Читать книгу Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe - Dieter Röh - Страница 7

Оглавление

1 Einleitung

Dieses Buch beschäftigt sich mit der Sozialen Arbeit als Profession im Bereich der sogenannten Behindertenhilfe. Soziale Arbeit wird hier als Emergenz von Sozialarbeit und Sozialpädagogik verstanden. Mit dem Begriff Behindertenhilfe ist die Gesamtheit an professionell ausgeübten Tätigkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen, die in ihrer Teilhabe an der Gesellschaft „ge- bzw. be-hindert“ werden, also ein Arbeitsfeld gemeint, welches in vielfältiger Weise von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, jedoch gleichsam auch von anderen Professionen bestimmt wird.

Die Soziale Arbeit etabliert sich seit ca. 20 Jahren in zunehmenden Maße hinsichtlich ihrer professionellen und disziplinären Verortung. Gegenstand und Funktion werden gleichermaßen lebhaft diskutiert und unterliegen dem beständigen wissenschaftlichen Diskurs, der ebenso wie in anderen Fächern auch in der Sozialen Arbeit stetig belebt werden muss, damit diese sich in Wissenschaft und Praxis weiterentwickeln kann. Zuletzt ist diese Entwicklung dank neuerer Monografien (u. a. Sommerfeld et al. 2011; Röh 2013; Lambers 2013; Böhnisch/Schröer 2013; Deller / Brake 2014; Engelke et al. 2014 u. Engelke 2016) und diverser Sammelbände (u. a. Borrmann et al. 2016; Mührel / Birgmeier 2009 und 2011; Scheu / Autrata 2011; Erath / Balkow 2016; Hammerschmidt et al. 2017; May 2010) ein gutes Stück vorangekommen.

Für die Behindertenhilfe – neben der Jugendhilfe, der Psychiatrie und dem Gesundheitswesen ein weiteres rein quantitativ bedeutsames Handlungsfeld für die Soziale Arbeit – fehlt bislang eine deutliche Konturierung des professionellen und disziplinären Beitrages der Sozialen Arbeit (siehe als Ausnahme Loeken/Windisch 2013; Weinbach 2016). Sicherlich sind dafür Anleihen aus anderen disziplinären Zugängen, wie etwa der Behinderten-, Sonder-, Inklusionspädagogik oder auch der Heilpädagogik, notwendig. Jedoch reichen diese nicht aus, um das Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit hinreichend zu kennzeichnen und es für Studierende wie Praktiker in diesem Feld professions- und handlungstheoretisch nutzbar zu machen.

Dieses Buch möchte jene Lücke schließen und mithilfe einer umfassenden Beschreibung der disziplinären wie professionellen Grundlagen Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe beitragen. Dies kann zwar nur als eine kompilierende Verknüpfung wesentlicher Informationen, Themen, Theorien und Konzepte geschehen, allerdings mit dem Anspruch, das Profil Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe zu schärfen.

Sollte es nicht anders ersichtlich sein, wird der Gegenstand dieses Buches vor allem in der Arbeit mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungenbestehen. In einigen Teilen wird auch auf die Situation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen eingegangen, dies aber nur dann, wenn diese gleichzeitig mit einer geistigen Beeinträchtigung auftreten bzw. die verfügbaren Daten zur Beschreibung der Lebenslage keine Differenzierung hergeben. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen werden kaum berücksichtigt. Obwohl sich bzgl. der Teilhabeeinschränkungen diverse Überschneidungen ergeben, etwa hinsichtlich der sozialen Lage oder des sozialen Netzwerkes, muss eine Berücksichtigung an dieser Stelle unterbleiben und auf die einschlägigen Werke verwiesen werden (z. B. Bischkopf et al. 2017; Sommerfeld et al. 2016). Auch die internationale Bestimmung von „social work“ sowie internationale Entwicklungen und Konzepte der Behindertenhilfe bleiben bis auf wenige Ausnahmen unberücksichtigt. Dies hat etwas mit dem institutionellen Feld zu tun, da durch die sozialpolitische Einbettung der Behindertenhilfe in Deutschland in das System der sozialen Sicherung und geprägt durch eine spezifische Bildungspolitik, die Behindertenhilfe eine ganz besondere, international wenig vergleichbare Position bekommt.

In dieser Einleitung kann nur kurz skizziert werden, warum statt „Behinderung“ bislang von „Beeinträchtigung“ gesprochen wurde (Kap.3.1). Behinderung bezeichnet nach meinem Verständnis und in Übereinstimmung mit der ICF und VN-BRK das vorläufige (bzw. mehr oder weniger dauerhafte) Ergebnis eines „Be-hinderungsprozesses“, der die soziale Reaktion auf eine Beeinträchtigung physischer, kognitiver oder psychischer Art darstellt. Wie in Kapitel 3.1 und 3.2.5 noch weiter ausgeführt wird, ist „Behinderung“ mit gesellschaftlicher Nicht-Teilhabe gleichzusetzen. „Behinderung“ in dieser Schreibweise wird immer dann auftauchen, wenn entweder auf die konventionelle Weise der Rezeption in der Literatur oder in meiner eigenen Argumentation reflexiv-distanzierend auf die eben genannte Definition Bezug genommen wird. Von Beeinträchtigung wird dann geschrieben, wenn es um die eigentliche körperliche oder geistig-psychische Funktionsbeeinträchtigung oder individuelle Einschränkung geht und von „behinderten Menschen“ immer dann, wenn der soziale Prozess der Teilhabeeinschränkung gekennzeichnet werden soll.

Zu den eben erwähnten Limitationen kommt hinzu, dass in diesem Buch die angeborenen und früh erworbenen geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen im Vordergrund stehen, um nicht in die thematische Nähe zur Rehabilitation im Ganzen zu kommen. Ich werde – sofern nicht anders gekennzeichnet, zu den „Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen“ auch solche zählen, die nach landläufiger, medizinischer Definition als lernbeeinträchtigt definiert werden. Geistig beeinträchtigt meint damit in der Lesart der Selbsthilfevertretungen „Lernschwierigkeit“. Wenngleich die Gruppe der Menschen, die diese Art der Beeinträchtigung aufweisen, in Bezug auf die Gesamtzahl derer, die in der Bundesrepublik Deutschland als „behindert“ bzw. „schwerbehindert“ gelten, nur einen Anteil von ca. 5 % ausmacht, stellt sie doch einen Großteil jener Personen dar, mit denen es die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe zu tun hat. Dies aus mehreren Gründen:

1. Menschen, die aufgrund eines Unfalls oder einer chronischen Erkrankung als amtlich anerkannte (Schwer-)Behinderte gelten, haben häufiger im Rahmen der sozialpolitischen Absicherung – etwa durch Sozialversicherungen (Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente, Rehabilitationsmöglichkeiten usw.) – eine gute Chance, ein selbstbestimmtes Leben ohne fortwährende Begleitung oder Betreuung zu leben.

2. Menschen, die aufgrund einer geistigen, körperlichen oder sogar mehrfachen Beeinträchtigung (noch) nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Renten- oder Rehabilitationsanspruch erwerben konnten, sind häufig auf die Ersatzsysteme der Eingliederungshilfe angewiesen.

3. Traditionell waren und sind Menschen mit einer geistigen und/oder körperlichen Beeinträchtigung von fremder Hilfe abhängig. Zukünftig soll sich diese Situation durch Selbstbestimmung und Gleichbehandlung in Richtung einer stärkeren Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und in verschiedenen Lebensbereichen verändern.

4. Auf dem Weg dorthin benötigen sie eine kompetente, professionelle Unterstützung, die ihre Rechte auf Selbstbestimmung ebenso achtet wie ihre Entwicklung und Teilhabe fördert.

Dieses Buch soll als Lehr- und Studienbuch für die Ausbildung von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen dienen und enthält daher neben theoretischen Erörterungen auch praxisrelevante Beispiele sowie Aufgaben und Lösungen für bestimmte Fragestellungen. Letztere sind auf der Website des Verlags zu finden.

Dabei wird gezeigt, dass die Soziale Arbeit sich in profunder Weise von anderen verwandten Professionen, wie etwa der Heil- oder Sonderpädagogik, durch einen eigenen fachwissenschaftlichen Zugang unterscheidet, der als „Expertise für die Zusammenhänge zwischen Individuum und Gesellschaft“ bezeichnet werden kann. Mit dieser Expertise ist ein (handlungs-)theoretisches Modell verbunden, welches eigene Konzepte für die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen vorhält.

Dieses Modell wird durch das biopsychosoziale Behinderungsmodell der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001; DIMDI 2005), der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), gestützt, welches auf bemerkenswerte Weise eine „ganzheitliche Sicht“ von Krankheit, Behinderung und Partizipation bzw. Teilhabe ermöglicht. Es verbindet medizinische, individual- und sozialpsychologische und schließlich sozialwissenschaftliche Sichtweisen auf Behinderung in einer Art und Weise, die als multidimensionaler Blick der Sozialen Arbeit schon lange bekannt ist, etwa in der sozialökologischen Perspektive des Person-in-Environment-Modells.

Die vorliegende Publikation will diese Perspektive aufnehmen und in drei Schritten bearbeiten. Zunächst soll die Soziale Arbeit in ihren Grundzügen dargestellt werden. In Kapitel 2 werde ich einleitend einen kurzen Abriss der Geschichte Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe liefern, dann eine wissenschaftstheoretische Verortung der Sozialen Arbeit vornehmen sowie deren Gegenstand und Funktion skizzieren, weiterhin ethisch-moralische Grundlagen beschreiben und schließlich Aussagen zur allgemeinen Methoden- bzw. Handlungstheorie treffen.

In Kapitel 3 wird die Behindertenhilfe als Handlungsfeld beschrieben, wobei sowohl der Behinderungsbegriff diskutiert als auch sozialethische Grundlagen sowie die Lebenslage und insbesondere die damit verbundenen möglichen sozialen Probleme von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie die professionellen Antworten hierauf dargestellt werden müssen, um daran anschließend einige aktuelle Entwicklungen aufzeigen zu können.

Schließlich wird beides in Form einer professionellen Bestimmung der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe in Kapitel 4 miteinander verbunden. Dazu werde ich zunächst den Gegenstand und die Funktion der Sozialen Arbeit, danach (handlungs-)theoretische Grundlagen und abschließend eine Auswahl an Konzepten und Arbeitsformen vorstellen.

Hamburg, im Juni 2017

Dieter Röh

Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe

Подняться наверх