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2. Kapitel

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Abteilungschef Paul Schütterer rief seine gesamte Mannschaft zusammen. Neben ihm stand ein hagerer Mann, schätzungsweise Anfang fünfzig, mit moderner Kurzhaarfrisur, die erste graue Fäden erkennen ließ.

»Ich möchte euch meinen Nachfolger Dr. Zeisig vorstellen«, sagte Schütterer, »der Anfang nächster Woche meinen Platz einnehmen wird. Der Vorname ist der gleiche, somit könnt ihr auch weiterhin hinter vorgehaltener Hand von „Paule“ reden.«

Es ertönte allgemeines Gelächter, nur Dr. Zeisig blieb ernst, und hinter seiner randlosen Brille zeigte sich eine kleine Falte über der Nase.

»Wenn er so singt wie er aussieht, wollen wir das lieber nicht hören«, flüsterte Valerie und erhielt dafür von Hinnerk einen Stoß mit dem Ellenbogen.

»Ich habe mir meinen Ruhestand mehr als verdient«, sprach Schütterer weiter. »Aber ich scheide mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Irgendwie ist mir der Haufen hier schon ans Herz gewachsen, obwohl ich manchmal befürchtete, vorzeitig unter die Erde gebracht zu werden. Doch letztendlich waren wir ein gutes Team und haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Statistiken zeugen davon. Falls ich Sehnsucht habe, werde ich bestimmt das ein oder andere Mal den Kopf reinstecken. Aber verlasst euch lieber nicht darauf, da meine Frau das mit allen Mitteln zu verhindern suchen wird. Danke für die gemeinsamen Jahre.«

Alle applaudierten, bis Schütterer abwinkte.

»Ich übergebe jetzt das Wort an Herrn Dr. Zeisig.«

»Ich begrüße Sie alle herzlich und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit. Es heißt nicht umsonst: „Neue Besen kehren gut“. Deshalb wird es nach einer gewissen Gewöhnungsphase vielleicht die eine oder andere Änderung geben. So schwebt mir eine wöchentliche Teamsitzung vor, bei der die aktuellen Ergebnisse besprochen werden.«

»Was meint der, was wir sonst gemacht haben?«, zischte Valerie.

»Lass doch! Schütterer hat es schon manchmal etwas schleifen lassen«, flüsterte Hinnerk zurück.

»Ja, wollten Sie etwas einwenden?«, fragte Zeisig. »Nein? Dann mache ich mal weiter. Selbstverständlich stehe ich auch sonst mit Rat und Tat zur Seite. Bei besonders dringenden Fragen stehe ich täglich zwischen neun und zehn Uhr zur Verfügung. Herr Schütterer hat ja schon von der guten Aufklärungsquote gesprochen, die hoffentlich auch unter meiner Leitung beibehalten, wenn nicht sogar noch erhöht wird. Genug der vielen Worte. Ich bin voller Tatendrang und freue mich auf die neue Aufgabe.«

Wieder wurde brav applaudiert, aber manchen Gesichtern sah man eine gewisse Skepsis an. Allen war bewusst, dass ein neuer Wind in der Abteilung nicht nur von Vorteil sein musste, sondern auch für Unruhe und Aufregung sorgen konnte. Und dieser Dr. Zeisig war ein wenig zu glatt und schwer zu durchschauen. Auf alle Fälle war er nicht der gemütliche, väterliche Typ. So viel stand fest. An Schütterers Wutausbrüche waren alle gewöhnt. Was jetzt kommen würde, musste sich erst noch zeigen.

»Paule wird mir fehlen«, sagte Valerie, als sie wieder in ihrem Büro waren.

»Darf ich dich daran erinnern, dass du ihn manchmal am liebsten auf den Mond geschossen hättest?«, sagte Hinnerk. »Wie übrigens umgekehrt auch.«

»Ich weiß, aber letztendlich haben wir uns gegenseitig respektiert. Und man konnte sich stets auf ihn verlassen. Er hätte mich garantiert mit einem Rettungsteam vom Mond zurückgeholt. Schimpfend wie ein Rohrspatz, aber mit einer Blume in der Hand.«

»Jetzt wart doch erst mal ab. Vielleicht ist der Neue ganz in Ordnung«, meinte Hinnerk.

»Wenn einer schon bei seiner Antrittsrede keine Hemmungen hat, von Neuerungen zu sprechen, und damit Schütterer förmlich vor den Kopf stößt, ist Vorsicht angesagt«, tat Marlies ihre Meinung kund. »Was sagst du, Heiko?«

»Ich schließe mich deiner Einschätzung an. Sympathisch ist anders. Aber vielleicht macht er auch nur viel Wind mit seinem kurzen Hemd.«

»Wie dem auch sei, wir werden uns mit ihm arrangieren müssen«, sagte Hinnerk.

»Das wahr mir vorher klar, dass du so reagieren würdest. In Schütterers Arsch hattest du doch Dauerwohnrecht«, insistierte Valerie.

»Du irrst, mein Schatz. Ich bin kein Arschkriecher, gehe meist nur besonnener vor als du. Mitunter ist es schwer, zerschlagenes Porzellan wieder zu kitten.«

»Was habe ich doch für ein Glück, dich an meiner Seite zu haben …«

»Endlich siehst du es ein.«

Marlies und Heiko kicherten.

»Ich habe mich so an eure kleinen Kräche gewöhnt, mir käme es direkt komisch vor, wenn ihr einer Meinung wärt«, lachte Marlies.

»Du müsstest mal erleben, was bei uns zu Hause los ist«, feixte Hinnerk. »Wir haben kaum noch heiles Geschirr.«

»Quatschkopf. Schmidtchen und Heiko glauben noch den Unsinn«, sagte Valerie.

»Reibung gehört zu einer guten Partnerschaft. Das weiß ich aus eigener Erfahrung«, meinte Heiko. »Harmonie um jeden Preis finde ich total langweilig.«

»Willkommen im Club! Was gibt es eigentlich über unseren Sohn zu berichten? Verhält er sich ordentlich oder gibt es Klagen?«

»In keinster Weise. Mir scheint sogar, er hat einen guten Einfluss auf meinen Bruder.«

»Na, dann ist doch alles prima. Vielleicht wäre es an der Zeit für uns, ihn mal bei euch zu besuchen.«

»Du kannst dich doch nicht so einfach bei Heiko und seinem Freund einladen«, sagte Hinnerk.

»Warum nicht? Wir können doch den Hintereingang benutzen und uns auf Bens Zimmer beschränken.«

»So weit kommt es noch«, protestierte Heiko. »Seid ihr immer so kompliziert? Euer Gegenbesuch ist längst überfällig, nachdem ihr mich so nett bewirtet habt.«

»Gut, dann machen wir Nägel mit Köpfen. Besprich das mit deinem Freund und schlagt uns einen Termin vor.«

»Alles klar. Marlies, willst du auch mitkommen?«

»Eher nicht. Ich denke, das ist mehr eine Familienangelegenheit.«

»Jetzt hab dich nicht so. Irgendwie gehörst du doch auch zur Familie«, sagte Hinnerk.

»Ja, finde ich auch«, pflichtete ihm Heiko bei.

»Na gut, wenn ihr meint. Ich wollte immer schon mal sehen, wie man in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft so lebt.«

»Nicht anders als in einer gegengeschlechtlichen. Aber mach dir gern selbst ein Bild.«

»Und deinem Freund ist das recht, wenn du deine Kollegen einlädst?«

»Klar, warum nicht? Nur, weil er nicht so viel Glück mit seinen Kollegen hat … Nein, nein, vergesst, was ich gesagt habe. Die sollen auch ganz nett sein. Nur will er nicht unbedingt mit ihnen privat verkehren. Also, nachdem wir das auch geklärt haben, was steht als Nächstes auf dem Programm? Wir wollten doch der Pensionswirtin und der Mitbewohnerin von Jana Steinbach das Foto von Uwe Vogler zeigen. Ich übernehme das gern.«

»Bitte, dann tu dir keinen Zwang an«, sagte Hinnerk. »Valerie wird sich bestimmt ins Rechts-medizinische Institut aufmachen, um das Obduktionsergebnis aus dem schönen Mund von Stella Kern zu erfahren.«

»Ja, das wird sie«, sagte Valerie. »Du kannst ja derweil den Bericht der KTU studieren.«

»Hatte ich ohnehin vor. Und gegen Abend suche ich einige der Lokalitäten auf, in denen Frau Steinbach verkehrt hat. Vielleicht ist sie dort mit Vogler oder einem anderen gesehen worden.«

»Gute Idee. Demnach bist du abends nicht zu Hause. Dann kann ich ja mit Stella essen gehen.«

»Tu dir keinen Zwang an.«

»Soll ich mir von Delia Krüger nicht eines der letzten Fotos geben lassen?«, fragte Heiko, dem das Gespräch zwischen Valerie und Hinnerk etwas peinlich war. »Ich würde es dir dann gleich schicken, Hinnerk. Das macht sich vielleicht besser als das Foto einer Toten.«

»Gern, gute Idee, um es mit den Worten meiner Frau zu sagen.«

Heiko hatte mit der Mommsenstraße begonnen. Doch Pensionswirtin Ursula Wendler erkannte Uwe Vogler erwartungsgemäß auf dem Handyfoto nicht wieder. Nein, ihr Gast habe ganz anders ausgesehen, meinte sie. Außerdem sei er, wie gesagt, blond.

Als Nächstes fuhr Heiko nochmals in die Ebersstraße. Delia Krüger lächelte, als sie ihm öffnete. »Herr Kommissar, so schnell habe ich nicht mit Ihnen gerechnet. Gibt es etwa schon Ergebnisse?«

»Leider nicht. Die erste vielversprechende Spur verlief im Sande. Zur Sicherheit möchte ich Ihnen trotzdem ein Foto zeigen. Ist das der Bekannte von Jana?«

»Nein, mit Sicherheit nicht. Selbst wenn man ihn sich blond vorstellt.«

Heiko nickte und betrachtete fasziniert eines der Fotos an der Wand.

»So manche Frau wird Sie um Ihr Aussehen beneidet haben«, sagte er.

»Wie charmant von Ihnen! Ich habe auch Stunden gebraucht, um mich so herzurichten. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass es sich um Bühnen Make Up handelt. Keine Frau würde sich so übertrieben schminken, ganz zu schweigen von der extravaganten Frisur. Kommen Sie doch mit durch! Ich koche uns einen Kaffee. Oder mögen Sie lieber Tee?«

»Nein, Kaffee ist gut, danke.«

Während Delia sich in der Küche zuschaffen machte, sah sich Heiko erneut die gerahmten Plakate im Wohnzimmer an.

»Wo war das?«, fragte er interessiert, als Delia mit dem Kaffee und Keksen kam.

»In Paris. Ich war dort Stargast in einem kleinen Club.«

»Dann sind Sie wohl viel herumgekommen?«

»Oh ja, in meiner Glanzzeit schon.«

»Wussten Sie schon immer, dass Sie transsexuell sind? Darf ich fragen, wie das bei Ihnen angefangen hat?«

»Gern, so oft werde ich nicht mehr nach meiner Karriere gefragt. Ich habe mich als Kind schon als Mädchen gefühlt und heimlich die Sachen meiner Mutter angezogen. Als ich von zu Hause auszog, kleidete ich mich schon ausschließlich weiblich. Da ich eine gute Gesangsstimme hatte, imitierte ich die damaligen Schlagerstars und Chansonsängerinnen. Das brachte mir Auftritte auf Feiern und in kleinen Bars ein. Also, den Begriff Transsexuelle hat man damals noch gar nicht benutzt. Alles, was Frauenkleider trug, aber eigentlich ein Mann war, nannte man Transvestit oder auch Fummeltanten. Bei Insidern war die Abgrenzung schon deutlicher. Der Travestiekünstler legte spätestens in der Garderobe seine Verkleidung ab, während der Transvestit auch im Alltagsleben, oder nur aus sexuellen Gründen, in die Kleider des anderen Geschlechts schlüpfte. Während meiner beruflichen Laufbahn habe ich alle Schattierungen kennengelernt. Da gab es bisexuelle und sogar verheiratete Männer, die nur in der Show als Frau auftraten. Früher lebten wohl die meisten auch im Alltag als Frau. Heute ist es eher umgekehrt, seit es die Drag Queens gibt.«

»Haben Sie auch im Chez Nous gearbeitet, das es ja leider nicht mehr gibt?«

»Natürlich, sogar die meiste Zeit. Als ich nach Berlin kam, habe ich dort vorgesungen und wurde engagiert. Ich habe sie alle kennengelernt. Ob sie nun Marcel André, der übrigens wie ich Detlev hieß, Cheri Hell, Rita Jané, Cristina, Gloria Fox, Dany Lamée, Orél oder Everest hießen.«

»Und waren die alle wie Sie? Ich meine, mit echtem Dekolleté?«

»Sie wollen es aber ganz genau wissen, junger Mann, oder? Ja, viele. Wie es unten herum aussah, wage ich nicht zu beurteilen, aber ich glaube, dass wir uns auch in diesem Punkt glichen. Doch es gab auch wenige, die die Operation schon hinter sich hatten, wie seinerzeit Coccinelle, die wohl als erste Transsexuelle Berühmtheit erlangte und sogar dreimal geheiratet hat. Der Name kommt übrigens aus dem Französischen und bedeutet Marienkäfer und nicht etwa Beuteltasche, wie man ihn heute verwendet. Wie im Falle der Madame Pompadour. Und dann gab es auch welche, die erst darauf hinarbeiteten, wie die Popsängerin, die zuvor auch im Chez Nous auftrat. Ich meine die Muse des spanischen Malers.«

»Picasso?«

»Nein, der andere. Sie hat dann später abgestritten, einmal ein Mann gewesen zu sein. Wahrscheinlich, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Andere taten es umgekehrt wie Grace Jones, um ihrer Karriere den gewissen Kick zu geben. Einer Pop Diva der heutigen Zeit – Lady Gaga – wird es nur nachgesagt. Sie selbst bestreitet es vehement. Auswüchse des Showbusiness, kann ich nur sagen, die am wahren Problem vorbeigehen.«

»Haben Sie noch andere Transsexuelle kennengelernt, die ihr Ziel bis ans Ende verfolgt haben?«

»Sie meinen den sogenannten „goldenen Schnitt“? Ja, da gab es einige. Zu meinem Friseur kamen immer welche. Dem armen Kerl haben sie furchtbar Unrecht getan, indem sie ihn nicht an sich heranließen. Sie sahen in ihm den typischen Schwulen. Dabei spielte er selbst heimlich mit dem Gedanken, eine Geschlechtsumwandlung vornehmen zu lassen, wie mir seine Kollegin anvertraut hat. Wenn Mimi sich neue Brüste machen ließ, durfte nur die Kollegin sie im Hinterraum sehen. Mimi war ein ziemliches Mannweib, wo die zugeschlagen hat, wuchs kein Gras mehr. Jacinta hingegen sah man den ehemaligen Mann überhaupt nicht an. Auch Lola, der Dritten im Bunde, nicht. Nur wenn sie hustete, flogen die Köpfe der Kundinnen herum, weil es sich wie bei einem Bauarbeiter anhörte. Alle drei arbeiteten in Bars auf der Potsdamer Straße. Dann gab es noch ein blondes, engelgleiches Wesen, das alle nur Gracia nannten – in Anlehnung an Gracia Patricia. Sie hatte tatsächlich etwas Vornehmes, fast Adliges. Mimi hatte keine Hemmungen, eine von ihnen in die Pfanne zu hauen. So habe ich mal erlebt, wie sie eine junge Schwarzhaarige, die ein wenig an Schneewittchen erinnerte, an der Kasse laut mit „Herr Schröder“ ansprach, weil sie sich über sie geärgert hatte. Neid und Missgunst gibt es eben überall. Das war im Chez Nous nicht anders. Aber im Großen und Ganzen bin ich mit allen gut ausgekommen.«

»Wie schaffen die Travestiekünstler es, dass es im Schritt so flach aussieht?«

»Mit Trick 17 – Klebeband. Einige bringen es auch fertig, Penis und Hodensack in der Bauchhöhle verschwinden zu lassen. Nicht ganz ungefährlich, wenn Sie mich fragen.«

»Wie konnte es Ihrer Meinung nach dazu kommen, dass es berühmte Clubs wie das Chez Nous heute nicht mehr gibt? Zumindest in der Hauptstadt nicht.«

»Ich denke, das fing in den Achtzigern an, als alles in die Wühlmäuse zu Mary und Gordy rannte. Zeitgleich gab es eine Truppe aus Paris, die in den Stachelschweinen im Europacenter auftrat. Im Filmkunst 66 traten nachts die „Technicolor Dreams“ auf und die „Preddy Show Company“ war ein Geheimtipp. Auf einmal gab es überall Travestieshows. Selbst auf privaten Feiern war das der Hit. Die Show in der Wohnstube. Später gab es sogar eine Off-Theater-Gruppe, bei der alle Frauenrollen von Männern gespielt wurden, wie beim traditionellen japanischen Nō-Theater. „Die Spreedosen“, hießen die, glaube ich. Sie und andere sah man dann auch in den täglichen Talkshows. Danach kamen die O-Ton-Piraten, deren Theater es heute noch gibt. Ansonsten Playbackshows allerorten. Während wir immer live gesungen haben.«

»Mary und Gordy auch. Verzeihung, wenn ich widerspreche.«

»Ja, zum Teil. Gemeinsam hatten wir den Spaß an der Verwandlung. Apropos, in der Marburger Straße gab es ein paar Häuser weiter eine Zeitlang einen sogenannten Transformationsladen. Da konnten sich Männer unter der Anleitung von Fachpersonal in Frauen verwandeln. Die sündhaft teure Ausstattung konnte man dann gleich erwerben. Der Laden konnte sich aber nicht halten. Ich meine, Vorbilder hatten wir schon immer. Everest sang Lieder von Marlene und stylte sich auch so. Orél die Lieder von Zarah, bis Cristina kam, die der Leander auch äußerlich glich. In der Glanzzeit gaben sich Prominente die Klinke in die Hand. In der Lützower Lampe waren sogar Liza Minelli und David Bowie zu Gast. Ach, das ist alles schon so lange her.«

»Fehlt Ihnen die Bühne manchmal?«

»Nein, ich könnte ja noch auftreten, wenn ich wollte. Evelyn Künneke, Helen Vita und Brigitte Mira waren wesentlich älter, als sie als „Drei alte Schachteln in der Bar“ im Spiegelzelt aufgetreten sind. Jetzt sind alle drei schon tot. Und es gibt keinen Ersatz. Ich war fast zwanzig Jahre mit dem Chez Nous auf Europatournee. Ab 1995 hatte ich genug und trat nur noch vereinzelt auf. 2005 war dann endgültig Schluss für mich. Drei Jahre später schloss das Chez Nous seine Pforten für immer. Täusche ich mich, oder haben Sie auch Ambitionen in meine Richtung?«

Heiko lachte. »Nein, überhaupt nicht. Ich mag lediglich die Kunst der Travestie. Manchmal sind Männer sogar die schöneren Frauen. Mein Freund und ich sehen uns gern die Shows an. Bei uns in Wiesbaden hat gelegentlich mal eine Truppe gastiert. Aber an so etwas wie das Chez Nous wäre nicht zu denken.«

»Bringen Sie doch Ihren Freund mal mit. Ich habe noch diverse alte Filme von meinen Auftritten.«

»Herzlich gern, ich werde es ihm vorschlagen. Eine Bitte hätte ich noch: Ich bräuchte ein aktuelles Foto von Jana. Mein Kollege will heute die Bars abklappern und fragen, ob sie dort in Begleitung gesehen wurde.«

»Ja, das können Sie haben, wenn ich es wiederbekomme.«

»Ich nehme es nicht mit, sondern fotografiere es nur ab.«

»Ach so, sehr rücksichtsvoll übrigens, dass Sie nicht das Foto der toten Jana benutzen.«

»Das machen wir nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.«

Delia kramte in einer Schublade und brachte dann mit Tränen in den Augen einige Fotos zum Vorschein.

»Entschuldigung, ich kann es immer noch nicht fassen, dass es sie nicht mehr gibt. Hier, das ist relativ neu, beinahe ein Starfoto. Das wird Ihrem Kollegen hilfreich sein. Ist er auch so … hübsch wie Sie?«

»Er schlägt mich um Längen, ist aber ein reiner Hetero«, sagte Heiko, der die Anspielung genau verstanden hatte. »Seine Frau ist die Kollegin, die mit mir hier war.«

»Auch so eine Schönheit. Arbeiten bei der Kripo nur schöne Menschen?«

»Auf den Gedanken könnte man leicht kommen.«


Valerie wurde wie üblich mit einem Lächeln von Stella Kern empfangen.

»Frau Kommissarin können es wohl nicht abwarten, bis der Bericht vorliegt?«, fragte sie.

»Hauptkommissarin, so viel Zeit muss sein. Val wäre mir allerdings lieber.«

»Privat gern, dienstlich bleiben wir bei der offiziellen Anrede.«

»Bitte, wenn es Frau Rechtsmedizinerin so wünschen …«

»Du bist doof, aber süß«, flüsterte Stella.

»Danke, ebenfalls.«

»Also, Jana Steinbach ist verblutet, nachdem ihr die Brüste amputiert wurden.«

»Sie wird doch wohl kaum freiwillig stillgehalten haben?«

»Nein, man hat ihr Ketamin verabreicht, eine Partydroge, die auch in K.-o.-Tropfen enthalten ist.«

»Ist sie qualvoll langsam gestorben oder schnell?«

»Durch den Blutverlust kam es zu einem hämorrhagischen Schock. Das ist eine Form des hypovolämischen Schocks oder Volumenmangelschocks. Durch den Ausstoß von Adrenalin und Noradrenalin wurden die Herzfrequenz gesteigert und die Gefäße eng gestellt. Der Körper versucht so, den Blutdruck so lange wie möglich konstant zu halten. Sie wird ein Gefühl von Schwäche, Durst und Angst erlebt haben. Es kann sogar einige Stunden dauern, bis ein Verletzter einer solchen Blutung erliegt.«

»Dann hat ihr das Schwein also beim Sterben zugesehen und sich an ihren Schmerzen geweidet.«

»Davon könnt ihr ausgehen. Durch die Unterversorgung der Muskulatur mit genügend Blut, entsteht eine Azidose begleitet von heftigen Ischämie-Schmerzen. Azidose kann als Übersäuerung des Blutes übersetzt werden. Der medizinische Begriff „Ischämie“ hingegen bezeichnet eine örtlich begrenzte Blutleere in Geweben oder Organen. Das fühlt sich ähnlich an, wie eine Überanstrengung beim Krafttraining. Auch da spricht man ja von einer Übersäuerung der Muskeln. In der Folge wurden die Gefäße „undicht“, noch mehr Flüssigkeit trat aus, und die Hypovolämie verstärkte sich. Als Hypovolämie bezeichnet man die Verminderung der zirkulierenden Menge Blut im Blutkreislauf. Wird der Blutverlust nicht gestoppt, wird das Gehirn mit Sauerstoff unterversorgt, und der Verblutende wird bewusstlos. Der Tod tritt kurze Zeit später ein, zum Beispiel infolge von Herzversagen durch kardiale Ischämie.«

»Ekelhaft. Hat sich die Geschlechtsanpassung eigentlich bestätigt?«

»Ja, sie ist zwar sehr gut gemacht, aber die Frau hat keinen Uterus und keine Eierstöcke. Außerdem befanden sich Cyproteron-Acetat – das ist ein Antiandrogen – und das wichtigste weibliche Geschlechtshormon Östradiol in ihrem Körper «

»Also nur eine Hülle. Glaubst du, sie konnte noch so etwas wie einen Orgasmus empfinden?«

»Davon gehe ich aus. Sexuelles Lustempfinden und Orgasmusfähigkeit sind, wie dir sicher bekannt ist, ein komplexes Zusammenspiel aus seelischen, geistigen und körperlichen Empfindungen ist und wird von jedem anders wahrgenommen und erlebt. Aber da man die sensible Eichel erhalten hat, wird die künstlich erzeugte Vagina nicht nur eine tote Höhle gewesen sein.«

»Trotzdem, so viele Schmerzen und Leid. Und dann hat die Arme nur so kurz etwas davon gehabt. Der Unhold muss vor Hass völlig außer sich gewesen sein.«

»Apropos Orgasmusfähigkeit. Wann bietest du mir wieder deinen Luxuskörper an?«, fragte Stella.

»Also, ich muss mich doch sehr wundern, welcher Ausdrucksweise du dich befleißigst. Wo bleibt die Dame in dir?«

»Eine Dame werd ich nie, um es mit Hildegard Knefs Worten zu sagen. Manchmal habe ich auch einfach Lust, ein wenig versaut zu sein.«

»Dann werden wir sehen, was wir ganz schnell für dich tun können.«


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