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2. Die Rache

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Tanja, meine kleine Schwester, war für mich immer nur das Baby. Die sieben Jahre, die uns trennten, stellten anfangs eine schier unüberwindliche Kluft zwischen uns dar. Als Tanja geboren wurde, hielt sich meine Freude in Grenzen. Als ahnte ich bereits, dass von nun an der größte Teil der Aufmerksamkeit meiner Eltern ihr gehören würde. Kein Einzelfall bei sogenannten Nesthäkchen, nur war das kein Trost für mich. Ich war glühend eifersüchtig und spielte zeitweilig sogar mit dem Gedanken, sie aus dem Weg zu schaffen.

Später, als wir uns noch ein Zimmer teilten, störte sie mich mit ihrem Geplärre, wenn ich meine Hausaufgaben erledigen wollte, oder sie verschmutzte mit ihren klebrigen Patschhändchen meine Schulhefte. Hinzu kam, dass grundsätzlich ich schuld war, wenn Tanja etwas ausgefressen hatte. Und wenn es nur hieß, ich hätte eben besser auf sie aufpassen müssen. Dabei fing ich an, den kleinen Wirbelwind richtig gern zu haben. Freilich wollte ich mir das noch nicht eingestehen.

Als Tanja in die Schule kam, pubertierte ich schon heftig, was vorübergehend unser besser gewordenes Verhältnis trübte. Die Kleine konnte nicht verstehen, mit welchen Problemen ich mich herumschlug, und dass mir alles und jeder gegen den Strich ging, am meisten die eigene Familie. Ich hatte Schwierigkeiten, meinen Körper zu akzeptieren, und begriff nicht, was da mit mir geschah auf dem Weg, eine Frau zu werden.

Jahre später, als wir längst getrennte Zimmer hatten, konnte ich Tanja in der Phase des Erwachsenwerdens behilflich sein. Ich wusste ja noch allzu gut, wie es mir ergangen war. Wir führten lange Gespräche, und sie weinte sich oft an meiner Schulter aus. Da liebte ich sie längst heiß und innig, unser Baby. Dabei schlug ich mich längst mit meinen eigenen Problemen herum. Das „starke Geschlecht“ hatte sein Interesse für mich entdeckt, und weil ich recht hübsch war, hatte ich die freie Auswahl, ohne recht zu wissen, welchen Typ ich eigentlich bevorzugte. Ich brach damals diverse Herzen und mir wurde auch die eine oder andere Lektion erteilt.

Tanja fand grundsätzlich alle jungen Männer, mit denen ich kurzzeitig befreundet war, blöd. Der eine hatte zu wenig Grips, ein anderer war ein Weich-Ei, einer war ein Womanizer und der nächste schlicht und einfach hässlich in ihren Augen. Umgekehrt verhielt es sich ähnlich. Die jungen Männer nahmen meine kleine Schwester einfach nicht ernst.

»Die spielt doch noch mit Puppen« oder »die muss erst noch ihren Babyspeck verlieren«, hieß es.

Manchmal tat mir Tanja direkt leid, denn sie fing auch schon an, sich hübsch zu machen und sich in Jungen aus ihrer Schule zu verlieben. Dabei schlug sie mitunter über die Stränge, mit dem Hübschmachen. Ihr Outfit geriet etwas zu kokett und ihre Schminke zu auffällig, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, deshalb wirkte sie älter als sie eigentlich war.

»Merkst du eigentlich nicht, dass die Göre dich imitiert, Anita?«, fragte mich einmal ein Bursche, mit dem ich eine Zeitlang ging.


»Das kommt dir nur so vor«, wiegelte ich ab, »hin und wieder leihe ich ihr mal ein Kleidungsstück, und wir sind uns eben sehr ähnlich. Das ist doch bei Schwestern kein Wunder.«

Dann trat Ralf in mein Leben. Da war ich schon vierundzwanzig und Tanja süße siebzehn. Bei ihm wusste ich plötzlich, wonach ich immer gesucht hatte. Er sah blendend aus, war sportlich, zärtlich und verständnisvoll. Mit ihm konnte man nächtelang reden oder durchtanzen. Nebenbei war er ein wirklich guter Liebhaber, der nicht allein auf sein Vergnügen aus war, sondern mit sehr viel Einfühlungsvermögen auf meine Wünsche und Bedürfnisse einging. Mit anderen Worten: ein Prachtexemplar von einem Mann. Fast zu schön, um wahr zu sein, wie eine Freundin treffend bemerkte. Sie war es auch, die mich darauf aufmerksam machte, dass er noch andere Eisen im Feuer hatte. Ich sah es nicht so eng. Sollte er sich nur ausprobieren. So lange ich dabei nicht zu kurz kam. Wir stellten keine Ansprüche aneinander, alles geschah auf freiwilliger Basis, deshalb funktionierte es auch so gut mit uns.

Als Ralf mir schließlich vorschlug, zusammenzuziehen, fühlte ich mich geschmeichelt und stimmte hocherfreut zu. Tanja drehte fast durch.

»Weißt du, worauf du dich da einlässt?«, fragte sie. »Du teilst dein Leben mit einem Typen, der an jedem Rock Gefallen findet. Willst du künftig deine Abende allein verbringen, indem du auf ihn wartest und nicht weißt, mit welcher Tussi er es gerade treibt? Bist du dir nicht zu schade dafür?«

»Du übertreibst maßlos«, lachte ich, »denkst du, Ralf hätte mir den Vorschlag gemacht, wenn er weiterhin auf Abenteuer aus wäre? Nein, er hat sich für mich entschieden, weil er ruhiger geworden ist und mich genauso liebt wie ich ihn. Bisher hattest du ja immer etwas an meinen Männern auszusetzen. Nur diesmal ist es ernst. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

»Bitte, es ist dein Leben. Jeder ist seines Glückes Schmied.«

»Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du seiest die Ältere von uns beiden. Mach dir nicht so viele Sorgen, Schwesterchen. Noch bin ich ja nicht mit ihm verheiratet.«

»Dazu wird es hoffentlich auch nie kommen, denn er wird sich nie ändern.«

Das alte Spiel setzte sich also fort. Auch Ralf konnte mit Tanja nichts anfangen. Nur waren seine Äußerungen etwas milder und arteten nicht in Hasstiraden aus.

»Was war denn mit Tanja los?«, fragte er einmal, »die hat mich angesehen, als wollte sie mich vergiften.«

»Gib ihr etwas Zeit, sich an dich zu gewöhnen«, sagte ich, »sie war noch nie mit meinen Freunden einverstanden.«

»Die kleine Göre ist wohl eifersüchtig und nimmt mir übel, dass ich dich aus dem heimischen Nest entführe«, grinste Ralf, »man sollte sie mal tüchtig übers Knie legen. Das scheinen deine Eltern versäumt zu haben.«

Wir richteten unsere gemeinsame Wohnung kuschelig ein und genossen die gemeinsamen Abende und Nächte ebenso wie das Aufwachen und das Frühstück, das nicht selten im Bett eingenommen wurde. Tanjas Befürchtungen waren umsonst gewesen. Ralf ließ mich nicht zu Hause auf ihn warten. Was er am Tag so trieb, wusste ich freilich nicht.

Einige Monate später setzte meine Regel aus. Mein Glück war unbeschreiblich, aber ich wollte erst ganz sicher gehen, bevor ich Ralf etwas sagte. Nachdem die in der Apotheke besorgten Schwangerschaftstests positiv ausgefallen waren, behielt ich mein Geheimnis immer noch für mich. Ich suchte einen Gynäkologen auf und ging stolz mit meinem Mutterpass und der ersten Ultraschallaufnahme nach Hause. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo Ralf es erfahren sollte. Und ich war sicher, er würde sich ebenso freuen wie ich, weil er ein absoluter Kindernarr war.

Da ich nicht wusste, wie viel Zeit der Besuch beim Arzt in Anspruch nehmen würde, hatte ich angekündigt, nicht vor dem frühen Abend zurückzukehren. Vielleicht auch, weil ich mir offen lassen wollte, ob ich vor Ralf meine Eltern von meiner künftigen Mutterschaft informieren wollte. Ich freute mich schon auf ihre Gesichter, wenn sie erfahren würden, bald Großeltern zu sein.

Dass ich dann doch gleich nach Hause ging, lag an meiner Erkenntnis, zuerst mit Ralf unser Glück teilen zu wollen, dachte ich zumindest.

Auf dem Korridor vernahm ich den Duft eines Parfüms, das mir fremd und gleichzeitig vertraut erschien. Dann hörte ich aus dem Schlafzimmer helles Frauenlachen und wähnte mich in einem Albtraum. Nach dem Öffnen der Schlafzimmertür sah ich eine unter der Bettdecke verschwindende Blondine und einen verdatterten Ralf.

»Ich kann das erklären …«, begann er, aber ich ließ ihm keine Chance.

»Völlig überflüssig, die Szenerie spricht für sich«, sagte ich und lief zurück in den Flur. Moment mal, den Mantel an der Garderobe kannte ich doch. Nein, das konnte nicht sein. Ich ging zurück ins Schlafzimmer und riss mit einem Ruck die Bettdecke weg. Und da lag sie, meine Schwester Tanja, am ganzen Leibe zitternd.

Ich weiß nicht, wie ich aus der Wohnung gekommen und wohin ich gelaufen bin. Irgendwann fand ich mich auf einer Parkbank wieder und weinte hemmungslos. Später nahm ich mir ein Hotelzimmer und überlegte, was als Nächstes zu tun sei.

Nach drei Tagen, zu einem Zeitpunkt, als Ralf nicht zu Hause war, bin ich aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und habe mir eine eigene, kleinere genommen. Als ich darüber reden konnte, bat ich meine Eltern, nichts von meiner Schwangerschaft zu erzählen, auch nicht Tanja. Was sie getan hatte, behielt ich für mich, war aber künftig weder für Ralf noch für Tanja zu sprechen. Ich weiß nicht, ob meine Eltern etwas geahnt haben, aber ich war ihnen äußerst dankbar, dass sie meinen Entschluss tolerierten und nicht mit Fragen in mich drangen. Ich arbeitete so lange ich konnte und als der Mutterschutz einsetzte, stand mir meine Mutter bei und unterstützte mich in jeder Weise. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein.

In mancher durchwachten Nacht, wenn Julian mir keine Ruhe gönnte, überlegte ich immer wieder, ob ich mich richtig verhalten hatte. Meine Verletzung war so groß gewesen, dass ich buchstäblich Rot gesehen hatte. Schließlich war ich gleichzeitig von zwei Menschen hintergangen worden, die mir sehr, sehr viel bedeuteten.

Ralf wusste bis heute nichts von seiner Vaterschaft. Ich bin sogar so weit gegangen, auf dem Standesamt „Vater unbekannt“ eintragen zu lassen. Das war meine Rache, denn ich wusste, wie sehr er sich ein Kind mit mir gewünscht hatte.

Der kleine Julian ist jetzt ein Jahr alt und hat heute zum ersten Mal seinen Vater gesehen. Es ist das eingetreten, wovor ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte, Ralf mit dem Kind auf dem Arm zu begegnen. Aber alle Fantasie hätte sich die Szene nicht ausmalen können. Ohne Worte hatte Ralf sein eigen Fleisch und Blut sofort erkannt und ihm waren Tränen die Wangen heruntergerollt. In seinen Augen habe ich Liebe und die Bitte um Verzeihung gesehen. In diesem Moment habe ich erkannt, dass auch ich ihn immer noch liebe und ihm längst verziehen habe. Wahrscheinlich hatte ich sogar instinktiv gehofft, ihm eines Tages zufällig zu begegnen, weil ich nie die Kraft hatte, auf seine Briefe und Anrufe zu reagieren. So wie ich bestimmt auch nicht zufällig damals zuerst nach Hause gegangen war. Man sollt die Macht des Unterbewusstseins nicht unterschätzen.

Wir wollen endlich reden und neu aufeinander zugehen. Was daraus wird, wird die Zukunft zeigen. Aber ich habe eingesehen, dass Julian ein Recht auf seinen Vater hat, wie umgekehrt auch. Ob man den Namen des Vaters nachträglich noch hinzufügen kann, weiß ich nicht, aber ich hoffe es.

Mit Tanja habe ich mich ausgesprochen. Sie war nahe daran, an ihrem Vertrauensbruch zu verzweifeln. Ich wünsche ihr, dass ihr in ihrem Leben nicht ähnlich harte Schicksalsschläge widerfahren und dass sie aus ihren Fehlern gelernt hat. Sie ist trotz allem meine Schwester und wird eben immer das Baby für mich bleiben, ein bisschen dumm und irgendwie auch ein bisschen rührend hilflos und schutzbedürftig.


Zerbrechliche Momente

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