuelle Weise zu unterrichten.

Dass aus HABEN und SEIN als Aufgabe an das Bildungssystem ein WERDEN folgt, ist kein zwingender Schluss. Es ließe sich als Aufgabe des Bildungswesens im 21. Jahrhundert genauso gut definieren, in einer Welt überbordender Individualität das große Ganze, das Gemeinsame hochzuhalten und zu lehren. Bevor wir also darüber nachdenken, wie Bildung individualisiert werden könnte, schauen wir erst einmal nach, ob so viel Individualität in der Welt von morgen überhaupt sinnvoll ist und gebraucht wird.

Lucie und der Flamenco

Solera ist eine strenge Flamenco-Lehrerin. Wenn da die Drehung nicht richtig sitzt, dauert der Unterricht schon mal zehn Minuten länger. Und wenn das Tanz-Zeugnis vor den Sommerferien nicht gut genug ausfällt, kann die Schülerin eben nicht in die nächste Altersgruppe aufsteigen.

Lucie biss die Zähne zusammen, als es im September wieder losging. Ihre Freundinnen tanzten jetzt alle in der Juvenil-Gruppe, sie steckte noch immer bei den Duendes, den Zwergen, fest. Aber sie würde Solera schon zeigen, dass sie da nicht hingehörte. Sie kam jetzt immer pünktlich zum Unterricht, sie übte zu Hause und unterwegs; und mitten im November gab Solera ihr den ersehnten Bescheid: »Ab nächste Woche tanzt du nicht mehr montags mit den Zwergen, sondern donnerstags mit den Jugendlichen. «

»Eigentlich könnte man das in der Schule doch auch so machen«, meinte Lucie, nachdem sie sich von der ersten Freude erholt hatte. »Wenn man da sitzen bleibt, ist es immer vor den Ferien, und man verliert immer ein ganzes Jahr. Das ist doch doof. Manche brauchen vielleicht nur ein bisschen länger. Oder sie fangen erst richtig an sich anzustrengen, wenn das schlechte Zeugnis da ist.« Wie Lucie eben.

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