Читать книгу Sophienlust Paket 1 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 22

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Eine Uhr schlug mit zarten Tönen acht Mal. Beim letzten Ton erwachte Marco und rieb sich die Augen. Ganz still blieb er liegen und blinzelte verschlafen.

Er sah die Umrisse eines Schrankes und eines Bücherregals, dann die eines Pferdes, das ein wenig kleiner war als das kleinste Pony auf Sophienlust.

Sofort war Marco hellwach. Er wusste nun, dass er nicht geträumt hatte. Seine heißen Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Seine Mutti und sein Vati hatten ihn, zusammen mit Onkel Bob, in Sophienlust abgeholt. Nun war er hier in dem wunderschönen Haus, in einem Zimmer, das groß und hell und so schön war wie Dominiks Zimmer.

Ganz rasch kam Marco jetzt alles wieder ins Gedächtnis zurück. Das Kinderheim Sophienlust, die Familien Schoenecker und Wellentin und die Kinder, mit denen er gespielt hatte. Doch insgeheim hatte er immer davon geträumt, dass seine liebe Mutti kommen und ihn holen würde, dass sie gar nicht im Himmel sei, wie man ihm immer erzählt hatte. Ja, und dann war seine Mutti gekommen.

Ein seliges Lächeln lag auf Marcos Gesicht, als er auf nackten Füßchen zu dem kleinen Pferd schlich. Er bewegte sich auf und nieder, weil es ein Schaukelpferd war und kein lebendiges Pony. Marco hätte sich am liebsten sofort darauf gesetzt und geschaukelt, aber eine innere Scheu hielt ihn davon ab.

Ganz langsam ging er durch das Zimmer und betastete die schönen Möbelstücke. In den Regalen standen viele Plüschtiere. Ein Eselchen, ein Löwe, ein Tiger, eine Giraffe, ein Eichhörnchen, ein Hund, der fast so aussah wie eines von Sentas Jungen, ein Hase, ein Äffchen und ein großer weicher Teddybär. Den nahm Marco, drückte ihn an sich und huschte wieder ins Bett.

»Ich nenne dich Nick«, sagte er zu dem Teddy. »Der Nick in Sophienlust hat es nie richtig geglaubt, dass meine Mutti kommt, aber dann hat er auch gestaunt. Warst du auch mit am Nordpol, Nick?«

Der Teddy gab einen Brummton von sich, den Marco als Ja deutete. Der Junge lebte immer noch in dem Glauben, dass seine Mutter am Nordpol gewesen sei, viel weiter von ihm entfernt als der Himmel. Irgendwann einmal hatte er es sich eingeredet und war dann dabei geblieben.

Aber nun waren sie in einem schönen Haus, das zwischen vielen Bäumen an einem Hang stand. Es war spät gewesen, als sie gestern hier angekommen waren. Da er müde und glücklich in Muttis Armen eingeschlafen war, hatte ihn wohl Vati ins Haus getragen. Vielleicht auch Onkel Bob, der ihm seine Mutti gesucht hatte.

So jedenfalls dachte es sich Marco, nicht ahnend, welchen dramatischen Umständen er es verdankte, dass er zu der Familie Henning van Droemen gekommen war.

*

Benommen wachte Ingrid van Droemen auf. An ihrem Bett saß ihr Mann im dunkelblauen Hausmantel und hielt ihre Hände.

»Nun hast du wenigstens ein paar Stunden geschlafen, Liebes«, sagte er warm. »Du musst frisch sein, damit du den vielen Fragen des Jungen standhalten kannst.«

»Unseres Jungen, Henning«, flüsterte sie. »Der liebe Gott hat mir Marc zurückgegeben. Wenigstens seine Seele.«

Es schnürte ihm die Kehle zu. Sollte sie glauben, was sie wollte, wenn sie nur wieder lebte und nicht nur dahinvegetierte.

Viele Monate quälender Angst, dass seine geliebte Frau in geistige Umnachtung versinken könnte, lagen hinter ihm. Der Tod ihres kleinen vierjährigen Sohnes, der an einer Blutvergiftung gestorben war, hatte sie so maßlos erschüttert, dass sie in Schwermut verfallen war. Nichts und niemand hatte sie aufmuntern können. Nicht er, nicht Robert Quirin, ihr Bruder, und auch nicht die beiden älteren Kinder Daniel und Evelyn.

Nein, es war immer schlimmer geworden. Sie hatte sich ganz in sich zurückgezogen, sich von ihm und den Kindern immer mehr entfernt und nur noch der Erinnerung an Marc gelebt.

Dann war Robert Quirin im Kinderheim Sophienlust zufällig dem kleinen Marco begegnet, der ebenso alt war, wie Marc es bei seinem Tode gewesen war, und der außer dem Namen noch manche andere Ähnlichkeit mit ihm hatte.

Ein Fingerzeig des Schicksals? Damals, als Bob ihm von Marco berichtet hatte, hatte Henning van Droemen nicht daran gedacht. Aber er hatte nichts unversucht lassen wollen. Und nun war das Experiment in seinem ersten Stadium bereits glücklich abgelaufen. Der kleine Marco war auf Ingrid zugegangen, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit, dass seine Mutti käme. Wie aber würde es jetzt weitergehen?

Henning van Droemen war ein nüchtern denkender Geschäftsmann. Er liebte seine Frau und war bereit, alles für sie zu tun, aber er blickte auch den Tatsachen ins Auge.

Marco war Vollwaise. Sein Vater war der Spross eines italienischen Adelsgeschlechtes, dessen Ehe nicht die Billigung seiner Angehörigen gefunden hatte. Das Kind war von frühester Kindheit an in Heimen aufgewachsen, nachdem seine Eltern tödlich verunglückt waren. Eine Adoption würde kaum Schwierigkeiten bereiten, wie Frau von Schoenecker ihm versichert hatte.

Ein reizendes und liebes Kind war der kleine Junge, davon hatte er sich gestern selbst überzeugen können. Aber wie würden Evelyn und Daniel den kleinen Fremdling aufnehmen? Mit fünfzehn und siebzehn Jahren hatte man schon eigene Vorstellungen. Außerdem hatten die beiden zu lange hinnehmen müssen, dass sie durch den Nachkömmling Marc viel von der Zuneigung ihrer Mutter verloren hatten. Aber Marc war immerhin ihr leiblicher Bruder gewesen, während Marco ein fremdes Kind war.

Henning van Droemen fürchtete sich vor dem Augenblick, wo er seine beiden Großen über die neue Situation informieren musste. Zur Zeit waren sie in einem Internat. Das war die beste Lösung gewesen für alle Beteiligten, da Ingrid die beiden großen Kinder mitverantwortlich an Marcs Tod gemacht hatte.

»Ich möchte aufstehen«, sagte Ingrid leise. »Marc soll nicht allein sein, wenn er aufwacht.«

Sie sagte schon Marc, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.

Henning van Droemen wurde von einer quälenden Unruhe erfasst. Er verfolgte aufmerksam, wie Ingrid sich ankleidete. Sie bürstete ihr Haar nicht mehr so streng zurück wie in den vergangenen Monaten. Locker fiel es in glänzender, silbrig schimmernder Fülle auf die schmalen Schultern. Kindhaft jung sah sie aus, trotz ihrer achtunddreißig Jahre. Die feinen Falten, die sich in ihren Augenwinkeln und um ihren Mund eingenistet hatten, schienen wie durch Zauberhand weggewischt. Mit leichten graziösen Schritten huschte sie durch das Zimmer, das sie noch vorgestern geistesabwesend und schleppend durchquert hatte.

Henning legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Mein Liebes, wenn du nur wieder lachen lernst«, sagte er zärtlich.

In ihren schönen veilchenblauen Augen war ein tiefes warmes Leuchten.

»Ich habe dir wohl viel Kummer bereitet, Henning?«, fragte sie leise.

»Es soll vergessen sein, wenn du glücklich bist«, antwortete er.

»Ich gehe jetzt zu Marc. Hast du noch Zeit? Kannst du mit uns frühstücken?«

»Leider nicht, Liebes. Dringende Konferenzen warten.«

Es war eine Ausrede. Er wollte sie an diesem ersten Morgen allein lassen mit dem Kind. Nicht nur, damit sie das Beisammensein voll auskosten konnte, sondern auch, weil er selbst eine gewisse Scheu davor hatte, mit dem Jungen zu sprechen. Vielleicht war es gut, wenn er sich zuvor noch einmal mit Bob beriet. Für seinen Schwager war es wesentlich einfacher, mit den Gegebenheiten fertig zu werden. Erstens hatte er ein unkompliziertes Naturell, und dann standen ihm Daniel und Evi auch nicht so nahe wie ihm als Vater.

Henning van Droemen küsste seine Frau zärtlich auf den Mund. Heute wich sie ihm nicht aus wie früher. Sie schmiegte sich sogar an ihn.

»Du bist so lieb, Henning«, flüsterte sie. »Ich danke dir.«

Sie ist dem Leben wiedergegeben, dachte er, als er zur Fabrik fuhr. Das ist wichtiger als alles andere.

*

Auf Zehenspitzen betrat Ingrid van Droemen das Kinderzimmer. Es war Marcs Zimmer. Hier hatte er gespielt und geschlafen und manchmal auch getrotzt.

Marco schloss rasch die Augen, als sich die Türklinke bewegte. Dann berührten weiche Lippen seine Stirn. Zarte, leichte Hände streichelten sein ­Gesicht. Es war so wundervoll, dass Marco wünschte, es sollte gar nicht aufhören.

»Du schläfst ja gar nicht mehr, Marc«, sagte Ingrid zärtlich. »Du warst ja schon mal auf.«

»Woher weißt du das, Muttilein?«, wisperte er.

Muttilein hatte Marc nie gesagt. Ingrid wurde es ganz heiß. Die Kinder nannten sie Mutschi, wenn sie besonders lieb sein wollten. Aber dieses Muttilein klang noch viel liebevoller.

»Du hattest den Teddy nicht im Bett«, erwiderte sie.

»Er heißt Nick«, sagte Marco.

Marc hatte ihn Hermann getauft. Nun hieß er also Nick. Ingrid fand es hübsch.

»Nick in Sophienlust war immer sehr lieb zu mir«, erklärte Marco. »Alle waren lieb. Aber ich habe immer nur an dich gedacht.«

Tränen stiegen in Ingrids Augen. Sie konnte sie nur mühsam zurückhalten. »Ich habe dich sehr lange allein gelassen, Marc«, raunte sie. »Bist du mir böse?«

»Du hattest sicher etwas ganz Wichtiges zu tun«, meinte er. »Jetzt ist es doch auch egal. Du bist ja da. Es war nur schlimm, als alle sagten, du wärest im Himmel. Aber da wusste ich ja noch nicht, dass es auch einen Nordpol gibt, der so weit weg liegt.«

»Nun wirst du erst einmal aufstehen«, lenkte sie ab. »Du hast doch bestimmt Hunger, mein Liebling.«

»Ich glaube schon. Wie spät ist es denn?«

»Halb neun Uhr.«

»Da waren wir in Sophienlust schon fertig mit dem Frühstück. Zuerst muss ich duschen und Zähne putzen, nicht wahr?«

Als er unter der Dusche stand, ging Ingrid zu Marcs Kleiderschrank. Ihre Hände zitterten, als sie einige Kleidungsstücke herausnahm, aber sie bewahrte ihre Fassung.

»Wir wollen doch einmal sehen, ob dir das passt«, sagte sie.

Die lange graue Hose schien wie für ihn gemacht. Der bunte Pullover gefiel Marco.

»So richtig kuschelig ist er«, stellte er mit leuchtenden Augen fest.

Ingrid betrachtete ihn und vergaß, dass Marc die hellen Augen seines Vaters gehabt hatte.

»Frühstückt Vati nicht mit uns?«, fragte Marco schüchtern, als sie das Bauernzimmer mit seinen schönen Eichenmöbeln betraten.

»Er musste in die Fabrik«, antwortete Ingrid.

»Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich erst mit dir allein sein kann«, gab Marco freimütig zu. »An Vati konnte ich mich nicht mehr so gut erinnern. Ich will aber nicht, dass er traurig darüber ist.«

»Er versteht das schon«, entgegnete Ingrid mit belegter Stimme.

»Da ist ja der junge Herr«, tönte es durch den Raum, und eine grauhaarige Frau mit schwarzer Schürze erschien. »Guten Morgen, Marc, hast du gut geschlafen?«

»Danke, sehr gut«, erwiderte Marco höflich. »Wer bist du?«

»Millie«, kam die Antwort.

Er schaute sie prüfend an. »Ich kann mich leider nicht erinnern, Mutti. Ist es schlimm?«

»Nein, es ist gar nicht schlimm«, erwiderte Ingrid und schenkte Millie einen dankbaren Blick, weil sie so unbefangen sprach.

»Wen gibt es noch hier?«, erkundigte sich Marco. »Und warum sagt ihr alle Marc zu mir?«

»Weil wir dich immer so genannt haben, wenn du auch Marco getauft bist«, sagte Millie rasch, weil Ingrid vergeblich nach Worten suchte.

»War ich auch ganz klein, als ich getauft wurde?«, wollte er wissen.

»Ja, ganz klein«, antwortete Ingrid mit bebender Stimme.

»Deshalb kann ich mich wohl auch nicht daran erinnern. Aber du darfst keine traurigen Augen machen, Muttilein. Du musst lachen. Das habe ich gern. Jetzt sind wir ja wieder zusammen.«

Millie schneuzte sich laut und verschwand.

*

Dr. Quirin warf seinem Schwager einen nachdenklichen Blick zu. »Du bist zerstreut, Henning«, bemerkte er, »mit Mühe und Not habe ich dich vor einem argen Patzer bewahrt. Es hätte dich Hunderttausende kosten können.«

»Vielen Dank, Bob«, erwiderte Henning van Droemen müde, »aber ist das ein Wunder? Ich muss dauernd an Ingrid denken. Jetzt redet sie sich womöglich ein, Gott habe Marcs Seele in den Körper dieses Jungen versetzt.«

»Das wäre doch nur gut. Lass doch alles an dich herankommen, alter Junge. Die Hauptsache ist doch, dass sie ihn nicht ablehnt.«

»Ich fürchte eher, sie wird ihn noch mehr vergöttern als Marc und ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen.«

»Es wird sich bestimmt alles normalisieren. Marco ist ein gesundes, widerstandsfähiges Kind und ein sehr anpassungsfähiges dazu, wie ich feststellen konnte. Ob er wirklich überzeugt ist, dass Ingrid seine Mutter ist, oder ob er es nur so sehen will?«

»Er ist vier Jahre alt. Da vermischen sich noch Fantasie und Wirklichkeit. Ich denke aber auch an Dan und Evi, die ihr ganz vergessen zu haben scheint. Ich muss sie informieren.«

»Soll ich es übernehmen?«, bot Robert Quirin an.

»Traust du es dir zu?«

»Ich stehe gut mit den beiden und bin nicht befangen. Ich bin halt Jurist.«

»Und ich bin ihr Vater. Bob, ich habe niemals Unterschiede zwischen meinen Kindern gemacht. Du weißt, wie glücklich ich über Marcs Geburt war, aber von Anfang an war er ein Mutterkind.«

»Das ist nun mal so, wenn die Frau die dreißig schon überschritten hat. Aber du darfst nichts dramatisieren, Henning. Es kommt jetzt nur darauf an, dass Ingrid wieder gesund wird. Sie war krank, das weißt du so gut wie ich. Professor Martin hat das Schlimmste befürchtet und dann wäre sie uns allen verloren gewesen. Ich finde den Kleinen einfach putzig. Er ist auch bedeutend reger, als Marc es war. Das kommt wahrscheinlich auch daher, dass er unter älteren Kindern aufgewachsen ist, die sich sehr viel mit ihm beschäftigt haben. Dan und Evi haben sich dagegen kaum mit Marc abgegeben.«

»Ingrid hat die beiden ja auch nicht an den Kleinen herangelassen. Sie war doch auf alles und jeden eifersüchtig, und das wird jetzt auch nicht anders sein.«

»Verlassen wir uns also auf den gesunden Instinkt eines Kindes, das ohne Mutter aufgewachsen ist«, meinte Robert Quirin zuversichtlich. »Das Geschäft haben wir unter Dach und Fach. Am Wochenende fahre ich nach Schloss Heidern und besuche die Kinder. Bis zu den Ferien haben sie Zeit, sich mit den neuen Umständen vertraut zu machen, und wenn sie renitent sind, schicken wir sie zu meinen Eltern.«

»Ob die Verständnis für unseren Entschluss haben werden?«, fragte Henning van Droemen niedergeschlagen.

»Meinst du, es wäre ihnen angenehmer, wenn ihre Tochter in einem Nervensanatorium dahinvegetierte?«, fragte Robert Quirin zurück.

»Du machst mir wirklich Hoffnung, Bob«, sagte Henning dankbar. »Bring die Geschichte mit der Siedlung für kinderreiche Familien in Ordnung. Frau von Schoenecker soll wissen, dass es keine leeren Versprechungen waren. Dass ich noch mal Mäzen werden würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.«

»Es wird dir hundertfach gedankt werden, Henning«, erwiderte Robert Quirin herzlich. »Was gibt es Schöneres, als Kindern ein freundliches Zuhause zu geben und Eltern die Genugtuung, nicht als Menschen dritter Klasse betrachtet zu werden. Dieses blöde Gewäsch von asozialer Einstellung, wenn man mehr als drei Kinder hat, hat mich schon immer geärgert. Wenn ich mal heirate, will ich ein halbes Dutzend.«

»Dann halte dich aber ran. Du bist bereits am Anfang des vierten Jahrzehnts, mein Lieber.«

»Aber leider habe ich die Richtige noch nicht gefunden und bin sehr wählerisch. So eine wie Denise von Schoen­ecker hätte ich auf der Stelle geheiratet.«

»Aber sie ist vergeben.«

Robert Quirin seufzte tief. »Das ist es eben. Ich bin ein Spätzünder.«

»Dafür bekommt die Frau, die du einmal zum Standesamt schleppst, einen Goldschatz«, spottete Henning.

»Mach mich doch nicht verlegen«, brummte Robert Quirin.

*

Marco hatte ausgiebig gefrühstückt und sich ebenso ausgiebig mit seiner Mutti unterhalten. Alles, was Ingrid über den Nordpol wusste, hatte sie sich ins Gedächtnis zurückgerufen. Marco gab sich zum Glück bald zufrieden, weil der Nordpol für ihn sowieso ein gräßliches Ungeheuer war.

»Vati hätte nicht erlauben dürfen, dass du dort so lange bleibst«, meinte er. »Du hättest sehr krank werden können in dieser Kälte.«

»Vati trifft keine Schuld«, erwiderte Ingrid gedankenverloren. »Es war mein eigener Entschluss.«

Ich war so weit entfernt von allem, was mir lieb und teuer war, dass man es schon mit dem Aufenthalt in einer Eiswüste vergleichen könnte, ging es ihr durch den Sinn. So gesehen fiel es ihr gar nicht schwer, sich in Marcos Gedankenwelt zu versetzen.

Nun gingen sie durch das Haus, denn Marco musste sich mit allen Räumen vertraut machen.

Ein stechender Schmerz durchzuckte Ingrid, als sie ihr kleines Wohnzimmer betraten. Auf dem Schreibtsich stand Marcs Bild. Dass sie daran nicht gedacht hatte!

»Wer ist der kleine Junge?«, fragte Marco auch sofort.

Was sollte sie sagen? Ihre Lippen bebten.

»Benedikt«, antwortete sie zögernd, Marcs zweiten Namen nennend. »Er war dein Bruder, Marc«, fügte sie überstürzt hinzu.

Der Junge schaute sie verwundert an. »Er war mein Bruder? Ist er es nicht mehr?«

»Er ist tot«, flüsterte Ingrid.

»Tot«, wiederholte Marco, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hätte gern einen Bruder gehabt.«

»Dan und Evi sind ja auch noch da«, sagte Ingrid leise und wunderte sich, dass sie überhaupt ein Wort herausbrachte.

»Dan und Evi?«, staunte Marco.

»Sie sind schon groß, deshalb kannst du dich nicht an sie erinnern.«

»So groß wie Sascha und Andrea?«

»Wie alt sind sie denn?« Langsam gewann sie ihre Fassung zurück.

Marco überlegte. »Ich weiß nicht genau. Sascha geht ins Gymnasium und kann schon Latein und Englisch, und Andrea kommt dieses Jahr auch auf die Oberschule. Sie freut sich gar nicht. Warum habe ich Dan und Evi noch nicht gesehen? Sind sie auch in der Schule?«

»Sie sind im Internat. Dan ist siebzehn und Evi fünfzehn.«

»Ein Internat ist auch so was wie ein Kinderheim, nur für größere Kinder, hat Sascha gesagt. Er und Andrea waren auch mal in einem, aber es hat ihnen nicht gefallen. Sie sind froh, dass sie jetzt zu Hause sein dürfen. Aber das war so …« Er geriet ins Stocken.

»Wie war es?«, fragte Ingrid mechanisch.

»Sascha und Andrea hatten keine Mutter, und Dominik hatte keinen Vater. Und dann haben Herr von Schoen­ecker und Tante Isi geheiratet, und nun sind sie eine Familie. Aber wir sind doch eine Familie, nicht wahr, Mutti? Es ist doch nicht so, dass Dan und Evi einen anderen Vati haben. Ich möchte, dass sie zu Hause sind. Ich will sie lieb haben.«

Ingrids Herz krampfte sich zusammen. Er will sie lieb haben, hämmerte es in ihren Schläfen. Es war zu viel für sie.

»Lass uns später darüber sprechen, Marc«, bat sie. »Jetzt muss ich mich ein wenig ausruhen.«

Er nickte. »Du bist auch ganz blass. Soll ich Millie Bescheid sagen?«

»Nein, aber geh zu ihr und schau ihr beim Kochen zu.«

»Das mache ich gern«, erwiderte er bereitwillig. »Aber du musst dich auch wirklich ausruhen, Muttilein.«

Ingrid ließ ihren Tränen freien Lauf, als sie in ihrem Zimmer war. Wie besorgt das Kind war. Mein Kind – unser Kind – er macht es mir so leicht. Aber werden Dan und Evi es verstehen?

*

Henning van Droemen hatte darauf bestanden, dass Daniel und Evelyn in ein gemischtes Internat kamen. Konnten sie schon nicht daheim sein, sollten sie wenigstens nicht voneinander getrennt werden.

Schloss Heidern war ein alter ehrfurchtgebietender Bau. Im linken Seitenflügel waren die Mädchen, im rechten die Jungen untergebracht. Im Hauptgebäude waren die Klassenzimmer und die Verwaltungsräume. Das Internat hatte internationalen Ruf. Aus allen Erdteilen kamen hier die Kinder der oberen Zehntausend zusammen.

Dan hatte das Internat anfangs versnobt genannt, aber mittlerweile hatte er Gleichgesinnte gefunden und fühlte sich ganz wohl.

Evi tat sich nicht so leicht. Sie litt mehr unter der Trennung vom Elternhaus, als sie zugeben wollte. Sie sehnte sich vor allem nach ihrem Vater, den sie abgöttisch liebte. Außerdem litt sie unsagbar darunter, dass ihre Mutter sie für mitschuldig am Tode des kleinen Bruders hielt. Daniel hatte sich darüber mit jungenhafter Forschheit hinweggesetzt, aber sie konnte das nicht.

Evi traf ihren Bruder während der Pause im Schulhof. Daniel überragte seine zierliche Schwester um Haupteslänge.

»Mach doch nicht so ein Gesicht, Evi«, meinte er, »Onkel Bob kommt am Wochenende.«

»Ich weiß. Schwälbchen hat es mir vorhin gesagt.«

Fräulein Dr. Schwalb, von allen Schülerinnen liebevoll Schwälbchen genannt, war der einzige Mensch in diesem Internat, zu dem Evi sich hingezogen fühlte. Zwar versuchte sie, mit allen Mitschülerinnen gut auszukommen, aber eine richtige Freundin hatte sie noch nicht gefunden.

»Warum kommt Onkel Bob, warum nicht Vati?«, fragte sie skeptisch.

»Vielleicht geht es Mutti wieder schlechter«, überlegte Daniel. »So langsam könnte sie ja wieder zu sich kommen.«

»Es wird nie mehr so wie früher sein«, seufzte Evi bekümmert. »Sie wird uns immer die Schuld an Marcs Tod zuschieben.«

»Eigentlich war doch nur er ihr Kind«, äußerte sich Daniel aggressiv. »Um uns hat sie sich doch kaum gekümmert, seit er da war.«

»Das darfst du nicht sagen. Er war doch noch so klein. Wir waren so viel älter, und viel haben wir uns auch nicht um ihn gekümmert.«

»Was soll man denn mit einem Baby anfangen«, begehrte Daniel auf. »Mir tut ja alles leid, aber ich finde es auch nicht richtig, dass Mutti so geworden ist.«

»Sie ist eben krank. Vati hat es uns doch erklärt. Aber sie tut keinem was, wie Tammys Vater. Der hat alles zerschlagen, als ihr großer Bruder ertrunken ist.«

Tammy war das einzige Mädchen, mit dem Evi sich etwas angefreundet hatte.

»Dass Mutti etwas zerschlägt, kann ich mir nicht vorstellen«, murmelte Daniel. »Aber kann es wirklich so schlimm werden, wenn man Kummer hat?«

»Sicher. Schwälbchen hat neulich auch mal darüber gesprochen, dass Menschen seelisch viel mehr leiden können als körperlich. Es läutet«, fuhr sie fort. »Ich bin gespannt, was Onkel Bob erzählen wird.«

Daniel schlenderte über den Schlosshof. Im Augenblick fühlte er sich Evi mit seinen siebzehn Jahren weit überlegen. Er fühlte sich bereits als Mann und gestattete sich keine Sentimentalitäten.

Evi war während der Deutschstunde unaufmerksam. Dabei hatte sie die Stunden, die Fräulein Dr. Katrin Schwalbe gab, besonders gern. Die junge, moderne und aufgeschlossene Lehrerin erfreute sich großer Beliebtheit.

Schon vom Optischen her konnten sich Mädchen wie auch Jungen für sie begeistern. Sie war ziemlich groß und hatte eine blendende Figur. Sie trug schicke Kleider, und ihr Gesicht war überaus apart. Von den Beinen ganz zu schweigen.

Eine dufte Biene nannten sie die Jungen, und schon manch einer hatte versucht, Eindruck bei ihr zu erwecken. Doch Schwälbchen blieb immer gelassen.

Dass eine so bildhübsche Dame Lehrerin werden konnte, war den Mädchen ein Rätsel. Aber sie war den meisten ein so leuchtendes Vorbild, dass sie versuchten, ihren graziösen Gang und ihre Art zu reden nachzuahmen.

Evi versuchte das nicht. Sie erstarb nur in Bewunderung vor dieser Lehrerin, weil sie niemals ein lautes Wort sagte, weil sie nie ungerecht war.

Als die Stunde beendet war, rief Katrin Schwalbe Evi zu sich. »Ich will nicht neugierig sein, Evi«, sagte sie sanft, »und du brauchst mir auch nicht zu antworten, wenn du nicht willst, aber möchtest du mir nicht einmal sagen, warum du immer so traurig bist und aus welchem Grunde deine Leistungen so absinken. Ich kann es nicht verhindern, wenn deinen Eltern darüber Bericht erstattet wird. Du bist intelligent, du könntest in allen Fächern ein paar Noten besser sein, aber deine Beteiligung am Unterricht lässt sehr zu wünschen übrig.«

Evi schossen die Tränen in die Augen. »Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche«, stammelte sie.

»Ich möchte dir doch nur helfen, Kind«, erwiderte Katrin Schwalbe leise. »Ich weiß sehr gut, wie es ist, wenn man Sorgen hat und noch so jung ist.«

»Haben Sie auch einen kleinen Bruder verloren?«, stieß Evi mit erstickter Stimme hervor.

»Nein, aber meine Mutter«, antwortete Katrin Schwalbe. »Ich war damals genauso alt wie du, Evi.«

Tränen rannen über Evis Gesicht. »Ich will doch meine Mutti nicht verlieren«, flüsterte sie, »aber es ist alles so schwer.«

Katrin Schwalbe kannte die Geschichte der beiden van Droemen-Kinder nur flüchtig. Sie selbst war auch erst seit ein paar Monaten Lehrerin an diesem Internat, und weil sie jung, hübsch und dazu auch noch äußerst intelligent war, wurde sie von den Kollegen mit größter Zurückhaltung behandelt. Wenn sie, wie im Falle von Evelyn van Droemen, ein gutes Wort einlegte, wo andere harte Kritik übten, ließ man sie abblitzen.

Doch jetzt hatte sie sich vorgenommen, sich mehr um dieses verstörte Mädchen zu kümmern und auch mit dem Onkel zu sprechen, der seinen Besuch angekündigt hatte.

Es wurde nicht gern gesehen, wenn eine Lehrkraft einer Internatsschülerin mehr Aufmerksamkeit zukommen ließ als anderen, und so hatte Fräulein Dr. Schwalbe leider kaum Möglichkeiten, mit Evi allein zu sprechen. Auch jetzt warf Frau Direktor Zengerl, die natürlich gerade wieder auf der Bildfläche erscheinen musste, ihr schon einen missbilligenden Blick zu.

»Bitte, Evi, nimm dich heute in der Französisch-Schulaufgabe zusammen«, raunte Katrin Schwalbe dem Mädchen rasch zu. »Es hängt viel davon für das Zeugnis ab.«

Wie sie erwartet hatte, bekam sie von der Direktorin zuerst einmal eine Strafpredigt.

»Sie bevorzugen Evelyn van Droemen in einer herausfordernden Weise«, beschuldigte sie die Lehrerin. »Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, dass ich das nicht wünsche.«

Katrin Schwalbe hob den Kopf. »Das Mädchen ist sehr sensibel und befindet sich augenblicklich in einer Konfliktsituation«, erwiderte sie ruhig. »Es sollte doch auch Aufgabe der Erzieher sein, solche Situationen zu erleichtern.«

»Papperlapapp – in einem so erstklassigen Internat können sich selbst die verwöhntesten Jugendlichen wohlfühlen. Sie will sich nur interessant machen. Immer hält sie sich abseits. Aber dafür besteht gar keine Veranlassung. Evelyn van Droemen und Tammy Dickson haben keinen Gemeinschaftsgeist, das ist alles.«

»Ich dachte, der Wahlspruch dieses Institutes sei, jeden einzelnen Schüler individuell zu behandeln.« Katrin Schwalbe konnte sich diesen Hinweis nicht verkneifen, da Frau Direktor Zengerl diesen Erziehungsgrundsatz den Eltern gegenüber immer wieder betonte.

»Halten wir uns nicht mit fruchtlosem Gerede auf«, ereiferte sich die Direktorin. »Der Unterricht hat bereits begonnen. Sie sollten pflichtbewusster werden, Fräulein Dr. Schwalbe.«

Ihr Blick besagte, dass sie die Lehrkraft sonst nicht für tragbar halten würde. Doch sie wagte es nicht, das auszusprechen, denn wie überall war auch hier großer Lehrermangel. Sie musste froh sein, wenn sie überhaupt jemanden fand.

*

Marco hatte über vieles nachzudenken. Zwei große Geschwister zu haben, fand er wunderbar, und er bedauerte zutiefst, dass sie nicht da waren. Auch wunderte es ihn, dass seine Mutti nicht viel über sie sprach, und so wagte er es auch nicht, sie zu fragen.

Alles war so neu und ungewohnt für ihn, und immer wieder stahl er sich in Ingrids Zimmer und betrachtete das Bild von seinem toten Brüderchen.

Während er Millie beim Kochen zuschaute, erkundigte er sich plötzlich: »Wie alt wäre Benedikt denn jetzt, wenn er noch leben würde?«

Die gute Millie erstarrte augenblicklich. »Wieso Benedikt?«, fragte sie verblüfft.

»Nun, mein Brüderchen, von dem das Bild bei Mutti auf dem Schreibtisch steht«, erläuterte Marco. »Du musst ihn doch gekannt haben. Oder nicht?«

»Doch, doch, ich habe ihn gekannt«, erwiderte Millie schnell gefasst. »Er wäre ein Jahr älter als du.«

»Dann war er schon tot, als Mutti zum Nordpol fuhr«, überlegte Marco, sonst wäre er doch sicher mit mir im Heim gewesen.«

Millie seufzte tief und hoffte, dass er nicht noch mehr solcher verfänglicher Fragen stellen würde. Aber Marco wollte gern mehr über seinen Bruder erfahren.

»Warum ist er denn gestorben?«

Sollte, durfte sie ihm antworten? Sie hätte lieber erst mit Frau van Droemen gesprochen, aber diese hatte gerade den Besuch des Arztes.

»Er hat sich an einem rostigen Nagel gerissen«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

»Und davon kann man sterben!«, wunderte sich Marco. »Ich bin mal in einen rostigen Stacheldraht gerannt. Schau dir das an.« Er rollte seinen Kniestrumpf herunter, zeigte Millie die Narben und fuhr fort: »Hattet ihr denn keinen so guten Doktor wie Dr. Wolfram? Er hat mir gleich eine Spritze gegeben und alles ausgepinselt. Es hat weh getan, aber es ist schnell gut geworden. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn Benedikt auch in Sophienlust gewesen wäre. Ich hätte es gern, wenn er noch lebte.«

Dann wärst du nicht hier, dachte Millie und fuhr ihm gerührt mit der Hand durch das dichte dunkle Haar.

Da stand Ingrid van Droemen in der Tür. »Worüber unterhältst du dich denn mit Millie, Marc?«, fragte sie.

»Ich habe ihr nur die Narben gezeigt, die mir von den Verletzungen geblieben sind, als ich in den Stacheldraht gerannt bin«, erwiderte er schüchtern.

»Das hast du mir noch gar nicht erzählt«, flüsterte sie.

»Ich habe auch erst wieder daran gedacht, als Millie mir sagte, dass Benedikt sich an einem rostigen Nagel gerissen hat.«

Ingrids Augen füllten sich mit Tränen. Marco schlang seine kleinen Arme um sie.

»Wein doch nicht mehr, Muttilein«, bettelte er. »Ich werde dich doppelt lieb haben, für Benedikt mit. Und vergessen brauchen wir ihn doch nicht.«

Milli warf ihrer Gebieterin einen verzeihungsheischenden Blick zu. »Ich wusste nicht, was ich sagen sollte«, raunte sie.

»Ist schon gut, Millie«, erwiderte

Ingrid van Droemen. »Komm, Marc, wir gehen vor dem Essen noch ein Stück spazieren.«

»Zum Friedhof?«, fragte er. »Ich möchte Benedikt gern ein paar Blümchen bringen. Urgroßmama Wellentin haben wir auch immer Blumen gebracht.«

Ingrid zögerte, aber dann erinnerte sie sich noch rechtzeitig, dass auf dem Grabstein Marcs Name stand, und Marco konnte bereits seinen Namen malen.

»Wir gehen lieber in den Wald«, sagte sie rasch.

*

Wenn er größer wird, beginnen die Probleme, überlegte Ingrid unterwegs. Eines Tages wird er dann doch erfahren, dass es schon einmal einen Marc gegeben hat. Wie lange konnte sie das vor ihm verheimlichen?

Sie mussten ihn so lieb haben, dass er später, wenn er einmal die Wahrheit erfuhr, ganz zu ihnen gehörte. Es durfte ihm dann nichts mehr ausmachen.

Aber konnte sie dabei auf Dan und Evi hoffen? Würden sie nicht, nachdem sie zurückgesetzt und ungerecht behandelt worden waren, auf ihre Rechte pochen?

Ingrid begann klar und nüchtern zu denken. Das Kind hatte sie aus der Schwermut erlöst. Sie lebte wieder in der Gegenwart, und so wurde ihr auch bewusst, dass sie Dan und Evi gegenüber als Mutter versagt hatte.

Sie hatte sich so völlig auf Marc konzentriert, auf den Kleinen, den sie immer um sich hatte. Bei Marco durfte sie diesen Fehler nicht wiederholen. Sie musste sich bemühen, die Zuneigung ihrer beiden Großen zurückzugewinnen, musste ihr Verständnis und auch ihre Verzeihung erbitten.

»Woran denkst du, Mutti?«, fragte Marco in das Schweigen hinein. »Hast du Sehnsucht nach Dan und Evi?«

Konnte das Kind ihre Gedanken ahnen? Erschrocken sah sie ihn an.

Er lächelte gedankenverloren. »Ich habe auch Sehnsucht nach ihnen. Können sie nicht auch hier zur Schule gehen? Müssen sie so weit weg sein?«

»Wir werden es einmal überlegen, Marc«, antwortete sie leise. »Ich werde mit Vati darüber sprechen.«

»Aber bald«, bat er. »Ich freue mich schon so auf sie. Sie wissen doch, dass ich nun auch wieder da bin?«

Wie wird Bob es ihnen beibringen, überlegte Ingrid. Wäre es nicht doch besser, wenn Henning selbst fahren würde?

»Vati, da kommt Vati«, rief Marco aus und stürzte dem Mann entgegen, der um die Ecke bog.

Henning van Droemen fing ihn auf und schwenkte ihn durch die Luft. »Ihr wart lange aus«, sagte er. »Millie murrt schon.«

Er sah seine Frau besorgt an. Es war nicht Millies Murren, das ihn veranlasst hatte, ihnen entgegenzugehen, sondern die Angst um Ingrid, dass sie sich zu viel zumuten könnte.

»Wir haben die Zeit vergessen«, entschuldigte sie sich.

»Wir haben über Dan und Evi gesprochen«, mischte sich Marco ein. »Ich möchte so gern, dass sie heimkommen, Vati. Kannst du das nicht machen?«

»Wir werden sehen«, brummte Henning van Droemen. Zum ersten Mal erwachte eine väterliche Zärtlichkeit zu diesem Kind in ihm, das mit solcher Selbstverständlichkeit von Dan und Evi sprach. Er konnte nur wünschen, dass ihn die beiden ebenso aufnehmen würden. Aber er hatte Zweifel daran. Bob hatte zwar immer eine glückliche Hand bewiesen, was die beiden anbetraf, aber würde es ihm auch diesmal gelingen, sie zur Vernunft zu bringen?

*

Man konnte nicht sagen, dass Robert Quirin leichten Herzens nach Schloss Heidern fuhr. Auch ihm ging vielerlei durch den Sinn. In Evi würde er vielleicht eher eine geeignete Zuhörerin finden, aber in Dan? Der Junge war schon rentitent geworden, als es um das Internat gegangen war. Er schrieb auch äußerst selten, und dann nur kurz und bündig. Immerhin war er schon siebzehn, und ein bisschen schwierig war er auch stets gewesen.

Bei dem Wegweiser, der nach Schloss Heidern wies, stand eine junge Dame und winkte. Es war eine sehr hübsche junge Dame, wie Robert Quirin mit einem Blick feststellte. Sie trug ein grünes, schickes Trachtenkostüm, und ihr Haar hatte den Schimmer reifer Kastanien.

»Darf ich Sie mitnehmen?«, erkundigte er sich höflich.

»Herr Dr. Quirin?«, fragte sie zu seiner Überraschung. Und als er nickte, seufzte sie erleichtert auf. »Ich habe auf Sie gewartet.«

»Auf mich? Aber …«

»Mein Name ist Katrin Schwalbe und …«

Sie kam nicht weiter. »Das Schwälbchen«, rief er staunend. »Evi hat mir von Ihnen geschrieben.«

»Ich wollte mit Ihnen sprechen«, sagte sie leise, »aber auf Schloss Heidern würde sich keine Gelegenheit dazu bieten. Man sieht es nicht gern, wenn sich Lehrkräfte in die Privatangelegenheiten der Schüler und Schülerinnen einmischen. Bei mir schon gar nicht. Ich bin noch nicht lange dort und gehöre nicht zu dem Clan, der den Ton angibt. Aber Evis Wohl liegt mir sehr am Herzen.«

»Das ist nett«, erwiderte er verhalten. »Ich bin Ihnen dafür sehr dankbar. Vielleicht sollten wir lieber ein Stück in der anderen Richtung fahren, damit Sie keine Schwierigkeiten bekommen.«

Sie errötete unwillkürlich. »Ich warte schon ziemlich lange«, bekannte sie freimütig. »Und die Kinder werden natürlich auch warten. Ich will Sie nicht allzulange aufhalten.«

»Aber mir ist sehr wichtig, was Sie mir zu sagen haben«, erklärte er, als er den Wagen wendete. »Ich finde es rührend, dass Sie sich um Evi kümmern. Es verpflichtet mich zu großem Dank. Außerdem komme ich in einer Mission, die ich gern noch ein wenig aufschiebe. Es tut mir recht wohl, wenn ich mich mit einer verständnisvollen Seele unterhalten kann.« Und mit einem so reizvollen Geschöpf dazu, dachte er für sich, aber er bemühte sich sehr, sich das nicht anmerken zu lassen.

Das ist ja ein ungewöhnlicher Mann, dachte Katrin Schwalbe beeindruckt. Fasziniert blickte sie auf seine schmalen kräftigen Hände, die lässig und doch fest das Steuer umschlossen.

»Sie müssen ja einen Mordshunger haben, wenn Sie schon lange auf mich warten«, meinte Robert Quirin. »Offen gestanden habe ich auch welchen, und auf Schloss Heidern werde ich wohl kaum etwas bekommen.« Er lachte leise. »Internate waren mir immer ein Greuel, wenn ich ehrlich sein soll. Für mich wäre es die größte Strafe gewesen, wenn sie mich in eins gesteckt hätten. Mit einer so charmanten Lehrerin allerdings scheint es seine Annehmlichkeiten zu haben.«

»Na, danke«, entgegnete sie kurz.

Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Warum sind Sie eigentlich Lehrerin geworden?«, fragte er.

»Aus Neigung. Außerdem konnte ich mir ein längeres Studium nicht leisten, weil ich eine kleine Schwester ernähren muss.«

Eine kleine Pause entstand. »Sie haben keine Eltern mehr?«

»Nein. Meine Mutter starb bei der Geburt meiner kleinen Schwester.«

Er hätte sie gern mehr gefragt, wollte aber nicht taktlos sein. Er schätzte sie auf höchstens Mitte Zwanzig, und damit hatte er recht. Katrin Schwalbe war gerade sechsundzwanzig Jahre alt geworden.

In einem kleinen Waldrestaurant fanden sie ein stilles und ungestörtes Plätzchen. Jetzt hatte Robert Quirin Gelegenheit, sich sein Gegenüber noch genauer anzusehen. Er war fasziniert von diesem ausdrucksvollen Gesicht, in dem große, mandelförmig geschnittene rehbraune Augen leuchteten.

»Evi ist ein überaus intelligentes Mädchen«, sagte Katrin rasch, um diesem eindringlichen Blick zu entgehen. »Aber ihre Leistungen sinken immer mehr ab. Was mich betrifft, so fühle ich, dass etwas sie bewegt, wahrscheinlich tief bedrückt.«

»Bedeutet es, dass sie nicht versetzt wird?«, fragte er ruhig. »Nun, das wäre das Schlimmste nicht. Aber ich weiß, was Evi bedrückt, und wenn ich es Ihnen erzähle, werden Sie verstehen, dass ein Mädchen von fünfzehn Jahren das nicht verkraften kann. Wie steht es mit Dan?«

»Soviel ich weiß, gut. Er ist überaus intelligent, weit über dem Durchschnitt. Zudem sehr zielbewusst.«

»Das Sorgenkind ist also Evi. Nun, ich werde Ihnen die ganze Geschichte von Anfang an erzählen müssen. Meine Schwester Ingrid, Frau van Droeman, war schwermütig geworden durch den Tod ihres jüngsten Kindes. Marc war ein Nachkömmling, den sie abgöttisch liebte, sodass wir fürchten mussten, sie würde gemütskrank werden.«

Nach dieser stockenden Einleitung ging es ihm bald leichter von den Lippen, und Katrin Schwalbe erfuhr die ganze erstaunliche Geschichte.

»Nun bin ich gekommen, um Dan und Evi beizubringen, dass sie wieder einen Bruder haben. Wie werden sie das aufnehmen?«, meinte Robert Quirin mit einem schweren Seufzer.

Katrin war erblasst. »Hoffentlich wird dadurch nicht alles noch schlimmer«, flüsterte sie. »Ich war fünfzehn, als meine Mutter bei der Geburt von Monika starb. Ich hasste dieses Kind – können Sie das verstehen? Ich gab ihm die Schuld am Tode meiner Mutter und auch am Tode meines Vaters. Er überlebte meine Mutter fünf Jahre, dann musste ich für das Kind sorgen. Jetzt liebe ich Monika und würde alles für sie tun.«

»Aber es ist Ihre Schwester. Marco dagegen ist ein Waisenkind, das Marcs Platz einnimmt. Ich wollte das Bestmögliche für meine Schwester tun, und das ist mir wohl auch gelungen. Aber ich dachte nur an sie und nicht an Dan und Evi. Die Konflikte türmen sich haushoch.«

»Sie sind in einer sehr schwierigen Situation«, nickte sie. »Wenn ich nur öfter mit Evi sprechen könnte, aber wir werden immer gleich mit Luchsaugen bewacht. In sechs Wochen beginnen die Ferien. Sollten die Kinder heimfahren?«

Er zuckte die Schultern. »Jetzt muss ich erst einmal abwarten, wie sie reagieren. Könnte ich Sie morgen noch einmal treffen?«, erkundigte er sich mit belegter Stimme.

Sie zögerte. Dann nickte sie. »Gut. Wann werden Sie zurückfahren, Herr Dr. Quirin?«

»Gegen fünf Uhr, denke ich. Können Sie sich frei machen?«

»Glücklicherweise habe ich dieses Wochenende ganz frei«, erwiderte sie. »Treffen wir uns hier? Es liegt am Wege.«

»Ist es nicht zu weit für Sie?«

»Ich mache gern lange Spaziergänge«, entgegnete sie lächelnd. »Außerdem werde ich Ihnen die Daumen drücken, damit Sie die richtigen Worte finden.«

»Das ist nett von Ihnen.« Er ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Sie sind eine bezaubernde und kluge Frau«, versicherte er bewundernd.

*

An den Wochenenden war es Jungen und Mädchen gestattet, ihre Freizeit gemeinsam in den Aufenthaltsräumen zu verbringen. Allerdings unter strenger Aufsicht und sofern man nicht Ausflüge unternahm.

Heute waren sie meistens unterwegs. Daniel und Evelyn waren daheim geblieben, weil sie auf ihren Onkel warteten, Tammy und ein paar andere, weil sie sich nicht ganz wohl fühlten.

Tammy Dickson fühlte sich meistens nicht wohl. Sie hasste es, mit den anderen zu gehen, und bei ihr drückte man in manchen Dingen beide Augen zu, denn die Amerikanerin war der reichste Zögling in diesem Internat und durch eine sehr großzügige Spende sozusagen eingekauft worden.

Tammy war ein schmales blasses Mädchen, das nicht den geringsten Wert auf Äußerlichkeiten legte und sich immer so unvorteilhaft wie nur möglich kleidete. Das war ihr stiller Protest gegen eine Gesellschaft, in der sie nicht heimisch werden konnte. Jetzt saß sie mit Evi auf einer Steinbank im Park.

»Nun kommt dein Onkel wohl doch nicht«, sagte Tammy leise.

Evis Blick schweifte in die Ferne. »Er kommt bestimmt. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.«

»Man muss nicht immer gleich das Schlimmste annehmen«, rügte Tammy. »Aber das hat Mummy damals auch gesagt, als Charly nicht heimkam.«

Daniel kam auf sie zugeschlendert. »Na, ihr beiden Transusen«, sagte er forsch, »klagt ihr euch mal wieder gegenseitig euer Leid?«

Evi sah ihn vorwurfsvoll an, sodass er verlegen einlenkte: »Na, so meine ich es auch wieder nicht.«

»Dann rede gefälligst auch nicht so«, begehrte Evi auf.

»Onkel Bob lässt lange auf sich warten«, fuhr er missbilligend fort. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich mit den anderen zum Tennisspielen gegangen.«

»Wahrscheinlich ist wieder starker Wochenendverkehr«, überlegte Evi, »du weißt ja, wie langsam es da manchmal vorangeht.«

»Man muss froh sein, wenn nichts passiert«, sagte Tammy leise.

»Unke doch nicht immer«, ereiferte sich Dan. »Du siehst auch alles immer grau in grau.«

Tammy erhob sich. »Ich will euch nicht stören«, flüsterte sie.

»Du störst gar nicht«, sagte Evi rasch. »Dan ist gar nicht so, wie er immer tut.«

»Du hörst es«, grinste Daniel. »Lach doch mal, Tammy. Ich habe dich noch nie lachen sehen.«

Tammy blieb ernst. Nachdenklich blickte sie ihn an. »Ihr seid wenigstens zu zweit«, stieß sie hervor. »Ihr wisst gar nicht, wie es ist, wenn nie jemand kommt.« Ein Schluchzen war in ihrer Stimme. Fluchtartig lief sie davon.

»Blöder Kerl«, zischte Evi ihrem Bruder zu und lief ihr nach. Sie erreichte Tammy, bevor diese im Haus verschwinden konnte.

»Komm«, bat sie herzlich, »lass uns noch ein bisschen miteinander reden. Wir haben doch ungefähr den gleichen Kummer. Jungen tun immer so forsch. Glaub nur nicht, dass es Dan nicht auch nahegeht. Aber er würde sich lieber die Zunge abbeißen, als es vielleicht zugeben.«

Zwei große Tränen rollten aus Tammys Augenwinkel. »Hätte es doch nur mich erwischt«, flüsterte sie. »Das hätte Dad verschmerzt. Aber Charly war sein ein und alles. Mich vermisst er nicht. Ich sollte nur so weit weg wie nur möglich, und Mummy konnte ihn doch nicht im Stich lassen.«

Evis eigener Kummer schmolz zusammen. »Weißt du, Tammy, eigentlich sind wir aus dem gleichen Grunde hier, nur mit dem Unterschied, dass es bei uns Mutti ist, die uns nicht mehr um sich haben konnte. Und dass es unser kleiner Bruder war, der starb. Wir ­hätten schon viel früher mal miteinander reden sollen. Ich verstehe dich doch.«

Hand in Hand gingen sie weiter, sie sprachen nun über alles, was ihre Herzen so sehr bedrückte.

*

Daniel hatte ihnen zuerst nachlaufen wollen, aber dann siegte sein Stolz. Sollten sich die Mädchen doch ausheulen. Er fühlte sich dafür schon viel zu erwachsen.

Er blieb stehen, als er Motorengeräusch vernahm, und gleich darauf gewahrte er den Sportwagen seines Onkels. Ein freudiger Schein huschte über sein schmales Jungengesicht.

»Tag, Onkel Bob«, begrüßte er den Ankommenden. »Ich hatte es schon aufgegeben, dass du doch noch kommst.«

»Auf der Autobahn war eine Massenkarambolage«, entschuldigte Robert Quirin seine verspätete Ankunft. »Wo ist Evi?«

»Spielt Trösterin bei Tammy Dickson. Sie rühren sich gegenseitig zu Tränen, das ist nichts für mich.«

»Vielleicht ist es auch besser, wenn wir erst einmal allein miteinander sprechen«, meinte Robert Quirin. »Muss ich mich bei der gestrengen Direktorin anmelden?«

»Besser ist es schon. Wenn die alte Eule sich übergangen fühlt, lässt sie es an uns aus.«

Robert Quirin hielt sich nicht lange bei der Direktorin auf. »Sie hat es wohl gar nicht gern, wenn ihr Besuch bekommt«, stellte er fest, als er zu seinem Neffen zurückkehrte.

»Es stört den Trott«, bemerkte Daniel spöttisch. Dann erkundigte er sich heiser: »Gibt es was Neues?«

»Ja, Dan.«

»Geht es Mutti schlechter?«, fragte der Junge besorgt.

»Nein, es geht ihr besser.«

Danach trat in der Unterhaltung eine Pause ein, denn Robert Quirin suchte nach Worten. Wenn es doch nur nicht so verflixt schwer wäre, diesem Jungen klarzumachen, wie sehr ihr Leben sich nun wieder geändert hatte …

»Vielleicht wird dir nicht gefallen, was ich dir zu sagen habe, Dan«, begann er endlich stockend. »Ihr habt jetzt wieder einen kleinen Bruder.«

»Mutti hat noch ein Kind gekriegt?«, fragte Daniel entsetzt. »Du liebe Güte.«

»Wir haben einen Jungen aus einem Kinderheim geholt, der vier Jahre alt ist und Marco heißt«, berichtete Robert Quirin.

Daniels Augen weiteten sich. »Ein fremdes Kind?«, fragte er voller ­Empörung. »Wessen Idee war denn das?«

»Meine.«

Daniel erstarrte in feindseliger Abwehr. »Etwas Besseres ist dir wohl nicht eingefallen?«

»Es war das Beste für deine Mutter. Sie lebt auf. Bitte, höre mich doch erst einmal an, Dan.«

»Mir reicht’s jetzt schon!«, brauste der Junge auf. »Nun sind wir wohl gänzlich abgeschrieben. Bring das nur Evi bei. Ich bin gespannt, was sie dazu sagt. Himmel, bin ich froh, dass ich nicht zu Hause sein muss.«

»Willst du nicht die ganze Geschichte hören?«, erkundigte sich Robert Quirin.

»Wozu? Mutti hat einen Ersatz für ihren geliebten Marc gefunden. Damit ist doch alles klar.«

»Du bist ungerecht.«

Daniels Augen schossen zornige Blitze. »Es fragt sich, wer ungerecht ist«, sagte er hart. »Aber da kommt Evi. Erzähl ihr die Geschichte recht rührselig, dann wird sie wohl zerfließen.«

Mit langen Schritten hastete er davon, und Robert Quirin blieb mit dem unguten Gefühl zurück, es ganz verkehrt angefangen zu haben.

Evis Begrüßung war weitaus liebevoller als die des Jungen. Sie umarmte ihren Onkel zärtlich und sagte erleichtert: »Gut, dass du heil angekommen bist. Ich habe mir schon schreckliche Sorgen gemacht.«

Tammy hatte sich still entfernt.

»Sie ist sehr scheu«, erklärte Evi mitfühlend. »Wir verstehen uns, weil wir manches gemeinsam haben. Ihr großer Bruder ist im vorigen Jahr ertrunken, und ihr Vater ist darüber fast verrückt geworden. Oder auch ganz. Sie weiß es selbst nicht.« Ihre Augen hingen an Robert Quirins Gesicht und bekamen einen angstvollen Ausdruck. »Mutti geht es doch hoffentlich besser?«, flüsterte sie. »Ich würde alles tun, damit sie diese schreckliche Zeit vergessen kann.«

»Wirklich alles, Evi?«, fragte er heiser.

»Gewiss. Aber man kann ja Marc nicht lebendig machen.«

Stockend sagte er ihr, was er zuvor Daniel erzählt hatte. Sie erstarrte nicht in Abwehr. Verwunderung malte sich auf ihrem reizenden Gesichtchen.

»Mutti hat einen fremden Jungen zu sich genommen«, sagte sie leise. »Ist er Marc ähnlich?«

»Nicht so sehr, aber es ist ein liebes Kerlchen. Hörst du dir die ganze Geschichte an, Evi, oder lässt du mich auch stehen?«

»Dan denkt immer, er vergibt sich was«, kritisierte sie. »Aber die Jungen in diesem Alter sind alle gleich. Wenn es für Mutti gut ist, bin ich froh, dass ihr den Jungen gefunden habt.«

»Danke, Evi«, flüsterte er. »Nun ist mir leichter.«

Danach begann er ausführlich zu erzählen. Von Gut Sophienlust, von Denise von Schoenecker, die verlassenen Kinder ein Heim gegeben hatte, und von Marco, der von seiner Mutti geträumt hatte.

»Und er glaubt wirklich, dass unsere Mutti seine Mutti ist?«, fragte Evi staunend.

»Er ist überzeugt davon und er will, dass ihr heimkommt, damit ihr alle beisammen seid. Er ist glücklich, dass er Geschwister hat.«

»Aber wundert er sich denn gar nicht, dass er nicht immer bei uns war?«

»Dazu ist er wohl noch zu klein. Bei ihm vermischen sich Fantasie und Wirklichkeit. Glaubst du, dass du mit ihm zurechtkommen könntest?«

»Ich möchte es gern, wenn Mutti dadurch ganz gesund wird«, sagte Evi leise.

*

Auch auf dem Ausflug, den Robert Quirin mit Daniel und Evelyn machte, war mit dem Jungen nicht viel anzufangen. Er schwieg verstockt, und wenn er mal den Mund auftat, machte er abfällige Bemerkungen.

»Das klingt alles wie aus Grimms Märchen«, grollte er. »Der Engel kommt vom Nordpol, um den schlafenden Prinzen aufzuwecken. Eine feine Geschichte habt ihr euch da ausgedacht, und wir sollen diesen faulen Zauber auch noch mitmachen. Nee, danke, ohne mich.«

»Denk doch an Mutti«, bat Evi.

»Nun hat sie doch wieder einen, den sie mit ihrer Liebe überschütten kann. Was braucht sie uns? Du kannst machen, was du willst. Ich bleibe jedenfalls im Internat. Mir gefällt es hier.«

»Kannst du dich nicht in unsere Lage versetzen, Dan?«, mahnte Robert Quirin. »Wäre es dir lieber gewesen, wenn deine Mutter in einem Sanatorium gelandet wäre?«

»Immerhin hat sie ja noch zwei Kinder«, bemerkte Daniel aufsässig. »Anders wäre es, wenn Marc ihr einziges Kind gewesen wäre.«

»Ihr werdet doch nicht benachteiligt. Guter Gott, sei doch ein bisschen einsichtig.«

Daniel kniff die Augen zusammen. »Als Marc zur Welt kam, wurden wir Nebensache für Mutti«, begehrte er auf. »Alles drehte sich nur noch um ihn.«

Eifersucht, kindlicher Egoismus mochten diese Einstellung bestimmt haben, aber man konnte ihn dafür nicht verurteilen.

»Ich habe damals auch so gedacht«, ließ Evi sich vernehmen, »aber jetzt sind wir doch vernünftiger geworden. Außerdem hat es uns doch auch wehgetan, als Marc starb. Ich glaube, dass es sehr schlimm ist für eine Mutter, wenn sie ein Kind verliert.«

»Nun hat sie ja wieder eins«, erwiderte Dan bockig. »Das ganze Theater beginnt von vorn und wehe, wenn dem neuen Marc ein Härchen gekrümmt wird, dann wären auch wieder wir daran schuld. Ich halte mich lieber raus.«

Robert Quirin machte einen letzten Einlenkungsversuch. »Wir dachten, dass ihr in den Ferien heimkommen würdet. Lernt Marco doch zunächst einmal kennen!«

»Ich verzichte. Ich fahre zu den Großeltern«, fauchte Daniel.

Evi sah ihren Onkel hilfeheischend an. »Ich komme«, sagte sie dann entschlossen. »Vielleicht könnt ihr mir mal ein Bild von Marco schicken?«

»Dass Vati diesen Schwindel mitmacht«, empörte sich Daniel. »Aber er war ja sogar zu feige, es uns selbst zu sagen.«

Auch das noch, stöhnte Robert Quirin in sich hinein. Konnte diese Kluft noch überbrückt werden?

Sehr niedergeschlagen verabschiedete er sich von den Kindern, fast hätte er vergessen, dass er sich mit Katrin Schwalbe verabredet hatte.

*

Für Katrin Schwalbe war es an diesem Sonntagnachmittag gar nicht so einfach, unauffällig aus Schloss Heidern zu entkommen. Kaum hatte sie den Park verlassen, heftete sich Dr. Trunk, der Mathematiklehrer, an ihre Fersen.

Dr. Trunk war ihr nicht einfach nur gleichgültig, er war ihr sogar unsympathisch. Er war Anfang vierzig und ganz der Typ des verknöcherten Junggesellen. An den Schülern ließ er kein gutes Haar. Mit sich und der Welt unzufrieden, fand er an jedem etwas auszusetzen.

Katrin lief ein Kribbeln über den Rücken, als sie seine schleimige Stimme hinter sich vernahm. Dieser Leisetreter, dachte sie erbost und überlegte krampfhaft, wie sie ihn loswerden könnte.

Aber leicht ließ Dr. Trunk sich nicht abschütteln. Er redete wie ein Wasserfall auf sie ein und meinte selbstgefällig, dass sie die gute Gelegenheit doch einmal nützen könnten, sich menschlich näherzukommen.

Katrin musste schweres Geschütz auffahren. »Ich glaube, unsere Ansichten sind zu unterschiedlich, als dass wir ein erfreuliches Gespräch führen könnten, Herr Kollege«, sagte sie abweisend.

Aber Dr. Trunk ließ noch immer nicht locker, sodass Katrin sich nicht mehr anders retten konnte, als ihm deutlich zu verstehen zu geben, dass sie eine Verabredung hätte.

Ein gehässiger Ausdruck legte sich um seinen Mund. »Eigentlich hätte ich mir denken können, dass Sie nicht immer allein spazierengehen«, äußerte er beleidigt. »Hoffentlich können Sie Ihre Verabredung mit dem Stil des Hauses in Einklang bringen.«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein«, erwiderte sie kalt. »Über meine Freizeit kann ich doch wohl nach eigenem Ermessen entscheiden.«

Den Rest des Weges legte sie im Laufschritt zurück und erreichte das Waldrestaurant außer Atem, gerade, als Robert Quirin aus dem Wagen stieg.

»Nanu«, sagte er erstaunt, »Sie laufen ja, als wäre der Teufel hinter Ihnen her.«

»Nicht ganz«, antwortete sie schnell atmend. »Können wir nicht weiterfahren?«

»Aber gern.« Er half ihr fürsorglich in den Wagen und hielt einen Augenblick länger als nötig ihre bebende Hand. »Ein lästiger Kollege«, erklärte sie kurz, nachdem sie ein Stück gefahren waren. »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

Er lächelte. »Ich mag es, wenn jemand konsequent ist. Aber ich verstehe auch, dass man nicht unbeeindruckt von einer so bezaubernden Kollegin bleibt.«

»Liebe Güte, hören Sie auf. Ich bin gar nicht in der Stimmung, mir Komplimente anzuhören. Der Mann ist ein Unsympath. Er ließ sich nicht abschütteln.«

»Dann muss ich wohl umso dankbarer sein, dass Sie dennoch gekommen sind. Es ist nett von Ihnen, Schwälbchen. Darf ich Sie so nennen?«

Er verströmte Ruhe und Geborgenheit. Katrin Schwalbe wurde sich bewusst, dass sie auf dieses Zuammentreffen keinesfalls hatte verzichten wollen.

»Ich wollte doch hören, wie Dan und Evi es aufgenommen haben«, erwiderte sie.

Augenblicklich wäre es ihm lieber gewesen, nicht über Dan und Evi sprechen zu müssen, aber das ließ sich kaum vermeiden.

»Teils-teils«, entgegnete er mit belegter Stimme. »Evi war recht vernünftig. Dan weniger.«

»Siebzehnjährige Jungen sind schwierig. Sie werden mit sich selbst noch nicht fertig.«

Er seufzte schwer. »Ich bin froh, dass ich mit Ihnen reden kann. Ich weiß nämlich nicht, wie ich es meinem Schwager klarmachen soll. Ihm sind seine eigenen Kinder natürlich wichtiger als Marco. Jedenfalls will Dan im Internat bleiben.« Ein kurzes Schweigen folgte, dann fuhr er hastig fort: »Eigentlich sollte mir das recht sein. So werde ich wenigstens Gelegenheit haben, Sie noch öfter zu sehen.«

Glühende Röte schoß in ihre Wangen. »Ist das wichtig?«

»Ja«, antwortete er einfach. »Ich wusste nicht, dass es von gestern auf heute so wichtig werden könnte.«

»Vielleicht werde ich nicht mehr lange auf Schloss Heidern bleiben«, lenkte sie ab. »Dr. Trunk wird jetzt sicher alles versuchen, um mich hinauszuekeln.«

»Dann wenden Sie sich vertrauensvoll an mich. Ich kann Ihnen eine Stellung besorgen. Vielleicht eine Lebensstellung«, fügte er nach einem kurzen Zögern hinzu.

»Wollen Sie ein Internat gründen?«, spottete sie.

»Gott bewahre mich.« Er bremste plötzlich und brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. »Aber vielleicht könnte ich mich entschließen, mein Junggesellendasein aufzugeben, Schwälbchen.«

»Ist das nicht ein wenig voreilig?«, fragte sie ironisch.

»Ich bin ein bejahrter Knabe«, brummte er. »Von voreilig kann man da kaum reden. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es mich mal erwischen würde. Guter Gott, es überrascht mich, Katrin.«

»Sie werden darüber noch nachdenken und alles noch nüchtern prüfen.«

»Ich sehe alles ganz nüchtern – nur Sie nicht«, gestand er. »Das wäre auch zu viel verlangt. Aber es kommt nicht infrage, dass ich Sie mir von einem anderen wegschnappen lasse.«

Es klang so herzerfrischend impulsiv, dass sie ihm nicht böse sein konnte. Ganz im Gegenteil. Zum erstenmal in ihrem Leben kam eine Saite in ihr zum Klingen, die Sehnsucht in ihr weckte.

»Es ist absurd«, sagte sie tonlos. »Ich habe eine Verpflichtung.«

»Welche?«

»Meine elfjährige Schwester Monika.«

»Wenn das alles ist. Auf ein Kind mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Wo ist Monika?«

»Bei einem Ehepaar, das mit meinen Eltern befreundet war. Ein so teures Internat wie Schloss Heidern konnte ich mir nicht leisten. Aber wir wollten doch über Dan und Evi sprechen.«

»Das wirft noch genug Probleme auf. Im Augenblick habe ich meine eigenen. Mag es auch noch so verrückt sein, aber ich frage Sie, ob Sie sich entschließen könnten, meine Frau zu werden, Katrin.«

Sie nahm – verwirrt, wie sie war – wieder Zuflucht zum Spott. »Ihr Antrag ehrt mich, aber wollen Sie es sich nicht lieber noch überlegen, Herr Dr. Quirin? Sollten Sie in einem Jahr noch genauso denken, werde ich es mir überlegen.«

»In einem Jahr?«, entfuhr es ihm. »Ich verliebe mich Hals über Kopf und soll ein ganzes Jahr warten?«

Sie wusste nicht, wie es kam, dass sie plötzlich in seinen Armen lag und in einem betäubenden Kuss alle vernünftigen Erwägungen vergaß.

»Sechs Wochen gebe ich dir Zeit«, flüsterte er. »Keinen Tag länger.«

»Mein Vertrag läuft noch ein Jahr«, gab sie zu bedenken.

»Es gibt immer eine Möglichkeit, Verträge zu lösen, mein Mädchen. Wozu bin ich Jurist? Und ich bin nicht nur Jurist, Katrin, ich bin auch ein Mann.«

Und was für einer, dachte sie.

*

»Das sind die nüchternen Tatsachen, Henning«, sagte Robert Quirin zu seinem Schwager. »Außerdem werde ich heiraten.

Henning van Droemen starrte ihn fassungslos an. »Sag das noch mal!«

»Wozu? Habe ich es nicht klar genug ausgedrückt? Ich werde Katrin Schwalbe heiraten.«

»Eine Lehrerin«, stöhnte Henning.

»Und was für eine! Dem Himmel sei Dank, dass du ausgerechnet Schloss Heidern ausgesucht hast.«

Damit waren sie wieder bei Hennings Problemen.

»Mit Daniels Widerstand haben wir also zu rechnen«, brummte er.

»Lassen wir doch alles an uns herankommen«, erklärte Robert Quirin zuversichtlich. »Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Katrin kennt sich aus. Sie ist eine gute Psychologin. Sie sagt auch, dass man ihm Zeit lassen muss.«

»Katrin – Katrin! Für dich gibt es wohl nichts anderes mehr? Ich gönne dir wahrhaftig alles Glück, Bob, aber mein Sohn liegt mir augenblicklich mehr am Herzen. Soll er sich von seinem Vater auch verraten fühlen?«

Roberts Augenbrauen schoben sich zusammen. »Das gefällt mir nicht, Henning«, knurrte er. »Ingrid stand schon mit einem Fuß am Abgrund. Dan ist ein normaler, gesunder Junge. Er ist gescheit und sollte Einsicht zeigen. Im übrigen ist Marco ein goldiges Kerlchen.«

»Ja, das ist er«, gab Henning zu. »Dieses Kerlchen hat ein Gemüt, das sogar mich rührt. Marc war so besitzergreifend und eigensinnig. Mein Gott, ich bin schon ganz durcheinander. In Marcos Adern fließt doch anderes Blut.«

»Kommt es darauf an?«, fragte Robert. »Die Seele ist doch wichtiger als das Blut. Ingrid ist völlig verändert. Ich kenne meine Schwester nicht mehr wieder.«

»Du wirst es nicht glauben, Bob, aber ich habe sie noch nie so ausgeglichen erlebt.«

*

»Muttilein, hast du schon an Evi und Dan geschrieben?«, fragte Marco. »Wie viele Tage sind noch bis zu den Ferien?«

»Dreißig«, erwiderte sie.

»Das ist schrecklich viel. Könnten wir sie inzwischen nicht mal besuchen?«

»Man hat das nicht so gern im Internat«, redete sie sich heraus.

»Das muss aber eine strenge Frau sein. Tante Isi wäre nicht so. Ach, wenn ich doch nur schon schreiben könnte. Jeden Tag würde ich ihnen einen Brief schicken.«

»Male Evi ein hübsches Bildchen, Liebling«, sagte sie leise.

»Warum nur Evi? Mag Dan keine Bilder? Ist er schon zu groß dafür? Nick hat immer gesagt, dass es schön ist, wenn man einen großen Bruder hat. Der kann einem bei den Hausaufgaben helfen. Sascha hat das auch immer getan.«

Mit den Verhältnissen auf Sophienlust war Ingrid nun schon ganz vertraut. Marco erzählte viel, ohne zu ahnen, wie viel Zuversicht er ihr damit ins Herz legte. Sie sagte sich, dass es doch gar nicht so schwer sein könne, Kinder einander näherzubringen, die von ganz verschiedenen Eltern stammten. Denise von Schoenecker war es doch auch gelungen.

»Du bist so lieb, Marco«, flüsterte sie.

Er betrachtete sie nachdenklich. »Warum hast du jetzt Marco gesagt?«

»Hörst du es nicht gern?«

»Doch, aber Marc höre ich auch gern.« Sprunghaft wechselte er danach das Thema. »Vati kommt heute so spät«, sagte er.

»Er ist auswärts.« Ingrids Gedanken schweiften ab. Henning wollte ihre Eltern besuchen, deren Briefe sehr zurückhaltend geworden waren, seit sie wussten, dass sie Marco zu sich genommen hatten.

»Jetzt kommt er«, rief Marco freudig aus. Er rannte in die Küche, und Ingrid hörte, wie er zu Millie sagte: »Vati kommt! Ist das Essen fertig?«

Zärtlich küsste Henning van Droemen seine Frau. »Nächste Woche werde ich dich mit Marco zu den Eltern bringen«, erwiderte er auf ihren fragenden Blick. »Wo steckt denn der Kleine?«

»Hier bin ich, Vati«, meldete sich Marco. »Schön, dass du wieder da bist. Ich habe immer Angst, dass etwas passiert.«

»Schöne Grüße von Oma und Opa soll ich dir sagen. Nächste Woche fahrt ihr zu ihnen.«

»Zum Nordpol?«, fragte Marco leise, denn alles, was er nicht kannte, musste sich nach seiner Vorstellung dort befinden.

»So weit ist es nicht. Mit dem Flugzeug seid ihr rasch dort.«

»Mit dem Flugzeug«, staunte Marco.

»Wohnen sie bei den Zwillingen?«

»Welche Zwillinge?«, fragte Henning irritiert.

»Oliver und Odette. Ob sie schon wissen, dass ich nun auch bei meinen Eltern bin?«

Henning sah seine Frau fragend an, aber sie bedeutete ihm, dass er keine Fragen stellen solle. So antwortete er: »Sicher wissen sie es.«

»Tante Isi wird es ihnen schon geschrieben haben«, nickte Marco. »Sind Oma und Opa auch noch so jung wie die Wellentins?«

»Das wirst du ja bald feststellen können.«

Marco überlegte. »Dan und Evi kennen sie wohl schon?«, meinte er sinnend. »Aber jetzt musst du erst essen, Vati. Darf ich dir das Bier einschenken?«

Von Rührung über diese Fürsorge übermannt, zog Henning den Jungen an sich. »Du darfst, mein Kleiner«, sagte er liebevoll.

*

»Dan will die Ferien bei den Großeltern verbringen, Ingrid«, sagte Henning van Droemen gepresst, nachdem Marco zu Bett gegangen war.

Ihre Augen verdunkelten sich. »Es ist alles meine Schuld, Henning«, flüsterte sie. »Was soll ich nur tun, um ihn zurückzugewinnen?«

»Du musst Geduld haben, Liebes. Mutter und Vater werden das ihre dazu beitragen.«

»Und wenn sie Marco ablehnen«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Wer könnte dieses Kind ablehnen«, gab er zurück.

»Er denkt schon so viel nach«, stellte sie fest. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass er alles ahnt.«

»Aber er will es nicht wahrhaben. Was ist mit den Zwillingen?«

»Sie waren auch in Sophienlust. Durch sie ist Marco wohl erst darauf gekommen, dass er auch Eltern haben müsste. Sie wurden von einem Ehepaar adoptiert, von dem sie glaubten, dass es ihre richtigen Eltern wären. Henning, du wirst es vielleicht nicht verstehen, aber ich denke jetzt schon, dass Marco unser Kind ist.«

Er zog sie in seine Arme. »Er macht es uns leicht, Ingrid«, flüsterte er. »Wenn nur Dan zur Vernunft käme.«

»Habe ich Dan und Evi nicht genug geliebt?«, schluchzte sie auf. »Bin ich schuld an allem?«

»Du darfst dir keine solchen Gedanken machen, mein Liebes. Es wird bestimmt alles gut werden.«

»Es ist mein heißester Wunsch!«

*

»Manches verstehe ich nicht, Nick«, sagte Marco zu seinem Teddy. »Tante Isi würde sagen, dass ich noch zu klein bin, aber irgendwie ist alles komisch. Manchmal möchte ich Tante Isi fragen, warum ich in Sophienlust war. Mutti und Vati haben mich doch lieb.«

Der Teddy gab keine Antwort, und Marco schüttelte unzufrieden den Kopf. Ganz fest schloss er die Augen, als die Tür leise aufging. Doch als er Ingrids leichte, zarte Hand an seiner Wange spürte, konnte er sich nicht mehr verstellen.

»Ich kann nicht einschlafen, Mutti«, murmelte er.

»Warum nicht, mein Liebling?«

»Ich muss so viel denken.«

»Woran?«

»An Sophienlust und so.«

»Hast du Sehnsucht? Möchtest du hinfahren?«

Er schüttelte den Kopf. »Würdest du mich wieder dortlassen? Oder komme ich später auch in ein Internat?«

»Nein, Marc«, versprach sie.

»Ob Dan und Evi böse sind, weil ich bei euch sein darf?«

»Was du alles denkst! Schlafe jetzt und träum was Schönes.«

»Ich will nicht mehr träumen. Es war nie so schön wie jetzt. Immer, wenn ich aufgewacht bin, warst du weg.«

»Ich werde immer da sein, Marc«, flüsterte sie.

Seine Ärmchen legten sich um ihren Hals. »Ich hab’ dich so lieb, Muttilein. So schrecklich lieb.«

*

Evi nahm aus Katrin Schwalbes Hand ihre Schulaufgabe in Empfang.

»Das ist ein sehr guter Aufsatz, Evi«, sagte Katrin.

Evis Augen strahlten. Sie ist Bob ähnlich, dachte Katrin überrascht.

»Werde ich versetzt?«, erkundigte sich Evi angstvoll.

Katrin nickte ihr unauffällig zu. »Nach der Studierstunde können wir ausführlicher miteinander sprechen«, raunte sie.

Evi musste manche spitze Bemerkung für dieses leise Zwiegespräch einstecken. Nur Tammy sagte nichts.

Tammy war seit gestern völlig verändert. Evi wusste den Grund. Ihre Mutter hatte ihr geschrieben, dass sie mit Ablauf des Schuljahres wieder heimkommen solle.

»Ich bin so froh«, hatte Tammy gesagt. »Wenn du nicht mehr hier bist, hätte ich niemanden mehr, Evi.«

Nach Tammys Vater zu fragen, hatte Evi nicht gewagt. Erst später, als Tammy schon abgereist war, sollte sie erfahren, dass er sich das Leben genommen hatte. Er hatte den Tod seines Sohnes nicht verwunden und die Lebenden darüber vergessen.

Doch zu diesem Zeitpunkt wusste Tammy das selbst noch nicht. Man sah sie erstmals mit heiterer Miene, man hörte sie sogar lachen, und es machte ihr nichts mehr aus, dass sie keinen guten Aufsatz geschrieben hatte. Aber sie verteidigte Evi gegen ihre Mitschülerinnen, als diese ihr immer wieder vorwarfen, dass sie sich bei Schwälbchen lieb Kind machen wolle.

»Warum soll sie nicht gelobt werden, wenn sie einen so guten Aufsatz schreibt«, meinte sie recht energisch. »Schwälbchen ist gerecht. Sie zieht niemanden vor.«

Dr. Trunk, der sich in seiner männlichen Eitelkeit noch immer tief gekränkt fühlte und der dieses Gespräch belauschte, hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich zu Frau Direktor Zengerl zu begeben. Bei dieser alten Jungfer, der Katrins Schönheit schon lange ein Dorn im Auge war, fand er nur zu gern Gehör.

Sobald man Ersatz für sie hätte, würde man eine Veränderung herbeiführen, gab sie zu verstehen, aber nun rückten die Ferien ja ohnehin immer näher. Sie wusste jedoch sehr genau, dass man sobald keinen Ersatz finden konnte, und leider musste sie auch immer wieder zur Kenntnis nehmen, dass Schwälbchen bei den Schülerinnen außerordentlich beliebt war.

Gar zu gern hätte Dr. Trunk der umstrittenen Evelyn van Droemen eins ausgewischt und sie in Mathematik durchfallen lassen, aber das war nun ausgerechnet eines ihrer stärksten Fächer.

Dieser Abend jedoch brachte das Maß bei ihm zum Überlaufen, denn er beobachtete Katrin Schwalbe, als sie sich mit Dr. Quirin traf. Bedauerlicherweise wusste er auch, wer dieser Mann war.

*

Katrin hatte nicht lange mit Evi sprechen können. Es war gerade nur Zeit gewesen, sie der Sorge zu entheben, dass sie sitzen bleiben könnte. Dann wurde sie ans Telefon gerufen.

Frau Direktor Zengerl tat es widerwillig und empfing Katrin sogleich mit einer spitzen Bemerkung.

»Anrufe während des Unterrichts sind nicht gestattet, noch dazu von Männern«, bemerkte sie. »Ich möchte Ihnen das noch einmal nachdrücklich sagen, Fräulein Dr. Schwalbe.«

»Warum rufen Sie mich dann?«, fragte Katrin gelassen, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht denken, wer sie anrufen sollte.

»Weil es sich allem Anschein nach um eine dringende Angelegenheit in Bezug auf Ihre Schwester handelt.«

Katrin geriet in Aufregung, jedoch völlig unnötig, denn am Telefon war Robert Quirin, der sich hastig bei ihr entschuldigte, dass er zu dieser Notlüge Zuflucht genommen hatte. Sie atmete erleichtert auf. Böse konnte sie ihm nicht sein.

Auf einer Geschäftsreise unterwegs, befand er sich ganz in der Nähe und wollte die Gelegenheit nützen, sie wenigstens kurz zu sehen. Diesen Wunsch konnte sie ihm nicht abschlagen. Doch Katrin tat der neugierigen Frau Direktor nicht den Gefallen, ihr eine Erklärung zu geben.

»Sie nehmen sich eine ganze Menge heraus«, sagte Frau Direktor Zengerl daraufhin gehässig.

»Ich denke doch, dass ich außerhalb meiner Pflichten ein freier Mensch bin«, erklärte Katrin gleichmütig. »Sollte das nicht der Fall sein, müsste ich Sie bitten, mich aus meinem Vertrag zu entlassen.«

Damit war Frau Direktor Zengerl nun aller Wind aus den Segeln genommen, und das behagte ihr ganz und gar nicht. Sie wollte hier den Ton angeben, nicht eine junge Lehrerin, die noch nicht einmal richtig Fuß gefasst hatte. Dazu brachte sie die Neugierde, mit wem Katrin Schwalbe sich am Abend treffen wollte, fast um. Sie selbst konnte ihr nicht nachspionieren. Deshalb beschloss sie, Dr. Trunk auf ihre Fährte zu hetzen.

So nahmen die Dinge ihren Lauf. Katrin dachte an Bob und nicht daran, dass man ihr so viel Aufmerksamkeit zukommen lassen könnte. Sie eilte auf dem schmalen Pfad durch den Wald bis zu dem Wegweiser, an dem sie Robert Quirin zum erstenmal getroffen hatte. Diesmal war er vor ihr da und lehnte am Wagen.

Weiter oben, noch atemlos von seinem Verfolgungslauf, stand Dr. Trunk versteckt hiner einem dicken Baum und sah, wie Robert Quirin Katrin in die Arme nahm und küsste.

So unglaublich, unerhört und schockierend er es auch finden mochte, die beiden Menschen ahnten nichts davon und hätten sich in diesem Augenblick auch nicht daran gestört. Sie waren glücklich über das Wiedersehen, und sie wussten auch, dass sie zueinandergehörten.

*

Diese Neuigkeit konnte Dr. Trunk nicht schnell genug loswerden.

»Ich weiß jetzt, warum die Schwalbe Evelyn van Droemen so bevorzugt«, berichtete er der Frau Direktor Zengerl. »Sie hat ein Verhältnis mit Dr. Quirin. Die beiden haben sich beim Wegweiser getroffen und sich in aller Öffentlichkeit geküsst. Es ist unglaublich, erschütternd. Eine solche Person ist Lehrerin! Das können wir uns doch nicht bieten lassen.«

Der Überzeugung war Frau Direktor Zengerl zwar auch, aber ihr kamen doch Bedenken, ob auch das Verhalten des Herrn Dr. Trunk korrekt zu nennen sei. Nun, immerhin war sie nicht ganz schuldlos daran, sodass sie ihn dafür noch rügen konnte. Allerdings wollte sie auch keinen Skandal vom Zaune brechen, der als Bumerang auf ihr Internat zurückfallen könnte.

»Sie überlassen besser alles mir«, erklärte sie steif. »Sie werden schweigen! Bedenken Sie, dass Sie sich auch in ein schlechtes Licht rücken könnten.«

Gerade noch rechtzeitig war ihr eingefallen, dass Henning van Droemen ein sehr reicher und bekannter Mann war, und Dr. Quirin war immerhin sein Schwager.

Eine raffinierte Person musste diese Dr. Schwalbe schon sein, dass sie sich mir nichts, dir nichts und ganz nebenbei einen Mann angelte. Aber welcher Mann ließ sich schon ein Abenteuer entgehen, wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Zu gern hätte Frau Direktor Zengerl gewusst, wie Katrin Schwalbe sich an ihn herangemacht hatte. Ob sie sie in ein strenges Verhör nahm? Es war ihr gutes Recht und ihre Pflicht, denn sie musste auf den Ruf ihres Institutes bedacht sein.

So wurde Katrin ein unerwarteter Empfang bereitet, als sie ziemlich spät und bemüht, ja keinen Lärm zu machen, nach Schloss Heidern zurückkehrte. Ihre Lippen brannten noch von Roberts Küssen, und ihr Haar war ziemlich zerzaust, als plötzlich die Lichter aufflammten und Frau Direktor Zengerl wie eine Rachegöttin vor ihr stand.

Katrin war weit davon entfernt, eine schuldbewusste Miene zu machen. Dazu war sie viel zu glücklich.

»Möchten Sie mir bitte erklären, warum Sie sich so lange herum…« Beinahe hätte sie doch tatsächlich herumtreiben gesagt. Sie verschluckte es noch im letzten Augenblick, weil Katrins Gesicht eisig wurde.

»Ich glaube, ich sagte Ihnen bereits heute Nachmittag, dass ich mich als freier Mensch fühle«, erwiderte sie aggressiv.

»Aber es ist unerhört, dass Sie mit männlichen Familienmitgliedern meiner Schützlinge anbandeln. Widersprechen Sie nicht, man hat Sie gesehen, wie Sie Herrn Dr. Quirin küssten.«

Katrin musste nun doch ein Lachen unterdrücken. »Wie er mich küsste«, verbesserte sie spöttisch. »Ihr Spion scheint kurzsichtig zu sein, sonst hätte er es bemerken müssen.«

Frau Direktor Zengerls Gesicht nahm eine blaurote Farbe an. »Sie sind unverschämt. Ich würde Sie auf der Stelle hinaussetzen, wenn ich mir einen solchen Eklat leisten könnte.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, meinte Katrin belustigt. »Sie kommen meinen eigenen Wünschen nur entgegen. Dr. Quirin und ich werden nämlich heiraten.«

»Heiraten?«, schallte es gedehnt durch den Raum. »Bilden Sie sich nicht etwas zu viel ein?«

»Durchaus nicht. Aber ich hoffe, dass Sie Verständnis dafür haben, dass wir es Daniel und Evi persönlich mitteilen möchten. Es kann wohl kaum in Ihrem oder im Interesse des Hauses sein, wenn vor den Ferien noch ein Wirbel entsteht. Selbstverständlich bin ich bereit, Schloss Heidern sofort zu verlassen, wenn Sie es wünschen.«

Frau Direktor Zengerl sah sich nicht nur um ihren Triumph gebracht, sie war völlig aus der Fassung geraten.

Katrin blieb gelassen. »Es war Ihre Idee, nicht meine. Im Übrigen kann ich mir vorstellen, wem ich das zu verdanken habe. Aber es bleibt dabei: Ich bitte um die Lösung meines Vertrages.«

»Das könnte Ihnen so passen«, fauchte Frau Direktor Zengerl nun. »Ihr Vertrag läuft ein Jahr, und Sie werden ihn einhalten.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie einer so unmoralischen Person, die von ihrem Verlobten in aller Öffentlichkeit geküsst wird, weiterhin Ihre Zöglinge anvertrauen wollen«, lächelte Katrin. »Es wird besser sein, wenn wir uns im gegenseitigen Einvernehmen trennen. Außerdem ist Herr Dr. Quirin Jurist und wird schon einen Ausweg finden, wenn Sie auf unseren Abmachungen beharren. Ich, für meine Person, kann nur feststellen, dass Ihre Erziehungsmethoden unserem Jahrhundert nicht mehr entsprechen. Wenn es Lehrern nicht einmal gestattet ist, den Schülern in problematischen Situationen zu helfen, ist alle erzieherische Ethik sinnlos. Ich möchte bemerken, dass dies nicht nur auf Evelyn van Droemen zutrifft. Ich halte es auch für völlig falsch, Tammy Dickson in dem Glauben zu lassen, dass daheim alles in Ordnung ist. Das Mädchen freut sich. Es wird ein entsetzlicher Schock für sie sein, wenn sie erfährt, dass ihr Vater Selbstmord begangen hat.«

Frau Direktor Zengerl warf den Kopf in den Nacken. »In meinem Hause hat es noch nie ein Kind eines Selbstmörders gegeben. Tammy wird über die Tatsachen erst dann unterrichtet, wenn sie dieses Institut verlassen hat.«

»Eine seltsame Einstellung«, antwortete Katrin leise. »Der Mann war unheilbar krank. Der Selbstmord war wohl für ihn die Wahl zwischen einem Schrecken ohne Ende und einem Ende mit Schrecken. Ist da seine Entscheidung nicht verständlich?«

»Sie haben sehr eigenartige moralische Anschauungen, Fräulein Dr. Schwalbe. Aber das musste ich ja wohl erwarten nach all den Vorfällen.«

»Was habe ich mir denn zuschulden kommen lassen«, begehrte Katrin auf. »Ich habe versucht, Evi zu helfen, weil sie verzweifelt war, und so habe ich ihren Onkel kennengelernt. Ich habe nichts zu verbergen. Und Selbstmord und Selbstmord kann zweierlei sein. Es kommt darauf an, ob ein Mensch sinnlos sein Leben vernichtet, oder ob er nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Tammy tut mir leid. Sehr leid!«

»Aber für mich haben Sie kein Mitgefühl!«, trumpfte Frau Direktor Zengerl auf. »Wissen Sie überhaupt, wie schwer es ist, ein solches Internat zu leiten?«

»Ich weiß, dass es eine Aufgabe sein kann. Aber Sie haben immerhin achtzig sehr gut zahlende Eltern, die Ihren schönen Worten Glauben schenken und Ihnen ihre Kinder anvertrauen. Sie und auch die Lehrkräfte sollten in dieser Zeit die Eltern nach bestem Wissen und Gewissen vertreten. Nicht ersetzen! Eltern sind unersetzlich.«

»Ersparen Sie mir dieses Gefasel. Sagen Sie es doch mal den Eltern! Warum geben sie ihre Kinder denn in Internate?«

Aus mancherlei Gründen, dachte Katrin. Sicher nicht nur, um sie los zu sein. Wenigstens in den meisten Fällen nicht. Oder doch? fragte sie sich betroffen. Nun, im Fall van Droemen war es anders. Sie befanden sich in einer Zwangslage. Doch das, was Katrin von Bob erfahren hatte, stimmte sie sehr nachdenklich. Sie hatte Dan mehrmals beobachtet. Auch auf sie würde er wahrscheinlich nicht hören. Im Gegenteil, es konnte ihn eher noch aufsässiger machen, wenn sie sich in Angelegenheiten einmischte, die er als seine eigenen betrachtete. Und was würde er dazu sagen, dass sein Onkel seine Lehrerin heiraten wollte?

*

Auf Gut Sophienlust herrschte schon Ferienstimmung. Die Wellentins waren mit Kati in den sonnigen Süden gefahren, aber Sascha, Andrea und Dominik von Schoenecker beneideten sie nicht. Schönere Ferien als in Sophienlust konnten sie sich gar nicht vorstellen, umso mehr, da Susi Berkin aus Südafrika bei ihnen war und sie sich schrecklich viel zu erzählen hatten. Auch ihr kleiner Bruder Tim, auf den Susi furchtbar stolz war, durfte bei ihnen bleiben, während ihre Eltern auf der Wohnungssuche waren.

Dominik war überglücklich, dass Dr. Berkin sich ganz überraschend entschlossen hatte, eine leitende Stellung in den Wellentin-Werken anzunehmen. Damit war Susi wieder in seine Nähe gerückt, und Dominik fand es wunderschön, dass sie alle wieder zusammen sein konnten. Es hatte sich herausgestellt, dass die gemeinsame Zeit, die sie im Kinderheim verbracht hatten, ein unlösbares Band zwischen ihnen geschmiedet hatte. Das war vor allem das Verdienst von Denise von Wellentin, die jetzt Denise von Schoenecker war und sich auf die Geburt ihres und Alexander von Schoeneckers Kind freute.

Auch die anderen Kinder, die in Sophienlust einmal eine Heimat gefunden hatten und dann zu ihren Angehörigen zurückgekehrt waren, ließen regelmäßig von sich hören.

Sorgen machte sich Denise von Schoenecker eigentlich nur um Marco, und erst heute hatte sie wieder erfahren, dass dazu leider Grund bestand.

»So sorgenvoll, Liebes«, begrüßte Alexander von Schoenecker seine Frau. »Das habe ich gar nicht gern.«

»Heute Morgen hatte ich den Besuch von Professor Quirin«, gestand sie leise.

Er sah sie erstaunt an. »Was, er ist Professor?«

»Doch nicht Robert Quirin, sondern dessen Vater. Professor Dr. Dr. Dr. Alfred Quirin, ein überaus gescheiter und skeptischer alter Herr. Außerdem zugleich ja auch der Vater von Ingrid van Droemen.«

»Und«, fragte Alexander von Schoen­ecker, »hat er etwas an Marco auszusetzen?«

»Er kennt ihn noch gar nicht persönlich. Er wollte sich nur eingehend über die Herkunft des Jungen informieren. Ich hoffe, ihn einigermaßen zufriedengestellt zu haben.«

»Genügt es ihm nicht, dass seine Tochter wieder auf dem Wege ist, eine gesunde und glückliche Frau zu werden?«

»So darfst du es nicht auffassen. Er denkt natürlich auch an seine beiden größeren Enkelkinder, Daniel und Evelyn. Der Junge ist siebzehn und scheint sich ziemlich dagegen zu wehren, dass nun ein fremdes Kind ins Haus genommen worden ist. Er hatte früher schon hinter seinem kleinen Bruder zurückstehen müssen. Er – ich meine Professor Quirin – war der Ansicht, dass seine Tochter Marc wirklich sehr bevorzugt hat, und will ein weiteres Fiasko vermeiden.«

»Gut, dass wir solche Sorgen nicht haben. Unsere Kinder haben sich gesucht und gefunden und alles getan, damit wir zusammenfanden. Wir können ihnen gar nicht dankbar genug sein, mein Liebes, dass sie uns solche Konflikte erspart haben.«

Nun, Konflikte waren ihnen früher auch nicht erspart geblieben, aber das hatten sie schon fast vergessen. Sie waren eine glückliche Familie geworden und freuten sich nun gemeinsam auf das Baby, das in den nächsten Wochen zur Welt kommen sollte.

»Es würde mir für Marco sehr leid tun, wenn er um alle seine Träume betrogen würde«, sagte Alexander von Schoenecker leise.

»Was hätten wir getan, Alexander, wenn Sascha beispielsweise Nick abgelehnt hätte oder umgekehrt?«

»Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie langsam sie sich zusammengerauft haben?«, fragte er.

»Haben sie das?«, meinte sie sinnend.

»Siehst du, das hast du vergessen, und vielleicht werden es die van Droemens eines Tages genauso vergessen. Jedenfalls scheinen sie sich doch Mühe zu geben, die Probleme für alle Teile zum Guten zu lösen.«

»Und schließlich würde Marco hier ja immer eine Heimat haben, wenn es schiefgehen sollte«, flüsterte sie.

Er wollte sie nicht noch sorgenvoller stimmen, aber er fürchtete, dass Marco sich in der alten Umgebung nie mehr zurechtfinden würde.

»Man wird uns doch wohl auf dem laufenden halten«, brummte er.

Denise nickte. »Würdest du dich mit Dr. Quirin in Verbindung setzen?«

»Er kommt ohnehin nächste Woche wegen der Siedlung hierher. So, nun komm, Liebes, freuen wir uns an unserer ­kleinen Schar. Sie sind so vergnügt.«

»Wenn doch alle Männer so wären wie du, Alexander«, sagte sie zärtlich. »Unser Kind bekommt einen wundervollen Vater.«

»Eine viel wundervollere Mutter«, gab er innig zurück und küsste sie.

*

Für Marco war der große Tag herangekommen, an dem er mit seiner Mutti zu den unbekannten Großeltern fliegen sollte. Ingrid war unruhig und zerstreut. Marco spürte es.

»Sind die Großeltern streng?«, fragte er leise. »Ich werde bestimmt ganz brav sein, Mutti.«

Wozu soll das gut sein, überlegte Ingrid. Sie haben schon nicht verstanden, dass ich Marc meine ganze Zeit widmete, sie werden mich auch jetzt nicht verstehen. Dan und Evi stehen ihnen viel näher.

Es war nicht so, dass Ingrid van Droemen kein gutes Verhältnis zu ihren Eltern hatte. Es waren Menschen, die ihre Gefühle nicht überschwenglich zeigten. Der Vater, ein kluger besonnener Wissenschaftler, war froh gewesen, dass seine empfindsame Tochter einen so tüchtigen und energischen Mann bekommen hatte und dass die Ehe glücklich wurde. Doch der lebensfrohe Robert war mehr nach seinem Geschmack. Und Daniel war immer der Liebling seiner Großmutter gewesen, weil sie ihn als Kind oft bei sich gehabt hatte.

Henning van Droemen brachte seine Frau und Marco zum Flugplatz.

»Lieber wäre es mir ja, du würdest mitkommen, Vati«, meinte Marco. »Ich trenne mich gar nicht so gern von dir. Ist es auch nicht zu weit? Können wir miteinander telefonieren? Es gibt doch dort ein Telefon?«

»Wir werden jeden Tag miteinander telefonieren, Bambino«, lächelte Henning van Droemen.

Marco mochte es, wenn Vati Bambino zu ihm sagte.

»Pass gut auf Mutti auf«, raunte Henning dem Kleinen ins Ohr.

»Ganz bestimmt, Vati«, versprach der Junge.

Marco fand das Fliegen herrlich. Der Himmel war so nahe, die Wolken waren weit unter ihnen. Marco war nur betrübt, dass man auch vom Flugzeug aus den Nordpol nicht sehen konnte. Doch mit jedem Tag, den er bei seiner Mutter sein konnte, verwischte sich der Gedanke an jenen fernen Pol, an dem er sie gesucht hatte, immer mehr. Seine Mutti ging ja nicht mehr fort. Er würde sie nie mehr vermissen.

Schon nach sehr kurzer Zeit landete das Flugzeug wieder. Marco klammerte sich an Ingrids Hand, als sie die Halle des Flughafens betraten. Er fühlte, wie auch diese sanfte, leichte Hand, die er so liebte, bebte, und ihm wurde ganz bange, als sie auf einen Herrn mit einem weißen Spitzbart zuschritten. Er trug eine randlose Brille und sah ein wenig streng aus, fand Marco, aber ungefähr so hatte er ihn sich auch vorgestellt.

Professor Quirin umarmte Ingrid, dann ließ er seine Augen auf Marco ruhen. »Du bist groß geworden«, sagte er.

Zögernd streckte Marco ihm seine Hand entgegen. »Guten Tag, Opa«, flüsterte er.

»Fein, dass du uns endlich wieder einmal besuchst, Marc!«

In Ingrids Augen schimmerten Tränen. Impulsiv küsste sie ihren Vater auf die Wange.

»Danke, Vater, dass du uns selbst abholst«, raunte sie.

Sie gingen zum Wagen. »Willst du dich zu mir setzen, Marc?«, fragte Professor Quirin.

»Das darf ich nicht. Vati sagt, das ist gefährlich für Kinder. Manchmal muss man schnell bremsen, dann passiert was.«

»Dass ich daran nicht gedacht habe«, brummte Professor Quirin.

Es war eine große Villa aus der Gründerzeit, vor der die Fahrt endete.

Marco blieb staunend stehen. »Das ist ja fast ein Schloss«, stellte er fest. »Wie viel Leute wohnen da drinnen?«

»Oma, Stine, Edmund und ich.«

Von Stine und Edmund hatte Mutti ihm schon erzählt. Sie waren fast so alt wie Oma und Opa und schon dreißig Jahre im Hause. Sie standen auch schon bereit, um die Koffer in Empfang zu nehmen und lächelten freundlich.

Dann aber kam die Oma, eine ganz andere Oma als Frau von Wellentin. Eine Oma, wie Marco sie sich vorgestellt hatte, mit schneeweißem Haar, das sich über der Stirn zu kleinen Löckchen ringelte.

»Eine richtige Oma«, wisperte Marco. »Darf ich ihr einen Kuss geben, Mutti?«

Zwei Arme streckten sich ihm entgegen. Ein lautloses Schluchzen schüttelte Ingrid, als ihre Mutter das Kind an ihr Herz nahm. Behutsam legte Professor Quirin seinen Arm um ihre Schultern und führte sie zu einem Sessel.

»Es ist ja alles gut, mein Kind«, sagte er mit belegter Stimme.

*

Gedankenvoll betrachtete Marco die beiden Kinderbilder, die auf dem Flügel standen.

»Das sind Dan und Evi«, sagte er.

»Morgen lassen wir dich fotografieren. Dann kommt dein Bild auch dorthin«, versicherte Frau Quirin.

»Habt ihr von Benedikt keins?«, wollte er wissen. »Es wäre schön, wenn er jetzt auch hier sein könnte, nicht wahr? Wir wollen nur nicht so viel über ihn sprechen, sonst wird Mutti wieder traurig.«

»Deshalb haben wir sein Bild auch weggestellt«, erwiderte Frau Quirin.

»Habt ihr mich auch ein bisschen lieb, Omi?«, fragte er leise. »Ich verstehe es ja, wenn ihr Dan und Evi lieber habt. Sie sind schon viel länger bei euch, und ihr habt sie viel öfter gesehen.«

Annemarie Quirin zog es das Herz zusammen. Was mochte in dieser Kinderseele vorgehen?

»Wir haben dich genauso lieb, Marc«, versicherte sie.

»Ich euch auch.« Er schenkte ihr ein bezwingendes Lächeln. »Es ist sehr schade, dass ihr so weit weg wohnt und wir euch nicht öfter besuchen können. Aber dann ist Vati so lange allein. Er hat jetzt viel zu tun. Opa aber auch«, fügte er hinzu. »Ist es nicht einsam in dem großen Haus?«

»Manchmal schon«, gab sie zu.

»Was tust du den ganzen Tag?«, wollte er wissen.

»Lesen und schreiben.«

Staunend betrachtete er sie. »Was schreibst du? Schöne Geschichten?«

»Reiseberichte«, antwortete sie. »Wir sind viel gereist, Opa und ich.«

»Deswegen haben wir uns auch nie gesehen«, meinte er nachdenklich. »Sonst hätte ich ja wohl auch bei euch bleiben können. Aber in Sophienlust war es auch sehr schön. Ich will mich nicht beschweren.«

Es war rührend anzuhören, und Annemarie Quirin konnte nur mühsam die Tränen zurückhalten.

»Schreibst du auch mal schöne Geschichten?«, forschte er.

»Vielleicht«, lächelte sie.

»Aber dann keine, wo der Wolf die Großmutter frisst«, verlangte er. »Solche mag ich gar nicht. Und auch nicht solche, wo Kinder verzaubert werden. Da kriegt man nur Angst und träumt schlecht. Mutti erzählt mir auch nur schöne Geschichten. Und ich erzähle von Sophienlust, von Sentas Jungen und Habakuk und den Ponys.«

»Du hast mir davon noch gar nichts erzählt«, sagte Annemarie Quirin leise.

»Du müsstest es dir mal anschauen, Omi. Es ist wirklich schön dort. Wenn ich euch nicht hätte und vor allem Mutti nicht, hätte es mir schon gefallen. Weißt du, die Kinder, die dort sind, haben niemanden. Keine Eltern und keine Großeltern. Nur Nick, Sascha und Andrea natürlich. Aber Frau Rennert, Lena, Magda, Justus und alle andern sind auch wie eine Familie. Bestimmt ist es schöner als in dem Internat. Ich bin froh, wenn Dan und Evi erst wieder daheim sind.«

»Wenn Dan nun aber denken würde, dass Mutti dich lieber hat als die beiden Großen«, meinte Annemarie Quirin behutsam.

Marco sah sie verwundert an. »Das kann er doch nicht denken. Mutti hat alle Kinder gleich lieb.« Er machte eine Pause und wiederholte dann noch einmal sinnend: »Das kann er doch nicht denken. Wenn ich es ihm nur schreiben könnte.«

Ob es etwas nützen würde?, fragte sich Annemarie Quirin.

*

»Es waren wunderschöne Tage«, sagte Ingrid zu ihren Eltern. »Ich danke euch tausend Mal, dass ihr Marco so liebevoll aufgenommen habt.«

»Ich muss gestehen, dass ich skeptisch war«, brummte Professor Quirin, »aber dieser kleine Kerl hat uns besiegt.«

»Bei Marc war es nicht so«, stellte Ingrid beklommen fest.

»Wir wollen einmal offen zueinander sein, Ingrid«, meinte Professor Quirin. »Marc war ein kleiner Tyrann. Verzeih, wenn es hart klingt. Aber dir ist das wohl nie so recht bewusst geworden.«

»Lass das doch, Alfred«, mischte sich Annemarie Quirin ein.

»Nein, sprich nur weiter, Vater«, bat Ingrid. »Ich möchte es gern von eurem Standpunkt aus sehen.«

»Marc wollte überall die erste Stelle einnehmen«, fuhr ihr Vater fort. »Er war der Kleine, ihm wurde alles nachgesehen. Wenn er etwas anstellte, waren immer die Großen dran schuld. Selbst an seinem Tod. Es hat uns sehr geschmerzt, Ingrid. Wir wollen dir nicht wehtun, aber verfalle jetzt bitte nicht wieder in den Fehler, Marco vorzuziehen.«

»Er wird es nicht ausnützen«, erklärte Annemarie Quirin fest. »Es ist ergreifend, wie er sich für Dan und Evi interessiert, ohne sie zu kennen. Ja, er rührt mich zutiefst, und ich werde alles tun, um es Dan klarzumachen, wenn er eigensinnig bleibt.«

Ingrid umarmte ihre Mutter dankbar. »Ich werde nie mehr vergessen, dass ich drei Kinder habe«, sagte sie leise.

»Dafür wird Marco schon sorgen«, lächelte Annemarie Quirin. »Kommt bald wieder.«

*

Evis Zeugnis war zwar bei weitem nicht so gut ausgefallen wie das ihres Bruders, aber sie war doch halbwegs zufrieden. Allerdings hatte sie allen Grund, mit Dan unzufrieden zu sein.

»Tammys Vater hat sich umgebracht«, sagte sie. »Wenn Mutti das nun auch getan hätte?«

»Rede doch nicht solchen Unsinn. Woher weißt du das überhaupt?«

»Schwälbchen hat es mir erzählt. Tammy wusste es noch gar nicht, als sie abreiste. Jetzt wird sie es wissen.« Evi seufzte schwer. »Sei doch nicht so bockig, Dan. Onkel Bob sagt doch auch, dass Marco ein lieber Junge ist.«

»Kriech nur zu Kreuze, du mit deiner Gefühlsduselei. Früher waren wenigstens wir uns einig. Nun bringt dieser Bengel uns auch noch auseinander.«

Niedergeschlagen kehrte Evi in ihr Zimmer zurück, das sie seit einer Woche allein bewohnte. Jetzt musste sie an Tammy denken, und ihr eigener Kummer wurde geringer.

Wenn Mutti gesund geworden ist, müssen wir dem kleinen Marco dankbar sein, dachte sie. Dan war doch sonst so gescheit. Warum dachte er nicht auch so?

Die Koffer waren bereits gepackt. Sie jedenfalls würde nicht mehr nach Schloss Heidern zurückkehren. Der Abschied fiel ihr nicht schwer, nur die Trennung von Schwälbchen.

Da trat die Lehrerin leise ins Zimmer. Sie trug ihr grünes Trachtenkostüm, in dem Evi sie ganz besonders gern sah.

»So wehmütig, Evi?«, fragte sie sanft.

»Nur wegen Dan. Er bockt. Er will nicht nach Hause. Und auch Ihretwegen, Schwälbchen«, flüsterte sie. »Darf ich Sie zum Abschied noch einmal so nennen?«

»Es wird kein Abschied für lange sein, Evi«, meinte Katrin weich. »Ich wollte es dir nicht vorher sagen, aber Bob und ich werden heiraten.«

»Onkel Bob und Sie?«, staunte Evi. »Aber – oh – meine Güte, wie ist denn das gekommen?«, stotterte sie.

»Wir werden es dir später einmal erzählen, Evi. Dein Vater ist gekommen. Er will dich holen.«

»Schwälbchen«, sagte Evi, »es ist wie ein Märchen. Darf ich jetzt du ­sagen? Bob ist prima. Ich habe nicht ­gedacht, dass er jemals eine Frau findet, und nun bekommt er eine so pfundige. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

Die Tür wurde heftig aufgestoßen. »Herr van Droemen wartet auf seine Tochter«, zischte Frau Direktor Zengerl wütend. »Mit Ihnen habe ich noch zu sprechen, Fräulein Dr. Schwalbe.«

»Es passt Ihnen wohl nicht, dass Schwälbchen meinen Onkel heiratet, Frau Direktor?«, fragte Evi so aggressiv, wie man es von ihr gar nicht gewohnt war. Sie lächelte Katrin zu. »Auf bald, Schwälbchen!«

*

Henning van Droemen ließ es sich gern gefallen, dass Evi ihn zärtlich umarmte, denn zuvor hatte er eine kurze, aber recht heftige Auseinandersetzung mit seinem Sohn gehabt.

»Was ist mit Dan?«, fragte Evi, als er ihre Koffer verstaute.

»Er wird mit Bob zu den Großeltern fahren«, erwiderte Henning van Droemen kurz.

»Und Schwälbchen?«

»Du weißt …?«

»Sie hat es mir soeben gesagt. Ich freue mich, Vati.«

»Es kommt allerlei zusammen. Mir wäre es lieber, Bob wäre schon hier. Aber er hat noch etwas zu erledigen.«

»Und das arme Schwälbchen muss sich mit der grimmigen Zengerl herumärgern«, meinte Evi bedauernd. »Ich bin gespannt, was Dan sagen wird.«

»Wozu?«

»Dass Onkel Bob heiratet.«

»Er wird wahrscheinlich auch da ein Haar in der Suppe finden«, grollte Henning van Droemen. »Ich bin sehr froh, dass wenigstens du vernünftig bist, Evi.«

»Dan kommt auch wieder zu sich«, äußerte sie zuversichtlich.

»Hoffentlich!«

Sie schwiegen ein Weilchen. Dann fragte Evi: »Wie geht es daheim? Hat sich Marco eingelebt?«

»Das brauchte er nicht. Es wird für dich nicht leicht zu begreifen sein, Evi, aber für ihn ist alles ganz selbstverständlich. Nur ihr fehlt ihm.«

»Hast du es Dan gesagt?«

»Natürlich. Er tut es selbstherrlich ab.«

»Jungen in dem Alter fühlen sich maßlos erhaben«, meinte Evi.

»Du scheinst ja schon deine Erfahrungen gesammelt zu haben«, neckte er sie.

»Ach, weißt du, Vati, wenn man so dicht beieinanderhockt, sieht man mehr die Nachteile.«

»Das hört sich aber sehr negativ an.«

»Dan ist wirklich ein netter Junge«, verteidigte sie ihren Bruder. »Er ist sonst nicht so provozierend. Irgendwie geht es ihm bestimmt auch nahe, Vati, aber er kann es nicht so sagen. Er braucht eben Zeit.«

»Du bist eine gute Trösterin, Evi«, erwiderte er mit rauer Stimme.

*

Für Katrin hatte das Leben mit diesem Tag eine neue Wendung genommen.

Evis Lächeln, das sie für alle unfreundlichen Worte der Direktorin entschädigte, war bei ihr zurückgeblieben. Nun kam Robert Quirin, aber Katrin hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Daniel zu sprechen.

Dan kam angeschlendert, als Robert Quirin Katrins Gepäck im Kofferraum verstaute. Seine Augenbrauen hoben sich. Er setzte eine blasierte Miene auf. Doch Bob ließ seinen Neffen gar nicht erst zu Wort kommen. »Du kennst ja meine zukünftige Frau bereits, Dan«, erklärte er gelassen.

Daniels Augen weiteten sich. »Gibt es noch mehr Überraschungen in unserer Familie?«, fragte er gepresst.

»Das wird die Zukunft erweisen. Ich hoffe, du hast bereits die Koffer gepackt, damit wir diese ungastliche Stätte schnell verlassen können.«

Daniel warf den Kopf in den Nacken. »Ich werde hierher zurückkehren«, erwiderte er aufsässig.

»Wenn du willst, meinetwegen«, meinte Bob kurz angebunden. »Jetzt starten wir. Katrin wird jedenfalls nicht mehr hierher zurückkehren.«

»Man wird wohl nur noch vor vollendete Tatsachen gestellt«, knurrte Dan. »Vielleicht sollte ich lieber mit dem Zug fahren, damit ich eure traute Zweisamkeit nicht störe.«

»Sei nicht kindisch«, erklärte Bob ungerührt. »Du kannst ja auch gleich hierbleiben.«

Diese kaltschnäuzige Reaktion verfehlte ihre Wirkung nicht.

»Das könnte dir so passen«, wehrte sich der Junge. »Na ja, wenigstens hast du dir eine annehmbare Frau ausgesucht.«

»Danke, Dan«, sagte Katrin.

Dan errötete bis unter die Haarwurzeln. »Meinen Großeltern werden Sie bestimmt gefallen«, murmelte er.

»Hoffentlich«, flüsterte Katrin.

Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Sie haben doch nicht etwa Minderwertigkeitskomplexe?«, fragte er betont gelassen. »Ich hätte mir wahrhaftig nicht träumen lassen, dass Sie mal zur Familie gehören würden.«

»Wir hätten uns manches nicht ­träumen lassen, Dan«, entgegnete ­Robert Quirin. »Es hat alles sein Gutes.«

»Wenn du auf diesen Jungen ­anspielen willst, kannst du dir ­Einzelheiten ersparen. Aber du hast natürlich das Recht zu heiraten, wen du willst.«

»Und du meinst, dass niemand das Recht hat, ein Waisenkind zu adop­tieren, um eine kranke Seele zu retten?«

»Ich mag solche hochtrabenden Reden nicht. Ist es schon geschehen? Haben sie ihn schon adoptiert?«

»So schnell geht das nicht. Im übrigen möchte ich betonen, dass es meine Idee war.«

»Du bist also stolz, uns diesen Bastard ins Nest gesetzt zu haben?«, fragte Daniel empört.

»Halt deinen Mund«, schrie Bob wütend. Katrin zuckte erschrocken zusammen, sodass er rasch hinzufügte: »Entschuldige, Liebes, aber manchmal wirst du mich auch so erleben.«

»Nun wissen Sie wenigstens gleich, was Ihnen blüht«, warf Daniel frech ein.

Katrin sah ihn eindringlich an. »Vielleicht hätte ich auch so reagiert«, stellte sie fest. »Man soll sich überlegen, was man sagt.«

»Wenn ihr euch nur einig seid«, stieß Daniel gereizt hervor.

*

»Evi«, flüsterte Ingrid mit erstickter Stimme.

»Ich bin so froh, Mutti, dass ich wieder daheim bin«, gab Evi zurück.

Eine kleine Hand zupfte an ihrem Ärmel. »Ich bin auch noch da«, wisperte Marco. »Ich möchte dir auch guten Tag sagen, Evi.«

Ingrids Arme fielen herab. Sie wusste, dass von den nächsten Sekunden vieles abhing, wenn nicht alles.

Evi lächelte. Sie kniete neben dem Jungen nieder und umarmte ihn. »Guten Tag, Marc«, sagte sie. »Was bist du für ein großer Junge geworden.«

»Das hat Omi auch gesagt. Ich bin ja auch schon vier Jahre alt«, nickte er. »Wo ist Dan?«

Totenstille herrschte augenblicklich. Doch Evi fing sich rasch. »Er ist noch mit ein paar Freunden weggefahren«, antwortete sie.

Marco war tief enttäuscht. »Weiß er denn nicht, wie ich mich auf euch gefreut habe?«

Evi tauschte einen langen Blick mit ihrer Mutter. »Weißt du, Marc, die großen Jungen haben eigene Interessen«, versuchte sie ihm klarzumachen. »Dan wäre gern gekommen, aber er wollte seine Freunde nicht enttäuschen.«

»Sind Freunde wichtiger als die Familie?«, wollte Marco wissen. »Wir haben die ganze Zeit immer nur von euch geredet. Jeden Tag habe ich ein Kalenderblatt abgerissen, und es hat immer so lange gedauert, bis wieder ein neuer Tag gekommen ist.« Ein paar große glitzernde Tränen hingen in seinen langen Wimpern. »Willst du auch mit deinen Freundinnen wegfahren, Evi?«, erkundigte er sich angstvoll.

»Nein, Marc«, erwiderte sie mit erstickter Stimme. »Ich bleibe jetzt immer da.«

Seine Arme umschlangen sie. »Du bist noch viel hübscher als auf dem Bild«, raunte er ihr ins Ohr. »Du bist fast so groß wie Roli.«

»Wer ist Roli?«, fragte Evi leise.

Marco sah Ingrid hilflos fragend an. »Weiß sie gar nichts von Sophienlust? Das kommt bloß davon, dass ich noch nicht schreiben kann. Bringst du es mir bei, Evi? Dann schreibe ich Dan, dass er auch heimkommen soll.«

*

»Du hast dich tapfer gehalten, Evi, es war sehr lieb von dir«, sagte Ingrid van Droemen dankbar.

Das Mädchen sah sie verwundert an. »Wie meinst du das, Mutti? Marc war doch so goldig.«

»Warst du nicht nur aus Rücksicht auf mich so nett zu ihm?«

Mutter und Tochter waren schon fast gleich groß, und wenn sie so dicht beisammen standen wie jetzt, war ihre Ähnlichkeit deutlich zu erkennen.

»Ich habe ihn gleich gern gehabt, Mutti. Und ich bin froh, dass es dir wieder gut geht.«

»Ich hätte euch nicht so vernachlässigen dürfen, Evi«, entgegnete Ingrid gequält. »Wie kann ich das wiedergutmachen?«

Evi umarmte ihre Mutter. »Mach dir doch keine Gedanken, Mutti. Wichtig ist nur, dass du dich wieder freuen kannst.«

»Dan denkt nicht so.«

»Onkel Bob wird ihn schon zur Räson bringen. Schwälbchen ist eine tolle Frau. Vielleicht mussten wir nach Schloss Heidern, damit er sie kennenlernte. Und ich finde es sehr schön, dass ich wieder einen kleinen Bruder habe. Ich gehe jetzt zu ihm, weil ich ihm versprochen habe, ihm noch eine Geschichte zu erzählen.«

»Aber keine traurige«, bat Ingrid van Droemen. »Die mag er gar nicht.«

»Ich auch nicht, Mutti. Es war für uns alle schlimm, dass Marc gestorben ist, glaubst du mir das? Aber der liebe Gott hat uns einen anderen Marc dafür gegeben, und ich werde ihn sehr, sehr lieb haben.«

»Glaubst du es ihr, Ingrid?«, fragte Henning van Droemen leise, als Evi die Treppe emporhuschte.

»Was soll eine Frau erwidern, der alles doppelt geschenkt wird, Henning? Jetzt fehlt nur noch Dan. Um ihn werde ich kämpfen müssen.«

»Wir werden dir dabei helfen, mein Liebes«, erwiderte er weich.

*

Marco blinzelte, als Evi kam, als könnte er nicht recht glauben, dass sie Wort halte.

»Es ist sehr lieb, dass du kommst, Evi«, flüsterte er. »Ich dachte, du würdest vielleicht lieber bei Mutti und Vati bleiben, weil du sie doch so lange nicht gesehen hast.«

»Ich hatte dir doch versprochen, dass ich dir eine Geschichte erzähle.«

»Erzähle mir lieber vom Internat, und ich erzähle dir von Sophienlust, damit wir wissen, was wir gemacht haben, als wir noch nicht beisammen sein konnten.«

»Das Beste am Internat war Schwälbchen, und die wird ja nun Onkel Bob heiraten. Da haben wir sie für immer«, meinte Evi.

Das war Marco neu. Er riss seine müden Augen noch einmal weit auf. »Onkel Bob wird heiraten?«, staunte er. »Wer ist Schwälbchen?«

»Doktor Katrin Schwalbe, eine Lehrerin.«

»Lehrer sind doch meistens alt«, wollte Marco wissen.

»Schwälbchen aber nicht. Sie ist jung und sehr, sehr hübsch.«

»Aber nicht hübscher als unsere Mutti«, schränkte Marco sehr bestimmt ein.

Wenn Evi ganz objektiv dachte, musste sie zugeben, dass Katrin hübscher war als ihre Mutti, aber für Marco war seine Mutti allem Anschein nach die schönste Frau der Welt. Das konnte und wollte sie ihm nicht ausreden, denn es bewies ihr, wie sehr er sie liebte. Unwillkürlich dachte sie an den anderen Marc, der die Nachgiebigkeit seiner Mutter manchmal wirklich schamlos ausgenützt hatte.

Evi bemühte sich, nicht ungerecht zu sein. Marc war tot, und an seine Stelle war nun ein anderer Junge getreten, der, von ihrer Warte aus gesehen, außer dem Namen nichts mit ihm gemeinsam hatte. Vielleicht war es unbegreiflich, aber Evi fühlte sich zu diesem fremden Jungen mehr hingezogen, als es bei ihrem verstorbenen Bruder der Fall gewesen war. Vielleicht lag das daran, dass Marc nie so anschmiegsam und dankbar gewesen war.

»Ich will das. Mach mir das, hol mir das«, hatte er immer kommandiert, und abends hatte höchstens Mutti an seinem Bett sitzen dürfen.

»Was Dan jetzt wohl macht?«, überlegte Marco. »Ob er auch ein richtiges Bett hat und genügend zu essen? Warum haben Vati und Mutti erlaubt, dass er wegfährt mit seinen Freunden?«

»Dan ist doch schon so groß«, meinte Evi. »Andere Jungen machen das auch.«

»Ich würde nie wegfahren, wenn ich zu Hause sein dürfte«, beteuerte Marco. »Evi – mag er mich vielleicht nicht?«, fragte er mit ganz kleinem ängstlichem Stimmchen. »Hat er Benedikt lieber gehabt?«

Zum Glück war Evi vorbereitet und erschrak nicht, als er den Namen nannte, aber es war ihr doch etwas unbehaglich.

»Wir wollen nicht mehr über Benedikt sprechen, Marc«, wich sie aus.

Er nickte. »Mutti will es auch nicht, und zum Friedhof darf ich auch nicht mitgehen.«

»Ich mag gar nicht auf den Friedhof gehen«, erwiderte Evi. »Sei froh, wenn du es nicht brauchst. Und nun erzähle ich dir noch eine Geschichte.«

Er sah sie erwartungsvoll an. »Ich wüsste auch eine.«

»Dann erzähl mir deine.«

Er nahm ihre Hand und legte seine Wange darauf. »Es war einmal ein kleiner Junge, der hatte ganz große Sehnsucht nach seiner Mutti. Immer hat er auf sie gewartet, und eines Tages kam sie dann endlich. Aber da wusste der kleine Junge noch gar nicht, dass er auch ein liebes Schwesterlein hat, und es war ein ganz schöner Tag, als die Evi endlich kam. Weißt du, wer der kleine Junge ist?«, fragte er schelmisch.

»Das ist gar nicht schwer zu erraten«, flüsterte sie. »Es war ein wunderschöner Tag, Marc, als die Evi ihren kleinen Bruder in die Arme nehmen konnte.«

Und in ihren Armen schlief er ein. Voller Zärtlichkeit blickte sie auf ihn und dachte daran, dass sie diesen kleinen Bruder erst seit heute besaß.

*

Daniel hatte während der Fahrt zu seinen Großeltern verstockt geschwiegen, nachdem Bob ihn so angefahren hatte. Er vermied es auch, Katrin anzusehen, und als sie unterwegs Rast machten, um etwas zu essen, entfernte er sich wortlos.

»Er wird doch nicht davonlaufen«, meinte Katrin besorgt.

Bob grinste. »Ich kenne meinen Neffen. Er will uns zwar mit Verachtung strafen, aber er liebt das angenehme Leben viel zu sehr, als dass er sich davonstehlen würde. Mutter wird ihn schon zurechtstauchen.«

»Ist sie so energisch?«, fragte Katrin besorgt.

»Sie kann es sein, aber du brauchst nicht gleich so ängstliche Augen zu machen. Mit dir wird sie nicht energisch umspringen. Dazu ist sie viel zu dankbar, dass ihr ungehobelter Sohn eine so bezaubernde Frau bekommt.«

»Du bist nicht ungehobelt, Bob«, protestierte sie.

»Na, wenn du es sagst, muss ich es wohl glauben. Ich dachte schon, du bekommst es mit der Angst, weil ich Dan so anfauchte.«

»Das war nötig.«

»Henning hat ihn mit Samthandschuhen angefasst«, erklärte Bob. »Er wollte immer betonen, dass er sich nicht hinter Marc zurückgesetzt fühlen sollte, und da hat er des Guten zu viel getan. Aber das hat Dan natürlich nicht empfunden. Er war nur immer empört, wenn bei Marc alles durchging. Das eine wie das andere war falsch. Bei unseren Kindern werden wir mal keine Unterschiede machen.«

Katrin lachte leise. »Wie viel möchtest du denn?«, fragte sie belustigt.

»Wir werden sehen. Geplant wird jedenfalls nichts. Alles wird dem Zufall überlassen, und ernähren können wir eine ganze Schar.«

Und Monika, dachte sie, wird es mit ihr nicht auch Probleme geben?

»Ich hatte Monika versprochen, mit ihr in den Ferien zu verreisen«, sagte sie aus dieser Überlegung heraus.

»Wohin wolltet ihr denn fahren?«, erkundigte er sich.

»Nach Tirol. Da gibt es einen hübschen kleinen Bauernhof. Wir verbringen die Ferien immer dort.«

»Im Augenblick kann ich noch nicht weg, aber in der nächsten Woche kann ich mich sicher ein paar Tage freimachen. Hoffentlich habt ihr dann ein Bett für mich.«

Es war wohltuend, wie selbstverständlich er es betrachtete und auch nicht forderte, dass sie seinetwegen alles über den Haufen werfe.

»Ich muss Monika ja auch schonend vorbereiten«, meinte Katrin.

»Im allgemeinen erfreue ich mich bei sehr jungen Damen großer Beliebtheit«, neckte er. »Ich werde schon mit ihr zurechtkommen. Aber da kommt unser Dickkopf. Wir können weiterfahren.«

»Ich habe jetzt Hunger«, sagte Dan aggressiv.

»Das hättest du dir früher überlegen sollen. Wir haben gut gegessen«, erwiderte Bob ungerührt. »Nimm dir ein paar Toasts mit. Jetzt geht es weiter.«

Dan murrte etwas in sich hinein, aber er widersprach nicht. Er holte sich zwei Toasts und verschlang sie mit Heißhunger. Dann wurde er plötzlich redselig.

»Eigentlich hätte ich in den Ferien nach England gehen können«, begann er herausfordernd.

»Hättest du«, meinte Bob. »Wir hätten uns nur früher darum kümmern müssen.«

»Ich kann ja trampen.«

»Und in der Carnabystreet nächtigen?«, fragte Bob ironisch. »Oder am Trafalgar Square? Würde dir das gefallen?«

»Man soll mit diesen überholten Traditionen brechen«, erklärte Dan großartig. »Man sieht ja, was dabei herauskommt.«

»Wobei?«, erkundigte sich Bob.

»Bei diesem ganzen Familienklüngel. Ihr macht doch auch, was ihr wollt.«

»Wobei du aber bitte nicht vergessen darfst, dass wir erwachsen sind und uns unser Geld bereits selbst verdienen«, konterte Bob.

»Soll ich warten, bis ich alt und grau bin, um was von der Welt zu sehen?«

»Soweit ich mich erinnere, warst du bereits in Schweden, in der Schweiz, in Frankreich, Italien und Griechenland. Mit siebzehn Jahren immerhin schon allerhand. Aber ich kann mich auch erinnern, dass du immer gemault hast und dass es dir meistens nicht gefiel.«

Darauf versank Dan wieder in Schweigen, bis sie an ihrem Ziel ankamen.

Punkt zwanzig Uhr hielten sie vor der Villa der Quirins, von der Marco so beeindruckt gewesen war und die auch Katrin jetzt überaus beeindruckte. Zum erstenmal wurde ihr bewusst, dass sie in Bob nicht nur einen sehr netten, sondern auch einen sehr vermögenden Mann bekam, der aus einem sehr kultivierten Elternhaus stammte.

Daniel musste zu seinem Ärger feststellen, dass man Katrin mehr Aufmerksamkeit zollte als ihm, und das erboste ihn noch mehr. Onkel Bob hätte es sich ruhig für einen späteren Termin aufheben können, seine zukünftige Frau mit seinen Eltern bekannt zu machen, beschwerte er sich später bei seiner Großmutter.

»Aber warum denn?«, fragte sie erstaunt. »Es hat sich doch ganz wunderbar ergeben, und wir freuen uns sehr über ihren Besuch.«

»Bleibt sie etwa?«, wollte er wissen.

»Wenigstens bis heute Nacht.«

»Hier – unter einem Dach mit Onkel Bob?«

»Seit wann bist du so altmodisch?«, lächelte sie. »Wir haben doch genügend Gästezimmer.«

Dan gab sich geschlagen. Was blieb ihm auch anderes übrig. Katrin war an diesem Abend der Mittelpunkt, nicht er. Gekränkt zog er sich bald zurück.

»Lassen wir ihn«, meinte Professor Quirin gleichmütig. »Auch dieses Stadium ist uns ja nicht unbekannt. Darin gleicht er eigentlich dir, Bob.«

»Es ist besser, wenn sie dich gleich richtig kennenlernt«, scherzte Annemarie Quirin. »Über die Flegeljahre bist du ja glücklicherweise hinaus.«

»Dan sollte es auch sein.«

»Es ist keine Flegelei von ihm«, lenkte Katrin ein. »Er ist eifersüchtig.«

»Hoffentlich nicht deinetwegen auf mich«, meinte Bob schnell.

»Auf alle und jeden. Er hatte sich Rückhalt und Unterstützung erhofft, nachdem er sich von Evi so enttäuscht fühlte, und nun fühlt er sich erst recht benachteiligt.«

»Ein vernünftiges Wesen bist du, Katrin«, sagte Annemarie Quirin. »Als meine zukünftige Schwiegertochter brauche ich dich doch nicht formell anzureden?«

»Unsere Schwiegertochter«, mischte sich Professor Quirin ein, »nicht nur deine.«

»Jetzt wird er auch noch eifersüchtig«, lachte seine Frau. »Na, stell dich nur gut mit Vater, Katrin, dann wirst du nicht schlecht fahren.«

»Ihr habt mich so nett aufgenommen«, meinte Katrin befangen. »Hoffentlich enttäusche ich euch nicht. Da gibt es auch noch Monika.«

»Hast du ein Kind?«, fragte Annemarie Quirin erstaunt.

»Nur keine Panik«, brummte Bob. »Sie hat eine kleine Schwester. Für ein Kind wäre sie wohl doch zu jung. Ich meine für ein elfjähriges.«

»Warum habt ihr sie nicht mitgebracht?«

»Damit Dan noch närrischer wird? Katrin wird mit ihr verreisen, und ich werde sie nächste Woche besuchen«, erklärte Bob.

»Wir könnten eigentlich auch mal ein paar Tage Urlaub machen, was meinst du, Alfred?«, schlug Annemarie Quirin sogleich vor. »Wir müssen doch Monika kennenlernen.«

Bob stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Da siehst du, was du dir eingebrockt hast, Katrin«, murmelte er. »Das ist keine Familie, das ist ein Clan.«

»Ich finde es wunderschön«, antwortete Katrin leise, »eine Familie zu haben.«

*

»Findest du es wirklich schön, Katrin?«, fragte Bob später, als sie Arm in Arm durch den Garten gingen, um frische Luft zu schöpfen und auch, um noch miteinander zu reden.

»Ich habe es sehr lange vermisst, Bob. Für dich ist es selbstverständlich.«

»So selbstverständlich nun auch wieder nicht«, brummte er. »Ich bin auch dankbar, Liebes.«

»Du hast wundervolle Eltern.«

»Deswegen fühle ich mich ja auch verpflichtet, ihnen eine wundervolle Schwiegertochter zu bringen. Henning versteht sich auch sehr gut mit ihnen.«

»Sie haben Marco akzeptiert«, fuhr Katrin sinnend fort.

»Es hätte nicht zu ihnen gepasst, wenn sie es nicht getan hätten. Allerdings hat Vater sich eingehend nach der Herkunft des Kindes erkundigt. So mir nichts, dir nichts akzeptieren sie nichts. Frau von Schoenecker wird einen ganz schönen Schrecken bekommen haben, als er aufkreuzte. Übrigens könntet ihr einmal in Sophienlust vorbeischauen, wenn ihr nach Tirol fahrt. Es liegt am Wege.«

»Aber du lässt außer Acht, dass ich kein Auto besitze, Bob. Wir fahren brav mit dem Zug.«

»Hast du wenigstens einen Führerschein?«, fragte er.

»Den schon, aber damit kann man ja nicht fahren.«

»Natürlich kann man. Morgen wirst du ein Auto haben. Du musst mir nur versprechen, recht vorsichtig zu sein, Katrin.«

»Ich möchte das nicht, Bob. Bitte, verstehe mich richtig.«

Er lachte. »Du bekommst ihn ja nur geliehen. Außerdem werden wir bald heiraten, und dann gehört uns sowieso alles gemeinsam. Was ich dir dann schenke, musst du schon mir überlassen. Du bist sehr süß in diesem gräßlichen Mondlicht.«

»Ich finde den Mond sehr stimmungsvoll.«

»Aber zu hell. Ich könnte mir vorstellen, dass Dan uns vom Fenster aus beobachtet, und es passt mir nicht, wenn man uns beim Küssen zuschaut.«

»Es wird ja wohl ein schattiges Plätzchen geben«, lächelte sie.

Sie fanden es, und Bob kam zu seinem Kuss – nein, zu vielen ausdauernden und zärtlichen Küssen.

*

Mit sichtlicher Überwindung ließ Dan sich am nächsten Vormittag herab, sich von Bob und Katrin zu verabschieden.

»Na, nun sind wir ja die beiden Turteltauben endlich los«, stieß er zwischen den Zähnen hervor, als das Auto ihren Blicken entschwand.

»Leider«, bemerkte seine Großmutter. »Wenn du ein so mürrisches Gesicht machst, bist du keine sehr erfreuliche Gesellschaft, Dan.«

Er wurde verlegen. »Entschuldige, Omi, aber ich finde, dass ein bisschen viel zusammenkommt.«

»Was denn schon? Bob ist schon lange für eine Ehe fällig, und ich finde, dass wir außerordentlich zufrieden mit dieser Schwiegertochter sein können.«

»Sie war eine dufte Lehrerin«, brummte er. »Schloss Heidern wird sie fehlen. Jetzt sind nur noch die alten verbiesterten Pauker da.«

»Berührt dich das? Du brauchst doch nicht mehr hin.«

»Soll ich etwa reumütig heimkehren in den Schoß der Familie?«, fragte er aufsässig. »Ich denke gar nicht daran.«

»Dann kehre doch zu deinen verbiesterten alten Paukern zurück. Aber während der Ferien bitte ich mir ein freundliches Gesicht aus.«

»Du hast dich auch schon auf die feindliche Seite geschlagen«, murrte er.

»Feindlich? Übertreibe doch nicht, Dan! Lerne Marco doch erst mal kennen! Wir waren auch nicht sofort Feuer und Flamme für diese Idee, aber der Kleine ist ein ganz reizendes Kerlchen. Man muss ihn lieb haben.«

»Mit Marc habt ihr euch nicht so angestellt.«

»Du weißt genau, wie es mit Marc war. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, möchte ich meinen, dass Ingrid ihn deshalb so abgöttisch geliebt hat, weil sein Leben so kurz war.«

»Das wusste doch niemand vorher. Komm mir doch bloß nicht mit überirdischen Ahnungen, Omi.«

Sie sah ihn gedankenvoll an. »Manchmal liegt etwas in einem, was man nicht erklären kann. Schau, ist es nicht eine Fügung, dass dieses Kind Marco heißt und dass Bob es finden musste?«

»Es wäre besser gewesen, wenn er nie nach diesem Sophienlust gekommen wäre. Der Kleine spinnt doch. Er bildet sich ein, dass Mutti auf dem Nordpol gelebt hat.«

»Deine Mutter war sehr krank«, entgegnete sie sehr ernst. »Wir mussten das Schlimmste fürchten. Wie wäre dir jetzt zumute, wenn sie in Schwermut versunken wäre? Wir hätten doch alle darunter gelitten.«

»Ich kann eben nicht verstehen, dass Mutti nicht auch an uns gedacht hat«, begehrte er auf. »Das ist doch unnatürlich.«

»Du warst doch auch mehr bei uns als Evi, Dan«, sagte sie eindringlich. »Wir haben für dich viel mehr Zeit geopfert als für Evi. Aber sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, deswegen eifersüchtig auf dich zu sein.«

Seine Lippen pressten sich trotzig aufeinander. »Es war doch nicht so, dass ich Marc nicht gern gehabt habe, Omi«, erwiderte er leise. »Es war schrecklich, als er starb, aber uns hat ja niemand geglaubt, dass es uns wehtat. Vielleicht waren wir sogar schuld, dass es so gekommen ist. Wir haben nicht richtig aufgepasst.« Es klang wie ein Aufschrei.

Annemarie Quirin legte ihre Hand auf seine Schulter. »Es wäre wohl auch geschehen, wenn Mutti dagewesen wäre«, murmelte sie. »Unser Schicksal wird uns in die Wiege gelegt, auch wenn du das als Unsinn abtun möchtest.«

»Lass mir Zeit«, bat er. »So, wie du es sagst, klingt alles anders.« Nach einer langen Pause fügte er noch hinzu: »Ich möchte zu gern wissen, was Evi jetzt denkt.«

*

Evi dachte gar nichts. Sie spielte ausgelassen mit Marco. Das fröhliche Lachen der beiden schallte durch den Garten. Dann erfrischten sie sich im Swimmingpool, und Evi staunte, wie gut Marco schon schwimmen konnte.

»Das mussten wir alle gleich lernen, als Golo mal beinahe ertrunken wäre«, erzählte er.

So nach und nach erfuhr Evi alles über Sophienlust. Sie hatte schon eine recht gute Vorstellung von dessen Bewohnern.

»Du hättest auch ruhig dort sein können«, meinte Marco. »Dann wärest du mit Sascha aufs Gymnasium gegangen und hättest auch soviel gelernt wie in dem Internat. Kannst du auch Latein?«

»Erst ein bisschen. Wir haben mit Englisch angefangen.«

»Ach, deshalb bist du sicher ins Internat gekommen«, stellte er fest. »Auf dem Gymnasium haben sie zuerst Latein. Nick findet das langweilig.«

»Du weißt aber schon viel, Marco«, staunte sie.

Sie setzten sich an den Rand des Schwimmbeckens und ließen die Beine ins Wasser baumeln.

»Meinst du, dass ich gescheit genug bin, dass Dan sich mit mir auch unterhalten kann?«, fragte er. »Hoffentlich geht es ihm gut.«

»Bestimmt«, versicherte Evi. »Mach dir nur keine Sorgen.«

»Ich mache mir aber welche. Und Mutti auch. Merkst du das nicht?«

Evi wusste besser, warum ihre Mutter sich Sorgen machte, und sie bedachte ihren eigensinnigen Bruder mit unliebenswürdigen Gedanken. Aber plötzlich wurde sie abgelenkt.

»Onkel Bob und Schwälbchen«, rief sie freudig aus. Flink eilte sie über den Rasen auf die beiden zu, die Marco zunächst aus gemessener Entfernung betrachtete.

»Na, Marc, wie ist es mit dir?«, erkundigte sich Bob. »Willst du uns nicht guten Tag sagen?«

»Habt ihr Dan nicht mitgebracht?«, fragte er leise. Katrin gefiel ihm schon, aber Dan wäre ihm doch lieber gewesen.

»Wir haben ihn wohlbehalten bei den Großeltern abgeliefert«, antwortete Bob unbefangen.

»Ach so …« Marco wandte sich mit Tränen in den Augen ab.

»Das hättest du nicht sagen sollen, Onkel Bob«, raunte Evi. »Er denkt doch, Dan ist mit Freunden unterwegs. Jetzt macht er sich bestimmt Gedanken.«

Marco saß auf einem Baumstumpf und blickte nicht auf, als Evis Schatten über ihn fiel.

»Dan mag mich nicht«, schluchzte er. »Deshalb ist er nicht heimgekommen. Er hat Benedikt lieber gehabt.«

»Das ist nicht wahr«, entfuhr es Evi unbedacht.

»Hat er kleine Kinder vielleicht überhaupt nicht gern? Aber so klein bin ich doch gar nicht mehr. Ich weiß jetzt auch, warum ich nicht bei euch sein durfte. Es war gar nicht darum, weil Mutti am Nordpol war. Es war, weil Dan mich nicht leiden konnte.«

Evi sah ihn entsetzt an. Was für Gedankengänge er nur hatte! Sie konnte es gar nicht begreifen und wusste nicht, was in einem Kind vorging, das immer nach einer Erklärung suchte, warum es nicht bei seinen Eltern sein konnte, weil es einfach nicht begreifen wollte, dass es keine Eltern hatte.

»Nein, das ist es nicht, Marc. Du darfst so etwas nicht denken.« Hilflos suchte sie nach Worten. »Mutti war doch gar nicht am Nordpol. Sie war krank, und deswegen waren wir alle nicht zu Hause.«

»So lange kann man gar nicht krank sein«, widersprach Marco.

»Doch«, mischte sich Katrin ein, die nun auch näher gekommen war. »Man kann sehr, sehr lange krank sein.«

»Aber warum durfte ich dann nicht bei ihr sein und sie trösten?«, fragte er schluchzend. »Robbys Mutter war auch krank, aber nicht so lange. Und sie ist ganz schnell gesund geworden, als sie Robby wiederhatte.«

*

Bob hielt Ingrid zurück. Beschwörend ergriff er ihre Hände. »Lass ihn jetzt, Ingrid«, sagte er eindringlich. »Du bist erregt. Du machst es nicht besser. Es war blöd von mir, dass ich sagte, dass Dan bei den Eltern ist. Wäre es nicht doch das Beste, ihm die Wahrheit zu sagen?«

»Und ihm alles zu zerstören?«, fragte sie niedergeschlagen. »Er ist so selig gewesen.«

»In einer Scheinwelt.«

»In seiner Traumwelt«, begehrte sie auf. »Man kann sie ihm doch nicht zerstören. Komm, lass uns zu ihm gehen.«

Marco starrte sie mit tränendunklen Augen an. »Bring mich wieder nach Sophienlust, damit Dan heimkommt, Mutti«, bat er.

Ingrid unterdrückte ein gequältes Aufstöhnen. Bob aber sagte mit rauer Stimme: »Dan wird schon heimkommen, wenn es an der Zeit ist. Er ist ein schrecklicher Egoist. Er will die Großeltern mal ganz für sich haben. Werde du später nur nicht auch so eigensinnig, Marc.«

»Ich möchte Mutti nie Kummer bereiten«, flüsterte er.

»Das tust du nicht«, stammelte Ingrid. »Du bist sehr lieb. Du darfst nur nicht böse mit Dan sein.«

Marco schüttelte den Kopf. »Ich bin nur traurig. Ich habe ihn doch lieb.«

»Na, ich werde meinem lieben Bruder aber einen Brief aufsetzen«, sagte Evi später zu Katrin. »Den kann er sich hinter den Spiegel stecken.«

*

»Wir werden uns was einfallen lassen müssen, um deinen störrischen Sohn umzustimmen«, meinte Robert zu seinem Schwager.

»Hoffentlich hast du eine gute Idee«, brummte Henning. »Bei mir hakt es aus. Mir wäre fast die Hand ausgerutscht, so unverschämt war er zu mir.«

»Die hätte dir früher mal ausrutschen sollen, jetzt ist es zu spät«, belehrte ihn sein Schwager. »Na, Evi macht wenigstens vieles gut. Aber jetzt mal zu den Geschäften. Nächste Woche will ich ein paar Tage nach Tirol, damit du dich darauf einstellst.« Er schlug sich an die Stirn. »Das ist überhaupt die Idee. Ich nehme Ingrid und die Kinder mit. Die Eltern kommen mit Dan ebenfalls, und dann gibt es ein großes Familientreffen!«

»Na, wenn das nur gutgeht. Du opferst dich auf für die Familie, anstatt deine Katrin für dich allein zu haben.«

»Ginge ja gar nicht, weil Monika auch dabei ist. Und je mehr versammelt sind, desto eher springen vielleicht für uns ein paar traute Stunden heraus. Du siehst, gar so selbstlos bin ich gar nicht.«

»Dann dürfen wir Ingrid aber nicht sagen, dass Dan auch dort sein wird«, meinte Henning van Droemen gedankenvoll. »Ich weiß wirklich nicht mehr, was richtig ist.«

»Überlass es mir und Katrin. Mit Vater werde ich auch telefonieren.«

*

»Jessas, Katrin, hast du einen tollen Wagen.« Mit diesen Worten wurde Katrin von ihrer Schwester Monika ­begrüßt. »Hast du im Lotto gewonnen?«

»Zuerst einmal, wie geht es dir, Moni?« Aufmerksam betrachtete Katrin das zierliche Mädchen. Ein bisschen durchsichtig sah sie aus.

»Ich bin froh, dass du da bist«, antwortete Monika leise. »Tante Käthe ist ja sehr nett, aber Onkel Benno wird langsam wunderlich. Fahren wir gleich?«

Es schien sie nichts zu halten, und Katrin dachte ein wenig bekümmert, dass es Monika hier doch etwas an Verständnis fehlte.

Nun fuhren sie den Bergen entgegen. Monika deutete Katrins Schweigen falsch.

»Ich wollte mich nicht beklagen«, sagte sie entschuldigend. »Ich weiß ja, dass ich Tante Käthe und Onkel Benno dankbar sein muss.«

»Er erinnert dich wohl oft genug daran?«, fragte Katrin leise.

»Na ja, ich nehme es nicht so tragisch. Er ist eben ein alter Herr, der seine Ruhe haben will.«

»Die wird er in Zukunft haben«, entgegnete Katrin. »Wir können jetzt zusammenbleiben.«

»Willst du mich mit nach Schloss Heidern nehmen? Das ist doch viel zu teuer. Nein, das kann ich nicht zulassen, Katrin. Dann bleibt für dich ja gar nichts mehr übrig.«

»Du siehst doch, ich habe ein tolles Auto«, lächelte Katrin, »und es gibt noch eine Neuigkeit. Ich werde heiraten.«

»Heiraten?« Monikas Gesicht überschattete sich. »Aber dann können wir erst recht nicht zusammenbleiben.«

Katrin widersprach lächelnd. »Ich bekomme einen Mann, der sich mit einer Frau nicht zufrieden gibt. Er hat nichts gegen ihre kleine Schwester einzuwenden. Bob ist ein seltenes Exemplar.«

Monika lehnte sich leicht an sie. »Für dich ist der Allerbeste gerade gut genug.«

»Er wird dir schon gefallen.«

»Ist das sein Auto? Hat er so viel Geld?«, fragte Monika neugierig.

»Ich glaube schon.«

»Hast du es Tante Käthe und Onkel Benno auch schon gesagt?«

»Sie wissen jedenfalls, dass du zu mir ziehen wirst. Zu uns«, verbesserte sie sich.

»Aber er kennt mich doch noch gar nicht. Vielleicht mag er mich nicht. Ich bin nicht jedermanns Geschmack.«

Katrin lachte leise. »Er wird dich mögen und du ihn. Nächste Woche lernst du ihn und seine Familie kennen.«

»Familie hat er auch? War er schon verheiratet?«, erkundigte sich Monika misstrauisch.

»Nein, aber er hat liebe Eltern, eine verheiratete Schwester, eine reizende Nichte und«, sie machte eine kleine Pause, »zwei Neffen.« Ihre Augen richteten sich danach auf die Wegweiser. »Hier müssen wir abbiegen. Wir werden die Fahrt kurz unterbrechen und ein Kinderheim besichtigen. Das heißt, ich möchte dort in Bobs Auftrag einen Besuch machen.«

»Für ein Kinderheim bin ich schon zu groß«, meinte Monika nach einer kurzen Pause. »Ich dachte doch gleich, dass ein Haken dabei ist.«

»Du missverstehst mich, Moni. Das hat nichts mit dir zu tun. Du wirst weder in ein Kinderheim noch in ein Internat kommen. Du bleibst bei uns. Das ist ein Versprechen. Dieses Kinderheim Gut Sophienlust hat eine ganz eigene Geschichte und auch für uns eine besondere Bedeutung. Wie verständig ist eigentlich ein elfjähriges Mädchen?«

Monika lächelte spitzbübisch. »Das müsstest du als Lehrerin doch eigentlich genau wissen.«

»Nun, wir werden nach Sophienlust fahren, und dann werde ich dir alles erzählen. Du sagst mir aber, wie du über Sophienlust denkst, okay?«

»Wenn es wichtig ist für dich, Katrin?«

»Sehr wichtig. Weißt du, wir Erwachsenen verlieren manchmal den Blick für das Wesentliche.«

Es war schon ziemlich spät abends, als sie in einem gemütlichen Gasthof nahe der Grenze ihr Zimmer aufsuchten.

»Weißt du, Katrin«, begann Monika, sich wohlig ins Bett kuschelnd, »ich dachte nie, dass ein Kinderheim so schön sein kann. Frau von Schoenecker ist aber auch sehr nett. Ich wäre gern dort gewesen.«

»Du kannst ja in den Ferien mal hinfahren, wenn du Lust hast. Sie hat es dir doch angeboten.«

»Ja, das würde ich sehr gern. Ich dachte, so was gibt es nur im Film.«

»Nun wollen wir über Marco sprechen – oder bist du zu müde?«

»Jetzt nicht mehr. Was willst du von mir wissen?«

»Ob du Daniel verstehst. Er ist zwar sechs Jahre älter als du und ein Junge, aber …« Sie geriet ins Stocken, weil sie sich jetzt ganz deutlich erinnerte, wie ihr zumute gewesen war, als Monika zur Welt gekommen und ihre Mutter gestorben war.

»Du hast mich auch nicht gemocht, nicht wahr, Katrin?«, meinte Monika. »Onkel Benno hat gesagt, es wäre ein Wunder, dass du für mich sorgtest, da unsere Mutter meinetwegen sterben musste. Für dich war das doch noch viel schlimmer als für mich. Ich wusste es ja nicht. Daniel hat sich bestimmt noch nie vorgestellt, wie es wäre, wenn er keine Mutter mehr hätte und bei fremden Leuten aufwachsen müsste. Ich habe dich doppelt lieb, Katrin, weil du dich so um mich gekümmert hast. Ich könnte Daniel das alles sagen, aber für ihn wird es wohl egal sein, ob man elf oder fünf Jahre alt ist. Große Jungen halten Mädchen doch für blöd.«

»Du bist jedenfalls sehr gescheit«, erklärte Katrin.

»Ach du liebe Güte«, murmelte Monika schlaftrunken. »Ich muss Daniel und Marco erst mal kennenlernen, und lieber wäre es mir auch, wenn Evi ein bisschen jünger wäre. Aber wenn sie in Sophienlust so viel Kinder unter einen Hut bringen, warum sollte uns das nicht auch gelingen?«

Ja, warum sollte uns das nicht auch gelingen, dachte Katrin. Man muss nur Geduld haben.

*

Von dem Vorschlag, ein paar Tage nach Tirol zu fahren, zeigte Daniel sich überraschenderweise sehr angetan. Professor Quirin konnte also seinem Sohn am Telefon berichten, dass Daniel keine Schwierigkeiten mache.

»Im Grunde ist der Junge in Ordnung«, sagte Bob später zu seinem Schwager. »Er hat nicht den Ehrgeiz, vor seinen Freunden mit weiten Reisen zu protzen.«

»Er war schon immer gern in den Bergen«, erwiderte Henning. »Ich denke noch daran, wie ich die erste Tour mit ihm machte. Vier Jahre war er alt. Gekraxelt ist er wie ein Alter. Ich war am Ende ganz erschöpft, und er munterte mich immer wieder auf.«

»Also zurück zur Natur«, schlug Bob vor. »In ihr lösen sich viele Probleme. Meinst du nicht, dass du auch einen Tag abzweigen könntest?«

»Vielleicht rufst du mich an, wie alles läuft.«

»Du Feigling. Na gut, ich bin dein Anwalt, und so bin ich daran gewöhnt, dir die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.«

»Wenn es dir auch diesmal gelingt, wirst du für mich unbezahlbar sein. Hast du schon Nachricht von Katrin?«

»Sie wird mich heute Abend anrufen, sofern die österreichische Bundespost uns wohlgesinnt ist. Das Dorf ist gerade groß genug, unsere vielköpfige Familie zu beherbergen.«

»Eine Möglichkeit, sich aus dem Wege zu gehen, besteht wohl nicht?«

»Hast du eine Ahnung. Jeder Bauernhof ist einen Tagesmarsch vom andern entfernt.«

»Übertreib bitte nicht.«

»Na, wir werden es ja sehen.«

*

Ganz so schlimm, wie es Bob dargestellt hatte, war es nicht. Doch die Bauernhöfe lagen in die waldigen Hänge eingebettet und versteckten sich vor flüchtigen Blicken. Die saftigen Wiesen, auf denen die Kühe weideten, waren weit entfernt.

Für Monika war dies alles nicht neu, aber sie konnte sich jedes Jahr wieder dafür begeistern. Mit dem Schwaighofer-Bauern und seinen dreizehn Kindern war sie ganz vertraut. Der Älteste war neunzehn, der Jüngste fünf. Die Urahnin, die dieser Tage ihren achtzigsten Geburtstag feierte, meinte, die Schwaighoferin sei aus dem Kindbett überhaupt noch nie herausgekommen. Mit den großen Kindern fuhr Monika auf das Feld, mit den kleineren pflückte sie Beeren – wie es ihr gerade behagte.

Katrin genoss die ersten Tage in süßem Nichtstun, aber doch voller Ungeduld. Dass die Quirins eingetroffen waren, erfuhr sie, bevor sie ein Brief erreichte. Sepp Schwaighofer brachte die Nachricht mit, dass sich beim Lederer ein Professor mit seiner Frau einquartiert hätte. Und so ein städtischer Bua wäre auch mit ihnen gekommen.

Monika tauschte einen wissenden Blick mit ihrer großen Schwester und begab sich auf Erkundungsreise. Ihr waren alle Pfade vertraut. Katrin brauchte sich keine Sorgen zu machen. Außerdem war ihr stets mindestens ein Schwaighofer-Sprössling auf den Fersen.

Auch heute gelang es Monika nicht, den Ferdl und die Marilli abzuschütteln.

»Bischt neugierig auf die Stadtleut?«, fragte der Ferdl. »A Professor, dös ist a ganz gescheiter, sagt Vater.«

Monika hielt unablässig Ausschau, aber nichts rührte sich beim Lederer. Enttäuscht kletterte sie mit ihren getreuen Begleitern den Hang hinauf, an dem man die besten Himbeeren finden konnte. Und da trat plötzlich ein schlanker Junge in blauen Jeans und kariertem Hemd aus dem Gebüsch. Monika wusste gleich, dass es Daniel van Droemen sein musste.

»Der Stadtaff«, wisperte Ferdl.

»Hallo, Kinder, geht’s hier zum ­Lederer-Hof?«, erkundigte sich Daniel.

»Hascht dich verlaufen?«, fragte Marilli treuherzig.

»Scheint so«, brummte Daniel.

»Danunter geht’s«, meinte Ferdl.

»Wir können dir den Weg zeigen«, mischte sich Monika schüchtern ein. Vielleicht hätte sie lieber ›Sie‹ sagen sollen? Er sah sie so komisch an.

»Du bist auch nicht von hier?«, fragte Daniel.

»Wir wohnen beim Schwaighofer«, antwortete sie.

Da Monika das Wort ergriffen hatte, fühlten sich Ferdl und Marilli überflüssig.

»Wir pflücken noch Beeren«, verkündeten sie.

»Ich geh’ voraus«, sagte Monika zu Dan. »Hier gibt’s Nattern, aber die tun nichts. Tollkirschen gibt es auch. Man darf sie nicht essen. Sie sind giftig.«

»Da sind welche«, nickte Daniel.

»Ich hätte fast mal eine gegessen, aber zum Glück hat es Katrin noch gesehen.«

Monika biss sich auf die Lippen, weil ihr der Name entschlüpft war, aber Daniel schien ihm keine Bedeutung beizumessen.

»Du warst schon öfter hier?«, fragte er.

»Jedes Jahr. Es ist schön hier, nicht wahr?«

»Sehr schön«, versicherte er. »Man kann stundenlang laufen, ohne einem Menschen zu begegnen.«

»Magst du die Menschen nicht?«

»Ich bin gern allein«, erwiderte er.

»Aber manchmal ist es doch ganz gut, wenn man einen trifft, der den Weg weiß, nicht wahr?«, fragte sie schelmisch.

Daniel lächelte. »Du hast recht, Kleine«, gab er zu.

»Da ist der Lederer-Hof«, sagte Monika und deutete mit der ausgestreckten Hand auf das Dach, das zwischen den Bäumen hervorlugte. »Man kann sich arg verlaufen, wenn man nicht Bescheid weiß. Da drüben gibt es Blaubeeren. Magst du sie? Ich zeige dir den Platz.«

»Wir haben mittags welche zum Nachtisch bekommen.«

»Mit Zucker oder Milch?«

»Mit Zucker«, erwiderte er.

»So mag ich sie am liebsten«, gestand Monika.

»Ich auch.«

Ihre Augen lachten ihn an. Sie mochte ihn. Er war gar nicht eingebildet, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er unfreundlich sein konnte.

»Ich heiße Monika«, sagte sie.

»Und ich Daniel.«

»Kommst du mal rüber zum Schwaiger-Hof?«, erkundigte sie sich.

»Ich weiß noch nicht, wie lange wir bleiben.«

Beinahe hätte sie sich nun doch verraten. Es gefiel ihr auch gar nicht, dass sie sozusagen schwindelte. Und sie hoffte, dass er ihr deswegen nicht böse sein würde.

*

»Ich habe Daniel getroffen, Katrin«, berichtete Monika.

»Weiß er schon Bescheid?«

»Ich habe nichts gesagt, aber recht ist es mir nicht. Er ist nett.« Monika seufzte tief. »Er ist gar nicht eingebildet, aber er ist gern allein. Vielleicht wird er es uns übelnehmen, dass wir hier sind.«

»Wie kommst du darauf?«

»Es ist doch so abgelegen. Man kommt nicht zufällig her. Wenn er nun erst recht böse ist?«

Wenn doch Bob schon da wäre, dachte Katrin hilflos.

»So erwachsen ist er gar nicht«, fuhr Monika in ihren Betrachtungen fort. »Er war nicht böse, dass ich du zu ihm gesagt habe.«

»Er ist doch noch ein Junge«, erklärte Katrin.

»In der Schule werden sie aber schon mit Sie angeredet«, meinte die Kleine.

»Du hast recht, Moni.«

»Wenn man jedes Jahr ein Kind kriegt, wie Frau Schwaighofer, dann fällt es den größeren gar nicht mehr auf«, sinnierte Monika weiter. »Aber wenn man schon siebzehn ist, und dann noch einen Bruder kriegt, kommt es einem bestimmt komisch vor, meinst du nicht?«

»Du magst Daniel also«, stellte Katrin fest.

Monika nickte. »Hoffentlich mag er mich auch, wenn er alles weiß«, seufzte sie schwer.

*

»Wie seid ihr eigentlich auf die Idee gekommen, hierher zu fahren, Omi?«, fragte Daniel seine Großmutter.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte sie zurück.

»Doch. Aber in Prospekten findet man so etwas nicht.«

»Katrin hat uns einen Hinweis gegeben. Sie fährt jedes Jahr hierher.«

»Katrin«, wiederholte er gedehnt. »Onkel Bobs Zukünftige, das Schwälbchen!« Das klang schon aggressiver. »Wie alt ist sie eigentlich? Ich dachte immer, höchstens fünfundzwanzig.«

»Ein Jahr mehr.«

»Dann kann sie doch kaum ein so großes Kind haben«, meinte er mehr zu sich selbst.

»Wie kommst du darauf?«, fragte seine Großmutter.

»Ist dir der Name Monika bekannt?«, stieß er hervor.

»Katrins Schwester. Hast du sie getroffen?«

Er kniff die Augen zusammen. »Ihr wusstet also, dass sie hier sind?«

»Ist das so schlimm, Dan?«

Zu ihrer Verwunderung reagierte er diesmal nicht aggressiv. »Ihr hättet es mir ja sagen können.«

»Zur Zeit weiß man gar nicht, wie man bei dir ankommt«, rügte sie. »Aber mir scheint, dass du dich hier ganz wohl fühlst.«

»Ja«, gab er unumwunden zu.

»Dann hast du nichts dagegen, wenn wir uns mit Katrin treffen?«

Er lachte plötzlich. »Schwälbchen wird meine Tante, das ist zu komisch. Die Kleine ist übrigens ein nettes Mädchen.«

Annemarie Quirin war mehr als überrascht, aber sie zeigte es nicht. Vielleicht war es Daniel gar nicht bewusst geworden, dass er sich anerkennend über Monika geäußert hatte. Dabei war es schon ungewöhnlich, dass ein Siebzehnjähriger einer Elfjährigen überhaupt Beachtung schenkte.

»Na, dann machen wir eben in Familie«, brummte Dan. »Oder kommen noch mehr?«, fügte er lauernd hinzu.

»Sind schon da«, ertönte Bobs Stimme hinter ihm. »Guten Tag, meine Lieben.«

»Dachte ich mir’s doch«, knurrte Daniel gereizt. »So fängt man Dumme.« Erbittert ballte er die Hände, steckte sie in die Taschen und schlenderte davon.

»Ein bisschen zu früh«, meinte Annemarie Quirin nachsichtig.

»Aber es war doch so verabredet«, entgegnete Bob leicht gekränkt. »Na, vielleicht geht doch alles besser, als wir denken.«

*

Es war ein Glück, dass die Schwaighofers noch zwei Gästezimmer angebaut hatten, die gerade fertig geworden waren, als Ingrid und die Kinder kamen. Für Bob war ein Zimmer auf dem Lederer-Hof reserviert worden. Dem einen wie dem anderen Bauern war es recht, dass er noch ein paar gut zahlende Sommergäste bekam, denen es auf ein paar Euro mehr oder weniger nicht ankam. So viel ›feine‹ Gäste hatte es hier noch nie gegeben, und die zahlreichen Schwaighofer-Kinder bemühten sich, recht sittsam zu sein.

Marco bestaunte die große Zahl. Er meinte, sich in einem Kinderheim zu befinden. Langsam begann er zu zählen, aber er wurde nie fertig, weil immer eines davonlief oder ein anderes hinzukam. Bis ihm Monika lachend erklärte, dass es dreizehn wären, nicht mehr und nicht weniger, und dass wirklich alle Geschwister wären.

Mit Monika freundete sich Marco ebenso rasch an wie mit Evi. Mit dem Landleben war er von Sophienlust her vertraut, aber er stellte doch fest, dass es zwischen hier und dort große Unterschiede gab. Das war eben ein richtiger Bauernhof, und die Ackergäule waren hier viel gewaltiger als die in Sophienlust. Den Dialekt der Kinder verstand er zwar nur bruchstückweise, aber Monika wusste gut Bescheid und konnte ihm alles zeigen.

Ingrid ruhte sich in der Gesellschaft von Katrin in einem Liegestuhl auf dem breiten Balkon aus.

»Dürfen wir noch in die Himbeeren gehen, Katrin?«, bat Monika. »Wir bringen euch auch die schönsten mit.« Sie lächelte auf Ingrid hinab. »Marc darf doch mit?«, fragte sie.

»Passt aber gut auf ihn auf. Ist der Weg auch nicht gefährlich?«

»Ach wo«, meinte Monika. »Ich weiß doch Bescheid.«

Heute hielten sich die Schwaighofer-Kinder zurück. Sie waren auch ein bisschen beleidigt, weil Moni nun andere Gesellschaft hatte.

Monika schlug den kürzesten Weg ein. Ihr folgte Marco, und den Schluss bildete Evi.

Schnell waren sie bei den dichten Himbeerbüschen angelangt. Marco konnte nur staunen, wie groß, rot und süß die Früchte waren.

»Heuer sind sie besonders gut«, behauptete Monika. »Extra für euch.«

»Ich mag sie gern«, erwiderte Marco. »In Sophienlust gab es auch welche, aber lange nicht so viele.«

»Woher weißt du das?«, wunderte er sich.

»Wir haben es uns angeschaut, Katrin und ich.«

»Warum? Willst du auch hin?«, fragte Marco.

»Vielleicht mal in den Ferien.«

Marco schob schnell noch einige Beeren in den Mund. Dann fragte er: »Hast du mit allen Kindern gesprochen? Mit Nick und Sascha und Andrea?«

»Mit allen«, nickte sie. »Sie sind mächtig nett und Frau von Schoenecker auch.«

»Alle sind nett«, gab Marco zu, »aber ich bin doch froh, dass ich bei Mutti sein kann.«

Es raschelte im Gebüsch. »Wenn es eine Natter ist, erschreckt euch nicht«, beruhigte Monika. »Sie tun nichts.«

Es raschelte wieder im Gebüsch, aber es war weder eine Natter, noch ein anderes Tier. Es war Dan!

Er hatte sie schon eine ganze Weile belauscht und überlegt, ob er sich lieber verstecken sollte. Aber dann hatte sein Trotz gesiegt. Nun waren sie da, und er hatte gar keinen Grund, ihnen aus dem Weg zu gehen. Er würde ihnen schon zeigen, dass er ihnen überlegen war.

»Dan«, rief Evi freudig, aber als sie auf ihn zueilen wollte, winkte er ab und betrachtete Marco aus zusammengekniffenen Augen.

»Das ist Dan«, sagte Evi mit einem missglückten Lächeln.

Marco nickte. »Ich habe ihn gleich erkannt. Will er nicht, dass wir uns guten Tag sagen?«

»Begrüßungsszenen können wir uns sparen«, brummte Dan. »Aber es wird sich ja nicht vermeiden lassen, dass wir uns treffen. Die alten Herrschaften haben das ja wohl so arrangiert. Wenn ihr nichts dagegen habt, gehe ich jetzt mal zu Mutti«, erklärte er mit aufreizender Überheblichkeit.

Monika warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, den er aber geflissentlich übersah.

»Zeigst du mir den Weg«, wandte er sich an sie.

»Evi und Marco wissen hier auch nicht Bescheid«, versuchte sie sich diplomatisch aus der Affäre zu ziehen.

»Sie können ja zum Lederer-Hof gehen. Oma und Opa werden sie mit offenen Armen empfangen.«

Evi überlegte einen Augenblick. »Vielleicht zeigst du erst uns den Weg zum Lederer-Hof und dann Dan den zum Schwaig-Hof«, schlug sie geistesgegenwärtig vor.

Marco ließ Dan nicht aus den Augen. Man konnte seinem Mienenspiel entnehmen, von welchen widersprüchlichen Empfindungen er bewegt wurde und wie bekümmert er war. Evi nahm seine kleine klebrige Hand ganz fest.

»Mach dir nichts draus«, raunte sie ihm zu.

Dan sagte nichts. Er ging hinter ihnen her. Als Monika einmal stolperte, hielt er sie fest.

»Pass auf, dass du nicht auf die Nase fällst«, brummte er.

»Pass du nur auf«, gab sie schnippisch zurück.

An der Straße trennten sie sich. Evi und Marco sahen den Lederer-Hof vor sich liegen.

»Darf ich nachher auch rüberkommen?«, fragte Monika.

»Na klar«, erwiderte Evi. »Pass nur auf, dass Dan sich nicht verläuft«, fügte sie spöttisch hinzu. Sie hatte eine Mordswut, die sich irgendwie Luft verschaffen musste.

Mit gesenktem Kopf ging Marco neben ihr her. »Nicht mal die Hand hat er mir gegeben«, beklagte er sich.

»Er denkt, er kann uns ärgern. Aber wir lassen uns nicht ärgern, nicht wahr, Marc?«

»Ich bin aber traurig«, flüsterte er, und ein paar Tränen kullerten über seine schmutzigen Wangen.

»Er hat seinen Verstand in Schloss Heidern gelassen«, sagte Evi, um ihn zu trösten. »Aber da ist Omi. Komm, Marc, wir laufen ganz schnell.«

Auch Monika war mit Dans Benehmen nicht einverstanden, aber sie wusste nicht recht, wie sie ihm das zu verstehen geben sollte, ohne ihn vollends zu kränken.

»Warum bist du eigentlich so?«, fragte sie zögernd.

»Wie bin ich denn?«, fragte er aggressiv zurück.

»Unfreundlich. Es sind doch deine Geschwister.«

»So siehst du es«, knurrte er.

Monika holte tief Luft und machte sich Mut.

»Ich weiß, wie alles gekommen ist«, sagte sie leise.

Er pfiff durch die Zähne. »Schwälbchen ist eine Klatschbase?«

Das war Monika zu viel. Ihre Augen schleuderten Blitze. »Wie du zu deinen Geschwistern bist, das kann ich nicht ändern«, fauchte sie wütend, »aber Katrin lasse ich nicht beleidigen. Wir verstehen uns nämlich prima und haben keine Geheimnisse voreinander. Solche Dinge muss man wissen, wenn man eine Familie wird. Ich bin zwar viel jünger als du und nur ein Mädchen, aber manches verstehe ich vielleicht doch besser.«

»Du Dreikäsehoch«, spöttelte er.

»Da ist der Schwaighof«, erwiderte sie zornig. »Geh doch allein, du – du – gräßlicher Bengel.« Sie ließ ihn stehen und rannte zurück.

Dan schaute ihr einigermaßen verblüfft nach. Gräßlicher Bengel hatte sie ihn genannt, und er hatte gesagt, dass sie ein nettes Mädchen sei. Das bereute er tief, aber nur für einen Augenblick, denn er musste zugeben, dass sie gute Gründe zu dieser Feststellung gehabt hatte.

Nun stand er zwischen dem Schwaigerhof und dem Lederer-Hof und ­wusste nicht, wohin er gehen sollte. Dort drüben war seine Mutter, auf der ­anderen Seite waren seine Großeltern, bei denen jetzt Evi und Marc waren.

»Marc«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Als ob er auferstanden wäre.«

Aber dann war es ihm, als hörte er die jammernde Stimme des verstorbenen kleinen Bruders: »Es tut sehr weh, Dan, aber sag nichts der Mami, sonst regt sie sich auf!«

Sie hatten den Arzt gerufen, aber es war zu spät gewesen. Und es verfolgten ihn die anklagenden Worte seiner Mutter.

Dan presste die Lippen aufeinander, aber dennoch löste sich ein Stöhnen aus seiner Brust. Wenn Marc gesund wird, hatte er in diesen schrecklichen, grausamen Stunden immer gedacht, wenn er gesund wird, werde ich auf ihn achten und mit ihm spielen, und Mutti soll ihn so lieb haben, wie sie will.

Aber Marc war nicht mehr gesund geworden. Und nun sollte er zu diesem fremden Jungen so sein, als wäre er sein Bruder? Das konnte man von ihm einfach nicht verlangen. Bei Evi war das etwas anderes. Sie war ein Mädchen und hatte kleine Kinder immer gern gehabt.

Dan war beim Schwaighof angelangt. Ganz mechanisch hatte er seine Schritte dorthin gelenkt. Kinder in allen Größen und jeden Alters bemerkte er. Sie schleppten Milchkannen, luden Heu ab, lachten und kreischten durcheinander, und eine dröhnende Männerstimme mahnte sie zur Ruhe.

Ein großer Junge kam auf ihn zu. »Was willst du?«, fragte er. »Mir san belegt.«

»Ich will zu meiner Mutter«, brachte Dan mühsam über die Lippen. »Zur Frau van Droemen.«

»Pfüet di Gott, an Buam haben sie auch noch«, meinte der Junge. »Ich bin der Sepp, grüß di.« Danach fuhr er, sich erinnernd, dass man ihn zum Respekt ermahnt hatte, rasch fort: »Die gnä Frau san droben am Balkon.«

Ingrid hatte wohl schon Dans Stimme erkannt, denn sie erschien an der Brüstung und rief: »Dan – Dan, mein Junge!«

»Leit san das«, brummte Sepp. »Die tun fei grad, als hätten’s sich schon ewig nimmer geseh’n.« Aber das hörte Dan nicht mehr. Er eilte ins Haus, die Treppe empor.

Katrin hatte sich taktvoll zurückgezogen. Sie wollte das Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn nicht stören. Sie ging hinaus und atmete tief die würzige Luft ein.

Im Laufschritt kam Bob daher. »Ist er hier?«, fragte er außer Atem.

»Wenn du Dan meinst, ja«, nickte Katrin. »Warum regst du dich so auf?«

»Weil die Kinder rübergekommen sind. Sie sagen nichts, aber Marco hat geweint.«

»Misch dich nicht ein, Robert«, warnte sie. »Eins ist doch gewiss: Dan hatte Sehnsucht nach seiner Mutter, und vielleicht wird dadurch manches Problem gelöst. Ist Moni auch drüben?«

»Sie kam später und sagte, sie hätte Dan den Weg zum Schwaighof gezeigt. Da bin ich natürlich gleich losgerannt.«

»Natürlich«, lächelte Katrin. »Dramatisiere nichts, Bob! Warte ab! Komm, wir gehen ein Stück, sofern du noch schnaufen kannst.«

*

»Es ist schön, dass du da bist, Dan. Wir haben so lange nicht miteinander gesprochen«, sagte Ingrid van Droemen leise. »Schmal bist du geworden.«

»Gewachsen bin ich halt«, erwiderte er rau. Er war bereits mehr als einen halben Kopf größer als sie.

»Du wirst Vati bald einholen«, fuhr sie fort.

»Das hab’ ich schon. Wie geht es dir, Mutti?«

»Besser, Dan. Ich freue mich sehr, dass du gleich gekommen bist.«

Er starrte verlegen zu Boden. »Ich habe die Kinder getroffen«, flüsterte er. »Evi, Monika und … den Jungen«, fügte er widerwillig hinzu.

Ingrids Hände verschlangen sich ineinander. »Ich erwarte nicht, dass du ihn mit offenen Armen aufnimmst, aber er ist noch so klein, und er hat seine Geschwister lieb«, entgegnete sie leise. »Es wird dich sicher große Überwindung kosten, aber wenn ich dich bitte, Dan, herzlich bitte, würdest du es ihn dann nicht spüren lassen, dass er nicht … Ach, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Er ist ein so lieber kleiner Kerl und er hat mir sehr geholfen. Ich weiß jetzt auch, dass ich euch gegenüber ungerecht war. Das tut mir leid.«

Sie hielt seine Hände fest und suchte seinen Blick. Alles Blut war aus Daniels Gesicht gewichen. Er spürte, wie seine Mutter nach Worten rang, wie sie auf seine Hilfe wartete.

»Lass mir Zeit, Mutti!«, bat er verstört.

Sie senkte den Kopf. »Wenn ich … nur hoffen darf«, flüsterte sie. »Du müsstest ihn hören. Er will lieber nach Sophienlust zurück, als schuld daran sein, dass du nicht heimkommst. Er fühlt, dass etwas anders ist, als es sein sollte. Er kann es nur nicht erklären. Und ich will nicht, dass seine Welt, diese für ihn so wunderbare Welt, wieder zerstört wird, Dan. Ich werde euch deswegen nicht weniger lieben, im Gegenteil. Durch Marco ist mir erst richtig bewusst geworden, was ich an euch versäumt habe. Er will, dass ich alle gleich lieb habe. Er ist so stolz auf seine großen Geschwister. Aber ich rede wohl zu viel. Wenn du nur wenigstens fühlst, was ich dir sagen will, dann …« Ihre Stimme erstickte in einem leisen Schluchzen.

»Du sollst nicht traurig sein, Mutti«, sagte Dan leise. »Ich will nicht schuld daran sein, dass du wieder krank wirst. Ich werde mir Mühe geben, alles zu verstehen.«

*

»Hoffentlich zertrampelt der Bengel nicht alles, was wir so mühsam aufgebaut haben«, seufzte Bob. »Bei ihm muss man ja auf alles gefasst sein. Aber ich sage dir, diesmal kriegt er es mit mir zu tun.«

»Nicht aufregen, Liebster«, begütigte ihn Katrin. »Nicht das Kind mit dem Bade ausschütten! Man kann doch von ihm nicht erwarten, dass er mit fliegenden Fahnen überläuft und kapituliert.«

»Warum denn nicht? Ich war auch ein eingefleischter Junggeselle und bin mit fliegenden Fahnen übergelaufen. Er ist ein halber van Droemen und ein halber Quirin.«

»Vielleicht ist es ein bisschen ungleichmäßig verteilt«, urteilte sie. »Wenn er etwas von deinem Gemüt hat, brauchen wir die Hoffnung nicht aufzugeben. Wie gefällt dir Moni?«

»Ich hatte ja noch kaum Zeit, richtig mit ihr vertraut zu werden. Außerdem habe ich einen Mordshunger, und auf dem Lederer-Hof gibt es einen fantastischen Käsekuchen.«

»Dann gehen wir eben«, lächelte sie.

»Und lassen Ingrid und Dan allein?«

»Das wird ihnen vielleicht ganz guttun. Die Jause auf dem Schwaighof ist auch nicht übel.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben«, entgegnete er.

»Hab ihn, Bob. Wir wollen doch ein paar frohe Tage verbringen. Warum machen sich die Menschen eigentlich das Leben so schwer? Es geschieht so viel Unvorhergesehenes, und dann hat man vielleicht etwas getan, was nicht mehr gutzumachen ist. Wir werden uns nie streiten, versprichst du mir das?«

»Kann man mit dir überhaupt streiten?«

»Ich weiß nicht. Viel Charakter habe ich bisher nie bewiesen, wenn es um harte Auseinandersetzungen ging. Ich bin immer den Weg des geringsten Widerstandes gegangen.«

»Du hast sehr viel Charakter«, protestierte er. »In meinem Beruf lernt man das Streiten hassen, weil man zwangsweise streiten muss. Aber um was wird da alles gestritten. Du lieber Himmel, ich möchte eine friedliche Familie um mich haben.«

»Ich werde mir Mühe geben.«

*

Omis tröstende Worte hatten Marco beruhigt.

Nun war auch Monika gekommen, und sie setzten sich an den einladend gedeckten Kaffeetisch. Den Professor mussten sie allerdings ein paar Mal rufen, denn er unterhielt sich angeregt mit dem Lederer-Bauer, dessen Familie schon seit Jahrhunderten hier ansässig war. Das war etwas für den unermüdlichen Wissenschaftler.

»Es ist höchst interessant«, berichtete er. »Wir können Katrin gar nicht dankbar genug sein, dass sie uns hierher gebracht hat. Eine Kultur haben diese Leute … Es ist einfach erstaunlich, da sie so fern der Zivilisation sind. Hast du schon diese herrlichen Möbel gesehen, Annemarie? Am liebsten würde ich den ganzen Hof aufkaufen.«

»Wir haben ein paar nette liebe Kinderchen am Tisch, möchtest du dich nicht lieber mal ihnen widmen als den herrlichen alten Möbeln? Moni hast du noch gar nicht guten Tag gesagt.«

»Entschuldige, Kindchen«, erwiderte er. »Ganz die große Schwester ist sie. Na, wie gefällt dir denn dein Opa?«

»Du bist doch nicht ihr Opa«, kicherte Evi. »Du bringst schon alles durcheinander, zerstreuter Professor.«

»So reden diese Naseweise mit einem in Ehren ergrauten Mann«, seufzte er humorvoll.

Marco riss die Augen auf. »Reden sie immer so mit dir, Opa?«

»Natürlich! Respekt haben sie halt keinen.«

»Ich habe aber Respekt«, erwiderte er.

»Na, dann lass ihn lieber. Du kannst auch so mit mir reden, Marco.«

»Du machst vielleicht Späße. Da kann ich ja gleich wieder lachen«, sagte Marco.

Sofort wurde der Professor aufmerksam. Prüfend sah er den Jungen an.

»Gab es einen Grund, dass du nicht mehr lachen konntest?«, fragte er. »Wo steckt denn Dan, dieser Bengel? Hat er etwas angestellt? Dann werde ich ihm aber die Leviten lesen.«

»Sind Leviten schlimm, Opa?«, erkundigte sich Marco. »Dann will ich aber nicht, dass du sie Dan liest.«

»Dan ist zum Schwaighof gegangen«, mischte sich Monika ein, während sich Evi lieber der Stimme enthielt. Sie kannte ihren Großvater. Er konnte unter gewissen Voraussetzungen ganz schön jähzornig werden.

»Dan hat gar nichts gemacht«, verteidigte Marco den fernen Bruder, dessentwegen er so traurig war.

»Wenn er gar nichts gemacht hat, kann ich mir seine Miene schon vorstellen«, brummte Professor Quirin. »Kinderchen, greift zu. Es ist ein herrlicher Käsekuchen. Wozu sollen wir uns die Stimmung verderben lassen. Wir werden länger bleiben, Annemarie. Ich habe mit dem Lederer schon gesprochen. Bis ich die Möbel und die alten Schriften begutachtet habe, vergeht eine lange Zeit.«

»Hauptsache ist, du bist beschäftigt«, erklärte seine Frau. »Wenn du aber denkst, dass du dem Lederer etwas abluchsen kannst, hast du dich getäuscht, Opa«, meinte Monika. »Von dem kriegt keiner was.«

»Was verstehst denn du davon, du Naseweis«, schmunzelte er.

»Katrin hätte so schrecklich gern die alte Truhe gehabt, die im Flur steht. Was hat sie schon auf ihn eingeredet, aber nichts da.«

»Die Truhe«, brummte er. »Ein prächtiges Stück. Er weiß wahrscheinlich genau, was sie wert ist.«

»Dumm sind die hier alle nicht. Du glaubst gar nicht, was für schöne Sachen die haben«, erwiderte Monika. »Aber sie haben alle Dickschädel.«

»Na, dann passt unser Opa ja großartig in diese Umgebung«, lächelte Annemarie Quirin. »Da kommen Bob und Katrin. Ist für sie noch Kuchen da?«

»Und wo ist Mutti?«, fragte Marco leise.

*

Monika fand Bob prima, und dass er so liebe Eltern hatte, fand sie himmlisch. Ganz lustig war es bei der Kaffeetafel zugegangen, nur Marco hatte keinen Piepser von sich gegeben.

Um sich Appetit für das Abendessen zu holen, nach dem es im ganzen Haus köstlich duftete, beschlossen sie, noch einen gemeinsamen Spaziergang zu machen.

Als Dan kam, war das Haus leer. Da Frau Lederer in der Küche wirtschaftete, schlich er sich unbemerkt in sein Zimmer. Er wollte jetzt auch allein sein. Das lange Gespräch mit seiner Mutter beschäftigte ihn nachhaltig. Manches sah er ein, anderes wollte er einfach noch nicht wahrhaben.

Von irgendwoher kam ein Jodeln. Das Echo wurde von den Bergen zurückgeworfen. Er wusste, dass es Evi war. Sie macht es sich wirklich leicht, dachte er grimmig. Sie nimmt einfach alles hin.

Aber nach längerem Überlegen wurde ihm doch bewusst, dass Evi erst zehn Jahre alt gewesen war, als Marc zur Welt gekommen war, während er immerhin schon zwölf gewesen war. Sie hatte sich gefreut, er nicht. Er hatte sogar Angst gehabt, dass man ihn in der Schule wegen des kleinen Bruders necken könnte. Aber das war gar nicht der Fall gewesen. Andere hatten auch noch kleine Geschwister bekommen.

Die Schwaighofers haben dreizehn Kinder, ging es ihm durch den Sinn. Dreizehn! Mehr als eine Fußballmannschaft …

Und wie der große bärenstarke Sepp mit seiner kleinen Schwester Vroni Verstecken gespielt hatte! Fassungslos hatte Dan beobachtet, wie sie sich mit ihrem Huhu gegenseitig lockten und neckten.

Dann dröhnten ihm wieder Monikas Worte in den Ohren: »Du gräßlicher Bengel!«

Das hätte mal ein Mädchen im Internat zu ihm sagen sollen! Aber die waren ihm ja schon nachgestiegen, obgleich er gar nichts mit ihnen hatte zu tun haben wollen. Monika dagegen war ein elfjähriges Gör. Ja, ein richtiges Gör, mit dem sich ein so erwachsener Junge gar nicht beschäftigen sollte.

Aber dumm war sie nicht. Sie sah Schwälbchen ziemlich ähnlich, und später würde sie bestimmt mal ebenso hübsch werden. Wenn Bob und Katrin heiraten, sollen sie bloß nicht auf den Gedanken kommen, Marco Blumen streuen zu lassen, ging es ihm durch den Sinn.

»Warum musstest du auch sterben, Marc«, sagte er vor sich hin. »Warum konnte für dich nicht so ein Junge sterben, der keine Eltern mehr besaß?«

Dan wusste nicht, woher es kam, aber plötzlich schämte er sich fürchterlich.

*

Marco legte seine Arme um Ingrids Hals, als sie sich zum Gutenachtkuss zu ihm herabbeugte.

»Wenn du lieber mit Dan allein sein willst, Mutti«, flüsterte er, »oder er mit dir, vielleicht sollte ich dann doch lieber in den Ferien nach Sophienlust gehen. Vielleicht kommt Moni auch mit. Ihr hat es dort gut gefallen.«

»Wir bleiben hier, Marc«, sagte Ingrid mit erstickter Stimme. »Lass Dan ein bisschen Zeit. Er wird sich schon daran gewöhnen, einen kleinen Bruder zu haben.«

»War er früher nicht auch daran gewöhnt? Er wusste doch, dass ich da bin?«, wisperte er ängstlich.

»Er hatte sich eigentlich nie daran gewöhnt, Marc«, erwiderte Ingrid.

»Evi und Moni sind sehr lieb mit mir, und heute Nachmittag mit Oma und Opa war es richtig lustig. Opa hat immer an die alten Möbel gedacht, und Evi hat zerstreuter Professor zu ihm gesagt. Er war gar nicht böse. Er hat immer Witze gemacht, und Onkel Bob hat mich auf die Schultern genommen. Schade, dass Vati nicht da sein kann. Er fehlt uns schon sehr, nicht wahr?«

Ihr wurde es erst jetzt richtig bewusst, dass er ihr fehlte. Und welche unendliche Geduld hatte er mit ihr gehabt!

»Schlaf jetzt, mein Liebling«, sagte sie zärtlich.

»Telefonierst du noch mit Vati? Dann sag ihm ganz liebe Grüße von mir.«

Seine weichen Lippen streichelten ihre Wangen. Als sie sacht die Fensterläden zuzog, atmete er schon ganz tief und ruhig. Auf Zehenspitzen ging sie aus dem Zimmer.

*

»Die Truhe werde ich dem Lederer schon noch abluchsen«, sagte Professor Quirin zu seiner Frau. »Die bekommen Bob und Katrin dann zur Hochzeit. Da werden sie Augen machen.«

»Hast du keine anderen Sorgen?«, fragte sie unwillig.

»Meinst du, weil Dan nicht zum Essen erschienen ist? Lass ihn doch. Es tut ihm gut, wenn ihm der Magen knurrt. Das übertönt vielleicht die Stimme des Gewissens.«

»Jetzt bist du ganz närrisch mit dem Kleinen und vergisst darüber die beiden Großen«, ereiferte sie sich. »Ich mache mir Sorgen um Dan. Wenn er sich nun etwas antut?«

»Bist du noch bei Verstand? Himmel Herrgott noch mal, redet euch doch nicht solchen Unsinn ein. Für ihn ist es eine Machtprobe. Komisch, dass sogar Kleinigkeiten vererblich sind. Wenn du früher mal mit mir geschmollt hast, habe ich auch nie was gegessen, und dann warst du gleich ganz klein. Dann bist du um mich herumscharwenzelt.« Er lachte vergnügt.

»Das reut mich heute noch, nachdem ich sehe, wie du dir jetzt die Hände reibst«, entgegnete sie wütend.

»Mich nicht. Ich bekam immer etwas ganz besonders Gutes«, schmunzelte er.

»Und ich habe fast vierzig Jahre gebraucht, um hinter diesen Trick zu kommen«, seufzte sie. »Schandbar! Aber jetzt weiß ich Bescheid.«

»Jetzt sind wir über solche Kindereien ja wohl hinaus. Ich hoffe, Dan wird eines Tages auch erwachsen werden.«

»Aber er muss einen wahnsinnigen Hunger haben«, meinte sie mitleidig.

»Bevor du eine schlaflose Nacht verbringst, frag ihn doch«, brummte er.

*

Das Zimmer war dunkel. Nur das Viereck des offenen Fensters zeichnete sich gegen den sternklaren Nachthimmel ab. Kein Atemzug war zu hören, aber dann vernahm Annemarie Quirin ein recht deutliches Magenknurren.

»Du musst doch Hunger haben, Dan«, sagte sie, ihre erste Angst schnell überwindend.

»Nein.« Wieder strafte das Knurren seines Magens seine Worte Lügen.

»Man kann es sogar hören«, erklärte Annemarie Quirin mit einem Lächeln. »Ich werde dir etwas bringen.«

»Bemüh dich nicht«, bockte er. »Ich bin doch völlig nebensächlich.«

»Du bist ein Dummkopf, sonst nichts.« Annemarie Quirin verschwand und kam bald mit einem reichlich gefüllten Tablett zurück. Dem Anblick und den Düften konnte der Junge doch nicht widerstehen. Mit Heißhunger machte er sich über das Essen her. Zum Reden kamen sie dadurch vorläufig nicht. Wenigstens er nicht, während Annemarie Quirin diese Gelegenheit nutzte, ein paar geschickte Bemerkungen anzubringen.

»Mit siebzehn ist man doch eigentlich schon ziemlich erwachsen«, erklärte sie leichthin. »Viele Jungen deines Alters sind schon im Beruf und müssen fleißig mitverdienen.«

»Ich kann ja auch von der Penne abgehen und als Stift bei Vati anfangen«, erwiderte er kauend und deshalb sehr undeutlich.

»Verschluck dich nicht!«, warnte sie. »Mit so vollem Mund würde ich kein Wort herausbringen.«

»Darauf spekulierst du wohl, Omi?«, parierte er. »Alles Übungssache. Probier es doch mal!«

»Sei nicht so frech! Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte.«

»Wahrscheinlich wolltest du an meinen Edelmut appellieren und mir klarmachen, dass ich dereinst Vatis Nachfolger werde. Ein Zuckerl für den ungeratenen Sohn. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich mal sein Nachfolger werde, niemand anders.«

»Es hat noch ein paar Jährchen Zeit. Dein Vater ist gut in Form. So schnell wird er sich das Heft nicht aus den Händen nehmen lassen. Und wenn du einmal Menschen führen willst, musst du noch eine ganze Menge lernen, mein lieber Dan. Vor allem Selbstzucht.«

»Kadavergehorsam?«, fragte er aufsässig.

»Die deutsche Sprache hat dir schon immer ein bisschen zu schaffen gemacht«, lächelte sie. »Wenn ich Selbstzucht sage, meine ich auch Selbstzucht. Vor allem darf man sich selbst nicht allzu wichtig nehmen.«

Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Das Essen war prima. Vielen Dank, Omi! Hast du mit deinen Kindern eigentlich nie Sorgen gehabt?«

»Man vergisst es, wenn sie am Ende wohlgeraten. Mit deiner Mutter haben wir jedenfalls noch vor nicht allzulanger Zeit große Sorgen gehabt. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber Kinder bleiben für Eltern immer Kinder.«

»Die Schwaighofers haben dreizehn!« Damit konnte er noch immer nicht fertig werden.

»Und bestimmt möchten sie nicht eines missen.«

»Ich würde durchdrehen.«

»Du wärst das typische Einzelkind, mein Lieber. Wenn sich alles um dich drehen würde, wäre eitel Sonnenschein. Nun aber gute Nacht.«

»Omi!« Sein Ruf erreichte sie an der Tür.

»Dan?«, fragte sie zurück.

»Bleib lange gesund«, sagte er leise.

»Das liegt in Gottes Hand, mein Junge. Denk’ immer daran!«

*

Monika tat es schon lange leid, dass sie Dan einen gräßlichen Bengel genannt hatte. Vielleicht wollte er gar nicht so sein. Manchmal sagte man Dinge, von denen man gar nicht überzeugt war. Ihr war das doch auch schon so gegangen. Man ärgerte sich über etwas und fraß es so lange in sich hinein, dass man gar nicht mehr davon loskam.

So war es ihr einmal mit einer Schulfreundin gegangen. Da hatte sie sich eingebildet, dass diese sie nicht möge, und deswegen war sie ihr immer aus dem Wege gegangen. Und eines Tages hatten sie dann doch mal miteinander gesprochen, und dabei hatte die andere ihr gestanden, dass sie das Gleiche gedacht hatte.

Man muss miteinander reden. Katrin hatte ihr das oft genug gepredigt. Man muss so lange miteinander reden, bis man einen Punkt findet, auf dem man sich begegnen kann.

Aber konnte sie einfach zu Dan gehen und sagen: »Hör mal, ich will mit dir reden?« Vielleicht wollte er sie gar nicht anhören. Aber versuchen konnte sie es ja.

Monika stand am nächsten Morgen sehr früh auf und stahl sich unbemerkt aus dem Hause. Die Sonne stand noch blass am Himmel, auf den Wiesen lag noch Tau. Es war schön, mit nackten Füßen auf diesem weichen Teppich dahinzuwandern. Ob Dan aufwachen würde, wenn sie ihm Steine ans Fenster warf? Oder würde er wütend sein?

Doch solcher Überlegung bedurfte es schon wenig später nicht mehr, denn sie sah ihn aus dem kleinen Waldstück, das den Blick auf den Lederer-Hof verhüllte, auf sich zukommen.

Er blieb stehen, als er Monika sah. Auch sie blieb stehen. Sekundenlang zögerten beide, dann gingen sie aber doch aufeinander zu.

»Du bist aber früh auf den Beinen«, begrüßte ihn Monika.

»Du auch.«

»In der Früh ist es am schönsten. Auf der Alm werden jetzt die Kühe gemolken. Warst du schon mal dabei?«

»Ist das was Besonderes?«

»Dann ist die Milch ganz frisch und schmeckt herrlich. Und das Nannerl macht dann dicke Butterbrote. Ich gehe oft hinauf. Katrin schläft gern lange.«

Er wusste nicht recht, ob er das als eine Aufforderung betrachten sollte, sie zu begleiten.

»Oma und Opa schlafen auch lange«, meinte er zögernd.

»Na, dann komm doch mit. Ich wollte sowieso mit dir reden«, bekannte sie offen.

»Worüber?« Eigentlich fand er es doch ein wenig unter seiner Würde, dieses kleine Ding ernst zu nehmen. Sie ging ihm ja kaum bis zur Brust.

»Über Katrin und mich und so. Weißt du, dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist? Katrin war damals fünfzehn. Sie hat mich zunächst bestimmt nicht liebgehabt. Ich kann das aber verstehen.«

»Und dann?«, fragte er.

»Dann ist unser Vater auch gestorben. Eigentlich weiß ich gar nicht, warum Katrin mich dann doch liebhatte.« Sinnend blickte sie in die Ferne. »Vielleicht, weil ich mich immer so freute, wenn sie kam. Das waren die allerschönsten Tage.«

»Warst du auch in einem Heim?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Nein, bei Bekannten.«

Eine Zeit lang schwiegen sie, dann begann Daniel: »Jetzt kommst du zu Bob und Schwälbchen. Du hast schon ein Mordsglück, dass deine Schwester so einen Mann kriegt. Wenn er dich nicht haben wollte, was dann?«

»Dann hätte Katrin ihn nicht geheiratet. Das hat sie mir immer gesagt. Es wäre schade gewesen. Deswegen wollte ich auch immer schnell erwachsen werden, aber jetzt bin ich froh, wenn ich noch ein Kind bleiben kann.« Ein bezaubernd anmutiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie hinzufügte: »Erwachsen ist man noch lange nicht. Aber da sind wir ja schon. Guten Morgen, Nannerl!«

»Das Dirndl«, antwortete Nannerl erfreut. »Na, wen bringst denn da mit?«

»Das ist Daniel. Katrin heiratet seinen Onkel.«

Nannerl schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Die Katrin heiratet!« Lang und breit ließ sie sich über Katrins Vorzüge aus und darüber, welch’ ein Glück der Mann hätte, der sie bekäme. Sie vergaß dabei jedoch nicht, Butterbrote zu streichen und die kuhwarme Milch, die Monika Dan versprochen hatte, bereitzustellen.

Die Kühe muhten, ihre Glocken klangen vielstimmig, und die Sonne ergoß sich über den saftigen grünen Hang.

Monikas Augen leuchteten. »Was Schöneres gibt es doch gar nicht«, erklärte sie begeistert. »Hast du die Berge auch so gern, Dan?«

Er nickte stumm. Nachdem sie sich herzlich beim Nannerl bedankt und ihr versprochen hatten, bald wiederzukommen, stiegen sie wieder abwärts.

»Du hast gesagt, dass du alles über Marco weißt«, sagte er plötzlich.

»Was Katrin mir erzählt hat«, schränkte Monika ein. »Willst du es wissen?«

»Du kannst es doch kaum erwarten, das loszuwerden«, meinte er eigensinnig.

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich muss es dir ja nicht erzählen. Aber …, na ja, ich habe gedacht, dass einer mit dir reden muss. Es tut mir auch leid, dass ich gräßlicher Bengel zu dir gesagt habe, aber ich hatte solche Wut, weil Marco so traurig war. Er hat geweint, aber das hast du nicht gesehen.«

»Marc hat auch immer geheult, wenn ihm etwas nicht durchging«, erboste sich Dan.

»Du darfst die beiden nicht vergleichen. Es sind ganz verschiedene Kinder. Marcos Vater war ein italienischer Conte oder so was. Er stammte aus einer ganz vornehmen Familie, aber er hat eine Frau geheiratet, die die Familie nicht anerkannt hat. Dann sind Marcos Eltern beim Segeln ertrunken, und man hat ihn in ein Heim gegeben.«

»Dann hat er noch eine Familie?«, fragte Dan aufhorchend.

»Sie wollen ihn doch nicht.«

»Das ist eine Gemeinheit«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Das muss ja wirklich eine feine Familie sein. Vielleicht waren sie es, die ihm eingeredet haben, dass seine Mutti am Nordpol ist.«

»Nein, das hat er sich selbst ausgedacht. Er wollte nicht glauben, dass seine Mutti im Himmel ist, und weil er den immer sehen konnte, war er für ihn viel näher als der Nordpol. Evi sagt, dass es ihr manchmal ganz unheimlich ist, wie gescheit Marco ist. Warum magst du ihn nicht, Dan? Du hast doch noch gar nicht mit ihm gesprochen.«

»Was soll ich denn schon mit ihm reden?«

Monika schenkte ihm ein süßes, unschuldsvolles Lächeln. »Wir reden doch auch miteinander, so richtig wie Freunde.«

»Du bist ein komischer kleiner Hase«, brummte er und fuhr dann zusammenhanglos fort: »Onkel Bob ist sieben Jahre älter als Katrin.«

»Wie kommst du denn darauf?«, erkundigte sie sich verwundert.

Er lachte plötzlich. »Ich denke nur eben, dass ich fünfundzwanzig bin, wenn du neunzehn bist, und dann ist der Altersunterschied gar nicht mehr so groß.«

Das begriff Monika nicht so recht. »Du bleibst doch immer sechs Jahre älter«, meinte sie.

»Aber wenn wir erwachsen sind, macht es gar nichts mehr aus. Das ist doch komisch.«

»Das ist gar nicht komisch. Wenn Marco siebzehn ist, bist du dreißig.«

»Im Kopfrechnen bist du gut«, lobte er.

»Und was würdest du sagen, wenn Marco dann auch so bockig wäre wie du?«, trumpfte sie auf.

*

»Moni ist nicht da«, sagte Evi aufgeregt zu Katrin. »Nirgends ist sie. Ich habe sie überall gesucht.«

»Reg dich nicht auf. Sie wird zur Alm gegangen sein. Das macht sie oft. Sie ist eine Frühaufsteherin. Hast du gut geschlafen, Evi?«

»Wie ein Bär. Wo ist Marco?«

»Bei Mutti.«

»Er hat Angst, dass sie wieder weggehen könnte«, murmelte Evi. »Wenn man bloß Dan zur Vernunft bringen könnte. Wie soll ich das anstellen, Katrin?«

»Vielleicht hat Moni das Rezept schon gefunden. Da kommen die beiden.«

Fast gleichzeitig erschienen sie alle im Frühstückszimmer. Katrin und Evi, Dan und Moni, und eine Sekunde später Ingrid und Marco.

Der Kleine wurde ganz blass, als er Dan gewahrte. Seine Lippen begannen zu zucken.

»Guten Morgen, Mutti«, sagte Dan rau. »Guten Morgen, Marc.«

Ein glückliches Lächeln erhellte Ingrids Gesicht, als er dem Jungen die Hand entgegenstreckte, die dieser zögernd ergriff.

»Guten Morgen, Dan«, erwiderte er kaum vernehmbar.

»Wir waren schon auf der Alm, aber jetzt haben wir doch wieder Hunger«, verkündete Monika. »Siehst du, ich habe dir ja gesagt, dass sie alle Langschläfer sind«, wandte sie sich augenzwinkernd Dan zu. »Wir haben uns ganz zufällig getroffen.«

Na, so zufällig wohl auch wieder nicht, wie ich dich kenne, besagte Katrins Blick.

»Darf ich auch mal mit auf die Alm?«, fragte Marco schüchtern. »Ich kann auch früh aufstehen.«

»Wir können auch nachmittags mal hinaufgehen«, schlug Katrin vor. »Nanu, da bekommen wir ja noch einen Gast.«

Bob stürmte ins Zimmer. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, Dan?« brüllte er seinen Neffen an. »Wir stehen alle kopf, weil du nirgends zu finden bist, und du sitzt seelenruhig hier am Frühstückstisch.«

»Schimpf ihn nicht, Bob«, meinte Moni mit einem verzeihungshei­schenden Lächeln. »Daran bin ich schuld.«

»Na, dann werde ich mal zurücksausen und unsere aufgelösten Großeltern beruhigen.«

»Ich komme zur Unterstützung mit«, erklärte sich Katrin sofort bereit. »Ihr braucht mich doch wohl nicht?«

*

Es war das erste Mal, dass Ingrid mit ihren drei Kindern und Monika gemeinsam an einem Tisch saß. Es war ein wunderliches Gefühl. Moni war sozusagen der ruhende Pol. Obwohl sie nicht direkt am Geschehen beteiligt war, erweckte sie den Anschein, als sei sie am meisten engagiert. Sie plauderte munter drauflos, ließ gar kein Schweigen aufkommen und tat so, als hätte es nie Konflikte gegeben.

Marco machte einen schüchternen Versuch, Dan entgegenzukommen. »Möchtest du das Mohnkipferl, Dan?«, fragte er. »Es ist gut.«

Dan zögerte einen Augenblick. »Gern, danke«, erwiderte er. Marcos Augen leuchteten auf. Unauffällig streichelte er Ingrids Hand.

»Wie lange wollt ihr eigentlich bleiben?«, erkundigte sich Dan. »Opa nistet sich schon ein. Er wird nicht so schnell wegzubringen sein.«

»Ich kann Vati doch nicht so lange allein lassen«, gab Ingrid zu verstehen.

»Er könnte ja auch mal ein paar Tage Urlaub machen«, brummte Dan.

»Du kannst doch mal mit ihm telefonieren, Mutti«, mischte sich Evi ein. »Der Sepp sagt, das Wetter bleibt schön.«

»Seit wann unterhältst du dich mit Bauernburschen?«, fragte Dan anzüglich.

»Reden kann sie doch mit ihm«, warf Monika ein.

»Ich möchte gern wissen, was dreizehn Kinder alles zusammenfuttern«, erklärte Dan plötzlich laut.

»Das kann ich dir sagen«, antwortete Marco. »Ich weiß es von Sophienlust. Was meinst du, was da Magda alles gekocht hat. Und wir waren manchmal zwanzig.«

»Wenn du dort auch nicht mehr gegessen hast, als hier, bist du aber schlecht weggekommen«, erwiderte Dan. »Gib ihm ein Honigbrötchen, Mutti. Honig ist gesund.«

Eigentlich mochte Marco Honig nicht, weil er so klebrig war, aber weil Dan es sagte, aß er widerspruchslos.

»Das hat sehr gut geschmeckt«, behauptete er danach.

»Ist er immer so brav?«, fragte Dan seine Schwester, als sie nach dem Frühstück zu einem Spaziergang aufbrachen.

»Du hast keine Ahnung, wie goldig er ist. Ich war schrecklich wütend auf dich, aber jetzt hast du schon ein wenig gutgemacht.«

Marco war ein Stück zurückgeblieben und betrachtete die Beeren, die am Wege standen. Dick und rund und reif leuchteten sie.

»Schau, Mutti«, rief er, »was das für eine große Beere ist. Sie schmeckt bestimmt besonders gut.«

Dan drehte sich um, als Marco die Beere gerade in den Mund stecken wollte. Den Bruchteil einer Sekunde war er wie erstarrt.

»Lass das«, schrie er und stolperte auf den Jungen zu, ihm heftig die Hand vom Mund schlagend. Die Beere kullerte zu Boden.

Ingrid wurde bleich, Evi sah ihren Bruder fassungslos an und Monika begann zu zittern.

»Es war eine Tollkirsche«, flüsterte Dan. »Mein Gott, Marc, sie ist giftig. Hast du auch bestimmt nicht hineingebissen?«

Marco begann vor Schreck zu weinen. »Ich dachte, du bist wieder böse mit mir«, stotterte er.

»Oh, Dan«, flüsterte Ingrid, »mein lieber Junge, ich danke dir.«

Dan nahm Marcos Hände und rieb sie mit seinem Taschentuch ab. »Sei nicht böse, dass ich dich so angeschrien habe«, entschuldigte er sich.

»Wäre ich jetzt tot?«, fragte Marco stockend.

»Sag so was nicht«, stieß Dan heiser hervor. »Und iss ja niemals eine Beere, die du uns nicht vorher gezeigt hast, hörst du?«

»Nie wieder«, nickte Marco folgsam. »Was ist eine Tollkirsche?«

Dan drehte sich zu Monika um. »Warum hast du es ihm nicht auch erklärt?«, fragte er gereizt. »Mich brauchst du nicht zu belehren, aber er ist doch noch so klein. Er weiß doch nicht, dass sie so giftig ist.«

Monika war nicht eine Spur beleidigt. »Ich war doch noch nie mit ihm hier«, erwiderte sie. »Aber wenn du nicht gewesen wärst … Du warst vielleicht schnell!« Bewundernd blickte sie zu ihm empor.

Dan nahm Marcos Hand. »Du bleibst jetzt bei mir«, bestimmte er. »Und mach bloß keine Dummheiten mehr.«

»Es ist schön, wenn man einen großen Bruder hat, der so schlau ist«, beteuerte Marco glücklich.

*

Die Geschichte mit der Tollkirsche bewegte die Gemüter. Sie hätte einen bösen Ausgang nehmen können, aber sie hatte das vollbracht, was sonst wohl nur ganz langsam zustande gekommen wäre.

Daniel und Marco waren unzertrennlich. Moni fühlte sich anfangs sogar ein bisschen benachteiligt, aber darüber trösteten sie die Großeltern hinweg. Vor allem der Opa, dem sie auf seiner Suche nach kostbaren alten Bauernmöbeln behilflich war.

Sie kannte hier ja alle Leute und wusste auch, welche Schätze sich in den schlichten Bauerngehöften verbargen. Ein Herz und eine Seele waren Opa und Monika, wenn es darum ging, diesem und jenem ein Stück abzuschwatzen. Und ganz heimlich machten sie es, denn es sollte eine Überraschung für Katrin und Bob werden.

Für Henning van Droemen aber war es die größte Überraschung, dass er seine Familie friedlich vereint fand, als er am Wochenende ankam.

Marco hatte den ganzen Tag auf dem Balkon gestanden und auf ihn gewartet, und Dan hatte ihm dabei Gesellschaft geleistet. Er ließ Marco auch den Vortritt bei der Begrüßung seines Vaters.

»Gut schaust du aus, Bambino«, lächelte Henning van Droemen, als ihm der Junge an den Hals flog.

»Wenn Dan nicht wäre, wäre ich jetzt schon tot«, erzählte Marco eifrig. »Ich habe gedacht, dass die Tollkirsche eine Blaubeere sei.«

Erschrocken sah Henning seinen großen Sohn an.

»Er übertreibt ein bisschen, Vati«, meinte Dan verlegen, aber Marco versicherte: »Dan passt gut auf mich auf.«

»Dan«, murmelte Henning van Droemen.

»Macht doch nicht solch ein Aufheben«, wehrte er ab. »Ich hab’s halt zufällig gesehen.«

»Und Mutti war auch dabei?«

»Reg sie nicht wieder auf«, warnte Dan. »Sie kann ja Tollkirschen auch nicht von Blaubeeren unterscheiden. Na ja, jetzt kann sie es. Wir müssen eben mehr in die Berge fahren. Es sind herrliche Ferien, Vati. Können wir noch bleiben? Mutti kannst du ja mitnehmen, wenn es dir zu Hause zu einsam ist. Dann habt ihr auch mal was voneinander.«

»Und was sagt Marc dazu?«

»Oma und Opa sind ja da und Katrin. Und wenn Dan bleibt, dann würde ich auch noch ganz gern bleiben.«

»Aber eine Tour machen wir doch, Dan?«, fragte Henning van Droemen, tief aufatmend.

»Ja, aber wir nehmen den Kleinen mit. Unser Bambino kann schon ganz schön klettern.«

*

»Viel Lärm um nichts«, stellte Bob fest, als er sich zusammen mit Ingrid und Henning van Droemen verabschiedete. »Ich hab’s ja immer gesagt.«

»Aber überzeugt warst du auch nicht«, lächelte Katrin. »Überarbeite dich nicht, Liebster.«

»Ich werde mich hüten. Ich schone mich für die Hochzeit«, neckte er sie.

Ingrid umarmte ihre zukünftige Schwägerin herzlich. »Pass mir gut auf die Kinder auf«, bat sie.

»Das tun sie schon selbst. Und was Marco anbetrifft brauchst du dir bestimmt keine Sorgen zu machen. Er ist bei Dan in guter Hut.«

»Nun wissen wir, was es bei Dan war«, sagte Henning zu seiner Frau. »Schuldbewusstsein. Er wurde es erst los, als er unser Bambino vor der Gefahr bewahren konnte.«

»Unser Bambino – wie innig das klingt«, flüsterte Ingrid. »Danke, Henning. Danke für alles, was du für mich getan hast.«

»Der Dank gebührt Bob. Aber er hat sich dafür ja etwas ganz besonders Hübsches eingehandelt. Die Schoeneckers werden staunen, wenn wir ihnen alles berichten.«

»Schade, dass sie nicht zur Hochzeit kommen können, aber um diese Zeit wird dort gerade das Baby zur Welt kommen.« Ingrid lehnte sich in den Arm ihres Mannes. »Nun sind wir zwei einmal wieder allein. So ein altes Ehepaar.«

»So ein junges, Ingrid. Das haben wir auch unserem Bambino zu verdanken. Und nun wird er nie erfahren, dass wir nicht seine Eltern sind.«

*

Dan und Marco waren wieder einmal auf Erkundungspfaden, und wie schon oft, wenn sie allein und dem Himmel so nahe waren, geriet Marco ins Sinnieren.

»Wenn ich so über alles nachdenke, Dan«, begann er zögernd, »ist manches doch sehr komisch.«

»Du sollst nicht so viel nachdenken«, brummte Dan.

»Ihr redet nie über Benedikt. Es ist, als ob es ihn nie gegeben hätte.«

»Er war klein, als er starb, Bambi. Und wir waren auch noch ziemlich dumm.«

»Und Mutti redet nie über den Nordpol.«

»Weil es da bestimmt nicht schön war.«

»Warum ist sie dann hingefahren?«

»Du kannst einem ein Loch in den Bauch fragen«, seufzte Dan, um Zeit zu gewinnen. »Sie war nicht auf dem Nordpol. Sie war krank, weil Benedikt gestorben ist. Aber nun haben wir unsern Marc, und alles ist gut geworden.«

»Manchmal denke ich, dass Nick vielleicht doch recht hatte und dass meine Mutti im Himmel ist. Eine andere Mutti, Dan. Aber ich könnte die nie so lieb haben wie unsere.«

»Ist ja gut, Bambi«, erwiderte Dan rau, »du bist ein komischer kleiner Junge. Aber ich möchte keinen anderen Bruder haben als dich. Bist du nun zufrieden?«

»Wirst du Moni heiraten, wenn sie groß ist?«, schweifte Marco plötzlich ab.

»Liebe Güte, auf was du so alles kommst. Zuerst muss ich noch eine Menge lernen.«

»Du bist doch so schlau«, stellte Marco bewundernd fest. »Evi sagt auch, dass du gar nicht zu lernen brauchst. Dir fliegt alles zu.«

Dan legte seinen Arm um Marcos Schultern. »Man lernt nie aus, Bambi«, belehrte er ihn. »Halt dich an Omi, wenn dir Zweifel kommen.«

Marco nickte ernsthaft. »Wir haben schon ein tolles Glück«, beteuerte er. »Solche Eltern und solche Großeltern. Wenn ich die Tollkirsche nun gegessen hätte, ohne dass du was gemerkt hättest?«

»Wenn du jetzt nicht aufhörst, werde ich grantig«, knurrte Dan.

»Warum lässt der liebe Gott eigentlich giftige Pflanzen und giftige Tiere wachsen!«

»Damit die dummen Menschen schlauer werden«, erwiderte Dan.

Damit wusste Marco zwar nichts anzufangen, aber er merkte doch, dass es besser war, keine weiteren Fragen zu stellen.

*

Ingrid van Droemens langer herzlicher Brief traf morgens auf Gut Sophienlust ein. Am Nachmittag wurde in Schoeneich Henrik Alexander von Schoenecker geboren.

Andrea war zwar ein ganz klein wenig enttäuscht, dass es kein Schwesterchen war und es für die Buben nun drei zu eins stand, aber sie war doch glücklich, weil alles ganz schnell und ohne Aufregung verlaufen war.

Nick fand das Baby mickrig, aber er meinte großmütig, dass sie es schon aufpäppeln würden. Sascha hatte beinahe mehr ausgestanden als der Vater. Er vernahm voller Ehrfurcht die feierliche Ansprache, die Hubert von Wellentin ihnen hielt.

»Ihr seid jetzt die Großen und müsst euch der Verantwortung bewusst sein«, sagte er. »Eure Mutter hat nicht gezögert, das Schicksal fremder Kinder zu ihrem eigenen zu machen, und sie hat ihre Aufgabe bewunderungswürdig gelöst. Gut Sophienlust wird wieder bestehen und noch vielen Kindern Heimat werden. Ob sie für kurze Zeit oder für lange dort bleiben, soll keinen Unterschied machen. Ihr habt Eltern und Geschwister, aber ihr dürft die Kinder nicht vergessen, denen solches Glück vorenthalten bleibt.«

»Warum redet Opa eigentlich so feierlich?«, fragte Nick. »Das wissen wir doch alles! Mutti erzählt es uns jeden Tag. Und bis Henrik das begreift, vergehen sowieso noch Jahre.«

»Er will aber, dass wir es ihm von Anfang an beibringen«, erläuterte Sascha. »Er soll mit dieser Idee aufwachsen!«

»Der Sascha redet so geschwollen daher, dass mir manchmal ganz bange wird«, meinte Nick zu Andrea.

»Das kommt nur von dem blöden Gymnasium. Hoffentlich bleibst du normal, wenn du erst dorthin gehst.«

Zur gleichen Zeit hielt Denise von Schoenecker selig lächelnd ihren kleinen Sohn im Arm.

»Wie viele Menschen hat Sophienlust glücklich gemacht, Alexander?«, fragte sie leise.

»Da müsste ich lange nachdenken, Liebste, um das auszurechnen«, erwiderte er, die winzige Hand seines Sohnes festhaltend. »Aber wir wollen hoffen, dass es noch sehr vielen Glück bringt. Um Marco brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen. Wir versäumen eine Hochzeit, aber dafür haben wir unseren Sohn. Ich liebe dich, Denise.«

*

»Ich liebe dich, Katrin«, sagte ­Robert Quirin fast im selben Augenblick.

Marco hatte bei der Hochzeit von Dr. Katrin Schwalbe und Dr. Robert Quirin eifrig Blumen gestreut. Nun beschwerte er sich: »Blumen streue ich nie wieder. Alle trampeln darauf herum. Die armen Blumen.«

»Aber Katrin war eine schöne Braut«, seufzte Monika.

Marco warf ihr einen schrägen Blick zu. »Du wirst auch mal eine schöne Braut sein«, sagte er. »Aber dann bin ich Gott sei Dank schon zu groß, um Blumen zu streuen.«

»Dann wirst du Trauzeuge sein«, lachte Dan.

»Ojemine«, stöhnte Marc, »ist das auch so anstrengend? Was hat Vati eben gesagt?«

»Die Schoeneckers haben einen Sohn«, entgegnete Dan.

»Die haben doch schon zwei«, meinte Marco verwirrt.

»Jetzt haben sie noch einen dritten«, belehrte ihn sein großer Bruder.

»Kriegen wir auch noch einen dritten?«, fragte Marco.

»Lieber nicht«, brummte Dan.

Sophienlust Paket 1 – Familienroman

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