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1. Erstens kommt es anders…

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Tina lümmelte auf ihrem bequemen Sofa herum. Mit der Fernbedienung zappte sie durch die zahlreichen Fernsehprogramme, die am letzten Tag des Jahres hauptsächlich auf „Fun“ eingestellt waren. Allenfalls gab es Jahresrückblicke oder die Hits des vergangenen Jahres zu sehen. Tina sah gar nicht richtig hin, weil ihre Gedanken ganz woanders waren. Silvester hatte für sie nicht die Bedeutung, die es scheinbar für andere Menschen hatte. Sie mochte nicht auf Knopfdruck lustig sein. Und was gab es schon groß zu feiern? Dass man das alte Jahr halbwegs unbeschadet hinter sich gebracht hatte? Oder wollte man ein neues begrüßen, von dem keiner wusste wie es verlaufen würde? Für manche konnte es das letzte in ihrem Leben sein, nur machte sich das kaum einer bewusst, dachte sie.

Die Türklingel riss Tina aus ihren depressiven Gedanken. Wenig später stand ihr Mona gegenüber, die nicht nur hinreißend aussah mit ihrem Glitzertop und dem knappen Minirock unter ihrer Steppjacke, sondern der auch der Schalk und die Unternehmungslust aus allen Poren strömte.

»Oh, wie natürlich du wieder aussiehst«, spielte Mona auf Tinas ungeschminktes Gesicht an, »wie gut, dass ich so früh dran bin. Dann kann ich make-up-technisch noch so etwas wie einen normalen Menschen aus dir machen. Für deine Augenringe werde ich zwar den Rest meines Abdeckstiftes verbrauchen, aber was soll’s.«

»Sehr nett, ich weiß, wie ich aussehe«, sagte Tina etwas humorlos.

»Wie du im Moment aussiehst, mein Schatz. Wir wollen in dieser Hinsicht doch nicht verallgemeinern. Normalerweise bist du nämlich ein echter Hingucker, lass dir das von deiner Busenfreundin völlig neidlos gesagt sein. So, und jetzt holst du die Gläser, damit wir uns etwas Stimmung antrinken können. Der Prosecco ist eiskalt, bitte schön!«

Tina holte aus der Küche ein Geschirrtuch für den Flaschenkorken und nahm zwei Sektflöten aus der Vitrine. Anschließend ließ sie sich kraftlos aufs Sofa fallen.

»Ich glaube, ich möchte doch lieber nicht zu diesem Spektakel mitgehen«, sagte sie leise.

Mona hatte nämlich Tina überredet, ihr Einsiedlerdasein für einige Stunden aufzugeben, um ihr zum Brandenburger Tor zu folgen, von dem aus sich die Partymeile bis hin zur Goldelse beziehungsweise Siegessäule erstreckte. Dort gab es alljährlich neben Partyzelten, Gastronomie- und Getränkeständen, auch Showbühnen, Videoleinwände, Licht- und Laserinszenierungen und ein spektakuläres Höhenfeuerwerk um Mitternacht. So waren auf der Hauptbühne Stars wie Udo Jürgens, Hot Chocolate, Kim Wilde und Marianne Rosenberg aufgetreten. Wer in diesem Jahr dabei war, führte Mona erst gar nicht ins Feld, weil sie genau wusste, dass es keinen Einfluss auf Tinas Entscheidung haben würde.

Viel lieber wäre Tina zur Abendandacht in den Berliner Dom gegangen, oder in die Aufführung des Jedermann von Hugo von Hofmannsthal, die seit einigen Jahren mit wechselnden Darstellern dort präsentiert wurde, aber die fand schon im Oktober statt. Heute an Silvester konnte man dort „Singend ins neue Jahr - Ökumenisches Taizé-Gebet zum Jahreswechsel“ erleben, etwas, das Tina nicht viel sagte.

»Was ist denn nun eigentlich so Schreckliches zwischen euch passiert, dass ihr gleich auseinanderlauft?«, fragte Mona, »so ganz habe ich den Grund für euren Streit noch immer nicht begriffen.«

»Ganz einfach, Ben wollte Heiligabend spießig mit seinen Eltern verbringen, statt mit mir romantische Stunden zu verleben«, sagte Tina trotzig, »ich habe dankend verzichtet. Da hat er mich mit Verachtung gestraft und ist auch zu den Feiertagen nicht erschienen. Seitdem gab es keinen Anruf, nichts.«

»Findest du nicht, dass du etwas überreagiert hast?«, fragte Mona vorsichtig, »also, ich wünschte, mich würde ein Typ Heiligabend seinen Eltern vorstellen. Das wäre mal etwas anderes als nach ein, zwei Nächten ad acta gelegt zu werden.«

»Die Vorstellung haben wir längst hinter uns. Eben deshalb wollte ich ja nicht hingehen«, meinte Tina, »eine Frau, die kein anderes Thema als ihren Haushalt kennt, hätte mir den ganzen Abend erzählt, wie sehr sie für die Feiertage geschuftet hat. Und er hätte mitleidsvoll gelächelt, danke, verzichte! Ich habe ihn ein Muttersöhnchen genannt und gesagt, dass er wohl nie aufhören würde, am Schürzenzipfel seiner Mutter zu hängen.«

»Da bist du wohl etwas zu weit gegangen.«

»Ja, ich weiß, aber ich war so enttäuscht. Der Baum war fertig geputzt, und ich hatte uns etwas Schnuckeliges zu essen gemacht. Außerdem sollten wir ohnehin am ersten Feiertag bei seinen Eltern sein. Und zwei Tage hintereinander finde ich dann doch einfach too much.«

»Verstehe, trotzdem wirst du jetzt keine Trübsal blasen, sondern dich aufbrezeln und mit mir nachsehen gehen, was andere Mütter so für schöne Söhne haben, alles klar? Etwas Ablenkung wird dir gut tun. Widerrede zwecklos.«

»Eigentlich will ich gar keinen anderen. Wenn Ben nur nicht so ein Dickkopf wäre … Mir ist überhaupt nicht nach Party zumute. Viel lieber wäre ich in den Berliner Dom gegangen.«

»Schatz, das klassische Konzert ist seit Juli ausverkauft, und den Otto Normalverbraucher gibt’s erst wieder im nächsten Herbst. Also, vergiss es.«

Tina machte ein mürrisches Gesicht, musste dann aber doch grinsen.

»Du meinst den Jedermann. Otto Normalverbraucher ist eine Figur der Nachkriegszeit. Ich glaube, aus der Berliner Ballade.«

»Von mir aus …«

»Wie fahren wir eigentlich?«, fragte sie, »ich hoffe, wir sind nicht stundenlang unterwegs.«

»Keine Sorge, es ist nur ein Katzensprung von hier. Wir fahren mit der S-Bahn vom Nordbahnhof, und die dritte Station ist schon „Brandenburger Tor“.«

»Du meinst „Unter den Linden.“«

»Nein, der Bahnhof ist umgetauft worden im Zuge des U-Bahnbaus an gleicher Stelle. Das „Unter den Linden“ steht jetzt nur noch in Klammern.«

Während sich Tina umzog, griff Mona ihr Handy und führte kurz darauf mit sehr leiser Stimme ein Gespräch. Gerade als sie das Handy zuklappte, kam Tina zurück. Keine Sekunde zu früh.


Eine Stunde später kamen Tina und Mona die Stufen des S-Bahnhofs Brandenburger Tor beziehungsweise Unter den Linden hinauf. Mona hatte Tina ein tolles Make Up verpasst mit Smokey Eyes und Glitzersteinchen, statt der echten Tränen. Und auch ihr pinkfarbenes Kleid unter dem Webpelz konnte sich sehen lassen. Beide Frauen trugen farbig gesprühte Strähnen in ihren Frisuren, die bei Tina mit ihren dunklen Haaren noch etwas besser zur Geltung kamen als bei Mona mit ihren blonden. Schon in der Bahn waren sie von lärmenden Jugendlichen mit Tüten voller Böller und Bier- und Sektflaschen umringt gewesen. Mona freute sich schon auf ihre dummen Gesichter, wenn sie erfahren würden, dass Feuerwerkskörper und alkoholische Getränke ebenso wie scharfe und spitze Gegenstände auf dem Veranstaltungsgelände nicht zulässig waren und durch das Sicherheitspersonal beschlagnahmt wurden.

Oben vor dem Luxushotel Adlon, das an alter Stelle – Pariser Platz / Ecke Wilhelmstraße - fast in altem Glanz wiedererbaut worden war, setzte sich der nicht enden wollende Strom der Leute fort. Das livrierte Personal der Nobelherberge verteidigte eisern den Eingang, falls doch jemand auf die Idee kommen sollte, einen Schritt zu weit zu gehen.

Als es Tina und Mona bis zum Brandenburger Tor geschafft hatten, stellte sich ihnen plötzlich ein Berliner Bär in den Weg, dessen Fell schon bessere Zeiten gesehen hatte.

»Komm, lass uns ein Foto mit dem Urviech machen«, sagte Mona.

»Ach nö, das hat man in der Zopfzeit gemacht. Meine Mutter hat so ein Foto. Ich habe keine Lust dazu«, antwortete Tina.

»Mit dem vielleicht doch«, gab Mona nicht auf, »da bin ich mir ziemlich sicher.«

In diesem Moment nahm der Bär seinen falschen Kopf ab, und darunter erschienen das verschwitzte Gesicht und die verstrubbelten Haare von Ben.

»Na, Gott sei Dank, ich dachte schon, die Maskerade sei umsonst«, sagte er mit bittendem Blick.

»Die wozu gut sein soll?«, fragte Tina erleichtert, aber mit dennoch gespielt strengem Ton.

»Du hättest doch gleich Reißaus genommen bei meinem Anblick. Glaubst du, ich lasse mir diese Traumfrau von einem Anderen wegschnappen? Nein, ich will mit dir gemeinsam ins Neue Jahr und in die gemeinsame Zukunft starten.«

Tina flog ihm in die Arme und küsste ihn leidenschaftlich.

»Ich bin so froh, dass du mir nicht mehr böse bist.«

»Ach Gott, wie niedlich. Wenn man euch beide so sieht, Ben mit seinem zerknautschten Fell und du mit deinem Webpelz, könnte man von Weitem fast meinen, dass sich da zwei Bären umarmen«, sagte Mona mit ihrer frechen Klappe. Aber in Wirklichkeit wollte sie nur ihre Rührung verbergen.

In einer Kusspause schaute Tina ihre Freundin streng an und sagte: »Da hast du doch dran gedreht, oder? Ben hätte mich unmöglich in der Menge finden können.«

»Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts«, meinte Mona grinsend.

»Gut, Frau Hase, ich werde es mir merken, aber ich bin dir ja dankbar, du alte Kuppelmutter. Ben und ich mögen zwar hin und wieder anderer Meinung sein, aber ohne den anderen können wir eben doch nicht«, sagte Tina. Und Ben nickte zustimmend, denn das sollte durchaus für beide das Motto für das Neue Jahr sein.


Zerbrechliche Momente

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