Читать книгу Sophienlust Paket 1 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 24

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»Tammy …« Janet Dicksons Stimme überschlug sich fast, aber auch diesmal kam keine Antwort.

Stocksteif presste Tammy sich an den Stamm der dicken Eiche, damit ihre Mutter sie nicht sehen konnte. Sie wollte nicht mit ihr sprechen, nicht jetzt, denn sie zitterte noch am ganzen Körper. Das Gespräch, das sie ungewollt belauscht hatte, hatte ihr auch die letzten Illusionen geraubt. Tammy wusste, sie musste mit sich ins Reine kommen, bevor sie ihrer Mutter wieder gegenübertreten konnte, aber so einfach war das für ein sechzehnjähriges Mädchen nicht.

Janet Dicksons Gesicht war verzerrt, als sie in das schon aufdringlich luxuriös eingerichtete Wohnzimmer zurückkehrte. Der Mann am Fenster drehte sich um. »Nun?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Sie ist total verstockt. Sie rührt sich nicht.«

»Vorhin war sie im Garten«, bemerkte er. »Sie will nicht mit dir reden. Du hättest es mir überlassen sollen, Janet.«

»Glaubst du, dass du mehr Erfolg gehabt hättest, Roy?«, fragte sie höhnisch. »Sie redet sich jetzt in die Wahnidee hinein, dass ich am Selbstmord ihres Vaters mitschuldig sein könnte.«

»Das kann aber sehr gefährlich werden, Janet«, gab er zu bedenken. »Vergiss nicht, dass sie die Erbin ist, und du nur deinen monatlichen Wechsel bekommst. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn ich erst später in Erscheinung getreten wäre.«

»Ich habe lange genug auf alles verzichtet«, begehrte sie auf. »Auf Abwechslung, Partys, Empfänge und auch auf dich. Ich will nicht versauern, nur weil es Tammy gibt.«

»Du hättest sie noch im Internat lassen sollen. Noch zwei Jahre, dann hätte sie vielleicht selbst schon Interesse für einen Mann gehabt. Jetzt ist sie nicht mehr Kind und doch noch nicht Frau.«

»Und hässlich dazu«, zischte Janet Dickson. »Warum muss ausgerechnet ich so eine Tochter haben?«

»Hättest du lieber eine, die dir auch äußerlich Konkurrenz machte?«, fragte Roy Carter spöttisch. Er maß Janet unter halb geschlossenen Lidern mit einem langen Blick. Noch war sie ganz attraktiv mit ihren vierzig Jahren, aber taufrisch war sie eben nicht mehr, und er war immerhin fünf Jahre jünger. Nun, Geld konnte mit vielem versöhnen, aber wie die Dinge lagen, kam man an das Geld nur über Tammy heran. Und dieses so schüchtern wirkende Mädchen zeigte plötzlich eine merkwürdige Entschlossenheit.

»Ich werde lieber gehen«, erklärte er. »Sieh zu, dass du mit Tammy klarkommst. Versuch es mal mit Liebe.«

Sie ballte die Hände. »Ich hätte nie geglaubt, dass Matt mir das antun könnte.«

Er hat Janet besser gekannt als sie ahnte, dachte er. Nun, falls es schiefging, hatte er nicht die Absicht, sich noch länger mit ihr zu beschäftigen. Es gab genug Frauen, die nicht mehr ganz jung waren und mehr Geld hatten als Janet. Er wollte sein Leben jedenfalls genießen. Janets Haus war herrlich, und die Stellung als Direktor in den Dickson-Werken, die Janet ihm vermittelt hatte, war auch nicht zu verachten, aber sonst war hier bei Weitem nicht so

viel zu holen, wie er angenommen hatte.

Janets Augen verengten sich. »Du schätzt deine Möglichkeiten ab«, erkannte sie plötzlich. »Aber so haben wir nicht gewettet, Roy. Ich habe nicht zwei Jahre die treusorgende Ehefrau bei einem Verrückten gespielt und dir ein angenehmes Leben verschafft, um mich dann beiseiteschieben zu lassen.«

»Aber, Janet«, erwiderte er sanft, »wie kannst du nur so reden. Du weißt doch, was du mir bedeutest.«

Er nahm sie in die Arme und küsste sie, aber die Flamme, die sie einmal in ihm zu entzünden verstanden hatte, war schon lange erloschen.

Roy Carter dachte nüchtern. Bis sich etwas Besseres fand, wollte er noch ausharren. Der Spatz in der Hand war besser als die Taube auf dem Dach – und noch bestand ja die Chance, dass Tammy zur Vernunft kam.

*

Als Tammy das Auto noch davonfahren hörte, flüchtete sie sich tiefer in den Park hinein. Sie wusste einen Platz, an dem man sie bestimmt nicht finden würde. Dort hatte sie sich schon früher versteckt, um den Neckereien ihres großen Bruders und seiner Freunde zu entgehen.

Nun war Charly schon zwei Jahre tot. Ertrunken war er, und wenn Tammy daran und an all das dachte, was danach geschehen war, dann fror sie und wurde von einer entsetzlichen Furcht geschüttelt.

Daddys Reaktion, als man ihm Charlys Tod mitgeteilt hatte, war furchtbar gewesen. Er hatte Vasen und Spiegel zertrümmert, und selbst die Möbel waren vor ihm nicht sicher gewesen. Aber dann, und das war fast noch schlimmer gewesen, war er in tiefste Resignation versunken, sodass man ihn in eine Psychiatrische Klinik hatte bringen müssen, wo er dahinvegetierte, bis er sich eines Tages erschossen hatte, ohne dass jemand wusste, wie er zu der Waffe gekommen war.

Doch davon hatte Tammy nichts gewusst. Sie war zu dieser Zeit noch auf Schloss Heidern gewesen, in jenem deutschen Internat, in dem sie Evelyn und Daniel van Droemen kennengelernt hatte, ihre einzigen Freunde.

Von einem dichten Gebüsch abgeschirmt, saß Tammy am Bach und blickte in das klare Wasser.

Wie sehr hatte sie sich gefreut, nach Hause zurückkehren zu dürfen, hatte sie doch gehofft, dass ihr Vater nun wieder gesund geworden wäre. Doch erst als sie heimgekehrt war, hatte man ihr mitgeteilt, dass er sich das Leben genommen hatte. Ohne alle Umschweife und nüchtern hatte ihre Mutter sie informiert, und dann war auch schon ein fremder Mann, jener Roy Carter, den Tammy nicht mochte, bei ihnen aus und ein gegangen. Ihre Mutter hatte behauptet, dass er ihr Berater wäre, aber Tammy war nicht lange zu täuschen gewesen. Sie wunderte sich nur, dass man sie überhaupt heimgeholt hatte, wie die Dinge nun einmal standen.

Ja, warum hatte man sie heimgeholt? Über diese Frage musste sie sich endlich klarwerden, und es gab nur einen Menschen, der ihr eine ehrliche Antwort darauf geben konnte, wenngleich ihre Mutter immer abfällig von ihm sprach. Es war Dr. Wilburn, der langjährige Rechtsanwalt ihres Vaters.

Tammy wartete, bis es dämmerte, dann schlich sie ins Haus zurück. Sie wusste, dass ihre Mutter heute zum Bridge verabredet war. Sicher hatte sie das Haus inzwischen schon verlassen.

Unter dem Personal gab es niemanden, dem Tammy voll und ganz vertraute. Die früheren Angestellten waren alle entlassen worden – oder vielleicht auch freiwillig gegangen. Tammy wusste es nicht. Seit sie vor sechs Wochen hierher zurückgekommen war, lebte sie wie eine Gefangene, abgeschirmt von der Außenwelt.

Tammy nahm sich nicht die Zeit, sich umzuziehen. In ihren Jeans und der karierten Bluse, nur eine leichte Jacke übergeworfen, machte sie sich auf den Weg. Niemand kümmerte sich um sie. Geld hatte sie genug. Damit war ihre Mutter seltsamerweise nicht knauserig, obgleich Tammy fühlte, dass sich seit dem Tode ihres Vaters manches geändert hatte.

Sie winkte ein Taxi herbei, drückte dem Fahrer, der sie abschätzend musterte, eine Zehndollarnote in die Hand und nannte die Adresse Dr. Wilburns. Erst unterwegs fiel ihr ein, dass der Rechtsanwalt vielleicht gar nicht zu Hause war, aber nun ließ sie es darauf ankommen.

Vor Dr. Wilburns Haus stand eine Gruppe von Jungen, die zwischen neunzehn und zwanzig sein mochten. Ein großer Blonder, mit Sommersprossen und etwas abstehenden Ohren, riss verwundert die Augen auf, als er Tammy gewahrte.

»Tammy«, sagte er ungläubig. »Tammy Dickson. Seit wann bist du denn wieder im Lande?«

Jack Wilburn war Charlys bester Freund gewesen. Tammy dachte daran, und ihre Miene verdüsterte sich.

»Ist dein Vater zu sprechen?«, fragte sie zurückhaltend.

»Für dich bestimmt«, meinte er. »Komm!«

Während sich die anderen Jungen verzogen, führte er Tammy ins Haus.

Auch Dr. Wilburn zeigte sich, zu Tammys Verwunderung, sehr überrascht, sie zu sehen.

»Deine Mutter hat mich noch nicht von deiner Rückkehr informiert, Tammy«, bemerkte er nachdenklich.

»Vielleicht hat sie dafür bestimmte Gründe«, erwiderte sie. »Sie weiß nicht, dass ich hier bin.«

Er blickte sie über seine randlose Brille hinweg prüfend an. »Immerhin ist es gut, dass du gekommen bist, Tammy. Es gibt manches zu besprechen.«

»Das denke ich auch«, entgegnete sie mit belegter Stimme.

»Es wird ein ziemlicher Schock gewesen sein für dich«, begann der Rechtsanwalt stockend. »Es tut mir sehr leid, Tammy, aber dein Vater hat sich in dieser Welt nicht mehr zurechtgefunden.«

»Ich finde mich auch nicht mehr zurecht«, versicherte sie tonlos. »Wie ist Dad zu der Waffe gekommen?«

Er starrte sie verwundert an. »Das weiß niemand. Wieso interessiert dich das?«

»Alles interessiert mich, was mit Dad zusammenhängt. Was können Sie mir erzählen, Dr. Wilburn?« Sie wunderte sich selbst, dass sie so fordernd auftreten konnte. Plötzlich war sie kein kleines schüchternes Mädchen mehr. Ihre klugen grauen Augen beobachteten ihn genau.

Widersprüchliche Empfindungen bewegten Dr. Wilburn. »Stelle doch Fragen, Tammy, ich werde dir antworten, so gut ich kann.«

Sie überlegte ein paar Sekunden. Ihr Gesicht war konzentriert und sehr ernst.

»Kennen Sie Roy Carter?«, fragte sie.

Deutliches Unbehagen spiegelte sich nun in seinen Zügen wider. »Er ist Direktor in den Dickson-Werken. Ich habe nur selten mit ihm zu tun.«

»Er ist Mutters Freund oder besser gesagt ihr Liebhaber«, erläuterte Tammy kalt. »Ich frage mich, wozu mich die beiden brauchen. Eigentlich bin ich ihnen doch nur im Wege.«

Dr. Wilburns Hände krampften sich um die Schreibtischkante, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

»Ich werde dir sagen, was du wissen musst, Tammy«, erklärte er. »Setz dich hin. Möchtest du erst etwas essen oder trinken?«

»Ein Glas Wasser, bitte«, murmelte sie.

Er ging zur Wand. Eine Tür sprang auf, hinter der ein Kühlschrank eingebaut war.

»Etwas Zitrone?«, fragte er rau.

»Gerne. Danke«, erwiderte sie.

Sie trank mit hastigen Zügen. Währenddessen betrachtete er ihr junges, schmales, nicht besonders reizvolles Gesicht. Schön an ihr waren die Augen und das Haar, das aber sehr streng zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war.

»Hat deine Mutter von dem Testament gesprochen?«, fragte er vorsichtig.

»Von Dads Testament? Nein«, antwortete sie. »Was ist damit?«

»Ich bin nicht nur Testamentsvollstrecker, Tammy, ich bin auch zu deinem Vormund bestellt worden«, erklärte er. »Hast du meinen Brief nicht mehr bekommen? Ich habe dir doch nach Schloss Heidern geschrieben.«

»Ich bekam keinen Brief. Mutter schrieb, ich solle sofort heimkommen, und ich freute mich. Ich wusste nicht, dass Dad tot ist.«

»Sie hätte mich sofort von deiner Rückkehr informieren müssen«, betonte er.

»Vielleicht hatte sie Gründe, es nicht zu tun?«, stellte Tammy fest. »Es hat sich sehr viel bei uns verändert. Ich möchte, dass mir wenigstens ein Mensch die Wahrheit sagt.«

»Das werde ich tun, Tammy. Du bist die Universalerbin deines Vaters. Er hat das Testament bereits gemacht, als Charly noch lebte und kein Zweifel an seiner völligen geistigen Gesundheit bestand. Das Vermögen sollte euch zu gleichen Teilen gehören; falls einer von euch sterben sollte, sollte sein Teil an den anderen fallen.«

»Und Mutter?«, erkundigte sich Tammy tonlos.

»Sie bekommt einen ausreichenden monatlichen Wechsel. Wenigstens für normale Verhältnisse«, räumte er ein. »Du bist sehr reich, das muss ich dir sagen. Die genaue Aufstellung kannst du einsehen. Das Geld vermehrt sich von selbst, es ist gut angelegt. Außerdem bist du auch Hauptaktionärin des Werkes. Ich bemühe mich, dein Erbe gut zu verwalten.«

»Und was kann ich damit anfangen?«, fragte sie. »Kann Mutter bestimmen, wo ich lebe und wie ich lebe?« Es klang schrecklich nüchtern, aber er spürte, dass hinter diesen Worten quälende Sorgen standen.

»Ich sagte dir schon, dass ich zu deinem Vormund bestimmt worden bin, Tammy. Alle Entscheidungen, die du zu treffen wünschst, müssen von mir gebilligt werden.«

»Dann billigen Sie bitte meine Entscheidung, nicht mehr mit meiner Mutter unter einem Dach leben zu müssen, Herr Dr. Wilburn«, sagte Tammy fest.

»Welche Gründe hast du dafür? Immerhin ist sie deine Mutter.«

»Sie braucht mich nur für eine bestimmte Zeit, und sie kann es kaum erwarten, mich loszuwerden. Jetzt ist mir alles klar. Sie will das Geld, aber vielleicht will sie mich auch aus dem Weg schaffen. Vielleicht war sie es, die Dad die Waffe zugespielt hat.«

Ein qualvolles Schluchzen schüttelte nach diesen Worten Tammys schmalen Körper.

»Tammy«, flüsterte Dr. Wilburn erschüttert, »rede dir doch nicht so etwas ein! Deine Mutter kann niemals an das Vermögen heran. Es würde einer Stiftung zufallen, falls auch dir etwas zustoßen sollte.«

»Weiß sie das?«, schrie Tammy auf. »Sie will diesen Roy Carter haben. Ich habe es gehört, wie sie zu ihm gesagt hat, dass sie alles nur für ihn getan habe. Ich will nicht mehr zurück. Ich will nach Deutschland. Dort habe ich Freunde. Sie haben mir geschrieben, dass ich kommen kann, wenn ich will. Oh, jetzt weiß ich, dass meine Mutter zu gern verhindert hätte, dass ich diesen Brief bekomme. Aber ich habe jeden Tag aufgepasst. Ich habe ihn abgefangen. Ich hasse sie, ich hasse sie. Sie hat Dad getötet.«

»Kind«, sagte er beruhigend, »komm zur Vernunft. Er hat seinem Leben selbst ein Ende bereitet, das ist erwiesen.«

»Aber sie hat ihn soweit getrieben. Ja, man kann einen Menschen so lange quälen, bis er keinen anderen Ausweg mehr weiß, und mich hätte sie ebenso gepeinigt, nur um diesen Roy zu behalten. Aber sie soll sich in mir getäuscht haben. Ich bin nicht das dumme Mädchen, das sie in mir sieht. Ich werde ihr einen Strich durch die Rechnung machen. Ich gehe nie mehr zurück. Sie sind mein Vormund, Dr. Wilburn. Sie können bestimmen, wo ich bleibe, das habe ich doch richtig verstanden?«

Er erhob sich. Tröstend legte er seine Hand auf ihre Schulter. »Zunächst wirst du einmal hierbleiben, Tammy«, schlug er vor. »Ich werde deine Mutter morgen um eine Unterredung bitten. Du musst dich erst beruhigen, Kind.«

Dr. Wilburn wusste, dass er ihr Zeit lassen musste. Trost konnte ihr niemand geben. Tammy stand an einer Wende.

*

Janet Dickson machte einen äußerst erregten Eindruck, als sie in Dr. Wilburns Kanzlei erschien.

»Ich versuche es ja, Tammy zu verstehen, aber sie macht es einem wirklich schwer«, stöhnte sie. »Ich möchte sofort mit ihr sprechen.«

»Zuerst muss ich mit Ihnen sprechen, Mrs Dickson«, erklärte Dr. Wilburn ruhig. »Sie wissen, dass es Ihre Pflicht gewesen wäre, mich von Tammys Rückkehr zu informieren.«

Sie setzte eine beleidigte Miene auf. »Ich wollte ihr Zeit lassen, mit diesem Schicksalsschlag fertig zu werden«, erwiderte sie beherrscht. »Es ist ja nicht einfach, die Tochter eines Selbstmörders zu sein. Auch für mich ist es nicht einfach, die Witwe eines solchen zu sein. Aber dafür haben Sie allem Anschein nach wenig Verständnis, Dr. Wilburn.«

»Ich bin zu Tammys Vormund bestimmt und habe in erster Linie ihre Interessen zu vertreten«, belehrte er sie kühl. »Ich habe ihr nach Schloss Heidern geschrieben, aber der Brief gelangte nicht in ihren Besitz.«

»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich ihn unterschlagen habe?«, brauste sie auf, aber ihre Augen flackerten dabei unruhig.

»Ich will niemandem etwas unterstellen, sondern die Rechtslage klären. Tammy ist Universalerbin, und ich bin ihr Vormund und zugleich der Vermögensverwalter. Davon waren Sie bereits informiert, Mrs Dickson.«

»Man kann mir doch nicht mein Kind wegnehmen«, jammerte sie theatralisch. »Matt muss schon lange nicht mehr bei klarem Verstand gewesen sein. Ich werde dieses Testament anfechten.«

Ein sarkastisches Lächeln legte sich um seinen Mund. »Das können Sie sich ersparen«, stellte er fest. »Matt hat das Testament bereits vor fünf Jahren gemacht, und damals war er nicht nur völlig normal, sondern auch auf dem Höhepunkt seiner geschäftlichen Karriere angelangt. Aber er wusste auch sehr genau, dass Sie es mit der ehelichen Treue nicht so genau nahmen. Verzeihen Sie, wenn ich so offen bin, aber ich bin genau informiert.«

Sie wurde totenblass. »Das ist ein Komplott. Man will mich zugrunde richten. Sie verfolgen ihre eigenen Chancen, Dr. Wilburn!«

»Das muss ich mir verbitten«, erwiderte er scharf. »Matt war mein Freund, und allein aus diesem Grunde bin ich daran interessiert, dass Tammys Interessen bis ins Kleinste gewahrt bleiben. Sie will nicht mehr in Ihr Haus zurückkehren. Sie überlässt es Ihnen.«

»Sie soll mir das alles selbst sagen«, schleuderte ihm Janet Dickson ins Gesicht.

Er nickte. »Es ist Tammys Wunsch, noch einmal mit Ihnen zu sprechen«, versicherte er gelassen. »Aber bis weitere Entscheidungen getroffen werden, wird sie als Gast in meinem Haus wohnen. Auf ihren eigenen Vorschlag, wohlgemerkt.«

*

»Nimm doch nicht alles so entsetzlich tragisch, Tammy«, meinte Jack Wilburn zu dem Mädchen. »Was kommt denn dabei heraus, wenn du dich kaputt machst. Wenn deine Mutter so ein Biest ist, musst du dich damit abfinden. Man kann die Menschen nicht ändern. Mir tut es leid, dass du so ein Pech hast. Ausgerechnet du.«

Ihr Kopf ruckte empor. »Wieso ausgerechnet ich?«, fragte sie tonlos.

»Weil du so ein nettes Mädchen bist. Nicht eins von diesen blöden ausgeflippten Dingern, die sich wie die Irren gebärden und jeden Unsinn mitmachen müssen. Ich wäre wirklich froh, wenn du hierbleiben würdest.«

»Ich will aber nicht hierbleiben«, flüsterte sie. »Ich will weit, weit weg sein, wo ich meine Mutter nicht zu sehen brauche. Glaubst du, sie würde mich in Ruhe lassen?«

»Wenn man den Teufel nennt, kommt er schon gerennt«, knurrte er. »Es ist wohl besser, wenn ich mich jetzt verziehe. Aber bleib sachlich, Tammy. Sag ihr, was du denkst, aber reg dich dabei nicht auf, dann haben die Worte eine viel größere Wirkung. Als angehender Jurist weiß ich das.«

»Danke, Jack«, murmelte sie, »du bist auch sehr nett.«

Sein aufmunterndes Lächeln sah sie schon nicht mehr, denn gleich darauf erschienen Janet Dickson und Dr. Wilburn.

Mit einer theatralischen Geste breitete Janet die Arme aus. »Mein liebes Kind, meine kleine Tammy«, verkündete sie mit einem gekonnt schmerzerfüllten Ausdruck. »Weißt du denn nicht, was du mir antust?«

»Bleiben wir sachlich«, erklärte Tammy mit erzwungener Ruhe. »Ich weiß jetzt Bescheid. Du kannst Mr Carter ungeniert empfangen, wann und wie lange du immer willst, meinetwegen kann er auch zu dir ziehen. Falls er dich auch jetzt noch heiraten will, brauchst du keine Rücksicht mehr auf mich zu nehmen.«

»Ich muss doch wohl bitten, Tammy«, begehrte Janet auf. »Was schlägst du für einen Ton an?«

»Einen, den du hoffentlich verstehen wirst und der nicht falsch gedeutet werden kann. Ich möchte dir klar und offen sagen, dass sich unsere Wege trennen.«

Sie schien seit gestern erwachsen und um Jahre älter geworden. Ein sehr entschlossener Zug lag um ihren schmalen Mund.

Janet beherrschte sich mühsam, aber nun schlug sie einen anderen Ton an.

»Wenn du es willst, werde ich mich von Mr Carter trennen, obgleich du unser Verhältnis ganz falsch siehst«, beteuerte sie. »Du stehst mir jedenfalls bedeutend näher.«

Tammys Lippen wölbten sich spöttisch. »Tatsächlich? Sagtest du nicht zu ihm, dass ich dir auf die Nerven ginge und du den Tag kaum erwarten könntest, an dem ich das Haus wieder verlassen würde?«

Janet presste die Lippen aufeinander. »Wenn man lauscht, versteht man leicht etwas falsch«, stieß sie gereizt hervor. »Du verdrehst mir das Wort im Munde.«

»Nichts liegt mir ferner. Ich wollte, ich hätte es nicht gehört, aber vielleicht ist es gut so. Was hat dir denn Charly bedeutet? Hast du etwa ehrlich um ihn getrauert? Hast du versucht, Dad in seinem Schmerz zu trösten? Nein, du hast nur immer betont, dass er selbst an Charlys Tod schuld sei, weil er ihm alles erlaubt habe. Oh, man kann auch die Seele eines Menschen töten. Ich möchte nicht wissen, wie viel Menschen Tag für Tag auf diese Weise sterben, ohne dass einem andern die Schuld nachzuweisen ist.«

»Nun ist es aber genug«, rief Janet empört aus. »Willst du mich zur Mörderin stempeln? Du bist ja genauso verrückt wie dein Vater!«

»Vielleicht wäre es dir gelungen, auch mich verrückt zu machen, wenn ich nicht rechtzeitig erkannt hätte, dass du keines echten Gefühles fähig bist. Du liebst nur dich, aber du liebst auch das Geld. Und allein aus diesem Grunde sollte ich nach Hause kommen.«

»Bringen Sie sie zur Vernunft, Dr. Wilburn«, forderte Janet. »Das ist zu viel, das lasse ich mir nicht bieten.«

»Dann ist es wohl besser, wenn Tammys Wunsch entsprochen wird und sie dorthin geht, wohin ihr Herz sie treibt«, erwiderte er ruhig.

Janet Dickson suchte nach Worten. »Du kannst es dir noch überlegen, Tammy«, lenkte sie nun mit klangloser Stimme ein. »Ich bin bereit, diese Unterhaltung zu vergessen.«

»Ich nicht«, erklärte Tammy fest.

Woher nimmt dieses kleine Geschöpf die Kraft, dieser Frau die Stirn zu bieten, überlegte Dr. Wilburn. Sie rächt dich, Matt! Für all die bitteren Erkenntnisse, die du sammeln musstest, bekommt diese Frau jetzt ihren Lohn. Durch deine Tochter, von der du immer glaubtest, dass sie niemals Rückgrat bekommen würde.

*

»Es mag komisch klingen, Jack, aber jetzt ist mir wohler«, flüsterte Tammy.

»Bist du noch immer fest entschlossen, nach Deutschland zu gehen?«, fragte er bekümmert.

Ein flüchtiges Staunen war in ihren Augen, als sie ihn ansah. »Tut es dir leid?«, erkundigte sie sich leise.

»Ehrlich«, nickte er. »Ich mag dich halt.«

»So hässlich, wie ich bin?«, wunderte sie sich.

»Du bist nicht hässlich. Du wirst sogar einmal sehr hübsch werden, glaube ich. Und dann wird ein anderer kommen und dich mir wegschnappen.«

»Du liebe Güte, das hat aber noch Zeit. Ich will auch gar nicht hübsch werden. Wenn man nur seines Äußeren wegen geliebt wird oder wegen des Geldes, dann ist das nichts wert.«

»Du meinst doch nicht etwa, dass ich auch auf dein Geld aus bin«, brummte er.

»Nein, du nicht. Du kannst auch gar nicht lügen. Du bist wie Dan!«

»Wer ist Dan? Du hast doch schon einen Freund? Willst du deswegen nach Deutschland?«

»Ein bisschen. Aber nicht nur wegen Dan. Vor allem wegen Evi, und weil wir richtige Freunde sind.«

»Und wir nicht?«

»Doch, wir auch. Und wir bleiben es auch. Wir können uns ja schreiben«, räumte sie ein. Plötzlich sah sie wieder so jung und schüchtern und hilflos aus wie früher. »Wirst du mir schreiben? Und wirst du vielleicht auch mal nach Deutschland kommen?«

»Vorausgesetzt, dass ich mal so viel Geld habe! Dad hält mich ziemlich knapp. Er sagt, dass man sich sein Leben selbst verdienen muss, dann lernt man das Geld schätzen.«

»Geld kann ein Fluch sein.«

»Aber ohne Geld kann man auch nicht leben.« Seine sehnige Hand legte sich auf ihre Schulter. »Vielleicht versuche ich mal, in die Tennismannschaft zu kommen, dann lassen sie mich vielleicht mit nach Deutschland. Doch bis ich mit dem Studium fertig bin, dauert es noch ein paar Jahre.«

»Es dauert ja auch noch ein paar Jahre, bis wir erwachsen sind«, ergänzte sie. »Aber die Zeit vergeht ja so schnell, Jack.«

*

Als Jack sie ein paar Tage später zusammen mit seinem Vater zum Flughafen begleitete, wünschte sich Tammy sogar, dass die Zeit rasch vergehen möge. Seine sonst so fröhlichen Augen blickten traurig, sein Gesicht war blass.

»Mach es gut, Tammy«, murmelte er. »Und vergiss das schreiben nicht.«

»Du auch nicht.«

»Eigentlich sollte man dich nicht so allein fliegen lassen«, überlegte er.

»Schau, da ist noch ein viel kleineres«, bemerkte sie, als ein älterer Herr ein etwa sechsjähriges Mädchen der Stewardess übergab. Sie hielt eine Puppe im Arm und sah reizend aus in dem blauen Mäntelchen mit weißem Kragen.

Später im Flugzeug hatte das Kind seinen Platz neben Tammy. »Ihnen macht es wohl nichts aus, Miss Dickson, wenn Sie sich ein bisschen mit der Kleinen unterhalten, während ich beschäftigt bin?«, fragte die Stewardess.

»Gewiss nicht«, erwiderte Tammy. Aber das kleine Mädchen blieb stumm und betrachtete sie mit ernsten Augen.

»Sie heißt Natascha Oldenhoff.«

Tammy nannte auch ihren Namen.

Nach einer Weile wisperte das kleine Mädchen: »Meine Puppe heißt Miss Molly.«

»Ein hübscher Name.«

»Findest du? Tante Wilma fand ihn scheußlich. Mich mochte sie aber auch nicht.«

Es war Tammy unbegreiflich, dass man ein so hübsches kleines Mädchen nicht leiden konnte. Aber sie wollte keine Fragen stellen.

»Willst du nicht wissen, warum sie mich nicht leiden mochte?«, erkundigte sich die Kleine verwundert.

»Wenn du es mir sagen willst?«

»Weil ich lieber zu Tante Viola wollte und sie nun das Geld kriegt, das Tante Wilma haben wollte«, erwiderte das Kind eifrig.

Geld, Geld – immer geht es um Geld, dachte Tammy.

»Viola ist ein hübscher Name, nicht wahr?«, meinte Natascha. »Ich hoffe, dass Tante Viola auch hübsch ist.«

Es klang ein wenig altklug, aber es verriet Tammy, dass das Kind wohl überwiegend mit Erwachsenen gesprochen hatte. Dementsprechend war auch Nataschas Benehmen. Es machte ihr allem Anschein nach gar nichts aus, allein auf diese weite Reise zu gehen, die sie in eine andere Welt führte.

Für Tammy wurde es ein abwechslungsreicher Flug, denn nachdem Natascha zutraulich geworden war, unterhielt sie sich angeregt mit ihr.

»Fliegst du auch nach Hamburg?«, erkundigte sich das Kind.

Tammy bestätigte es.

»Wirst du auch abgeholt?«, wollte Natascha wissen.

»Ich glaube schon.«

»Weiß du es nicht genau? Ich werde ganz bestimmt abgeholt, hat Dr. Win­dow gesagt.«

»Warst du schon in Deutschland?«, erkundigte sich nun Tammy.

»Früher mal«, erwiderte Natascha. »Ich bin dort auch geboren. Dann hat mich Dad mit nach Toronto genommen.« In ihren Augen schimmerten Tränen. »Er hat seine kleine Natascha allein gelassen«, flüsterte sie. »Ein böser Blitz hat ihn erschlagen. Erschlägt jeder Blitz einen Menschen, Tammy?« Sie begann zu zittern. »Ich habe immer Angst bei Gewittern. Es wird doch jetzt keines kommen? Draußen ist es so schwarz.«

»Es ist Nacht, Natascha«, tröstete Tammy. »Schließ die Äuglein und lehne dich an mich.«

Tammy nahm das fremde Mädchen in die Arme. Ihre eigene Einsamkeit erschien ihr plötzlich geringer. Mehreres verband sie mit Natascha. Sie hatten beide keinen Vater mehr und flogen beide in eine ungewisse Zukunft.

»Passt du auf, dass auch Miss Molly ein wenig schläft?«, raunte das Kind.

»Gewiss. Sie sieht schon sehr müde aus.«

»Du bist lieb. Tante Wilma sagte immer, ich soll mich nicht so mit Miss Molly anstellen. Wirst du sie auch ein wenig festhalten, damit sie nicht fällt und sich nicht weh tut?«

Auch das versprach Tammy, und ganz tief in ihrem Herzen wünschte sie, dass jene Tante Viola, die Natascha sich so hübsch und jung und lieb vorstellte, auch diesem Wunschbild entsprechen möge.

*

Es war nicht mehr viel Zeit bis zur Landung, als Natascha erwachte. Wenn man aus dem Fenster blickte, sah man den blauen Himmel und leichte Federwölkchen, die vorüberhuschten.

»Wir sind bald am Ziel«, sagte Tammy, die ganz steif war, weil sie sich nicht zu rühren gewagt hatte.

»Es ist schade, dass ich so lange geschlafen habe«, bedauerte Natascha. »Ich wollte mich doch noch mit dir unterhalten, und nun müssen wir uns bald wieder trennen. Guten Morgen, Miss Molly«, begrüßte sie dann liebevoll ihre Puppe. »Du siehst ja sehr ausgeschlafen aus. Die liebe Tammy hat gut auf dich aufgepasst. Wenn Tante Viola auch so lieb ist wie du«, meinte sie wieder zu Tammy, »werde ich sie sicher gernhaben. Darf ich dir einmal schreiben? Ich kann nämlich schon schreiben. Ich bin schon sechs Jahre, das habe ich dir noch gar nicht gesagt. Aber du wirst Tante Viola ja kennenlernen, und vielleicht kannst du uns auch einmal besuchen. Sie wohnt auf einem Schloss. Meine Mutti war nämlich eine Baronesse. Und Tante Viola ist auch eine. Deswegen hat Tante Wilma sich wohl auch immer geärgert.«

Nun wusste Tammy schon sehr viel von dem kleinen Mädchen. Tante Wilma war also keine Baronesse – wahrscheinlich war sie die Schwester von Nataschas Vater, überlegte Tammy.

Durch den Lautsprecher wurde die baldige Landung bekanntgegeben.

Tammy half Natascha beim Anschnallen, die sehr darauf bedacht war, dass auch Miss Molly unter den Gurt kam.

»Ich möchte mich gar nicht so schnell von dir trennen«, wisperte das Kind, und in ihrem Stimmchen bebte es verdächtig.

Dann setzte die Maschine auf dem Boden auf. Natascha klammerte sich an Tammys Hand. Gemeinsam gingen sie durch den Zoll, und gemeinsam betraten sie auch die Halle.

*

Ingrid van Droemen, Daniel, Evi und Marco waren zum Empfang gekommen. Evis Augen weiteten sich staunend, als sie an Tammys Seite das kleine Mädchen bemerkte.

»Sie bringt noch jemanden mit«, staunte Marco.

»Tammy«, rief Evi freudig und umarmte die Freundin, während Dan etwas langsamer näher kam.

»Wen bringst du denn da mit?«, fragte er zur Begrüßung.

»Natascha. Sie soll abgeholt werden. Können wir erst einmal Ausschau nach ihrer Tante halten?«

Aber es schien niemand hier zu sein, der ein kleines Mädchen erwartete.

»Wie heißt denn die Tante?«, mischte sich nun Ingrid van Droemen ein. »Wir können sie ja ausrufen lassen.«

»Viola«, sagte Natascha brav.

»Und wie noch?«, fragte Dan.

»Es ist ein schwerer Name. Ich bin jetzt so aufgeregt«, stammelte Natascha. »Ich muss erst überlegen.«

»Aber deinen Namen weißt du doch?«

»Sie heißt Natascha Oldenhoff«, sagte Tammy schnell.

Für Ingrid wie auch für die Kinder stand es fest, dass man das Kind nicht einfach seinem Schicksal überlassen konnte. Kurze Zeit später schallte Nataschas Name durch den Lautsprecher, aber die wiederholten Aufforderungen, dass das Kind abgeholt werden solle, verhallten ungehört.

»Was tun sprach Zeus?«, fragte Dan.

Nataschas Augen waren tieftraurig und beinahe schwarz. »Und ich hatte mich doch so auf Tante Viola gefreut«, flüsterte sie. »Nun will sie mich auch nicht.«

»Das scheinen ja Zustände zu sein«, brummte Dan. »So ein kleines Kind einfach allein in der Weltgeschichte herumreisen zu lassen.«

»Ich kann vielleicht einiges erklären, aber was wollen wir jetzt mit ihr machen?«, flüsterte Tammy so leise, dass Natascha es nicht hören konnte.

»Mitnehmen werden wir sie«, erklärte Ingrid van Droemen. »Wir hinterlassen eine Nachricht, und wenn die unpünktliche Tante dann kommt, soll sie Natascha bei uns abholen.«

»Ihr seid sehr nette Menschen«, versicherte Natascha. »Darf Miss Molly auch mitkommen?«

»Miss Molly ist ihre Puppe«, erklärte Tammy rasch, als sie die erstaunten Blicke bemerkte.

»Selbstverständlich darf Miss Molly mitkommen«, lächelte Ingrid.

»Eine sehr schöne Puppe hast du«, mischte sich nun erstmals Marco ins Gespräch, der das im Stich gelassene kleine Mädchen voller Mitgefühl anblickte. Er wusste, wie es war, wenn man auf jemanden wartete. Er hatte es schon selbst erlebt.

*

»Ich verstehe das nicht«, sagte Viola von Mircovich zu ihrer alten Angestellten und Vertrauten, Adele, »zuerst war es doch ganz sicher, dass sie mir Natascha schicken wollte – und nun dieses Telegramm: Natascha erkrankt, neue Instruktionen abwarten. Wilma. Verstehst du das, Adele?«

»Ich verstehe nur, dass diese Frau keinen Anstand besitzt. Und mein kleiner Finger sagt mir, dass da irgendwas nicht stimmt.«

»Nun mal doch nicht den Teufel an die Wand. Ein Kind wird schnell mal krank.«

»Aber diese Frau muss ein Drachen sein. Wenn ich mir vorstelle, dass so was die Schwägerin unserer Angela war, und dass ihr Kind so lange mit ihr leben musste … Aber dieser Dr. Window hätte etwas mehr von sich hören lassen können. Schließlich verwaltet er doch Nataschas Vermögen.«

»Rede jetzt nicht von Geld. Ich mache mir Sorgen um das Kind. Ich werde sofort an Wilma telegrafieren, dass sie ausführlich Nachricht geben soll, und wenn es nicht anders geht, fliege ich nach Toronto.«

»So großzügig können wir nun auch wieder nicht mit dem Geld umgehen.«

»Es wird zu machen sein. Ich muss schließlich wissen, was da gespielt wird. Natascha ist die Tochter meiner Schwester, deshalb habe ich das erste Anrecht auf sie.«

»Wilma Oldenhoff ist zwar die Schwester Ihres Vaters, aber so, wie ihre Briefe klingen, geht es ihr nur um das Geld.«

Nachdenklich blickte Viola vor sich hin. Das Geld! War das der Schlüssel? War Natascha gar nicht erkrankt?

»Jetzt müsste die Maschine gelandet sein, mit der Natascha kommen sollte«, überlegte Viola laut.

»Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das kleine Würmchen gar nicht mit nach Kanada gehen dürfen«, brummte Adele.

»Immerhin war Bernd Nataschas Vater«, stellte Viola leise fest, »und das Kind war alles, was ihm von Angela geblieben war. Er hat sie sehr geliebt. Vielleicht hat er sich insgeheim immer gewünscht, mit ihr vereint zu sein und vielleicht hat Gott ihn deshalb so rasch zu sich geholt.«

»Wenn ich das schon höre«, knurrte Adele. »Manchmal, so meine ich, ist der liebe Gott recht unberechenbar.«

*

Einige tausend Kilometer entfernt lachte zur gleichen Zeit eine Frau boshaft auf.

»So, mein lieber William, nun können wir teilen«, sagte sie zu Dr. Win­dow.

Er machte ein unbehagliches Gesicht. »Mir ist nicht ganz wohl bei dieser Transaktion«, gestand er.

»Transaktion ist gut«, lächelte Wilma Oldenhoff überheblich. »Deutschland ist dafür bekannt, dass es sich liebevoll um Findelkinder kümmert. Warum plötzlich diese Hemmungen? Wir brauchen beide Geld und werden es dieser Baronesse Mircovich doch nicht in den Rachen werfen.«

»Und wenn sich Natascha an den Namen erinnert?«

»Sie konnte ihn nie richtig aussprechen. So gescheit ist sie nun auch wieder nicht.«

Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Ich finde sie überaus intelligent.«

»Bleiben wir sachlich«, erwiderte sie hart und mit einem eisigen Blick. »Sie haben sich schon einen ganz hübschen Teil aus dem Nachlass meines Bruders unter den Nagel gerissen, mein Lieber. Wenn Sie aussteigen wollen – bitte. Aber es wird Ihnen nicht gut bekommen!«

»Eine Woche werden wir verstreichen lassen«, schlug er vor. »Es ist besser.«

»Gut, eine Woche, aber nicht einen Tag länger«, entgegnete sie drohend.

*

»War hier ein Gewitter?«, fragte Natascha leise, als sie beim Mittagstisch saßen.

»Aber nein, hier ist seit Tagen herrliches Wetter«, antwortete Ingrid van Droemen erstaunt.

»Sie hat Angst vor Gewittern«, warf Tammy rasch ein.

»Dann kann Viola nicht von einem Blitz getroffen worden sein«, überlegte die Kleine.

»Bestimmt nicht«, versuchte Tammy zu trösten.

»Iss doch«, forderte Marco den kleinen Gast auf. »Dann können wir spielen. Vielleicht hat Miss Molly auch Hunger.«

Der Gedanke an Miss Molly lenkte Natascha ab, und etwas später ging sie mit Marco in den Garten.

»Ihr Vater ist von einem Blitz getroffen worden«, erklärte Tammy bekümmert. »Nun hat sie Angst, dass jeder Blitz einen Menschen trifft.«

»Kleine Kinder haben doch die komischsten Gedanken«, stellte Dan fest. »Marco hatte ja auch immer die Vorstellung, dass Mutti am Nordpol gewesen sei. Wir sind schon allerlei gewöhnt, aber Natascha muss einem ja leid tun.«

»Du bist ganz anders geworden, Dan«, meinte Tammy sinnend.

»Ein Verdienst von Marc und Moni«, lächelte Evi. »Es gibt viel zu erzählen, Tammy. Wie gut, dass du dich mit der Kleinen angefreundet hast. Stell dir vor, sie hätte mutterseelenallein dort gewartet. Wie kann man nur so etwas tun?«

Tammy dachte nach. »Die eine Tante wollte sie loswerden und die andere will sie vielleicht nicht haben. Ich wundere mich über gar nichts mehr, seit …« Sie unterbrach sich, dann fuhr sie nach einer kleinen Pause fort: »Wenn schon die eigene Mutter gegen ihr Kind ist, was soll man dann von anderen erwarten?«

In diesem Augenblick wurde Evi bewusst, dass sich auch Tammy viel von ihrem sorgenbeladenen Herzen herunterreden musste.

Unterdessen hatten Marco und Natascha miteinander Freundschaft geschlossen. Marco fand das kleine Mädchen sehr nett. Seine Zuneigung ging jedoch nicht so weit, dass er Natascha für ständig zur Familie zählen wollte. Seine Mutti wollte er nur mit Dan und Evi teilen, das reichte schon. Außerdem gab es ja auch noch Monika, die elfjährige Schwester von Onkel Robs Frau Katrin, die sehr oft zu Besuch kam. Marco war allerdings um einen Ausweg nicht verlegen. »Wenn deine Tante nicht kommt, gehst du eben nach Sophienlust«, erklärte er Natascha. »Da war ich auch ein paar Jahre. Es ist ganz herrlich dort. Es würde auch Miss Molly gefallen.«

»Was ist Sophienlust?«, fragte Natascha.

»Das schönste Kinderheim auf der ganzen Welt. Da gibt es nur nette Kinder und nette Tanten. Und da gibt es Ponys, Hunde und einen Papagei, der Habakuk heißt und alles reden kann. Und spielen kann man so schön dort.«

»Warum bist du dann nicht dort geblieben?«, fragte Natascha weiter.

»Weil ich doch Mutti und Vati habe und meine großen Geschwister.«

»Und warum warst du dann überhaupt dort?«, bohrte Natascha weiter.

»Weil unsere Mutti mal lange krank war.« Seine frühere Vorstellung, dass sie am Nordpol gewesen sei, hatte er inzwischen aufgegeben. Seine Welt war in Ordnung gekommen, Sophienlust war für Kinder da, die sonst niemanden hatten, und während er dort gewesen war, hatten Dan und Evi ja das Internat besucht, auf dem sie Tammy kennengelernt hatten.

Natascha lauschte andächtig, als er von Sophienlust schwärmte. Ihr kam dabei der Gedanke, dass es dort vielleicht noch schöner sein könnte als bei Tante Viola, die sie so schmählich im Stich gelassen hatte. Das verschmerzte Natascha nicht so rasch, denn sie hatte sich Tante Viola sehr lieb vorgestellt, weil Tante Wilma immer nur abfällig über sie geredet hatte. Demzufolge musste sie das Gegenteil von dieser sein, und zu Tante Wilma wollte Natascha auf keinen Fall zurück.

*

Henning van Droemen, von seiner Frau so ausführlich informiert, wie es in diesem verzwickten Fall möglich war, sah die Dinge anders.

»Vielleicht beruht alles auf einem Irrtum«, stellte er sachlich fest. »Die Angehörigen müssen doch zu ermitteln sein. Recherchieren wir einmal: Das Kind wurde von einem Dr. Window zum Flugzeug gebracht.«

»Das sagte Natascha. Tammy konnte nur bestätigen, dass es ein Herr mittleren Alters war.«

»Aber die Fluggesellschaft wird Näheres wissen, und vor allem die Stewardess. Vielleicht sucht man die Kleine schon.«

»Wir haben unsere Anschrift hinterlassen, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, dass wir das Kind mitnahmen«, widersprach sie.

»Soweit in Ordnung. Ich habe ja auch nichts dagegen, dass die Kleine vorerst hierbleibt, aber für die Dauer gesehen wird es ein bisschen eng bei uns. Von den Schwierigkeiten abgesehen, die uns daraus erwachsen können.«

Henning van Droemen war froh, dass die Schwierigkeiten innerhalb seiner eigenen Familie überwunden waren, die entstanden, als sie Marco nach dem Tod seines kleinen Sohnes adoptiert hatten. Nun setzte er alle Hebel in Bewegung, um die Herkunft der kleinen Natascha zu klären, aber für diesen und den nächsten Tag konnte auch er nicht mehr erfahren, als sie schon wussten.

Natascha Oldenhoff schien aus einem Nichts gekommen zu sein.

*

Das Kind hatte eine freundliche Aufnahme gefunden in dem schönen Haus der van Droemens, aber Natascha und Tammy wussten beide, dass es so nicht bleiben konnte. In einer so glücklichen, in sich abgeschlossenen Familie mussten sich die beiden vom Schicksal geschlagenen Geschöpfe überflüssig vorkommen. Da Tammy schon früher den Wunsch äußerte, nach Sophienlust zu gehen, brachte Ingrid van Droemen jetzt sie und Natascha dorthin. Marco durfte sie begleiten, während Evi und Dan nicht die Schule versäumen konnten.

Ihre Miss Molly fest an sich gedrückt, lehnte sich Natascha an Tammy.

»Wenn ich dich nicht gehabt hätte, wo wäre ich dann jetzt?«, fragte sie bekümmert.

Das fragten sie sich alle, aber in Sophienlust fand dieses Problem vorerst eine glückliche Lösung. Für wie lange, das wusste niemand zu sagen.

Mit staunenden Augen ging Natascha durch dieses Paradies. Es war noch viel schöner, als Marco es ihr geschildert hatte.

Marco feierte indessen Wiedersehen mit seinen Freunden. Mit Dominik von Wellentin-Schoenecker, mit Toni, Robby, Roll und Mario. Dann kamen auch Sascha und Andrea von Schoenecker, die bereits ins Gymnasium in der Stadt gingen, das Tammy nun ebenfalls besuchen wollte.

So ganz konnte Natascha die Familienverhältnisse der Wellentins und Schoeneckers nicht verstehen, aber Marco erklärte ihr alles.

»Zuerst war es nämlich so, dass Tante Isi«, das war Denise von Schoenecker, »allein mit Nick war. Er hatte keinen Vati mehr. Und Sascha und Andrea hatten keine Mutti mehr. Dann hat Onkel Alexander Tante Isi geheiratet, und nun sind sie Geschwister. Und das schöne Gut, das hat die Großmama von Wellentin Dominik vererbt.«

»Dem Jungen?«, staunte Natascha. »Ihm gehört es?«

Marco nickte eifrig. »Aber sie wohnen jetzt in Schoeneich. Sophienlust gehört den Kindern. Frau Rennert leitet es. Aber jetzt nennen sie alle Tante Ma, weil sie Tante und Mutti zusammen ist.«

Dann erfuhr Natascha auch noch, dass es einen Wolfgang Rennert gab, Tante Mas Sohn, der Hauslehrer war und vor allem Musik- und Zeichenunterricht gab.

Alles kennenzulernen, war für einen Tag sowieso zu viel und aufregend dazu. Tammy genoss dieses Eldorado der Kinder still und in sich gekehrt. Sie empfand eines ganz besonders: hier regierte Liebe und Verständnis, hier konnte man glücklich sein. Man hatte auch nicht das Gefühl, jemandem zur Last zu fallen, und man konnte sich außerdem nützlich machen. Das taten sogar die Schoenecker-Kinder, wie Tammy beobachten konnte.

»Magst du nicht auch bleiben, Marco?«, fragte Nick seinen kleinen Freund. Aber der schmiegte sich an seine Mutti.

»Ihr habt ja so viel Kinder, und Mutti hat nur mich, wenn Dan und Evi in der Schule sind«, erwiderte er. »Wenn Mutti und Vati mal verreisen, dann besuche ich euch. Dann kommt die Moni auch mit.«

Rührend war der Abschied von Natascha. »Gefällt es dir?«, erkundigte sich Marco.

Sie nickte. »Miss Molly gefällt es auch. Besonders Habakuk macht ihr großen Spass. Nun braucht Tante Viola gar nicht mehr zu kommen«, fügte sie trotzig hinzu, »und Tante Wilma würde sich schön ärgern, wenn sie wüsste, dass ich es hier so gut habe.«

Denise von Schoenecker, die dies gerade noch vernahm, horchte auf. Was war mit dieser Tante Wilma? Bei ihr musste man einhaken, um Licht in das Dunkel zu bringen, das fühlte sie. Man schickte ein Kind nicht über den Ozean in die Ungewissheit, wenn man besorgt um dieses Kind war. Und es musste auch Geld vorhanden sein, wenn man ein teures Flugticket erster Klasse bezahlen konnte.

*

Auch Viola von Mircovich war zu der Überlegung gekommen, dass etwas nicht stimmen könne. Ihr Telegramm an Wilma Oldenhoff blieb unbeantwortet. Sie bekam den Bescheid, dass es nicht zustellbar gewesen sei.

»Du kannst sagen, was du willst, Adele, ich schaue mich an Ort und Stelle um«, erklärte sie. »Ich bin es Angelas Kind schuldig.«

Adele widersprach nicht mehr. Sie wurde von schlechten Träumen geplagt, und denen maß sie immer Bedeutung bei.

Viola legte das Bild ihrer früh verstorbenen Schwester in ihren Koffer. Ein sanftes, schönes Gesicht blickte sie an. Angela hatte die Geburt ihres Kindes nicht lange überlebt. Noch im Kindbett hatte sie eine Lungenentzündung bekommen. Sie war immer zart und anfällig gewesen.

Viola dagegen war gesund und kräftig und durchaus nicht sanft. Von dem ehemals großen Besitz der Mircovichs war nicht viel geblieben: ein kleines Schlösschen, das eher wie eine zu groß geratene Villa wirkte und sehr renovierungsbedürftig war, und ein Stück Land, das Viola mit ein paar Leuten bewirtschaftete. Ihren Lebensunterhalt aber bestritt sie aus der Blumenzucht, die zuerst nur ein Hobby gewesen war. Jetzt aber gab es schon ein paar große Gewächshäuser. In ein paar Jahren würde sie es geschafft haben. Aber nun würde ein beträchtlicher Teil ihrer Ersparnisse für diese weite Reise nach Toronto benötigt, denn dort musste sie mit ihrer Suche nach Natascha beginnen, wenngleich Wilma ihr damals mitgeteilt hatte, dass das Kind in New York ins Flugzeug gesetzt würde.

Es war von Anfang an ein wenig mysteriös gewesen, als Bernds Schwester ihr mitgeteilt hatte, dass Natascha den Wunsch geäußert hatte, dass sie bei ihr bleiben wolle, aber Viola hatte sich nicht einen Augenblick dagegen gesträubt. Heiratsabsichten hegte sie nicht. Sie hatte gar keine Zeit und allerdings auch keine Gelegenheit, einen Mann kennenzulernen. Aber ein Kind hätte sie doch beglückt. Alles konnte noch mehr Freude machen, wenn es ein Wesen gab, für das man sorgen konnte. So hatte sie gedacht und sich auf Natascha gefreut. Und dann war dieses Telegramm gekommen! Sie las es noch einmal und steckte es in ihre Tasche.

»Passt mir gut auf die Orchideen auf«, sagte sie zu ihren Gehilfen. »Sie müssen immer bei gleicher Temperatur gehalten werden.«

Sie konnte nur hoffen, dass während ihrer Abwesenheit alles gutging. Ihre Existenz hing davon ab. Hoffentlich würde diese Reise wenigstens nicht umsonst sein.

*

»Eigentlich haben wir großes Glück gehabt, nicht wahr, Miss Molly?«, meinte Natascha zu ihrer Puppe. »Aber das haben wir nur der lieben Tammy zu verdanken. Wenn ich wüsste, wo Tante Viola wohnt, dann würde ich ihr jetzt schreiben, dass sie sich gar nicht mehr um uns zu kümmern braucht. Hier sind viel nettere Tanten. Die bringen die Kinder sogar zur Schule und holen sie wieder ab. Wenn ich in die Schule gehe, musst du aber hübsch zu Hause bleiben. Du kannst dich ja in den Schaukelstuhl setzen und dich mit Habakuk unterhalten.«

»Miss Molly, Miss Molly«, kreischte Habakuk, dass Natascha auflachte.

»Siehst du, deinen Namen weiß er schon. Kannst du auch Natascha sagen, Habakuk?«

»Braver Habakuk, lieber Habakuk, ist nicht blöd. Tascha, Tascha, Miss Molly«, kam die Erwiderung.

»Du bist nicht nur schlau, du bist auch schön«, meinte Natascha anerkennend.

»Schöner Habakuk«, gurrte der Papagei stolz.

»Tante Viola hat bestimmt keinen so schönen Papagei«, fuhr Natascha fort.

Tante Ma setzte sich zu dem Kind. »Kannst du dich nicht an den anderen Namen von Tante Viola erinnern, Natascha?«, fragte sie behutsam.

»Ich möchte es ja gerne. Manchmal habe ich es beinahe, und dann ist es wieder weg. Witsch – mit witsch war es was, glaube ich. Ich möchte gar nicht mehr daran denken. Ich möchte hierbleiben, Tante Ma.«

Das hatten schon manche Kinder gesagt, und dann waren die familiären Bande doch stärker gewesen. Tante Ma hatte schon ihre Erfahrungen gesammelt.

Nun, Ärger mit den Behörden gab es nicht. Gut Sophienlust genoss als Kinderheim einen so guten Ruf, dass man froh war, wenn man ein verlassenes Kind hier unterbringen konnte. Darüber hinaus brauchte sich niemand finanzielle Sorgen zu machen. Die Stiftung der verstorbenen Sophie von Wellentin ermöglichte es, dass auch völlig mittellose Kinder aufgenommen werden konnten, ohne dass diesem Heim finanzielle Probleme daraus entstehen würden.

Man hatte den Koffer des Kindes noch einmal gründlich untersucht, aber nicht den geringsten Hinweis auf die Verwandten gefunden. Immer mehr kam man zu der Überzeugung, dass Natascha mit Absicht in eine ungewisse Zukunft geschickt worden war.

Bei Tammy lagen die Dinge ganz anders. Denise von Schoenecker war tief erschüttert, als das Mädchen, zögernd, aber doch froh, sich aussprechen zu können, die Gründe für ihren Entschluss, nicht bei ihrer Mutter bleiben zu wollen, dargelegt hatte.

Armes reiches Mädchen konnte man da nur denken, und dabei war Tammy so dankbar für jedes liebe Wort, das man zu ihr sagte. Wie zärtlich sie den kleinen Henrik betrachtete, der jetzt schon manchmal mit nach Sophienlust kommen durfte. Und wie sie sich freute, wenn Claudia Brachmann mit ihrem schon sehr lebhaften Stefan zu Besuch kam, oder Edith, Dr. Wolframs junge glückliche Frau, mit der immer niedlicher werdenden Petra.

»Wenn ich erwachsen bin, werde ich auch ein solches Kinderheim bauen«, bemerkte Tammy jetzt gedankenvoll.

»Du wirst einen netten Mann heiraten und selbst Kinder bekommen, Tammy«, erwiderte Denise nachsichtig. »Weißt du, eine solche Aufgabe kann man nur dann übernehmen, wenn man schon über den Dingen steht und keine eigenen Wünsche mehr hegt. Ich habe es mir auch einmal leichter vorgestellt. Aber eine eigene Familie zu haben ist wundervoll.«

»Wenn man so eine Familie hat wie Sie und wie die van Droemens, dann ja«, bestätigte Tammy leise. »Aber ich bin wirklich froh, dass ich hier sein kann.«

»Das freut mich, Tammy, und wie ich höre, machst du in der Schule jetzt auch gute Fortschritte. Aller Anfang ist halt schwer.«

Zuerst hatte Tammy gar nicht in die Schule gehen wollen. Sie hatte Carola beneidet, die den ganzen Tag in Sophienlust sein konnte. Aber Denise hatte sie zur Einsicht gebracht. Schließlich hatte ihr Vater ihr ein riesiges Vermögen hinterlassen, über das sie in ein paar Jahren frei verfügen konnte. Dazu aber gehörte Umsicht. Und lernen konnte man nie genug, das sagte auch Sascha, mit dem Tammy sich recht gut verstand, obgleich er jünger war als sie.

Nur zwischen ihr und Carola, die früher Rolle genannt worden war, wollte kein rechter Kontakt aufkommen. Darüber war Denise sehr erstaunt, denn im Grunde ihres Wesens waren sich die beiden Mädchen recht ähnlich. Beide waren sie zurückhaltend, fast scheu, und auch altersmäßig hätten sie gut zueinandergepasst.

So talentiert Carola im Malen war, so talentiert zeigte sich Tammy in der Musik. Sie spielte schon sehr gut Klavier und Orgel und wollte nun auch noch Geige spielen lernen. Andächtig lauschte sie, wenn Wolfgang Rennert spielte.

War vielleicht er der Grund für die unterschwellige Rivalität der beiden Mädchen, fragte sich Denise, als sie einen Blick von Carola auffing, der ihr zu denken gab. Du lieber Himmel, wuchsen in Sophienlust nun solche Probleme heran?

Im Augenblick aber war und blieb das Problem Nummer eins Natascha! Gab es diese Tante Viola überhaupt? Noch wussten sie gar nichts.

*

Viola von Mircovich betrat das riesige Sägewerk am Rande von Toronto mit gemischten Gefühlen. Hier hatte ihr Schwager Bernd Oldenhoff also gearbeitet und wohl auch sein Glück gemacht, wie er ihr noch vor einem Jahr geschrieben hatte.

Es geht uns gut, stand in seinem letzten Brief. Natascha wird es an nichts fehlen. Ich versuche, ihr Vater und Mutter zugleich zu sein, soweit es meine freie Zeit zulässt.

Hatte er viel freie Zeit gehabt?, fragte sich Viola. Forderte ein solcher Riesenbetrieb beängstigenden Ausmaßes nicht alles von einem leitenden Direktor? Doch darüber nachzudenken, war jetzt keine Zeit. Sie hatte sich angemeldet, und Generaldirektor Cooper erwartete sie.

Ein wuchtiger Mann mit eisengrauen Haaren erhob sich aus seinem Sessel, als Viola eintrat. Er begrüßte sie mit europäischer Höflichkeit. Aber seine Miene drückte dennoch Erstaunen aus. Als sie ihm mit wohlüberlegten Worten den Grund ihres Besuches erklärte, schoben sich seine dichten Augenbrauen zusammen.

»Ich habe Mr Oldenhoff sehr geschätzt«, versicherte er ruhig. »Es war ein harter Schlag für uns alle, als er so jäh aus unserer Mitte gerissen wurde. Aber soweit ich unterrichtet bin, war für seine kleine Tochter sehr gut gesorgt. Er hatte auch eine hohe Lebensversicherung für sie abgeschlossen. Wurde das Kind nicht zu seiner Schwester gebracht? Verzeihen Sie, dass ich darüber nicht mehr so gut informiert bin, aber es liegt immerhin Monate zurück. Doch vielleicht kann Ihnen Dr. Volland darüber Auskunft geben. Er war mit Mr Oldenhoff befreundet. Ich hoffe, dass Sie ihn noch antreffen werden, denn er wollte nach Deutschland zurückkehren.«

»Können Sie mir bitte sagen, wo ich Dr. Volland finden kann?«, fragte Viola rasch.

»Er bewohnt das Haus, das Ihr Schwager gekauft hatte. Ob er noch dort ist?« Er zuckte die Schultern.

Viola bedankte sich. Da Generaldirektor Cooper so entgegenkommend war, ihr einen Wagen mit Chauffeur zur Verfügung zu stellen, war sie in kürzester Zeit bei dem Haus, in dem Bernd Oldenhoff und Natascha früher gewohnt hatten.

Violas Herz begann schmerzhaft zu klopfen, als sie es betrachtete. Es war ein hübsches Haus. Ein schnittiger Sportwagen stand vor der Tür, und eben trat ein mittelgroßer, schlanker Mann auf die Straße.

Viola eilte auf ihn zu, bevor er seinen Wagen erreichte.

»Herr Dr. Volland?«, fragte sie atemlos und beklommen.

Ein flüchtiges Lächeln legte sich um seinen sehr herben Mund. »Heimatliche Laute?«, forschte er ungläubig. »Mit wem habe ich die Ehre?«

»Viola von Mircovich«, erwiderte sie rasch. »Ich bin Bernd Oldenhoffs Schwägerin.«

Seine warmen Augen ruhten fragend auf ihrem Gesicht. »Ihr Name ist mir bekannt. Bernd erwähnte ihn ­manchmal. Was machen Sie in Toronto?«

»Ich suche Natascha, meine Nichte.«

»Guter Gott«, murmelte er. »Bernds Schwester hatte sie doch abgeholt!

Ist sie nicht nach New York gegangen?«

»Ich schwebe in völliger Ungewissheit«, flüsterte Viola. »Ich hoffte so sehr, dass Sie mir vielleicht helfen könnten, nachdem Generaldirektor Cooper mir sagte, dass Sie mit Bernd befreundet waren.«

»Bitte, kommen Sie ins Haus. Ich habe zwar schon alles zusammengepackt, aber auf der Straße können wir uns über so wichtige Dinge nicht unterhalten. Ja, Bernd war mein Freund, und mir ist der Aufenthalt hier verleidet, seit dieses Unglück geschah. Ich kehre in die Heimat zurück.«

Er rückte ihr einen Stuhl zurecht. Mehrere Koffer standen gepackt in der Diele.

»Sie haben Glück, Frau von Mircovich«, sagte er leise. »Morgen wäre ich nicht mehr hier gewesen. Aber nun müssen Sie mir bitte alles genauer erzählen.«

Viola hatte sich vorgenommen, allem und jedem mit Misstrauen zu begegnen, aber dieser Mann flößte ihr doch Vertrauen und sogar eine gewisse Zuversicht ein. Sie konnte sich nicht erklären, warum das so war. Sein sympathisches Gesicht hatte keine besonderen Merkmale, aber es war dennoch kein Dutzendgesicht. Sein Haar war aschblond, voll und glatt.

»Ich hoffte, Wilma antreffen zu können«, begann Viola etwas unmotiviert.

Seine Miene wurde noch ernster. »Bernd verstand sich nicht besonders gut mit ihr, wussten Sie das nicht?«

»Er hat es mir nie geschrieben, aber wir kannten uns ja kaum. Sie kannten ihn besser als ich.«

»Er war ein feiner Kerl«, erwiderte er leise. »Ganz ist er über den Tod seiner Frau nie hinweggekommen. Natascha liebte er abgöttisch, und deshalb bestimmte er wohl auch, dass sie zu Ihnen kommen sollte, falls ihm etwas zustoßen würde. Ich wunderte mich deshalb sehr, als seine Schwester kam und das Kind holte, aber sie versicherte mir, dass Natascha zu Ihnen gebracht werden würde. Dr. Window wird Ihnen darüber noch besser Auskunft geben können als ich.« Er schlug sich an die Stirn. »Mein Gott, Window, er verwaltet doch auch das Vermögen des Kindes. Hat er sich denn noch nicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«

»Nein, ich hatte seinen Namen noch nie gehört, bis Wilma mir diese Vollmacht schickte, die ich unterzeichnen sollte, damit die Lebensversicherung freigegeben werde.«

»Und Sie haben unterzeichnet?«, fragte er bestürzt.

»Natürlich! Es ist doch wohl kaum möglich, Bernds Schwester unlautere Motive zu unterschieben.«

Viola wehrte sich noch immer verzweifelt gegen diesen Gedanken, der nun aber immer heftiger in ihr bohrte.

»Sie sind jung und vertrauensselig«, bemerkte Dr. Volland. »Ich habe mich von solchen Illusionen befreit. Aber was sollen wir hier sitzen und lange reden. Fahren wir zu Dr. Window! Er wird uns sagen können, wo Natascha sich befindet.«

Viola schwankte leicht. »Ich habe Angst«, flüsterte sie.

Seine Hand umschloss beruhigend ihren Arm. »Sie sind erregt und übermüdet. Wahrscheinlich haben Sie auch während des Fluges nicht geschlafen.«

»Sieht man es mir an?«, fragte sie leise.

»Ein wenig«, erwiderte er lächelnd., »aber Sie sehen trotzdem sehr hübsch aus.«

Das Kompliment kam so unerwartet, dass sie tief errötete.

*

Dr. Volland steuerte seinen Wagen schnell und sicher durch den dichten Verkehr. Dann hielt er in der City vor einem sehr seriös aussehenden Bürohaus. Der Lift trug sie zum zehnten Stockwerk hinauf. An einer Glastür stand mit vergoldeten Lettern: Dr. William Window. Schnell drückte Dr. Volland die Klinke nieder. Die Tür sprang auf. Der Vorraum war leer. Die Tür zu einem anderen Raum stand einen Spalt breit offen. Man vernahm eine Männerstimme.

»Ja, sofort. Die Maschine startet in einer Stunde. Wir treffen uns dann.«

Dr. Volland ging mit energischen Schritten in den anderen Raum.

»Ach, Dr. Window, Sie wollen verreisen?«, meinte er ruhig.

Die Tür stand jetzt so weit offen, dass Viola Dr. Window erkennen konnte. Sein Gesicht war gerötet gewesen, jetzt wurde es totenblass.

»Haben Sie etwas dagegen?«, fragte er gereizt. »Ich mache Urlaub.«

»Aber Sie werden sicher fünf Minuten Zeit für die Baronesse Mircovich haben«, erklärte Dr. Volland gelassen. »Sie wird Sie bestimmt nicht lange aufhalten. Sie möchte nur erfahren, wo Natascha sich zur Zeit noch befindet.«

Dr. Window sah aus, als würde ihn jeden Augenblick der Schlag treffen. Er starrte Viola an, als wäre sie ein Geist.

»Woher soll ich das wissen«, stieß er hervor. »Miss Oldenhoff hat das Kind doch mitgenommen.«

»Und Sie haben ihr das Vermögen meines Freundes übergeben?«, erkundigte sich Dr. Volland geistesgegenwärtig. »Das eben wollten wir geklärt wissen. Ich hoffe, Sie können mir hinreichend Auskunft geben, Dr. Window, sonst müsste ich in Anbetracht des Umstandes, dass Sie verreisen wollen, die Polizei einschalten. Vergessen Sie nicht, ich bin auch Jurist.«

Dr. Window geriet in Panik. »Nicht die Polizei«, stöhnte er. Seine Hände zitterten so stark, dass ihm der Aktenkoffer entglitt.

»Ich denke, Sie werden ein späteres Flugzeug nehmen, Dr. Window«, bemerkte er ruhig.

»Ich werde gar keines nehmen«, stieß Dr. Window bebend hervor. »Ich mache nicht mehr mit. Ich setze nicht mein ganzes Leben aufs Spiel. Ja, Wilma steckt hinter dieser ganzen Sache. Sie glaubt, mich in der Hand zu haben, weil sie weiß, dass ich Schulden habe und dass ich mich an Oldenhoffs Vermögen vergriffen habe. Aber das meiste ist noch vorhanden, und den Rest werde ich zurückzahlen.« Er war nur noch ein Nervenbündel. Die blanke Angst saß ihm im Nacken.

Viola mischte sich ein. »Es geht nicht um das Geld im Augenblick. Es geht um das Kind. Wo ist Natascha?«

Dr. Window war auf einen Stuhl gesunken. Er bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor, nur ein Lallen. Und dann sank er mit einem Stöhnen über die Schreibtischplatte.

»Einen Arzt, schnell einen Arzt, er hat einen Herzanfall«, rief Viola aus. »Ich weiß das. Mein Vater ist so gestorben.«

Dr. Volland war schon am Telefon. »Der Notarzt wird sofort kommen«, erklärte er nach wenigen Sekunden.

»Ich muss doch wissen, wo Natascha ist! Wie soll ich sie finden, wenn er vielleicht stirbt?«, jammerte Viola. »Er allein weiß doch, wo Wilma sich jetzt aufhält.«

Dr. Vollands Augenbrauen schoben sich zusammen. »Vielleicht wollte er sich mit ihr treffen«, überlegte er. »In einer Stunde, sagte er, startet die Maschine. Vielleicht hat er das Ticket in der Tasche.«

Er fasste in die Brusttasche von Dr. Window und fand es. »Er wollte nach San Francisco«, murmelte er. »Und hier ist auch die Anschrift von Wilma Oldenhoff. Wenn mich nicht alles täuscht, befindet sich in dem Koffer das Geld, das Natascha gehört. Der gute Window wird noch allerlei Schwierigkeiten bekommen, denke ich.«

Da schlug dieser die Augen auf. »Nicht die Polizei«, flüsterte er wieder. »Nehmen Sie das Geld. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Oh, mein Herz …«

Da kam der Arzt und die Ambulanz. »Wir fanden ihn zufällig«, sagte Dr. Volland ruhig. Viola musste ihn bewundern, aber gleichzeitig kroch ein Frösteln über ihren Rücken.

Man brachte Dr. Window weg. Dr. Volland griff nach dem Aktenkoffer, öffnete ihn und pfiff durch die Zähne, als er die Dollarbündel sah.

»Er hat gesagt, wir sollen es nehmen, es gehört Natascha. Man wollte Sie betrügen, gnädiges Fräulein, ist Ihnen das klar?«

»Das Kind«, flüsterte sie, »nicht mich.«

Er warf ihr einen langen Blick zu. »Ich wollte ohnehin lieber über San Fancisco fliegen«, brummte er. »Vielleicht kann ich noch umbuchen. Meine Koffer sind ja bereits gepackt. Vielleicht wird Wilma Oldenhoff umsonst am Flugplatz auf Dr. Window warten, aber dafür werden wir sie dann in ihrem Hotel überraschen. Oder wollen Sie darauf verzichten?«

»Nein«, erwiderte Viola hart. »Ich will wissen, was mit Natascha ist. Aber Sie haben mir wirklich schon zu viel Zeit geopfert, Herr Dr. Volland.«

»Nicht der Rede wert. Wir wollen doch beide nach Deutschland. Außerdem bin ich genauso daran interessiert, Natascha in Sicherheit zu wissen, wie Sie. Das bin ich meinem Freund Bernd schuldig. Ich freue mich, dass ich Ihnen etwas behilflich sein kann.«

»Etwas? Was hätte ich ohne Sie gemacht? Dr. Window wäre über alle Berge, und ich wüsste nicht, wo ich Wilma und das Kind suchen sollte.«

»Ein bloßer Zufall«, murmelte er. »Wir kamen gerade noch im rechten Augenblick.«

»Es ist dennoch ein scheußliches Gefühl, einem Menschen so einen Schrecken einzujagen, dass er einen Herzanfall bekommt.«

»Das war wirklich nicht unser Problem«, entfuhr es ihm. »Er hatte schon lange ein schwaches Herz. Außerdem soll man nicht vom rechten Weg abweichen. Aber wir müssen uns jetzt beeilen, damit uns Wilma nicht entschlüpft.«

*

»Man wird uns für Bankräuber halten, wenn man uns kontrolliert«, meinte Viola ängstlich.

»Mich wird man nicht kontrollieren«, beruhigte er sie.

»Warum nicht?«, fragte sie und empfand nun doch ein jähes Misstrauen. Kam sie etwa vom Regen in die Traufe? Sie kannte ihn doch kaum. War sie vielleicht doch zu leichtgläubig gewesen, aber traf nicht alles ein bisschen zu gut zusammen? Seine gepackten Koffer, der schnelle Weg zu Dr. Window, sein selbstsicheres Auftreten, als wüsste er genau, dass er den Anwalt in Angst versetzen könne. Und war es nicht rechtswidrig, das viele Geld an sich zu nehmen?

Tatsächlich kontrollierte man ihn nicht. Man fertigte ihn sogar bevorzugt ab, und sie ebenfalls. Es ging alles so rasch, dass Viola erst im Flugzeug wieder richtig zu sich kam.

»Immer noch Angst?«, fragte er lächelnd. Sein Gesicht hatte sich entspannt. Jetzt erst bemerkte Viola, dass er einen sehr männlichen Charme besaß.

»Es ist alles ein bisschen unheimlich.« Ihre Stimme zitterte.

»Mir ist es auch ein bisschen unheimlich, dass ein Mädchen einfach über den Ozean kommt, um nach einem Kind zu suchen, ohne etwas Konkretes in den Händen zu haben. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«

»Irgendwo musste ich doch anfangen. Natascha ist doch meine Nichte.«

»Aber Sie haben sie doch zuletzt als Baby gesehen«, bemerkte er.

»Sie war ein süßes Baby«, flüsterte sie. »Adele hat immer gesagt, dass wir sie nicht hätten weglassen dürfen.«

»Wer ist Adele?«

»Eine langjährige Angestellte und Vertraute zugleich.«

Mit leichtem Geplauder brachte er sie über die durchgestandenen Schrecken hinweg.

»Sie wohnen auf einem Schloss?«, erkundigte er sich.

»Man nennt es so. Viel ist damit nicht mehr los. Aber denken Sie nun um Himmels willen nicht, dass ich an Nataschas Geld interessiert bin.«

»Das denke ich nicht«, erwiderte er. »Übrigens heiße ich Tino.«

Sie sah ihn verwirrt an. In seinen Augen tanzten kleine Flämmchen.

»Ich würde Sie nämlich gern Viola nennen«, fuhr er fort. »Ein bezaubernder Name. Er passt zu Ihren Augen. Übrigens hat Natascha die gleiche Augenfarbe. Wie es wohl Miss Molly gehen wird?«

»Miss Molly?«, entfuhr es Viola verblüfft.

»Nataschas Puppe. Ich habe sie getauft. Ein etwas ausgefallener Name für eine Puppe, nicht wahr? Aber sie ist auch ein ganz ungewöhnliches Kind.«

»Erzählen Sie mir von ihr.«

*

»Ich würde gern wissen, wie es Onkel Tino geht«, sagte Natascha nachdenklich. Sie saß auf der Schaukel und baumelte mit den Beinen. »Früher hat er mich immer geschaukelt.«

Es war das erstemal, dass sie einen fremden Namen nannte. Tammy ­horchte auf. Frau von Schoenecker hatte sie gebeten, darauf zu achten, ob Natascha Namen nannte, denn noch immer waren sie keinen Schritt vorangekommen.

»Wer ist Onkel Tino?«, fragte sie.

»Na eben Onkel Tino«, erwiderte Natascha. »In Kanada ist das anders als hier. Da redet man sich meistens nur mit dem Vornamen an.« Sie versank eine Weile in Schweigen, dann fuhr sie fort: »Ich wäre viel lieber bei ihm geblieben, aber dann hat Tante Wilma mich geholt. Sie hat gesagt, dass sie mich zu Tante Viola bringt.«

»Ist Onkel Tino alt oder jung?«, fragte Tammy.

»Er ist ein Mann, und wenn ich groß bin, heirate ich ihn mal«, versicherte Natascha. »Er sieht ein bisschen aus wie Onkel Lutz.«

Dr. Brachmann war für sie nun auch Onkel Lutz, wie seine Frau für alle Tante Claudia war. Das vereinfachte alles. Natascha war schnell mit allen vertraut geworden. Aber am meisten hing sie doch noch immer an Tammy.

»Ob wir jetzt immer hierbleiben können, Tammy?«, wollte sie wissen.

»Ich denke, du willst Onkel Tino heiraten?«, scherzte die Größere.

»Wenn ich groß bin, aber das dauert noch ziemlich lange. Wie lange hast du gebraucht, um so groß zu werden?«

»Sechzehn Jahre.«

»Und wen willst du mal heiraten? Wolfgang?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Gretli hat neulich Carola geneckt, dass sie aufpassen solle, dass du ihr Wolfgang nicht wegschnappst.«

»Herr Rennert ist Lehrer. Du musst schon respektvoller von ihm reden, Natascha«, entgegnete Tammy verlegen.

»Tante Ma ist seine Mutter, und zu der sagen wir doch auch nicht Frau Rennert«, meinte das Kind unschuldsvoll. »Carola ist schon ein Jahr älter als du.«

»Und viel hübscher als ich.«

Natascha sah sie prüfend an. »Das finde ich nicht«, widersprach sie. »Aber Gretli meint, du hättest so viel Geld, dass du ganz Sophienlust kaufen könntest und Wolfgang dazu. Hast du so viel Geld?«

»Das ist doch alles Unsinn!« Tammy war sehr verlegen. »Gretli sollte so etwas nicht sagen.«

»Das meint Magda auch. Da kommt Nick. Ich werde ein bisschen mit ihm lernen, damit ich in der Schule mitkomme. Hilfst du uns, Tammy?«

»Das macht nur allein.« Tammy wollte lieber einmal mit Carola sprechen. Wich sie ihr deswegen aus,

weil Gretli so dummes Zeug daherredete?

So sehr Tammy aber auch Ausschau hielt, sie konnte Carola nirgends entdecken. Dafür lief ihr Tante Ma in den Weg, und Tammy fasste sich ein Herz.

»Tante Ma, hast du mal einen Augenblick Zeit?«, fragte sie etwas schüchtern.

»Was hast du denn auf dem Herzen, Tammy?«, erkundigte sich Frau Rennert mütterlich.

»Zuerst mal wegen Natascha. Sie hat von einem Onkel Tino gesprochen, aber viel konnte ich aus ihr auch nicht herausbekommen. Und dann wegen Carola. Sie mag mich nicht.«

»Das bildest du dir nur ein.«

»Gretli scheint ziemlichen Unsinn zu reden«, meinte Tammy. »Und Carola scheint dadurch zu denken, dass ich …, ich meine … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich habe doch nur Violinenunterricht bei Wolfgang – bei Herrn Rennert«, stotterte sie.

Tante Ma lächelte nachsichtig. »Ihr seid beide noch viel zu jung, um euch solche Gedanken zu machen. Da lassen wir mal noch ein paar Jahre vergehen.«

»Ich möchte aber nicht, dass jemand denkt, dass ich mir auf mein Geld etwas einbilde. Es ist ja gar nicht meines. Es ist Dads. Und wenn ich erwachsen bin, werde ich mir Mühe geben, alles so zu verwenden, wie er es sich vorgestellt hätte.«

»Das ist sehr vernünftig, Tammy. Würdest du dich jetzt ein bisschen um Petra kümmern? Edith ist in die Stadt gefahren und hat uns die Kleine gebracht.«

Einen größeren Gefallen konnte sie Tammy gar nicht tun. Petra jauchzte auch gleich laut auf, als Tammy kam. Sie war ein süßes kleines Ding mit seidenweichen kastanienbraunen Locken und einem fröhlichen Gesichtchen.

»Tammy singen«, verlangte sie. »Hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp.«

Und Tammy tat ihr den Gefallen. Sie nahm die Kleine auf den Schoß, schaukelte sie hin und her und sang: »Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp. Über Stock und über Steine, aber brich dir nicht die Beine …«

»Dann Papi kommt und Beine gesund macht«, lachte Petra.

*

Wilma Oldenhoff hatte am Flughafen auf Dr. Window gewartet. Die Maschine landete planmäßig, aber Dr. Window war nirgends zu sehen. Unruhe erfasste Wilma. Hatte er die Maschine verpasst?

Ihr lag nichts an Window. Anfangs hatte sie zwar ihre unbestreitbaren weiblichen Reize eingesetzt, um ihn gefügig zu machen, denn gar so einfach war das nicht gewesen, aber ihr Sinnen und Trachten richtete sich ausschließlich auf das Geld.

Es war sinnlos, hier zu warten, denn die nächste Maschine landete erst in vier Stunden. Aber Wilma hatte auch keine Lust, ihr Hotel aufzusuchen. Ihr unruhiges Gewissen ließ ihr keine Ruhe. Immer mehr bewegte sie die Angst, dass ihre Pläne doch noch durchkreuzt werden könnten. Was wurde, wenn Window im letzten Augenblick absprang? Aus war dann der Traum von der Weltreise, von einem Leben, wie sie es sich vorstellte.

Nun, redete sie sich wieder ein, es ist nur etwas dazwischengekommen. Aber was? Dr. Window kann doch gar nicht mehr zurück. Ich habe ihn in der Hand, und Deutschland ist weit weg. Selbst wenn Viola Natascha suchen würde – sie, Wilma Oldenhoff, würde sie nicht so rasch finden. Erst eine Woche war vergangen, seit sie ihr das Telegramm geschickt hatte, dass Natascha erkrankt war. Aber wenn sich das Kind nun doch an den Namen erinnert hatte?

Von Unrast getrieben, suchte Wilma Oldenhoff ein Restaurant auf, später eine Bar. Ein Mann sprach sie an, doch sie war zu einem Flirt nicht aufgelegt. Das wollte sie alles nachholen, sobald sie das Geld in den Händen hatte. Einstweilen aber hatte sie die dicken Geldbündel nur in ihren Träumen vor Augen. Ohne Geld war man nichts. Aber was konnte ein Kind schon mit so viel Geld anfangen?

Anfangs, als sie bereit gewesen war, Natascha nach Deutschland zu schicken, hatte sie gar nicht gewusst, wie viel das Kind erben würde. Aber als William Window es einmal in einem unbedachten Augenblick verraten hatte, war der teuflische Plan in ihr erwacht. Und als er ihr dann auch noch niedergedrückt gestanden hatte, dass er zehntausend Dollar ›entliehen‹ hatte, hatte sie sich zur Ausführung dieses Planes entschlossen.

Wilma merkte gar nicht, wie die Stunden verrannen. Erschrocken blickte sie auf die Uhr. Nun war es bereits zu spät, um noch einmal zum Flugplatz zu fahren, sie musste auf dem schnellsten Weg zum Hotel, wenn sie Dr. Window nicht verpassen wollte.

Das Taxi fuhr ihr viel zu langsam. Ein irrsinniger Verkehr war in der Stadt. Dann wurden sie auch noch durch einen Unfall aufgehalten.

Bleich und abgehetzt erreichte Wilma endlich das kleine Hotel, in dem sie Quartier bezogen hatte, überzeugt, dass niemand sie hier finden würde außer William Window. Deshalb war es ihr, als risse ihr jemand den Boden unter den Füßen weg, als sich in der Halle ein Herr aus einem Sessel erhob.

»Dr. Volland«, ächzte sie, »wie kommen Sie hierher?«

»Mit dem Flugzeug und Taxi«, erwiderte er sarkastisch. »Darf ich Sie mit Baronesse Viola Mircovich bekannt machen, Miss Oldenhoff? Ich glaube, Sie hatten noch nicht das Vergnügen.«

Wilma taumelte zurück. Sie rang nach Worten und nach Fassung. Schließlich zwang sie ein herablassendes Lächeln um ihren Mund.

»Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen. Wollen Sie mir Natascha zurückbringen?«

Vor so viel Unverfrorenheit verschlug es selbst Tino Volland die Stimme. Viola dagegen starrte die andere schreckensbleich an.

»Das Kind ist nicht bei Ihnen?«, fragte sie bebend.

Wilma hatte sich wieder in der Gewalt und versuchte zu retten, was noch zu retten war.

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte sie hochmütig zurück. »Ich habe Natascha doch zu Ihnen geschickt.«

»Und dieses Telegramm? Sie telegrafierten doch, dass Natascha erkrankt sei«, stammelte Viola erregt und holte das zusammengefaltete Papier aus ihrer Handtasche. Ihre Hand bebte dabei so stark, dass Tino Volland sie beruhigend ergriff.

Wilma tat so, als studiere sie das Telegramm genau, obgleich sie ganz genau wusste, welchen Wortlaut es hatte.

»Ich habe Ihnen dieses Telegramm nicht geschickt«, log sie. »Ich telegrafierte Ihnen die Ankunft von Natascha in Hamburg.«

»Sie ist nach Hamburg geflogen?« Viola erregte sich immer mehr.

»Nun mal hübsch langsam«, meinte Dr. Volland. »Gibt es hier nicht einen Raum, wo man sich in Ruhe unterhalten kann?«

Noch gab Wilma nicht alles verloren.

»Gehen wir auf mein Zimmer«, schlug sie vor. »Sie sehen mich erschüttert.« Es klang fast überzeugend.

»Sie wundern sich gar nicht, dass wir Sie hier gefunden haben?«, erkundigte sich Dr. Volland sachlich. »Sie hatten der Baronesse doch eine New Yorker Adresse angegeben?«

»Aber nein«, erklärte Wilma dreist, während sie blitzschnell überlegte. »Sollte da eine Intrige von Dr. Window dahinterstecken?«, fragte sie geistesgegenwärtig. »Er wollte doch das Telegramm aufgeben und hat das Kind zum Flugplatz gebracht.«

Viola wollte etwas sagen, aber Tino warf ihr einen mahnenden Blick zu.

»Warum taten Sie das nicht selbst?«, wollte er wissen.

»Warum? Weil mir der Abschied zu schmerzlich gewesen wäre«, erwiderte sie. »Meinen Sie, es wäre mir leichtgefallen, meine Nichte herzugeben? Und Natascha hat auch so schrecklich geweint. Aber ich musste ja den letzten Wunsch meines Bruders erfüllen.«

Du falsche Schlange, dachte Tino Volland, ich werde dich schon noch in die Enge treiben.

»Das klingt alles sehr hübsch«, meinte er, »aber Dr. Windows Version klingt etwas anders. Er erlitt übrigens einen Herzanfall, doch vorher konnte er uns noch alles sagen.« Er übertrieb mit Absicht ein wenig, aber Wilma Oldenhoff hatte sich mittlerweile schon auf alles vorbereitet und konterte gelassen: »Also habe ich Dr. Window dies alles zu verdanken. Ein feiner Anwalt, das kann man wohl sagen. Ich war zu nachsichtig, als er mir gestand, dass er einen Teil des Geldes an sich gebracht habe. Ich dachte, er würde es herbeischaffen, deswegen wollte ich ihm eine Frist geben. Aber jetzt ist mir klar, dass er das arme Kind um das Geld betrügen wollte.«

Dr. Volland überlegte fieberhaft. Wie sollte man ihr das Gegenteil beweisen, solange Dr. Window nicht vernehmungsfähig war?

»So mag es gewesen sein«, gab er zu. »Ich kann es nicht widerlegen. Aber wo ist Natascha? Können Sie beweisen, dass sie nach Deutschland abgeflogen ist?«

»Erkundigen Sie sich doch in New York«, ereiferte sie sich. »Vor genau einer Woche brachte Dr. Window Natascha zum Flugplatz. Man wird es Ihnen bestätigen.«

»Wir werden es überprüfen«, erklärte er. »Aber wenn es nicht stimmt, Miss Oldenhoff, werden Sie der Polizei die wahre Geschichte erzählen müssen. Wenn es Dr. Window nicht schon getan hat.«

»Nennen Sie diesen Namen nicht mehr«, schrie sie hysterisch. »Das arme Kind, wo mag es jetzt sein? Wo ist das Geld geblieben?«

»Das Geld ist in gutem Gewahrsam«, erwiderte Dr. Volland kalt. »Dr. Win­dow besitzt es jedenfalls nicht mehr, und Sie werden keinen Cent davon ­bekommen. Es gehört Natascha – und wehe, wenn dem Kind etwas zugestoßen ist!«

Sie kniff die Augen zusammen. »Was ist denn schon bewiesen«, schleuderte sie ihm entgegen. »Vielleicht lügt Fräulein von Mircovich? Vielleicht wollte sie das Kind nicht aufnehmen und hat sich nun eine Räubergeschichte ausgedacht, um sich reinzuwaschen.«

»Wie gemein Sie sind«, mischte sich Viola mit zitternder Stimme ein. »Wäre ich dann nach Toronto geflogen? Ich mache mir Sorgen um das Kind, und wenn ich es nicht finde, werden Sie Ihr ganzes Leben nicht mehr zur Ruhe kommen, das schwöre ich Ihnen.«

»Dafür werde ich sorgen. Regen Sie sich nicht auf, Viola. Ich werde jetzt einmal telefonieren.«

Er ging zur Tür, dann drehte er sich noch einmal um. »Vielleicht erzählen Sie der Baronesse inzwischen, wie gut Sie sich mit Ihrem Bruder verstanden haben, Miss Oldenhoff«, spottete er kalt.

*

Das Gespräch, das er mit New York führte, dauerte ziemlich lange, aber er erfuhr, was er wissen wollte. Als er in das Hotelzimmer zurückkehrte, erschrak er jedoch zu Tode. Viola lag bewusstlos auf dem Boden. Wilma Oldenhoff war verschwunden.

Besorgt hob er Viola auf und rief leise ihren Namen. Sie hatte eine Beule am Kopf, aber als er ihr das Gesicht mit einem nassen Tuch abtupfte, kam sie rasch zu sich.

Verstört blickte sie um sich. »Sie hat mich mit einem Schlüsselbund niedergeschlagen«, stöhnte sie. »Mein Gott, damit konnte ich doch nicht rechnen. Nun ist sie wohl fort?«, fragte sie kleinlaut.

»Ich hätte daran denken müssen, dass ihr die Angst im Nacken sitzt«, entschuldigte er sich. »Armes Mädchen, tut es sehr weh? Aber ich habe eine halbwegs gute Nachricht. Natascha ist tatsächlich von New York nach Hamburg geflogen. Nun, weinen Sie doch nicht, Viola, wir werden sie schon finden. Nur gut, dass ich das Geld im Safe einschließen ließ. Sonst wären wir es womöglich auch noch los.«

»Meines hat sie jedenfalls mitgenommen«, seufzte Viola, als sie in ihre Handtasche blickte. »Der Geldbeutel ist weg. Aber mein Pass ist da«, fügte sie erleichtert hinzu. »Jetzt habe ich nicht einen Cent mehr.«

»Ich bin ja auch noch da, außerdem haben Sie einen ganzen Koffer voll«, tröstete er sie. Doch das war kein echter Trost bei ihrer Sorge um Natascha, denn sie sah das Kind bereits in allen möglichen Gefahren.

*

»Weißt du, Miss Molly«, flüsterte Natascha, »jetzt wäre es gar nicht schön, wenn wir wieder von hier weg müssten. Wir waren immer so allein, aber nun haben wir viele Freunde. Das hätte Daddy sicher auch gefallen. In der Schule ist es auch sehr schön, und Blacky ist ein liebes Hundchen. Nick sagt, wir dürfen ihn immer behalten. Wünschst du dir noch etwas, Miss Molly? Vielleicht könnte uns Onkel Tino mal besuchen? Warum nur hat uns Tante Wilma nicht seine Adresse aufgeschrieben? Du konntest sie auch nicht leiden, nicht wahr, Miss Molly?«

Natascha blickte zum Fenster hinaus. Acht Tage war herrliches Spätsommerwetter gewesen, jetzt zogen drohende Wolken auf, in der Ferne grollte es.

Nataschas Gesicht nahm einen ängstlichen Ausdruck an. »Ob es hier auch blitzt, Miss Molly?«, wisperte sie. »Laufen wir schnell mal zu Tammy? Ach, das können wir ja nicht. Sie ist noch in der Schule. Aber Tante Isi ist heute da.«

Sie drückte ihre Puppe an sich und hastete über den Gutshof. Außer Atem kam sie in der Halle an. Dort befand sich im Augenblick nur Alexander von Schoenecker, den Natascha noch nicht so gut kannte wie die andern, weil er seltener in Sophienlust war.

»Nun, was ist, Natascha?«, fragte er freundlich. »Willst du wieder davonlaufen? Du wirst doch vor mir keine Angst haben?«

»Vor Ihnen nicht«, flüsterte sie, »aber vor den Blitzen.«

»Es blitzt doch noch gar nicht.«

»Aber wenn es erst blitzt, ist es auch schon zu spät«, erwiderte sie angstvoll.

»Komm, Natascha«, sagte Alexander von Schoenecker liebevoll. »Du brauchst keine Angst zu haben. Spiel mit den anderen, dann merkst du gar nicht, dass es donnert.«

»Ich habe aber Angst, wenn Tammy gerade unterwegs ist und die anderen auch.« Mit tränenerfüllten Augen blickte sie ihn an. »Vielleicht hat Tante Viola auch ein Blitz getroffen, weil sie nicht angekommen ist.«

Da kamen Tammy, Sascha und Andrea zur Tür hereingestürzt. »Brr, das gibt ein Wetter«, sagte Sascha. »Gut, dass wir daheim sind. Was schaust du denn so ängstlich, Natascha? Wir sind doch in Sicherheit.«

Tammy zog sie zärtlich an sich. »Wir sind ja alle beisammen«, tröstete sie. »Schau, Miss Molly hat auch keine Angst.«

»Sie sagt es nur nicht. Fühl mal, wie sie zittert.« Aber es waren Nataschas Hände, die so zitterten.

»Wann wird das Kind einmal diese schreckliche Furcht loswerden«, bemerkte Alexander von Schoenecker zu seiner Frau.

»Ob man die je los wird? Ich bin auch nicht die tapferste, wenn es so teuflisch kracht.« Da erschütterte ein furchtbarer Donnerschlag das Haus. Denise flüchtete sich in die Arme ihres Mannes.

Im Musikzimmer verkroch sich Natascha in eine Ecke. Tammy legte schützend die Arme um sie.

»Jetzt hat es gekracht«, meinte Nick gleichmütig.

»Der liebe Gott zankt«, wisperte ein anderes Stimmchen.

Wolfgang Rennert schaute zum Fenster hinaus. »Es ist gleich wieder vorbei«, versuchte er zu beruhigen.

»Hauptsache, die Ernte ist eingebracht«, stellte Sascha nüchtern fest. Jetzt klatschte der Regen gegen die Scheiben, während der Donner bereits verhallte. Nur am Horizont wetterleuchtete es noch.

»Siehst du, Natascha, du brauchst gar keine Angst zu haben«, flüsterte Tammy.

»Hinterher nicht, aber vorher habe ich sie schon«, gab Natascha zurück.

*

Auch das Flugzeug, das Viola und Tino Volland über den Atlantik trug, kam in ein Gewitter.

»Angst, Viola?«, fragte Tino leise.

»Ich weiß nicht recht. Es ist einem wohl bestimmt, wenn man sterben muss. Wie heißt doch der Wahlspruch? Arbeite, als hättest du ein langes Leben vor dir, lebe, als wäre die nächste Stunde deine letzte«, seufzte sie.

»Wenn daran etwas Wahres ist, möchte ich es mir nicht entgehen lassen, Sie wenigstens einmal geküsst zu haben«, lächelte er. Und schon zog er sie an sich und presste seine Lippen auf ihren Mund. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah.

»Schön«, seufzte er. »So möchte ich jedenfalls noch sehr lange leben.«

Ihre Wangen begannen zu glühen unter seinem zärtlichen Blick. Zu erwidern wusste sie nichts.

»Was immer diese schreckliche Wilma auch angerichtet hat, ein Gutes hat sie ungewollt vollbracht: Ich habe dich gefunden«, raunte er ihr ins Ohr. »Was sagst du, Viola?«

»Ich kann doch jetzt nicht an mich denken. Ich muss Natascha finden«, flüsterte sie.

»Wir werden sie finden. Immerhin wissen wir schon, dass der Flug planmäßig verlief. Die Maschine ist ­unbeschadet gelandet. Alles Weitere werden wir bestimmt in Hamburg erfahren.«

»Wenn wir es erleben«, schränkte sie ein. Um sie tobte jetzt ein Inferno, doch die Maschine zog ihren Weg.

Ganz fest legte sich sein Arm um ihre Schultern. »Zurückblickend auf mein bewegtes Leben, möchte ich doch hoffen, dass uns noch einige Jährchen in Ruhe und Frieden vergönnt sein mögen«, murmelte er.

»Wie bewegt war es?«, fragte sie beklommen.

»So bewegt, wie es für einen Wanderer zwischen den Welten nur sein kann. Viel Arbeit und wenig Liebe. Ehrlich gesagt habe ich gar nicht geglaubt, dass es mich mal so erwischen könnte. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich dich verpasst hätte, wenn du nur einen Tag später gekommen wärest, dann dreht sich mir der Magen um.«

»Mir auch – aber das kommt wohl daher, weil die Maschine durchsackt«, gestand sie. »Mir ist schlecht, Tino.«

»Tief atmen, Liebling«, meinte er beruhigend. »Ganz ruhig bleiben und die Augen nicht zumachen. Dann wird es besser. Es ist genauso, wie wenn man einen Rausch hat.«

»Weißt du das so genau?«, fragte sie kläglich.

»O ja«, lächelte er. »Siehst du, jetzt sind wir schon durch.«

Er ließ sie jedoch nicht aus seinem Arm, als die Maschine ihren Kurs wieder ruhig fortsetzte.

»Was will der Wanderer zwischen den Welten in Old Germany?«, erkundigte sich Viola leise.

»Zur Ruhe kommen«, gab er zurück. »Pferde züchten oder auch Schafe – mal sehen, was sich bietet.«

»Vielleicht Blumen?«, schlug sie schelmisch vor. »Aber ist das was für einen Juristen?«

»Für einen, der immer mit diplomatischem Gepäck gereist ist, wäre es nicht übel. Wie kommst du auf Blumen, Viola?«

»Es war mein Hobby und ist mein Beruf geworden«, erwiderte sie.

»Was muss ich investieren, damit ich mitmachen kann?«

Sie blinzelte zu ihm empor. »Gefühl«, antwortete sie leise.

»Noch mehr?«, fragte er zärtlich.

»Ich meine für Blumen.«

»Ich habe bereits alles vorhandene Gefühl in ein einziges Veilchen investiert«, raunte er ihr ins Ohr. »In das schönste, das es gibt. Ich werde es hegen und pflegen und hoffe, dass es viele kleine Ableger bekommt.«

»Du bist ganz schön frech«, entrüstete sie sich. »Ich habe dich für wunder wie seriös gehalten.«

»Aber einen Augenblick hast du doch überlegt, ob du mir auch wirklich trauen könntest«, stellte er gelassen fest.

»Woher weißt du das?«

»Berufserfahrung!«

»Bist du etwa Kriminalist?«, stieß sie verblüfft hervor.

Er küsste sie wieder. »Frage mich nie, was ich war. Frage mich nur, was ich sein will.«

»Was willst du denn sein?«

»Dein Mann«, erwiderte er. »Aber im Übrigen brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass mich eines Tages die Polizei abholen könnte.«

»Vielleicht wegen Devisenschmuggels?«, neckte sie ihn.

Sein Gesicht wurde ernst. »Das ist geklärt, Viola. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Hauptsache, wir finden Natascha.«

*

»Ein kleines Mädchen? Blond, sechs Jahre alt?« Kopfschütteln war zunächst die Antwort auf ihre Fragen am Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel.

Tino Volland griff in seine Brusttasche und zeigte einen Ausweis. Violas Augen wurden groß und rund, als man sie sofort ins Direktionsgebäude leitete.

»Natascha Oldenhoff – da haben wir sie ja. Vor neun Tagen angekommen. Sie sollte abgeholt werden von einer Tante Viola – Nachname unbekannt.«

»Das bin ich«, sagte Viola schüchtern.

»Baronesse Viola von Mircovich«, erklärte Tino gelassen. »Was ist mit dem Kind?«

»Was ist mit meiner Nichte?«, fragte Viola fast gleichzeitig.

»Sie kommen immerhin mit neun Tagen Verspätung?« Es klang höflich, aber nicht frei von einem Vorwurf.

»Über Toronto und San Francisco!«, erklärte Tino. »Meine Verlobte wurde falsch informiert. Sie hat das Kind gesucht und ist deswegen um die halbe Welt gereist.«

»Ihre Verlobte, Herr Dr. Volland?« Das klang wieder überaus entgegenkommend. Viola wunderte sich schon über gar nichts mehr.

»Ja, meine Verlobte. Außerdem war der Vater des Kindes mein Freund. Ich möchte die Angelegenheit schnellstens geklärt wissen.«

»Selbstverständlich! Das Kind kam in Begleitung einer jungen Amerikanerin. Tammy Dickson ist ihr Name. Wir haben alles registriert. Eine Familie van Droemen hat beide aufgenommen. Henning van Droemen ist ein bekannter Mann. Erstklassiger Ruf. Ein reicher Industrieller. Es ist nichts versäumt worden.«

Viola wunderte sich, dass man vor Tino nicht niederkniete. Man überschlug sich ja förmlich vor Höflichkeit. Man entschuldigte sich auch immer wieder, dass man sich nicht weiter um den Verbleib des Kindes gekümmert habe, aber schließlich habe man ja nicht wissen können, dass Dr. Volland daran interessiert sei.

»Wer bist du eigentlich?«, fragte Viola ängstlich, als sie auf der Straße standen und ein Taxi herbeiwinkten.

»Dein zukünftiger Mann, mein Liebling«, erwiderte er gelassen. »Aber damit du dir nicht allzu viel Gedanken machst: Ich bin ausgestattet mit einem Diplomatenpass, der aber bereits seine Bedeutung verloren hatte, als ich dich kennenlernte. Es ist mir ernst, ich werde mit dir Blumen züchten. Doch jetzt wollen wir erst einmal Natascha abholen.«

Er hatte sich das einfach vorgestellt. Ingrid van Droemen empfing sie auch überaus entgegenkommend. Aber dann erfuhren Viola und Tino zutiefst enttäuscht, dass sich Natascha auf Gut Sophienlust aufhielt. Dass sich das Kind in Sicherheit befand, war ihnen im Augenblick nur ein geringer Trost.

*

Es war zu spät, um sofort weiterzureisen. Tino schien es auch angebracht, eine Ruhepause einzulegen. Der unruhige Flug hatte Viola doch sehr zu schaffen gemacht.

»Sie lebt, sie ist gesund«, tröstete er sie über ihre Bedenken hinweg.

»Ich stelle mir vor, was sie empfunden hat, als niemand da war, der sie abholte«, flüsterte sie.

»Wir werden ihr erklären, wie alles zusammenhing. Sie wird es sicher verstehen.«

»Oder nachträglich noch einen Schock bekommen. Ich weiß doch gar nicht, wie sie zu Wilma stand. Immerhin ist auch sie ihre Tante, mag sie sich auch noch so schäbig benommen haben.«

»Schäbig? Ich nenne das kriminell. Aber jetzt wissen wir das Kind in Sicherheit, und du bist in einer nicht gerade guten Verfassung. Du bist müde, mein Liebes.«

Ihr fielen schon fast die Augen zu. »Ich möchte aber noch in Sophienlust anrufen und Bescheid geben, dass wir morgen kommen«, murmelte sie.

»Das überlass mir. Oder denkst du etwa, dass ich auch eine falsche Nachricht gebe?«, fragte er neckend.

»Nein, das denke ich nicht«, flüsterte sie und schmiegte ihren Kopf an seine Brust.

*

Tante Ma wusste nicht recht, ob sie Natascha auf den Besuch vorbereiten, oder ob man besser auf das Überraschungsmoment hoffen sollte.

Das Kind hatte sich rasch eingelebt und fühlte sich ganz zu Hause. Wenn Tammy in ihrem Dasein auch eine bevorzugte Rolle spielte, so verteilte Natascha ihre Zuneigung sonst noch recht gleichmäßig. Sie ging gern zur Schule und machte ihre Hausaufgaben so eifrig, dass sogar der ein wenig faule Nick davon angesteckt wurde.

Seit der kleine Henrik von Schoenecker Denises Zeit beanspruchte, waren die größeren Schoenecker-Kinder wieder häufig in Sophienlust. Sie waren darüber jedoch nicht böse. Sie gehörten eben doch auch hierher und hatten rasch herausgefunden, dass ihr Familienleben darunter nicht litt. Abends hatten Denise und Alexander ja für die drei Zeit. Dann schlief Henrik, mit dem man zwar noch nicht viel anfangen konnte, der aber von allen akzeptiert wurde.

Andrea hing mit großer Liebe an dem Nesthäkchen, während die beiden Jungen ihn mehr als selbstverständliche Zugabe hinnahmen. Jedenfalls gaben sie ein glänzendes Beispiel, dass Kinder mit verschiedenen Müttern und Vätern ohne alle Konflikte einig werden können.

Nach dem schweren Gewitter, das gestern doch ohne schlimme Folgen vorbeigegangen war, zeigte sich Natascha heute wieder redselig.

Irgendwie war das Gespräch in der Schule auf Kanada gekommen, und sie gab ihr Wissen und ihre persönlichen Erfahrungen mit der ihr eigenen Ausdrucksfähigkeit preis.

»Aber im Winter ist es schon mächtig kalt dort – und überhaupt ist es hier in Sophienlust viel schöner«, erklärte sie überzeugend, als Tante Ma gerade wieder einen Anlauf nehmen wollte, sie von dem zu erwartenden Besuch zu unterrichten.

»Hier kann es im Winter aber auch ganz schön kalt werden«, meinte Nick. »Voriges Jahr lag ganz viel Schnee. Dann fahren wir mit dem Pferdeschlitten zwischen Schoeneich und Sophienlust hin und her.«

»Das ist fein. Hoffentlich ist bald Winter«, freute sich Natascha.

»Lieber nicht, der kommt noch früh genug«, meinte Ma.

»Natascha …«, aber schon wurde sie unterbrochen. Man rief sie zum Telefon.

»Was wollte Tante Ma denn?«, fragte die Kleine.

»Wird nicht wichtig gewesen sein. Sie wird es dir schon noch sagen. Gehen wir jetzt zu den Ponys.«

»Ich hole nur noch Miss Molly. Sie sitzt bei Habakuk«, erklärte Natascha.

Was Miss Molly anbetraf, übte Nick große Toleranz. Anfangs hatte er es zwar albern gefunden, dass Natascha mit ihrer Puppe sprach wie mit einem Menschen, aber jetzt hatte er sich längst daran gewöhnt, wie die anderen auch.

*

Adele war während dieser Tage voller Sorge. Von Viola war noch keine Nachricht eingetroffen, und da Adele dazu neigte, alles gleich schwarzzusehen, gab sie sich den schlimmsten Befürchtungen hin.

In einem solchen Anfall tiefster Depression hinein platzte der Ausfahrer mit einer zwei Tage alten Zeitung, in die er eben Blumen hatte einwickeln wollen.

»Lesen Sie das mal, Adele«, sagte er aufgeregt.

»Ich lese grundsätzlich keine Zeitungen«, erwiderte sie mürrisch. »Lasst mich in Ruhe.«

Doch der Fahrer ließ nicht locker. »Da steht was von einem Kind, das ganz allein mit dem Flugzeug aus Amerika gekommen ist und von einer Tante Viola abgeholt werden sollte.«

Nun war Adele plötzlich hellwach und entriss ihm die Zeitung. Tatsächlich, da stand es, und es konnte sich nur um ihre Natascha handeln, denn ihr Name war sogar genannt. Und in ein Heim hatte man das Kind gebracht. Ihr Kind, die Tochter ihrer Angela. Das war ungeheuerlich. Sie hatte doch gleich gewusst, dass da etwas nicht stimmen konnte. Oh, diese Wilma, dieses schreckliche Weib! Sie kannte sie zwar nicht, aber sie traute ihr das Schlimmste zu. Was mochte sich diese Person nur dabei gedacht haben? Und Viola reiste nun womöglich überall herum und suchte die Kleine vergeblich.

»Erkundigen Sie sich, wo dieses Kinderheim Sophienlust liegt, Barthel«, erklärte Adele energisch. »Und schnell muss es gehen, verstanden? Ich fahre hin.«

»Aber vielleicht sollte man lieber einmal anrufen«, bemerkte er vorsichtig. »Es könnte ja sein, dass es nicht stimmt.«

»Nichts da, hier steht schwarz auf weiß, dass sich jeder, der Auskunft über diese Tante Viola geben kann, melden soll. Ich werde doch nicht zulassen, dass man unser Kind in ein Heim steckt.«

Adele zu widersprechen war ohnehin vergeblich. Barthel beeilte sich, ihren Wünschen nachzukommen, und zog dabei den Postmeister zu Rate, der ihm nach einigem Hin und Her tatsächlich die gewünschte Auskunft geben konnte.

Gar so weit war das Gut Sophienlust gar nicht von ihnen entfernt, aber es war ziemlich schwierig, ohne Auto hinzugelangen.

Das war Sand auf Adeles Mühlen. Ans Ende der Welt hatte man ihr Kind verschleppt. Vielleicht verhungerte das arme Würmchen dort inzwischen?

Adele fasste einen geradezu wahnwitzigen Entschluss, kramte alle ihre Ersparnisse zusammen und sagte dem Barthel, dass er ihr ein Mietauto bestellen solle.

Barthel verschlug es die Stimme, aber als sie ihn zornig anfunkelte, beeilte er sich, auch diesem Befehl nachzukommen.

Adele warf sich in ihre besten Gewänder und vergaß sogar den Hut nicht, der zwar längst aus der Mode war, den sie aber sonst nur zu Festtagen beim Kirchgang trug. Und den Schirm nahm sie auch mit. Sie trug ihn wie ein Schwert vor sich her, als sie zu dem Wagen rauschte.

»Das Kind bleibt nicht einen Tag in diesem Heim, so wahr ich Adele heiße«, waren ihre letzten Worte, nachdem sie allen eine eindringliche Predigt gehalten hatte, die Blumen bestens zu versorgen.

Es war wohl schon zwanzig Jahre her, dass Adele weiter gefahren war als bis zur Kreisstadt, und es war ihr verhasst, dass die Autos immer so rasten. Doch heute trieb sie den Fahrer immer wieder zur Eile und fast zur Verzweiflung mit ihrer Kritik, dass dieser alte Kasten viel zu langsam sei.

»Wir sind ja bald da«, beruhigte der Fahrer sie mehrmals. »Fliegen kann ich nicht.«

*

Natascha sah den Kindern zu, die auf den niedlichen Ponys ritten.

»Versuch es doch auch mal«, forderte Nick sie auf. »Es kann dir doch nichts passieren.«

»Miss Molly hat ein bisschen Angst. Ich möchte sie nicht erschrecken«, erwiderte Natascha kleinlaut. Es war ganz gut, wenn man die eigene Angst auf jemand anderen abwälzen konnte, fand sie.

»Natascha«, rief da eine Stimme, und das Kind drehte sich blitzgeschwind um.

»Onkel Tino«, flüsterte sie, dann mischte sich Lachen und Weinen in ihre Stimme. »Wie hast du mich denn gefunden, Onkel Tino? Wie schön, dass du mich besuchen kommst. Miss Molly, Onkel Tino ist gekommen!«

Dr. Volland fing sie in seinen Armen auf. Die junge Dame, die langsam näherkam, dann aber stehen blieb, als sie mit Rührung die herzliche Begrüßung sah, beachtete Natascha gar nicht.

»Es ist noch jemand da, der dich begrüßen möchte, Natascha«, sagte Dr. Volland leise. »Tante Viola!«

Natascha senkte den Blick zu Boden. »Sie braucht jetzt nicht mehr zu kommen«, stieß sie trotzig hervor. »Es ist schön hier. Ich will hierbleiben. Ich habe genug von Tanten.«

Viola wich zurück, als sie diese Worte hörte. Es war ein solcher Schock für sie, dass sie wie gehetzt zum Gutshaus zurücklief, Denise von Schoenecker geradewegs in die Arme.

Viola schlug die Hände vor das Gesicht. Die Angst, die sie um das Kind ausgestanden hatte, die anstrengenden Tage, die aufregenden Erlebnisse und nun die trotzigen Worte des Kindes bewirkten, dass sie hemmungslos zu schluchzen begann.

»Ich kann Natascha ja verstehen«, flüsterte sie unter Tränen. »Ich habe ja gefürchtet, dass es so kommen würde. Wahrscheinlich hätte ich auch nicht anders reagiert. Sie muss sich ja verraten fühlen.«

»Es wird sich schon alles finden«, tröstete Denise. Wie oft hatte sie dies schon gesagt, und manchmal hatte es genützt. Manchmal aber hatte es auch unüberwindliche Schwierigkeiten gegeben.

*

Tino unterdrückte das impulsive Verlangen, Viola nachzulaufen. Im Augenblick war das Kind wichtiger. Sein Verstand arbeitete schnell.

Er sagte ihm, dass Natascha erst recht bockig werden würde, wenn sie jetzt merkte, dass Viola ihm wichtig war, wichtiger als sie selbst. Deshalb nahm er Natascha zärtlich in die Arme.

»Komm, mein Kleines, ich werde dir die Geschichte erzählen«, sagte er.

»Ich will keine Geschichte hören«, erwiderte sie trotzig. »Es ist schön, dass du mich besuchst, und ich freue mich, aber ich habe jetzt viele Tanten. Ich brauche keine Tante Viola mehr und erst recht keine Tante Wilma!«

Er überlegte. »Vielleicht möchte aber Miss Molly die Geschichte hören«, meinte er dann. »Ich finde, dass sie sehr gut aussieht. Die Landluft scheint ihr zu bekommen.«

So hatte er schon früher mit Miss Molly gesprochen, wenn Natascha mal einen trübsinnigen Tag hatte.

»Sie hat auch ein paar sehr schöne Kleider bekommen«, versicherte Natascha eifrig. »Tammy hat sie gehäkelt und gestrickt. Tammy ist lieb. Wir haben uns nie mehr getrennt, seit wir zusammen geflogen sind. Willst du sie kennenlernen, Onkel Tino?«

»Natürlich möchte ich sie kennenlernen, Schätzchen.«

»Bin ich immer noch dein Schätzchen?«, wisperte sie.

»Immer noch«, beteuerte er. »Ich habe dich sehr vermisst.«

Hand in Hand gingen sie nun über den gepflegten Rasen. Natascha hatte ihm Miss Molly überlassen, und er passte sorgfältig auf, dass er sie so behutsam hielt, wie Natascha es erwartete.

»Ich finde, dass Miss Molly gewachsen ist«, stellte er fest.

»Ich auch«, entgegnete sie. »Ich merke es an meinen Kleidern. Miss Molly gefällt es sehr gut hier. Alle sind lieb. Nur reiten wollen wir noch nicht. Aber im Winter, wenn Schnee liegt, fahren wir mit dem Pferdeschlitten, hat Nick gesagt. Besuchst du mich im Winter auch mal oder fliegst du wieder nach Kanada?«

»Nein, ich bleibe jetzt in Deutschland.«

»Fein, dann kannst du mich oft besuchen«, freute sie sich. »Tante Wilma wird doch hoffentlich nicht kommen?«

»Bestimmt nicht, Natascha. War sie böse zu dir?«

»Böse – weiß nicht. Sie hat nicht viel mit mir geredet. Sie hat nur immer herumgemäkelt. Und Miss Molly konnte sie nicht leiden.«

»Miss Molly wird gewusst haben, dass Tante Wilma ein falsches Telegramm an Tante Viola geschickt hat«, sagte er mit einer plötzlichen Eingebung.

»Ein falsches Telegramm? Wieso?«

»Dass du krank bist und nicht kommen kannst.«

»Aber ich war doch gar nicht krank. Dr. Window hat mich doch zum Flugplatz gebracht und gesagt, dass Tante Viola mich in Hamburg abholt. Aber sie war nicht da, und wenn ich

Tammy nicht gehabt hätte, wäre ich ganz allein gewesen. Du musst Tammy kennenlernen, Onkel Tino«, fuhr sie lebhaft fort. »Sie ist schon ziemlich groß, und ich habe sie schrecklich lieb. Ich möchte immer mit ihr zusammenleben.«

»Ich hätte aber sehr gern, dass wir zusammenbleiben, Natascha«, machte er einen behutsamen Vorstoß.

»Du und ich?«, staunte sie.

»Und …« Aber er kam nicht weiter, denn sie unterbrach ihn sofort.

»Und Tammy! Du könntest sie heiraten, Onkel Tino. Das wäre wirklich schön.«

Er setzte sich auf eine Bank und zog sie auf seinen Schoß. »Jetzt höre mir einmal gut zu, Natascha. Ich sagte dir, dass alles ein Missverständnis war. Viola bekam ein Telegramm, dass du krank wärest und nicht kommen könntest. Deshalb fuhr sie nicht nach Hamburg, um dich abzuholen.«

»Aber man kann doch nicht etwas schreiben, was nicht wahr ist«, überlegte Natascha. »Du sagst das nur so, oder Tante Viola hat das gesagt, weil sie mich nicht haben wollte.«

»Aber sie will dich doch haben«, stöhnte er. »Sie ist sogar nach Kanada geflogen, als sie keine Nachricht mehr von Tante Wilma bekam. Sie wollte dich suchen.«

»Das verstehe ich nicht. Sie wusste doch, wo ich war. Sie hätte nur nach Hamburg kommen brauchen.«

Er seufzte in sich hinein. Wie sollte er es ihr nur begreiflich machen, ohne ihre kindliche Seele zutiefst zu verletzen? Das waren jetzt keine kindlichen Spiele mehr, wie er sie früher mit ihr und Miss Molly zur Unterhaltung gespielt hatte. Jetzt ging es um eine Schicksalsfrage.

»Wie hat Tante Wilma von Tante Viola gesprochen?«, fragte er forschend.

»Nicht viel«, überlegte Natascha. »Sie hat nur gesagt, dass ich ihretwegen ruhig zu ihr gehen könnte, ich würde dann schon sehen, was ich mir einhandle. Sie hat auch gesagt, dass Tante Viola gräßlich eingebildet ist und gar nichts von mir wissen will. Ich habe es nicht geglaubt, aber in Hamburg habe ich es dann doch geglaubt. War sie wirklich in Kanada?«, fragte sie nach einer kleine Pause.

»Dort habe ich sie getroffen. Wir haben dich gemeinsam gesucht.«

Aufmerksam betrachtete ihn das Kind. »Bei Tante Wilma?«, fragte sie. »Habt ihr Dr. Window auch gesprochen? Hat er nicht gesagt, dass ich nach Hamburg geflogen bin?«

»Doch – und deswegen haben wir dich ja nun endlich gefunden. Glaubst du nun, dass Tante Viola dich haben will?«

Natascha zuckte die Schultern. »Hat sie Kinder?«

»Nein.«

»Ich möchte aber lieber hier bei den Kindern bleiben. Ich war immer allein. Ich will nicht wieder allein sein. Und von Tammy will ich mich schon gar nicht trennen.«

»Tante Viola wird dich sehr lieb haben«, versicherte er. »Willst du nicht wenigstens einmal mit ihr sprechen, Natascha?«

»Wollen wir mit ihr sprechen, Miss Molly?«, fragte sie ihre Puppe. »Wir können ihr ja sagen, dass wir ihr nicht auf die Nerven fallen und lieber hierbleiben wollen.«

»Tante Wilma sind wir auch auf die Nerven gefallen, Tanten, die keine Kinder haben, sind alle gleich.«

»Ich möchte Viola heiraten, und dann können wir alle zusammenbleiben«, stieß er hervor, doch schon im nächsten Augenblick merkte er, dass er etwas Falsches gesagt hatte, denn Natascha sah ihn entsetzt an.

»Da siehst du ja, dass sie mich nicht lieb hat«, behauptete sie. »Gleich hat sie dich mir weggenommen. Ich mag sie nicht und will auch nicht mir ihr sprechen.«

Nun war er am Ende seines Lateins. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Mit einem abgrundtiefen Seufzer erhob er sich.

»Dann werde ich es Viola wohl sagen müssen«, murmelte er.

*

Viola meinte, an Halluzinationen zu leiden, als Adele plötzlich hereingerauscht kam: in ihrem schwarzen Mantel, mit Hut und Regenschirm, ihre schwarze Ledertasche mit dem Geld fest an sich gepresst.

»Adele, das kann doch nicht wahr sein«, flüsterte sie überrascht.

Adele war ebenso verblüfft. »Ich denke, sie sind in Kanada?«, staunte sie.

»Schon wieder zurück«, verbesserte Viola.

»Die weite Reise hätten Sie sich sparen können«, brummte Adele. »Das Auto nach Sophienlust hat mich nur achtzig Euro gekostet.«

»Du bist mit dem Auto gekommen?«, fragte Viola fassungslos.

»Wie denn sonst? Als ich in der Zeitung las, dass man das Kind in ein Heim gebracht habe, dachte ich, dass man doch so was nicht zulassen kann. Und nun sind Sie auch da.«

Fast schien sie ein wenig enttäuscht zu sein, dass ihre Initiative überflüssig geworden war.

»Du bist eine gute Seele, Adele«, stammelte Viola. »Stürzt dich auch noch in solche Unkosten.«

»Ich dachte, es würde viel teurer sein«, entgegnete Adele. »Aber wo ist denn nun das Heim, und wo ist das Kind?«

»Das Heim ist hier. Dies alles, was du siehst. So hast du es dir wohl auch nicht vorgestellt?«

»Bei Gott nicht«, gab Adele zu. »Hoffentlich wird es Natascha da bei uns noch gefallen!«

Viola senkte den Kopf. »Ich fürchte, sie will gar nichts von mir wissen.«

»Nichts von Ihnen wissen, wo Sie soviel auf sich genommen haben? Wo ist sie? Ich werde mit ihr sprechen.«

»Das tut Tino schon – ich meine Dr. Volland, Bernds Freund«, erwiderte Viola verlegen. »Er ist mit mir aus Kanada gekommen.«

Adele ächzte. »Darf ich mich erst einmal setzen?«, fragte sie.

»Darf ich dich erst mit Frau von Schoenecker bekannt machen? Sie leitet dieses Heim.«

Beinahe hätte Adele einen Knicks gemacht. »Verzeihung«, sagte sie stockend, »ich vergesse meine guten Manieren.«

Denise von Schoenecker begrüßte sie freundlich. »Ich finde es ganz großartig, dass Sie so spontan gekommen sind. In einem kann ich Sie beruhigen, Natascha war wirklich gut untergebracht.«

»Das sehe ich«, nickte Adele.

»Und sicher wird sie zur Einsicht kommen, wenn sie sieht, wie sehr man sich um sie sorgt. Es ist doch zu verstehen, dass sie einen Schock bekommen hat, als niemand sie abholte. Aber sie wird auch begreifen, dass es ein Missverständnis war.«

»Missverständnis?«, zischte Adele. »Das hat doch diese Person hintertrieben, diese Wilma! Ich habe ihr nie getraut. Ein anständiger Mensch lässt ein kleines Kind nicht allein reisen. Was steckt da dahinter? Haben Sie es herausbekommen«, wandte sie sich an Viola.

»Ich werde dir alles genau erzählen«, versicherte diese. »Aber wird Tino es auch Natascha erklären können?«

»Tino?«, echote Adele nachdenklich.

»Da ist er – aber ohne Natascha«, seufzte Viola schwer. »Adele, das ist Herr Dr. Volland. Er war mir sehr behilflich während dieser Tage.«

Adele musterte ihn durchdringend, aber diese Musterung schien einigermaßen befriedigend auszufallen, denn sie raffte sich zu einem freundlichen Lächeln auf.

»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte sie höflich.

»Das war doch selbstverständlich«, meinte er. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Adele. Aber wie kommen Sie hierher?« Erst jetzt wurde er sich dieses seltsamen Umstandes bewusst.

»Ich möchte jetzt Natascha sehen, wenn es erlaubt ist«, lenkte Adele ab. »Wo kann ich sie finden?«

»Sie ist wieder zu den anderen Kindern gegangen. Ich glaube, zu Tammy«, gestand er zögernd.

»Aber sie gehört hierher, zu uns«, stellte Adele energisch fest. »Sie ist Angelas Tochter. Sie ist eine Mircovich.«

»Wenn Sie ihr das klarmachen können, sind Sie ein Genie«, erwiderte er mit gepresster Stimme. »Natascha hat ihre eigenen Ansichten.«

»Das wäre ja gelacht«, knurrte Adele.

»Nun, dann werden wir uns einmal auf die Suche begeben«, mischte sich Denise von Schoenecker freundlich ein.

*

Ganz eng drückte sich Natascha an Tammys Seite. »Onkel Tino ist gekommen«, raunte sie. »Ich habe mich gefreut. Aber Tante Viola ist nun auch da. Sie wollen mich wegholen, Tammy, aber ich gehe nicht!«

Tammy dachte vernünftig. »Wenn sie gekommen ist, wird es doch gar nicht so sein, wie du dachtest, Natascha. Vielleicht ist sie falsch verständigt worden.«

»Das ist mir alles gleich, Onkel Tino hat auch soviel geredet. Ich bin ganz durcheinander. Aber ich glaube gar nichts mehr.«

»Du hattest dich doch auf deine Tante Viola gefreut«, sagte Tammy leise, obgleich ihr auch nicht gerade leicht ums Herz war. Sie konnte sich eine Trennung von Natascha gar nicht vorstellen. »Ist sie so hübsch, wie du dachtest?«

»Ich habe sie noch gar nicht angeguckt. Ich will sie auch nicht sehen. Das habe ich Onkel Tino auch gesagt. Sie ist bestimmt nicht nett. Sie hat mir Onkel Tino weggenommen. Sie will ihn heiraten.«

»Natascha!«

Der Ruf ließ sie aufhorchen. »Das ist Tante Isi«, stellte sie fest. »Ich werde ihr sagen, dass sie mich nicht weglassen soll. Wenn ich nicht will, dann dürfen sie mich doch nicht mitnehmen, nicht wahr, Tammy?«

»Wir passen schon auf dich auf«, flüsterte ihr Tammy zu.

Nun war Denise von Schoenecker herangekommen. Adele folgte ihr auf dem Fuße.

»Wer ist denn das?«, fragte Natascha leise. »Das kann doch nicht Tante Viola sein?«

»Guten Tag, Natascha«, sagte die alte Frau, und in ihren Augen blinkten Tränen. »Ich bin Adele. Wie deine Mutter schaust du aus«, flüsterte sie. »Mein Liebling – mein kleines Mädchen.« Unaufhaltsam rannen dicke Tränen über Adeles hagere Wangen, sodass Natascha sehr nachdenklich wurde.

»Warum weint sie, Miss Molly?«, fragte sie ihre Puppe.

»Was meint sie?«, fragte Adele verwirrt.

»Sie spricht mit ihrer Puppe, Miss Molly«, flüsterte Denise von Schoenecker ihr zu.

»Wie Angela«, murmelte Adele. Dann trat sie entschlossen auf das kleine Mädchen zu.

»Die Puppe von deiner Mutter hieß Pippa«, erzählte sie. »Ich habe ihr immer Kleider genäht.«

»Kannst du das? War es auch eine so schöne Puppe, und konnte man auch mit ihr reden?«, fragte Natascha verwundert.

»Und wie man mit ihr reden konnte«, erklärte Adele. »Angela hörte nur auf sie. Angela war deine Mutti.«

»Ich weiß«, nickte Natascha. »Daddy hat mir viel von ihr erzählt. Sie war wunder-wunderschön!«

»Ja, sie war wunderschön«, bestätigte Adele.

Denise von Schoenecker gab Tammy einen Wink, und ganz unauffällig zogen sie sich zurück.

»Und was sagte Pippa zu meiner Mutti?«, wollte Natascha wissen.

»Dass man nie bockig sein soll zu Menschen, die es gut meinen.«

»War Mutti bockig?«

»Genau wie du«, erwiderte Adele.

»Miss Molly hat sowas aber noch nie zu mir gesagt«, tadelte Natascha.

»Dann wird sie es jetzt zu dir sagen. Pass mal auf!«

Adele begann zu lispeln. Um fünfundzwanzig Jahre drehte sich ihr Leben zurück. Es war ihr, als säße sie Angela von Mircovich gegenüber.

»Warum bist du bockig, Natascha? Willst du nicht glauben, dass Viola dich lieb hat?«, lispelte sie.

Verblüfft starrte Natascha sie und dann die Puppe an. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihren Lippen.

»So hast du aber noch nie mit mir geredet, Miss Molly«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Ich hatte auch noch keinen Grund dazu«, lispelte Adele. »Ich bin recht böse auf dich, Natascha. Tante Viola hat ihre ganzen Ersparnisse dazu verwendet, um dich in Kanada zu suchen.«

»Aber sie hat doch ein Schloss. Sie ist bestimmt reich, und Tante Wilma sagt, dass sie mich auch nicht haben will.«

»Tante Wilma ist eine Schlange«, lispelte Adele. »Sie wollte Viola eins auswischen.«

Natascha riss staunend die Augen auf. »Was hast du für Ausdrücke, Miss Molly? Und überhaupt, ich konnte dich doch immer verstehen, aber richtig geredet hast du doch noch nie?«

»Du hast nur nicht richtig hingehört. Warte nur, wenn ich erst in Wolkenstein bin, dann werde ich mich mit Pippa unterhalten.«

Natascha richtete ihren Blick auf Adele. »Was ist Wolkenstein?«, fragte sie.

»Wo wir wohnen.« Adele sagte es mit ihrer normalen Stimme.

»Und Pippa gibt es auch noch?«, erkundigte sich Natascha atemlos.

»Ja, Pippa gibt es auch noch.«

»Wie sieht sie aus?«

»Sie hat blonde Locken und blaue Augen. Miss Molly möchte sie sicher kennenlernen.«

Nataschas Unterlippe schob sich trotzig vor. »Aber wenn Miss Molly Pippa nun lieber hat als mich?«, fragte sie.

»Dafür hast du Tante Viola und mich. Und was meinst du, wie lieb wir dich haben werden«, versicherte Adele. Wieder stürzten Tränen aus ihren Augen.

»Du sollst nicht weinen, Adele«, bat Natascha leise. »Miss Molly mag das gar nicht. Ist Wolkenstein weit?«

»Nicht so sehr. In ein paar Stunden sind wir dort.«

»Ist es dort auch so schön wie hier?«

Adele zögerte. Lügen wollte sie bei allem Wohlwollen nicht. »Nicht ganz so schön. Aber wir haben Gewächshäuser, in denen herrliche Blumen blühen.«

»Was für Blumen?«

»Rosen, Nelken, Orchideen, Narzissen, Iris und was es sonst noch gibt. Und außerdem wartet Pippa schon lange auf dich.«

Natascha stellte sich auf die Zehenspitzen und streichelte Adeles runzelige Wange. »Ich habe dich lieb, Adele«, wisperte sie. Dann umarmte sie die alte Frau so stürmisch, dass deren Hütchen ins Rutschen geriet. »Aber weinen darfst du nun nicht mehr, Adele«, raunte sie ihr noch zu.

*

Ganz fest hielt Tino Viola in seinen Armen. »Verliere doch den Mut nicht, mein Liebes«, bat er. »Gemeinsam wird es uns schon gelingen, alle Hürden zu nehmen.«

»So sicher bin ich nicht. Ich kenne doch Adele. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie wird Natascha restlos einschüchtern.«

»Schau mal, sieht das danach aus?«, fragte er verwirrt.

Hand in Hand kamen Adele und Natascha aus dem Park auf das Haus zu. Adele hielt Miss Molly im Arm, und Natascha blickte mit strahlenden Augen zu ihr empor.

Viola glaubte zu träumen, als das Kind auf sie zutrat und leise sagte: »Guten Tag, Tante Viola. Wenn ich mir nur deinen Namen gemerkt hätte, dann hättest du die weite Reise nicht zu machen brauchen. Jetzt werde ich ihn nie mehr vergessen. Adele hat gesagt, dass ich auch eine Mircovich bin. Miss Molly möchte Pippa gern kennenlernen.«

»Pippa?«, entfuhr es Viola verwundert.

Natascha warf Adele einen langen Blick zu. »Pippa hat wohl nur mit Mutti gesprochen?«, fragte sie.

»Ja, nur mit deiner Mutti«, erwiderte Adele und warf Viola einen verzeihungsheischenden Blick zu.

Natascha betrachtete Viola forschend. »Eigentlich habe ich dich mir so vorgestellt«, meinte sie. »Nicht ganz so hübsch. Wenn ich mit nach Wolkenstein komme, darf Tammy uns dann besuchen?«

»Jederzeit«, antwortete Viola rasch und musterte Adele staunend. Wie ­hatte sie nur dieses Wunder vollbracht?

»Eigentlich wollte ich in Sophienlust bleiben, aber wenn Pippa schon so lange wartet, möchte Miss Molly lieber doch nach Wolkenstein fahren«, erklärte Natascha. »Ich werde es Tammy sagen.«

Schnell lief sie davon, sodass Viola endlich Gelegenheit hatte, von Adele Näheres über das Wunder zu erfahren.

»Pippa, ist das nicht die seltsame alte Puppe, mit der Angela immer gespielt hat?«, fragte sie nachdenklich. »Gibt es die überhaupt noch?«

»Natürlich gibt es sie noch«, versicherte Adele. »Und ich möchte doch sehr darum bitten, sie nicht seltsam zu nennen. Sie wird mit Miss Molly reden.«

»Hast du den Verstand verloren?«, fragte Viola atemlos. »Sie kann doch nicht mehr als Mama sagen?«

Mit einem milden Lächeln blickte Adele sie an. »Sie haben gar keine Ahnung, was sie alles sagen kann, gnädiges Fräulein. Sie ist so viel klüger als wir alle.«

Viola lächtelte gedankenvoll. »Ich meine eher, du bist klüger als wir alle, Adele. Wie kann ich nur wieder gutmachen, dass du hierhergekommen bist?«

»Liebe Güte, darüber brauchen wir doch gar keine Worte zu verlieren. Miss Molly war überaus vernünftig. Ihr gebührt der Dank, wenn man überhaupt darüber reden muss.«

»Ich hätte Mäuschen spielen mögen«, flüsterte Viola.

»Lieber nicht«, brummte Adele und wechselte das Thema. »Wird Herr Dr. Volland auch mit nach Wolkenstein kommen?«

»Wenn du nichts dagegen hast, Adele?«

»Ich überlege nur, welches Zimmer wir am schnellsten herrichten können. Aber es wäre mir sehr lieb, wenn wir noch heute nach Hause kämen. Ich kann in einem fremden Bett nicht schlafen.«

»Lasst uns fahren, bevor Natascha es sich anders überlegt«, mischte Tino Volland sich ein.

*

»Verstehst du mich, Tammy?«, raunte Natascha. »Miss Molly hat mich überredet. Sie freut sich so auf Pippa. Du kannst uns besuchen, du kannst auch bei uns bleiben, wenn du willst. Aber du möchtest wohl lieber in Sophienlust bleiben?«

»Besuchen werde ich dich bestimmt«, wich Tammy aus, denn sie fühlte genau, dass Natascha sich unbewusst schon entschieden hatte.

»Bist du böse mit mir, Tammy?«, fragte Natascha kleinlaut.

»Nein. Du wirst es bestimmt sehr schön haben.«

»Es ist vor allem wegen Adele. Spielen können alle mit Miss Molly, aber noch keiner hat verstanden, was sie redet. Nur Adele«, meinte Natascha nachdenklich. »Heute habe ich auch zum erstenmal ganz richtig mit Miss Molly gesprochen.«

Tammy wurde manches klar. Sie besaß genügend Fantasie, um sich auszumalen, wie das Gespräch zwischen Adele und Natascha verlaufen war.

»Ich hatte erst gedacht, dass du vielleicht Onkel Tino heiraten könntest«, plauderte Natascha weiter.

»Er ist doch viel zu alt für mich.«

»So? Dann ist er für mich doch noch viel älter. Meinst du, dass er besser zu Violas Alter passt?«

»Sicher.«

Natascha starrte vor sich hin. »Ich werde euch sehr vermissen«, flüsterte sie. »Dich und Nick, Tante Isi und Tante Ma. Und alle. Aber ich habe Miss Molly schon so lange, und jetzt möchte sie zu Pippa. Mache ich es richtig?«

»Es ist bestimmt richtig, Natascha«, bestätigte Tammy mit aller Beherrschung.

*

»Weißt du, Mutti, ein bisschen spinnt Natascha schon mit ihrer Miss Molly«, behauptete Nick. »Puppen können doch gar nicht reden. Außerdem wollte Natascha immer bei uns bleiben,

und nun ist sie so schnell fortgegangen.«

»Und du bist beleidigt«, warf Sascha ein. »Ich habe gleich gewusst, dass Natascha nicht lange bleiben wird.«

»Unser ganz Schlauer«, begehrte Dominik auf. »Woher willst du denn das gewusst haben?«

Sascha schaute verlegen drein. »Tante Claudia hat neulich gesagt, dass die Huber-Mutter gesagt hat … Ach, lass mich doch in Ruhe, ihr lacht mich doch bloß aus.«

»Niemand lacht dich aus, Sascha«, sagte Denise sanft. »Komischerweise ist noch immer eingetroffen, was die Huber-Mutter gesagt hat.«

»Was ist denn dabei komisch«, mischte sich jetzt Andrea ein. »Die Huber-Mutter sieht alles ganz richtig voraus. Sie hat gesagt, dass Tante Babs ein Mädchen bekommt, und das hat gestimmt. Dann hat sie auch gesagt, dass in Sophienlust zweimal die Hochzeitsglocken läuten in einem Jahr. Das hat auch gestimmt. Sie hat auch gesagt, dass es noch einmal einen jungen Wellentin gibt – das ist Kati. Nun red’ doch endlich, Sascha! Was hat sie von Natascha gesagt?«

»Dass ein reiches kleines Mädchen nach Sophienlust kommt, das aber nicht lange bleiben wird. Aber später wird es mal für immer hierher zurückkommen.«

»Später einmal?«, fragte Dominik staunend.

»Hat die Huber-Mutter nicht gesagt, wann sie zurückkommt?«, erkundigte sich Andrea neugierig.

Sascha lächelte verlegen. »Erst wenn sie groß ist. Ach, fragt doch Claudia, die weiß es besser. Vielleicht hat die Huber-Mutter auch gar nicht Natascha gemeint, sondern Tammy. Sie ist doch auch reich.«

»Aber sie ist kein kleines Mädchen mehr«, widersprach Dominik. »Vielleicht meint die Huber-Mutter, dass ich Natascha heirate.«

»Du?«, fragte Sascha empört. »Wenn sie zurückkommt, um einen zu heiraten, dann bin ich es!«

»Ach du lieber Himmel«, stöhnte Alexander, »wie alt sind unsere Söhne eigentlich, Denise?«

Sie lachte leise. »Sascha ist fünfzehn und Dominik sieben. Na ja – bald acht«, räumte sie ein.

»Dann werden wir wohl noch eine Weile warten müssen, bis wir feststellen können, ob die Huber-Mutter immer recht behält«, brummte Alexander.

Sie sah ihn sinnend an. »Ach, Alexander«, seufzte sie, »die Zeit vergeht zu rasch. Viel zu schnell.«

»Wir können sie nicht aufhalten, Liebste«, erwiderte er, zärtlich den Arm um sie legend. »Wir können nur das Beste daraus machen.«

*

Es war schon Nacht, als sie Wolkenstein erreichten. Fast während der ganzen Fahrt hatten Adele und Natascha gewispert, und Viola hatte sich gewundert, warum Adele plötzlich so eigentümlich lispelte. Nun jedenfalls waren sie am Ziel. Dunkel hob sich die Silhouette des Schlößchens gegen den Himmel ab.

Natascha konnte kaum noch die Augen offenhalten, aber sie beharrte dennoch darauf, dass Miss Molly zuerst noch Pippa begrüßen müsse.

Viola konnte sich gar nicht genug wundern, woher Adele diese Pippa so schnell hervorzauberte. Unbeschädigt war die blonde Lockenpracht. Das weiße Kleid war zwar etwas vergilbt, aber das konnten die müden Kinderaugen nicht so genau wahrnehmen.

»Wie vornehm sie aussieht«, staunte Natascha. »Du wirst sehr höflich sein müssen, Miss Molly.«

Pippa machte eine Verbeugung und quäkte: »Mama!« Es klang ein bisschen jämmerlich, aber dafür hatte Adele eine Erklärung: »Sie ist müde. Sie ist gewöhnt, sehr früh zu Bett zu gehen.«

»Wir sind auch müde«, versicherte Natascha.

»Ich werde die drei Damen zu Bett bringen«, schlug Adele vor. »Wir sagen gute Nacht.«

»Gute Nacht, Tante Viola«, flüsterte Natascha. »Gute Nacht, Onkel Tino.«

»Was sagst du nun?«, fragte er Viola, als die leisen Schritte verklungen waren.

»Ich bin sprachlos. Ich kenne doch Adele ein Leben lang. Manches bin ich ja von ihr gewöhnt, aber dass sie sogar die Puppensprache versteht, verschlägt mir die Stimme.«

»Sie war die Retterin in höchster Not. Sie hat einen Orden verdient!«

»Der würde in ihrer Kramkiste landen«, lächelte Viola. »Zwischen alten Knöpfen und Bändern und was sie sonst noch seit Jahrzehnten aufhebt. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, dass Pippa noch existiert.« Sie lächelte in sich hinein. »Aber wer weiß, was ich alles sammeln und aufheben werde, wenn mir ein so langes Leben beschieden sein sollte.«

Seine Lippen suchten ihren Mund. »Hoffentlich ein sehr langes und sehr glückliches Leben, Viola«, flüsterte er.

*

Zurechtfinden konnte sich Natascha am anderen Morgen nicht gleich. Erst ganz langsam wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr in Sophienlust war, und dann sah sie, dass nicht nur Miss Molly, sondern auch noch eine andere Puppe in ihrem Bett lag. Pippa! Ja, richtig, dieser Pippa zuliebe war sie ja eigentlich hergekommen. Aber doch wohl auch Adele zuliebe, die so nett zu ihr gewesen war.

Natascha legte den Finger an die Nase und überlegte. Von Tante Viola hatte sie doch eigentlich nichts mehr wissen wollen, und von Sophienlust hatte sie nicht weggewollt. Wieso war es dann doch so gekommen, dass sie sich von Tammy getrennt hatte und von all den anderen Kindern? Und warum war das gar nicht so furchtbar schlimm gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte?

»Kannst ja wiederkommen, wenn es dir in Wolkenstein nicht gefällt«, hatte Nick gemeint.

Ob es ihr hier nun gefallen würde? Sie musste sich erst einmal umsehen. Gestern war es dazu ja schon zu spät gewesen.

Danach überlegte Natascha, ob es nicht ungerecht gegen Miss Molly wäre, wenn sie Pippa nun die gleichen Rechte einräumte wie ihr. Ähnlich waren sich die beiden Puppen gar nicht. Pippa sah eher ein wenig steif und vornehm aus, aber ein liebes Gesichtchen hatte sie schon, nicht ein so freches wie Miss Molly. Und das weiße Batistkleidchen mit den Spitzen war natürlich etwas ganz anderes als Miss Mollys blauer Rock und die karierte Bluse.

Es hatte auch den Anschein, als sei Miss Molly gekränkt, denn sie machte ihre Augen gar nicht auf. Natascha erhob sich und rückte die beiden Puppen näher zueinander:

»Vertragt euch«, befahl sie streng. »Lernt euch richtig kennen, während ich mich ein bisschen umschaue. Wenn es mir nicht gefällt, fahren wir gleich wieder nach Sophienlust zurück.«

So ein ganz klein bisschen hatte Natascha doch das Gefühl, dass sie sich hatte überrumpeln lassen, und das gefiel ihr gar nicht.

Sie schlich durch das Zimmer. Es war nicht sehr groß und gar nicht modern eingerichtet. Besonders komisch aber war das Bett. Es hatte einen richtigen Vorhang. So ein Bett hatte Natascha wirklich noch nie gesehen, und darin hatte sie nun die ganze Nacht geschlafen!

Ihre Kleidungsstücke waren säuberlich auf einem Hocker zusammengelegt. Natascha zog sich rasch an. In Sophienlust hatte sie zuerst immer duschen müssen, aber vielleicht gab es hier gar keine Dusche. Leise schlich sie aus der Tür, die Treppe hinunter, die ein wenig knarrte. Erschrocken drückte sich Natascha an die Wand, aber niemand kam. Aus irgendeinem Raum, sie wusste nicht, welcher es war, kamen Stimmen, doch ausnahmsweise versuchte Natascha nicht zu lauschen. Sie wollte sich alles ganz allein ansehen. Niemand sollte dabei auf sie einreden, auch Adele nicht. Erst recht nicht Molly, von der sie sich gestern so hatte beschwatzen lassen.

Irgendwo klapperten Milchkannen. Ja, das Geräusch kannte Natascha von Sophienlust. Ganz schnell huschte sie in den Park und versteckte sich hinter einem Baum.

Von dort aus konnte sie Schloss Wolkenstein betrachten. Sie runzelte die Stirn. Ein bisschen anders hatte sie es sich schon vorgestellt. In ihren Träumen war es weiß gewesen und von Rosen umrankt, mit spitzen Türmchen, Giebeln und Erkern und einem goldenen Dach. In Wirklichkeit aber war es grau, Efeu kletterte an den Mauern empor, und auf dem glatten Dach war so ein komisches Gebilde, das aussah wie ein Hahn. Sehr groß war das Schloss auch nicht. Lange nicht so groß wie Sophienlust. Die Fensterläden waren grün und fast alle noch geschlossen.

Natascha beschloss, ihren Erkundungsgang fortzusetzen, da sie sich für Schloss Wolkenstein nicht so ganz begeistern konnte.

Vor ihr tauchten drei langgestreckte Gebäude auf, mit Glasdächern, in denen sich die Morgensonne spiegelte. Natascha entdeckte eine Tür und drückte die Klinke nieder. Es war warm, sehr warm sogar in dem großen Raum. Und da standen unzählige herrliche Blumen, wie Natascha sie noch nie gesehen hatte. Weiß, zartlila, rosa, sogar grünliche Blüten hatten sie. Nataschas Augen und ihr Mund öffneten sich staunend. War sie in einem Zaubergarten? »Jesses, wenn du schon hier hereinkommst, kleines Fräulein, dann schließ’ gefälligst die Tür wieder«, sagte eine raue Stimme. »Die Orchideen vertragen keine Zugluft.«

Ein grauaariger Schopf tauchte aus der Versenkung auf, ein bärtiges Gesicht blickte Natascha an, das ihr aber seltsamerweise keine Furcht einflößte, obgleich die Stimme sie so hart angefahren hatte.

Gehorsam schloss sie die Tür und sagte: »Entschuldigung, ich wusste nicht, dass die Orchi… Wie heißen die Blumen?«

»Orchideen.«

»Orchideen«, wiederholte Natascha langsam. »Wem gehören sie?«

»Der Baronesse natürlich. Bist du die Natascha, wegen der Adele alles hat stehen- und liegenlassen?«

Natascha nickte. »Was hat sie alles stehen- und liegenlassen?«

»Na, eben alles. Wie der Wind war sie auf und davon. So was haben wir hier noch nicht erlebt. Ich bin der Wendelin, und ich bin schon ebenso lange in Wolkenstein wie die Adele.«

»Dann kanntest du auch meine Mutti?«, fragte Natascha beklommen.

»Natürlich kannte ich sie.« Wendelin schneuzte sich erst einmal ausgiebig. »Du bist eine weitgereiste junge Dame. Hast du eine Ahnung, welche Aufregung du hier verursacht hast? Erst reist die Baronesse Viola nach Kanada, um dich zu suchen, und dann tauchst du plötzlich in einem Kinderheim auf. Haben sie dich wenigstens gut behandelt?«

»Es ist ein sehr schönes Kinderheim«, verteidigte Natascha Sophienlust. »Ich weiß gar nicht, ob es mir hier so gut gefallen wird.«

»Na, wenn du nicht weißt, wohin du gehörst«, brummte Wendelin und widmete sich wieder sehr intensiv seiner Arbeit. Natascha hatte das Gefühl, ihn gekränkt zu haben.

»Warum bist du jetzt böse mit mir?«, fragte sie kleinlaut.

»Es gibt keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt als Wolkenstein«, belehrte er sie.

*

»Natascha ist fort«, rief Viola aufgeregt. »Die Puppen liegen im Bett, aber sie ist nicht da.«

»Dann wird sie nicht weit sein«, versicherte Adele. »Ohne ihre Miss Molly geht sie nicht auf und davon.«

»Hat denn niemand sie heruntergehen hören?«, fragte Viola vorwurfsvoll.

»Nun regen Sie sich doch nicht auf«, lenkte Adele ein. »Sie wird sich alles anschauen wollen, wie ich sie kenne.«

»Und feststellen, dass es in Sophienlust viel schöner ist«, ergänzte Viola niedergeschlagen.

Viola setzte ihre Suche fort. Tino, der eben aus dem Gästezimmer trat, schaute ihr verblüfft nach.

»Was hat sie denn?«, fragte er Adele.

»Natascha ist nicht mehr in ihrem Zimmer, und deswegen ist sie gleich ganz außer sich. Nun rennen Sie nicht auch gleich los«, ermahnte sie ihn. »Sie kann doch nicht weit sein.«

»Sie haben gute Nerven, Adele«, bemerkte er.

»Die muss man hier auch haben. Es wird Zeit, dass mal wieder Schluss ist mit dem Weiberregiment. Sie übernimmt sich ein bisschen. Es ist halt nicht so einfach, einen solchen Besitz zu erhalten, wenn man mit jedem Cent rechnen muss. Für das Geld, das sie für die Reise brauchte, wollte sie eigentlich einen neuen Heizkessel kaufen.«

Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. Tino lachte leise.

»Meinen Sie, ich bin ein Mitgiftjäger und Sie können mich mit solchen Bemerkungen vertreiben, Adele? Sie täuschen sich. Viola soll es jetzt ein bisschen leichter haben, dafür werde ich schon sorgen. Und schließlich ist Natascha ja ein recht vermögendes Mädchen.«

»Hat sich die Wilma nicht alles unter den Nagel gerissen?«, erkundigte sich Adele unverblümt.

»Wir konnten es im letzten Augenblick verhindern. Es war schon gut, dass Viola nach Kanada kam. Sonst wäre das Geld weggewesen, und ihr hättet nur das Kind bekommen.«

»Das war ja schließlich die Hauptsache«, meinte Adele. »Aber mein kleiner Finger hat mir immer gesagt, dass da was nicht stimmt. Der Wilma habe ich nie getraut. Man hat manchmal so ein Gefühl, aber unsere Baronesse ist ja viel zu gut für diese Welt. Es wird höchste Zeit, dass ein Mann kommt, der aufpasst, dass sie nicht übervorteilt wird. Aber von Blumen und vor allem von Orchideen werden Sie ja wohl nichts verstehen.«

»Ich werde es lernen, Adele«, versicherte er lächelnd. »Ich war schon immer ein ganz kluges Kind.«

»Na ja,«, räumte sie ein, »dumm schauen Sie auch nicht aus.« Das sagte sie mehr zu sich selber, aber er hatte es doch verstanden und lächelte in sich hinein.

*

Viola lief durch den Park. »Natascha«, rief sie immer wieder, aber es kam keine Antwort.

Endlich kam Barthel des Weges. »Wenn Sie die Kleine suchen, gnädiges Fräulein, die ist beim Wendelin im Orchideenhaus«, gab er Auskunft.

»Beim Wendelin?«, fragte Viola überrascht.

»Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Sie verstehen sich allem Anschein nach schon ganz gut. Ein schlaues Kind ist das«, stellte er anerkennend fest. »Sie will alles gleich ganz genau wissen.«

Leise trat Viola in das Treibhaus. Im ersten Augenblick raubte ihr die warme Luft fast den Atem.

»Und das?«, hörte sie Nataschas Stimmchen, »was ist das für eine Orchidee, Wendelin?«

»Das ist eine Odontoglossum grande«, erwiderte Wendelin.

»Das sind alles sehr schwere Worte«, seufzte Natascha, »ob ich die mal lerne?«

»Ich habe es ja auch gelernt, obwohl alle gesagt haben, dass ich viel zu dämlich dazu bin. Aber wenn man Tag für Tag mit ihnen umgeht, dann merkt man sich die Namen schon.«

»Sag noch mal, wie sie heißt«, verlangte Natascha.

»Odontoglossum grande. Aber schau mal, die Phalaenopsis aphrodite ist noch viel schöner. Es ist uns in diesem Jahr zum erstenmal gelungen, sie zu züchten.«

»Aphrodite kann ich mir merken«, versicherte Natascha eifrig. »Das ist nicht so schwer.«

»Dann werden wir sie Natascha aphrodite nennen«, mischte sich Viola ein. »Hier hätte ich dich zuletzt gesucht, Kleines.«

Natascha musterte sie eindringlich. »Hast du mich gesucht?«, fragte sie.

»Ja, ich war sehr erschrocken, als ich dein Bett leer fand«, gab Viola zu.

»Aber Miss Molly und Pippa sind doch noch drin. Wolltest du mich wecken?«

»Ich wollte nur schauen, ob du auch gut geschlafen hast.«

»Sehr gut«, erwiderte Natascha. »Guten Morgen, Viola. Deine Orchideen sind sehr schön. Du musst mir noch viel von ihnen erzählen.«

»Möchtest du dir die Rosen auch anschauen?«

»Später. Jetzt habe ich Hunger. Wann wird bei euch gefrühstückt?«

»Sofort«, lächelte Viola.

»Das ist gut. Kommt Wendelin auch mit?«

»Er hat sein erstes Frühstück schon hinter sich.«

Nachdenklich ging Natascha neben Viola her. »Weißt du, Viola, Wolkenstein wäre sehr hübsch, wenn es weiß wäre und diese schönen rosa Röschen an den Mauern wachsen würden.«

»Diese Kletterrosen?«, fragte Viola. »Gefallen sie dir?«

»Ich weiß nicht, wie sie heißen, aber sie gefallen mir. Aber du hast jetzt sehr viel Geld gebraucht, nur um nach Kanada zu fliegen. Das hat Adele gesagt.«

»Adele soll nicht soviel schwatzen. Ich bin froh, dass wir dich endlich gefunden haben, Natascha.«

»Eigentlich bin ich ja schuld, weil ich mich nicht an den Namen erinnern konnte«, gab sie zu. »Jetzt weiß ich ihn und werde ihn nie mehr vergessen.

Wenn ich schon früher die schweren Namen von Orchideen gekannt hätte, hätte ich ihn mir viel leichter merken können«, fuhr Natascha fort. »Und die Aphrodite sieht wirklich sehr schön aus. Wir werden sie aber nicht verkaufen, sondern für deine Hochzeit aufheben. Ich werde es Onkel Tino sagen.«

Die Angst, die Viola bewegt hatte, schwand. Vertrauensvoll legte sich die kleine Kinderhand in ihre.

»Blumen sind schöner als Ponys«, sagte Natascha. »Aber einmal möchte ich doch noch nach Sophienlust.«

»Es hat dir sehr gut gefallen dort, nicht wahr?«, fragte Viola mit belegter Stimme.

»Oja, aber wegen Pippa und weil Miss Molly soviel schwatzte, habe ich Blacky vergessen. Den darf ich mir doch holen? Er ist ein lieber Hund.«

»Wenn sie ihn dir geben?«, meinte Viola.

»Nick hat ihn mir versprochen, und was er verspricht, das hält er auch. Mit Habakuk hatte ich auch viel Spass. Das ist der Papagei«, erklärte sie. »Aber hier hätte ich ja keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Miss Molly wird froh sein, dass sie Pippa hat. Ich muss jetzt Orchideen züchten«, verkündete sie eifrig. »Es wird mir sehr viel Spass machen.«

*

Nick stöhnte. »Die scheinen ja eine ganz besondere Schule in Wolkenstein zu haben. Natascha schreibt so viel komische Worte, die ich gar nicht verstehen kann. Sascha sagt, dass es lateinische Namen sind für Blumen.«

»Für Orchideen«, berichtigte Sascha. »Orchideen sind aber tropische Gewächse. Wie kommen die nach Wolkenstein?«

»Man kann sie züchten«, erklärte Denise.

»Das muss ja sehr interessant sein«, bemerkte Sascha. »Könnten wir nicht mal hinfahren, damit ich mir das anschauen kann?«

»Er will ja nur Natascha besuchen«, murrte Nick. »Die Orchideen sind nur ein Vorwand.«

Denise wandte sich ab, um ihr Lächeln zu verbergen. »Nun, wir könnten ja in den Herbstferien mal hinfahren und ihnen Blacky bringen«, schlug sie vor.

»Natascha wollte ihn doch holen«, brummte Nick. »Es ist immer dasselbe. Die nettesten Kinder gehen ganz schnell weg. Ich habe bestimmt gedacht, dass sie wiederkommt.«

»Die anderen Kinder sind auch nett«, mischte sich Andrea ein. »Du hast nur immer deine speziellen Freundinnen, Nick.«

»Was kann ich denn dafür, dass kein Junge da ist, der genauso alt ist wie ich«, begehrte er auf. »Es wird Zeit, dass einer kommt, der zu mir passt.«

Er seufzte schwer. »Wenn ich doch wenigstens auch schon ins Gymnasium gehen könnte, damit ich das blöde Latein lerne. Jetzt ist Natascha schon schlauer als ich.«

Es wurmte ihn ungemein, und er verbrachte an diesem Tag geraume Zeit damit, Sascha und Andrea zuzuhören, wie sie sich gegenseitig lateinische Vokabeln abfragten. Dann aber wurde es ihm doch zu langweilig, und er war heilfroh, als Tammy ihn zum Spielen holte.

»Glaubst du, dass es in Wolkenstein schöner ist als bei uns?«, fragte er Tammy.

»Es ist überall schön, wo Menschen sind, die einen lieb haben«, erwiderte sie.

»Hier haben dich alle lieb, Tammy«, versicherte er. »Oder willst du auch wieder weg?«

Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte nicht weg von hier. Sie beneidete nicht einmal Evi und Dan, die ihr regelmäßig schrieben. Nur manchmal, wenn ein Brief von Jack Wilburn kam, erwachte eine ferne Sehnsucht in ihr, aber nach Amerika wollte sie trotzdem nicht.

Auch von ihrer Mutter war einmal ein Brief gekommen. Sie wünschte, schrieb sie, sie würden sich verstehen. Sie hätten doch nur sich. Wegen Roy Carter brauchten sie keine Differenzen zu haben. Er würde nicht mehr kommen.

Aber nicht nur Roy Carter stand zwischen ihnen, das wusste Tammy jetzt ganz genau. In Sophienlust war ihr deutlich geworden, wie innig man verbunden sein konnte, und auch darüber, wie viel Segen man mit Geld stiften konnte. Sophienlust war kein Internat, in dem nur Kinder aus reichen Familien zusammenkamen oder jeder den anderen übertrumpfen wollte. Hier wurden keine Unterschiede gemacht. Auch nicht für sie, obgleich sie, Tammy Dickson, eine reiche Erbin war. Ihr Zimmer war nicht anders als das der anderen. Alles wurde gleichmäßig verteilt, und selbst die Schoenecker-Kinder mussten sich in die Gemeinschaft einfügen.

Tammy war vollends glücklich hier, seit es zwischen ihr und Carola keine Spannungen mehr gab. Vor ein paar Tagen hatte sie sich ein Herz gefasst und Carola einfach gefragt: »Warum magst du mich eigentlich nicht?«

Ein wenig verwundert hatte Carola sie angesehen. »Wie kommst du denn darauf?«, hatte sie zurückgefragt.

»Ich fühle es doch«, hatte Tammy erwidert. »Immer, wenn ich mit dir reden will, gehst du mir aus dem Weg.«

»Du bist hier, weil es dir Spass macht«, hatte Carola nach kurzem Überlegen gemeint. »Ich aber muss froh sein, dass ich hier sein darf.«

»Aber du bist doch gern hier?«, hatte Tammy geforscht.

»Ich möchte auch immer hierbleiben. Ich möchte nie woanders sein. Du aber kannst hingehen, wohin du willst, du kannst dir kaufen, was du willst.«

»Was ich mir wünsche, kann man nicht mit Geld kaufen«, hatte Tammy geseufzt. »Ich würde gerne mit dir tauschen. Was würdest du anfangen, wenn du viel Geld hättest, Carola?«

»Ich möchte gar kein Geld haben, seit ich hier bin.«

»Dann denken wir beide doch das gleiche«, war Tammys Ansicht gewesen.

»Aber Wolfgang lasse ich mir nicht wegnehmen«, hatte Carola plötzlich hervorgestoßen. »Er hat zu mir gesagt, dass er auf mich wartet, bis ich erwachsen bin.«

»Und ich denke nicht daran, dir Wolfgang wegzunehmen. Was redest du dir nur ein? Wenn ich mal groß bin, heirate ich vielleicht mal Jack, wenn ich überhaupt heirate. Aber warum soll ich mir darüber jetzt schon den Kopf zerbrechen?«

»Ich weiß schon lange, dass ich keinen anderen Mann will als Wolfgang«, hatte Carola entschlossen erklärt.

Tammy hatte gelächelt. »Manch einer weiß es eben früher, der andere später. Aber zwischen uns ist doch jetzt alles okay, nicht wahr, Carola?«

Mit einem Händedruck hatten sie das Versprechen besiegelt.

»Tammy, du träumst wieder mal vor dich hin«, beschwerte sich Nick jetzt.

»Entschuldige«, sagte sie.

»Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen«, entgegnete Nick großzügig. »Ich muss auch manchmal so viel denken, da vergisst man ganz, was man eigentlich tun wollte. Ob Natascha wirklich gern in Wolkenstein ist, oder ob sie nur so schreibt? Vielleicht passte die Tante Viola auf, was sie schreibt. So schwere Worte kann sie doch gar nicht allein schreiben. Wenn ich ihr antworte, sagst du mir dann auch ein paar ganz schwere Worte, die sie nicht versteht? Sie soll nicht denken, dass ein Mädchen gescheiter ist als ich.«

»Wenn das deine einzige Sorge ist, Nick«, lächelte Tammy.

»Aber manchmal möchte ich wahrhaftig lieber ein Mädchen sein.«

»Aber warum denn, Nick?«

»Die brauchen sich nicht so oft die Haare schneiden zu lassen.« Er seufzte schwer. »Das steht uns morgen auch wieder bevor.«

Das waren die kleinen Kümmernisse, die ihn beschwerten. Tammy seufzte und wünschte ihm, dass es nie schlimmer kommen möge.

*

Dass Onkel Tino nicht gleich in Wolkenstein bleiben konnte, wollte Natascha nicht gefallen. Doch für ein paar Wochen mussten sie sich von ihm trennen, damit er seine Angelegenheiten regeln konnte.

Dafür kamen nun die Handwerker nach Wolkenstein, und für Natascha gab es damit genügend Abwechslung. Aus dem grauen Schlößchen wurde ein weißes, wie sie es sich gewünscht hatte, und gleich sah es viel größer aus. Die Rosen konnten aber erst im Frühjahr gepflanzt werden, und es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis sie die Mauern umrankten. Natascha konnte sich aber schon jetzt vorstellen, wie schön das Schlößchchen dann aussehen würde.

Auch in den Zimmern wurden einige Veränderungen vorgenommen. Allerdings bestand Natascha darauf, ihr Himmelbett zu behalten, denn so ein schönes Bett gab es nicht einmal in Sophienlust.

Für Miss Molly und Pippa hatte Natascha jetzt nicht mehr so viel Zeit. Über Orchideen konnte sie sich mit ihnen nicht unterhalten, weil sie dazu nicht gescheit genug waren. Natascha aber befasste sich sehr ernsthaft mit der Blumenzucht, von der Adele leider nicht viel verstand.

Über alles andere aber konnte sich Natascha prächtig mit Adele unterhalten, dazu brauchten sie jetzt keine Miss Molly mehr. Oft war Adeles Kramkiste der Grund für lange Gespräche. Was darin alles zu finden war – Natascha konnte nur staunen. Und jedes Stück hatte seine eigene Geschichte. Bilder, Schmuckstücke, Haarschleifen, wie sie früher die kleinen Mädchen getragen hatten, abgeschnittene Locken, fein säuberlich in Seidenpapier gewickelt, und sogar gepresste vierblättrige Kleeblätter enthielt die alte Truhe.

Zum erstenmal konnte Natascha auch Bilder von ihrer Mutti betrachten, Bilder, die sie als Baby und als kleines Mädchen beim ersten Schulgang mit einer großen Schultüte zeigten.

Was Natascha nicht verstehen konnte, war der Umstand, dass ihre Mutti hier auf dem Friedhof begraben war und ihr Daddy im fernen Kanada. Das jedoch sollte sich ändern, hatte ihr Tante Viola versprochen, und auch deswegen war Onkel Tino noch einmal nach Kanada geflogen. An einem grauen, regnerischen Herbsttag kehrte er zurück, und schon am nächsten Tag wurden die sterblichen Überreste von Bernd Oldenhoff in der Familiengruft der Mircovich beigesetzt.

Es war sehr traurig, wie Natascha feststellte, aber dennoch war sie irgendwie ganz tief im Herzen froh, dass Mutti und Daddy nun beisammen waren. Nun konnte sie mit Viola oder Adele zum Friedhof gehen und den Eltern Blumen bringen. Adele meinte sogar, dass sie sich darüber freuen würden, dass Natascha nun in Wolkenstein

war.

»Daddy würde sich auch freuen, wenn er wüsste, dass Onkel Tino nun Tante Viola heiratet«, beteuerte Natascha. »Aber wenn es so ist, wie du sagst, Adele, dann weiß er es ja.«

Ganz bestimmt wisse er es, versicherte Adele, denn die Seele des Menschen lebe weiter.

Natascha fragte sich nun, wo diese Seelen weiterlebten. In Pflanzen oder in Tieren – oder einfach nur so? Aber solchen Fragen wich Adele aus.

Mit Miss Molly konnte Natascha darüber auch nicht sprechen. Sie gelangte allmählich zu der Erkenntnis, dass sie inzwischen so viel gelernt hatte, dass sie mit Miss Molly und Pippa einfach nicht mehr so reden konnte wie früher. Das war für sie eine erstaunliche Entdeckung, die sie anfangs ein wenig betrübte. Aber vielleicht kam es auch daher, dass sie jetzt mit Adele und Wendelin über alles reden konnte, was sie bewegte.

Dies allerdings war eine Tatsache, die wiederum Viola betrübte. »Warum fragst du nicht mich oder Onkel Tino, wenn du etwas nicht verstehst, Natascha?«, bemerkte sie eines Tages beiläufig.

Das Kind stutzte und sah sie verwundert an. »Adele und Wendelin sind doch so viel älter als ihr«, belehrte sie Viola. »Sie haben schon viel, viel mehr erlebt. Sie haben dich schon gekannt, als du noch ein Baby warst. Kannst du dich daran erinnern, Viola?«

»Nein, daran nicht«, musste Viola zugeben.

»An was kannst du dich zuerst erinnern?«, wollte Natascha wissen.

Viola musste erst einmal überlegen. »Ja, jetzt weiß ich es«, erwiderte sie, »es war, als die Brauerei in der Stadt brannte. Die Feuerwehren kamen. Es war schrecklich aufregend.«

»Wie alt warst du da?«, wollte Natascha wissen.

»Ich weiß es nicht mehr so genau.«

»Warte mal, ich werde Adele fragen«, sagte Natascha und flitzte in die Küche.

»Du warst vier Jahre alt, als die Brauerei brannte«, berichtete sie schon nach wenigen Minuten. »Adele weiß es noch ganz genau. Ihr wart in die Stadt gefahren zum Einkaufen. Mutti hat sich schrecklich gefürchtet, aber du wolltest zuschauen. Fürchtest du dich nie, Viola?«

»Doch, manchmal schon.«

»Auch wenn Gewitter ist?«

»Wir haben ja einen Blitzableiter auf dem Dach«, entgegnete Viola. »Wir brauchen uns nicht zu fürchten.«

»Aber wenn ein Gewitter kommt, wenn du unterwegs bist.«

»Kannst du es nicht vergessen, Natascha?«, fragte Viola beklommen.

»Nein. Es ist das erste, woran ich mich erinnern kann«, erwiderte das Kind ernsthaft.

»Das stimmt nicht, Natascha«, mischte sich Tino ein. »Weißt du nicht mehr, wie wir Miss Molly getauft haben? Das war vorher.«

»War das vorher? Ja, es muss wohl so gewesen sein, denn Daddy war ja noch dabei«, kam es ihr in den Sinn. »Er war so lustig an diesem Tag.« Der Kummer übermannte sie wieder, sie lief rasch hinaus.

Tino hielt Viola zurück, die ihr folgen wollte. »Lass sie«, murmelte er. »Die Erinnerung wird verblassen.«

»Aber ich fürchte, dass die Angst vor dem Gewitter bleiben wird. «

»Vielleicht hätten wir sie doch noch für einige Zeit in Sophienlust lassen sollen. Unter Kindern wird vieles überspielt.«

Ein wehmütiger Ausdruck überschattete nun Violas Gesicht. »Die Schoeneckers werden ja nächste Woche kommen. Vielleicht äußert Natascha selbst den Wunsch, wieder mit nach Sophienlust zu gehen. Sascha und Nick werden schon nachhelfen. Aber ich würde sie sehr vermissen«, fügte sie leise hinzu.

*

Die Schoeneckers kamen, allerdings ohne Denise, denn der kleine Henrik war erkältet, und Denise wollte ihn nicht alleinlassen. Dafür war Tammy dabei, wie Natascha sogleich hocherfreut feststellte.

Und dann sprang auch schon winselnd ein schwarzes Etwas an ihr empor. Blacky hatte sie sofort erkannt, darüber konnte Natascha sich eine ganze Weile nicht beruhigen.

Nick inspizierte alles eingehend. »Doch, es ist ganz hübsch hier«, stellte er fest.

»Es ist sehr schön«, betonte Natascha. »Du musst erst mal die Gewächshäuser sehen, dann wirst du staunen.«

Dafür interessierte er sich ohnehin brennend. Dabei konnte er sich auch überzeugen, dass Natascha all die schweren Namen tatsächlich aussprechen konnte, wofür er ihr seine tiefste Bewunderung nicht verhehlen konnte.

Zu Alexander von Schoeneckers Verwunderung hielt Sascha sich zurück. Er überließ Natascha Nicks Gesellschaft, während Viola sich mit Tammy und Andrea unterhielt. Deshalb kam Natascha selbst zu Sascha und fragte ihn, ob er sich denn nicht für die Gewächshäuser interessierte.

Das täte er schon, meinte er, aber Nick schwatzte ihm zu viel.

»Vertragt ihr euch nicht mehr so gut?«, erkundigte sich Natascha erstaunt.

»Schon, aber wenn es um dich geht, ziehen sie mich immer auf, und das mag ich nicht«, gab er zu.

Das wollte Natascha gar nicht in den Kopf, aber fragen wollte sie weder ihn noch Nick. Andrea schien ihr dafür eher kompetent.

»Das kommt daher, weil die Huber-Mutter gesagt hat, dass du mal nach Sophienlust zurückkommst, wenn du groß bist, und dass du dann immer dort bleibst«, erzählte Andrea kichernd. »Dann haben Sascha und Nick sich gestritten, wer dich heiratet.«

Das fand Natascha gar nicht zum Lachen. Es machte sie sehr nachdenklich.

»Woher will die Huber-Mutter denn sowas wissen?«, erkundigte sie sich interessiert.

»Die sieht doch vieles voraus. Es gibt Menschen, die das können, wenn die meisten auch nicht daran glauben«, erläuterte Andrea. »Aber wir wissen, dass es stimmt.«

»Früher wollte ich mal Onkel Tino heiraten, aber der heiratet ja jetzt Viola, und sie passen auch recht gut zusammen. Findest du nicht?«

»Sie ist sehr hübsch«, bestätigte Andrea.

»Ach, darauf allein kommt’s doch nicht an«, sagte Natascha altklug. »Die Hauptsache ist der Charakter. Ich war mächtig ungerecht. Sie hat mich wirklich lieb.«

»Wir dachten, du würdest vielleicht wieder gern mit nach Sophienlust kommen. Viola hat auch gesagt, dass du es vielleicht gern möchtest.«

»Das hat sie gesagt?« Natascha war ganz blass geworden. »Wie kommt sie darauf?«

»Weil du hier niemanden zum Spielen hast«, meinte Andrea.

»Aber ich gehe doch zur Schule, und dann habe ich so viel zu tun. Wendelin kommt doch ohne mich gar nicht mehr aus«, murmelte Natascha. Dann versank sie in Schweigen. Andrea glaubte, dass sie es sich nun wohl doch überlegte, und überließ sie Saschas Gesellschaft, der die Gewächshäuser nun doch sehen wollte.

Die beiden unterhielten sich sehr ernsthaft miteinander. »Nick albert immer herum«, stellte Natascha fest. »Er glaubt gar nicht, dass es mir richtigen Spass macht, die kleinen Pflänzchen zu setzen und zu berieseln. Aber das kann man nicht einfach so machen, das muss man richtig lernen. Die Orchideen sind doch wunderschön, nicht wahr?«

»Unsere einheimischen sind auch sehr schön«, behauptete er.

»Welche einheimischen?«

»Frauenschuh und Waldhyazinthen, Rotes Waldvöglein, Nestwurz und kleines Knabenkraut. Das sind alles Orchideenarten.«

Natascha starrte ihn bewundernd an. »Was du alles weißt. Wenn du groß bist, heiratest du mich dann? Ich meine, wenn die Huber-Mutter schon gesagt hat, dass ich mal nach Sophienlust zurückkomme.«

Er wurde rot. »Wer hat denn da wieder geklatscht«, brummte er. »Möchtest du nicht jetzt lieber wieder mitkommen?«

»Hat Viola das auch zu dir gesagt?«, fragte Natascha.

»Nein, ich sage es«, erwiderte er trotzig. »Wir dachten doch alle, dass du nicht hierbleiben willst.«

Natascha zögerte und sah ihn lange und sinnend an. »Ich muss erst mit Viola sprechen«, flüsterte sie. »Wir fahren aber bald wieder. Tammy vermisst dich auch sehr«, stieß er hervor.

Langsam ging Natascha auf Viola zu. »Kann ich mal allein mit dir sprechen?«, bat sie leise.

Nun kommt es, dachte Viola, und ihr Herz zog sich zusammen.

»Hast du einen Wunsch, Natascha?«, fragte sie.

»Keinen Wunsch, eine Frage. Willst du, dass ich wieder nach Sophienlust gehe? Willst du lieber allein mit Tino sein?«

»Aber nein«, widersprach Viola schnell.

»Du musst es mir ganz ehrlich sagen. Sie denken alle, dass ich mich hier einsam fühle, aber das stimmt nicht. Adele wäre bestimmt traurig, wenn ich wieder fortginge, Wendelin auch.«

»Nicht nur Adele und Wendelin. Wir auch, Natascha.« Zärtlich legte Viola ihren Arm um das Kind. »Wir würden dich sehr vermissen.«

»Weshalb reden wir dann überhaupt noch? Nun bin ich hier und bleibe hier. Es tut mir leid, wenn ich mal was anderes gesagt habe, Viola.«

»Das ist die größte Freude, die du mir bereiten konntest, mein Kleines«, flüsterte Viola. »Übrigens können wir auch mit dem Pferdeschlitten fahren, wenn Schnee liegt.«

»Wir werden im Winter sehr viel zu tun haben, damit uns die Pflänzchen nicht erfrieren«, stellte Natascha fest. »Es ist so schön, wenn sie heranwachsen und zum Blühen kommen.«

*

»Natascha tut schon so erwachsen«, murrte Nick auf der Heimfahrt. »So, als ob es ohne sie überhaupt nicht mehr ginge.«

»Sie ist jetzt eben in Wolkenstein zu Hause«, belehrte ihn Tammy.

»Jetzt brauchst du bloß noch zu sagen, dass du auch wieder nach Hause willst«, meinte er gereizt.

»Ich bin in Sophienlust daheim«, erwiderte sie leise. »Mich werdet ihr so schnell nicht wieder los.«

»Dann ist es ja gut«, versicherte Nick erleichtert. »Aber die Aphrodite, die sie für Mutti mitgeschickt haben, ist wirklich sehr schön. Passt du auch auf, dass sie nicht zerdrückt wird, Andrea?« Doch Andrea hielt das Cellophankästchen so vorsichtig, als wäre es aus kostbarstem Porzellan.

Zur gleichen Zeit äußerte Viola zu Tino: »Ich habe wirklich Angst gehabt, dass Natascha Sehnsucht nach ihren Spielkameraden bekommen könnte. Aber sie hat allen Überredungsversuchen widerstanden. Jetzt bin ich erst richtig froh.«

»Was meinst du, wie froh erst Adele ist. Aber jetzt wird rasch geheiratet, damit wir auch eine Familie sind.« Er machte eine kleine Pause. »Aber dann gibt es keine Baronesse Mircovich mehr, Viola.«

Sie legte ihre Arme um seinen Hals und bot ihm ihren frischen Mund zum Kuss. »Aber eine glückliche Viola Volland«, lächelte sie.

*

Vier Wochen waren sie nun schon verheiratet, und noch immer schwärmten Natascha und Adele von der wunderschönen Hochzeit, als ihr Glück jäh erschüttert werden sollte.

Es war ein frostiger Wintertag, als ein fremdes Auto in Wolkenstein vorfuhr. Natascha bemerkte es nicht. Sie war wieder einmal im Gewächshaus bei Wendelin, während Viola alle Hände voll zu tun hatte, um den sich häufenden Aufträgen nachzukommen. Ihre Augen wurden schreckensstarr, als sie Wilma erkannte, die von einem älteren Herrn begleitet wurde. Und ausgerechnet heute war Tino nicht da!

Violas größte Sorge galt dem Kind, aber sie selbst war so erschrocken, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wilma musste sich sehr sicher fühlen, wenn sie es wagte, hierherzukommen! Aber was konnte ihr diese Sicherheit verleihen?

Adeles kleiner Finger war wieder mal wie eine Antenne, als sie die Tür öffnete. Sie ahnte drohende Gefahr und wappnete sich mit Abwehr.

»Ich möchte die Baronesse Mircovich sprechen«, erklärte Wilma mit erhobener Stimme, die Viola bis in ihr Büro vernahm.

»Sie meinen Frau Volland?«, fragte Adele. »Wen darf ich melden?«

»Wilma Lavant, geborene Oldenhoff.«

»So«, sagte Adele, doch dieses eine kleine Wort sprach Bände.

Viola rang um Fassung. War es nur Neugierde, die Wilma herführte, oder wollte sie ihren Mann präsentieren und damit beweisen, dass sie sich nicht hatte unterkriegen lassen? Viola gönnte ihr alles, sofern sie nur sie und das Kind in Ruhe ließ. Doch Wilma gab sofort klar und deutlich zu verstehen, dass das Gegenteil in ihrer Absicht lag.

An sich sah Mr Lavant recht seriös aus, und allem Anschein nach war er auch finanziell gut gestellt, denn Wilma trug einen eleganten Pelz. Ebenso deutlich war aber auch, dass Mr Lavant unter der Fuchtel seiner Frau stand.

»Dass Sie Dr. Volland geheiratet haben, ist mir neu«, äußerte Viola sarkastisch.

»Nun wissen Sie es, und um allen Missverständnissen gleich vorzubeugen, möchte ich Sie informieren, dass mein Mann völlig mit mir übereinstimmt betreffs der Feststellung, dass Sie kein Alleinrecht auf Natascha haben. Wie ich zu meinem Befremden vernehmen musste, haben Sie ohne meine Einwilligung auch die sterblichen Überreste meines Bruders überführen lassen. Das wird Ihnen noch Schwierigkeiten bereiten.«

»Ich wüsste nicht, warum«, entgegnete Viola kühl. »Er ist in unserer Familiengruft beigesetzt worden, an der Seite seiner Frau.«

»Mir stand er näher als Ihnen. Er war mein Bruder. Das ist auch die Ansicht meines Mannes, nicht wahr, Ben?«

»Wir können uns doch wohl gütlich einigen, Wilma«, bemerkte Mr Lavant höflich.

»Du wirst noch feststellen, dass man sich mit dieser Person nicht gütlich einigen kann«, brauste Wilma auf. »Wo ist Natascha? Ich will sie sehen.«

»Warum wollen Sie Unruhe in das Leben des Kindes bringen?«, fragte Viola leise. »Natascha fühlt sich wohl hier. Erinnern Sie sich nicht mehr, unter welch schlimmen Umständen sie nach Deutschland gelangte? Muss ich es erst noch einmal darlegen?«

»Ich habe dir ja gesagt, Ben, dass sie alles verdreht. Sie wollte Bernds Vermögen an sich bringen, und das ist ihr auch gelungen. Der arme Dr. Window ist gestorben.«

Aha, deshalb hat sie den Mut, so aufzutreten, dachte Viola. Wenn doch nur Tino da wäre! Und wenn ich doch verhindern könnte, dass Natascha ihr begegnet!

Aber dazu war es bereits zu spät. Draußen war Nataschas helle Stimme zu vernehmen.

»Ich habe alles fertig, Adele«, rief sie deutlich. »Heute waren wir vielleicht fleißig, und jetzt habe ich Hunger.«

Im nächsten Moment schon stand Natascha im Zimmer, in ihrem blauen Arbeitsanzug, die Hände noch schwarz von der Erde, auch das Gesicht nicht ganz sauber. Ihre Augen wurden so schreckensstarr wie vorhin die von Viola, als sie Wilma erkannte.

»Du siehst es, Ben«, kreischte Wilma, »man zwingt dieses arme kleine Kind sogar zu arbeiten. Wir können das nicht dulden. Wir werden sie auf der Stelle mitnehmen.«

Mr Lavant schien ein besonnener Mann zu sein, oder er war so verschreckt, dass er kein Wort über die Lippen brachte. Natascha dagegen hatte ihren Schrecken schnell überwunden. Jetzt flammte in ihren violetten Augen wilder Zorn.

»Jetzt redet sie wieder so dummes Zeug«, begehrte sie auf. »Niemand zwingt mich zum Arbeiten. Ich bin kein armes kleines Kind. Ich darf Wendelin helfen, und es macht mir Spass. Warum ist sie gekommen, Viola?«

Viola schwieg, aber Wilma nützte das Schweigen geistesgegenwärtig für sich.

»Ich habe es dir ja gesagt, Ben, dass sie das Kind gegen mich aufgehetzt

hat. Ich wollte Natascha nicht hergeben.«

»Und warum hast du mich dann ganz allein nach Hamburg geschickt?«, fragte Natascha aufgebracht. »Und Tante Viola ein falsches Telegramm geschickt? Oh, ich bin froh, dass ich dir mal sagen kann, wie gemein du gewesen bist. Es ist ganz gut, dass du gekommen bist. Ich wollte es dir immer sagen. Ich wollte auch nie bei dir bleiben.«

»Natascha, geh jetzt lieber zu Adele«, bestimmte Viola. »Wasch dich und kleide dich um.«

»Ich soll dich mit ihr allein lassen?«, entrüstete sich das Kind. »Zwei gegen einen? Wer ist der Mann? Auch so einer wie Dr. Window, der alles gemacht hat, was sie wollte?«

»Es ist empörend, wie das Kind redet«, ächzte Wilma. »Da sieht man ja, welchen Umgang sie hat. Ben, du darfst kein Wort glauben. Sie hat eine schreckliche Intrige in Gang gebracht. Ich habe dir ja alles erzählt, und du hast mir versprochen, dass wir Natascha zu uns nehmen.«

»Ja, gewiss«, ließ er sich nun vernehmen, »du hast mir alles erzählt, und ich habe auch nichts dagegen, dass das Kind zu uns kommt. Aber wir können es doch nicht gegen seinen Willen mitnehmen.«

»Und ich will nicht«, beharrte Natascha.

»Hör mich doch erst einmal an, mein Kleines«, versuchte es Wilma mit samtweicher Stimme. »Wir haben jetzt ein schönes Haus. Onkel Ben hat Kinder sehr gern und wird sehr lieb zu dir sein. Du wirst alles bekommen, was du dir wünschst.«

Natascha betrachtete den Mann nun genauer. »Er mag Kinder vielleicht wirklich gern haben«, stellte sie nachdenklich fest. »Ich werde mich jetzt waschen und umziehen.«

»Vielleicht ist das Kind vernünftiger als Sie«, sagte Wilma in aggressivem Ton zu Viola, der es nun ganz eigentümlich zumute war. Warum hatte Natascha plötzlich ihre feindselige Haltung aufgegeben? Kinder waren bestechlich. Hatten Wilmas Versprechungen ihre Wirkung doch nicht verfehlt?

»Ich habe Kinder wirklich sehr gern«, beteuerte nun Mr Lavant. »Und meine Frau hat sehr unter der Trennung von dem Kind gelitten. Das mag sie zu Ungerechtigkeiten verleiten, aber ich bitte Sie, dafür Verständnis zu haben, Madam! Ich möchte noch einmal betonen, dass ich hoffe, mit Ihnen zu einer gütlichen Einigung zu kommen.«

Viola wurde es schwarz vor Augen. Es war ihr plötzlich schrecklich übel und das Zimmer begann sich um sie zu drehen.

»Nein«, wollte sie aufbegehren, aber sie brachte kein Wort über die Lippen.

*

Natascha hatte sich bereits eine eigene Meinung gebildet. »Der arme Mann tut mir leid«, erklärte sie unumwunden, als sie sich von Adele beim Waschen und Umkleiden helfen ließ. »Er ist ganz nett, aber man kann ihm doch nicht beibringen, dass Tante Wilma ganz anders ist, als sie redet. Vielleicht hat er sie gern, und es kränkt ihn, wenn ich sage, wie sie wirklich war. Und dann hat sie erst recht eine Wut auf mich. Was soll ich jetzt bloß machen, Adele?«

»Willst du etwa mitgehen, nur weil er nett ist und dir leid tut?«, fragte Adele gekränkt.

»Natürlich nicht, aber ich muss mir etwas ausdenken, damit er nicht erschreckt wird. Er ist ja schon ein alter Herr.«

Trotz ihres Kummers musste Adele lächeln. »Wenn du nur bei uns bleibst«, murmelte sie.

»Das ist doch klar. Aber schau, er kann doch nichts dafür, dass Tante Wilma so ist. Es ist auch zu blöd, dass Onkel Tino nicht da ist. Aber jetzt weiß ich was. Ich werde mit Tante Wilma allein reden.«

»Und was willst du ihr sagen?«

»Was nötig ist«, erklärte Natascha energisch. »Mir wird schon etwas einfallen.«

*

Viola hatte sich wieder halbwegs gefangen. Ohnmächtig war sie wenigstens nicht geworden. Aber der Schrecken saß ihr noch in den Gliedern. Er wurde auch nicht geringer, als Natascha wieder erschien und erklärte, dass sie mit Tante Wilma allein sprechen wolle.

Wilma setzte eine triumphierende Miene auf. Der Blick, den sie Viola zuwarf, sprach Bände. Sie hatte dabei jedoch vergessen, dass auch ihr Mann diesen Blick wahrnehmen konnte. Auch dass Natascha sich weigerte, Wilmas Hand zu ergreifen, beobachtete er.

»Irgendetwas stimmt hier doch nicht«, sagte er versonnen, als er mit Viola allein war. »Möchten Sie mich nicht aufklären, Madam?«

Die fast unterwürfige Art, in der er jetzt sprach, verriet Viola mehr von ihm, als sein Äußeres aussagte. Bestimmt hatte er sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet und sich erst mühsam jene Sicherheit angeeignet, die er zu zeigen bemüht war. Trotzdem strahlte er eine gewisse Würde und vor allem Zuverlässigkeit aus.

»Wilma ist temperamentvoll und manchmal ungerecht«, gab er mit belegter Stimme zu. »Ich übersehe das. Ich habe sie sehr gern und möchte ihr jeden Wunsch erfüllen. Aber Sie dürfen nicht denken, dass ich gegen die Interessen des Kindes handeln möchte. Deswegen sollten wir aufrichtig zueinander sein.«

Viola brachte es nicht fertig, ein böses Wort über Wilma zu sagen. Auch ihr widerstrebte es, diesem netten Mann alle Illusionen zu rauben.

»Wenn wir uns darin einig sind, werden wir Natascha entscheiden lassen«, schlug sie, sich selbst Mut machend, vor. »Sie ist das Kind meiner Schwester, und sie ist glücklich hier in Wolkenstein, das dürfen Sie mir glauben.«

*

»Nun werden wir uns besser verstehen, nicht wahr, Natascha?«, begann Wilma. »Du wirst es sehr schön bei uns haben. Du brauchst nicht zu arbeiten und wirst so viel Spielzeug bekommen, wie du haben willst. Wie ich sehe, hast du immer noch Miss Molly.«

»Ich habe auch noch Pippa und ich will kein anderes Spielzeug«, erklärte Natascha fest. »Warum tust du eigentlich so? Du warst doch ganz froh, dass du mich loswurdest.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Wilma mit sanfterer Stimme. »Du hast das alles nicht richtig verstanden, Natascha. Ich war so traurig über den Tod deines Daddys. Da habe ich mich vielleicht nicht genügend um dich gekümmert. Aber das wird jetzt anders werden. Ich habe doch einen sehr netten Mann. Er hat eine Konservenfabrik und ein schönes Haus mit Swimmingpool und allem Komfort. Das Haus ist viel moderner als Schloss Wolkenstein, und wir werden auch schöne Reisen machen.«

»Machst du das nur, um Tante Viola zu ärgern? Oder willst du vor deinem Mann so tun, als ob du mich wirklich lieb hättest?«, fragte Natascha nachdenklich.

»Aber, Natascha, warum redest du immer so?«, erwiderte Wilma, ihre Empörung nur schlecht verhehlend.

»Weil ich so denke. Adele sagt immer, dass man so reden soll, wie man denkt, und Viola will auch nicht, dass ich lüge. Mir gefällt es hier sehr. Ich will kein modernes Haus und keinen Swimmingpool. Wir haben einen See, dort können wir im Sommer baden und im Winter Schlittschuh laufen. Ich will nicht weg. Ich wollte dir nur nicht vor deinem Mann sagen, dass ich nicht vergessen habe, wie du früher immer geredet hast und dass du mit Dr. Window immer nur über Geld gesprochen hast. Dein Mann ist wirklich nett, deshalb will ich ihn nicht kränken. Sicher hat er dich lieb, sonst hätte er dich nicht geheiratet. Und dann tut es ihm weh, wenn ich ihm sage, dass du mich ganz allein fortgeschickt hast, dass Tante Viola gar nicht wusste, dass ich schon in Hamburg war. Ich weiß alles. Du brauchst gar nicht zu lügen, Tante Wilma. Wenn ich damals Tammy nicht gehabt hätte, wäre ich ganz allein gewesen, und dann wäre ich auch nicht nach Sophienlust gekommen.«

»Sophienlust – was ist das?«, fragte Wilma verblüfft.

»Ein wunderschönes Kinderheim. Dort war ich, bis Tante Viola und Onkel Tino mich gefunden haben. Alle haben mich gesucht. Sogar Adele ist mit dem Auto hingefahren, als sie wusste, dass ich dort bin. Ich war so traurig und böse, dass ich gar nicht nach Wolkenstein wollte, weil ich dachte, dass Tante Viola mich vergessen habe. Ich wollte in Sophienlust bleiben, aber Miss Molly hat mich dann überredet, doch mit hierherzukommen.«

»Hast du diesen Blödsinn immer noch nicht abgelegt?«, brauste Wilma auf. »Puppen reden nicht!«

»Du verstehst das bloß nicht«, meinte Natascha bekümmert. »Das ist der Unterschied. Hier verstehen sie es alle. Ich bleibe hier, und ich bin froh, dass Daddy auch hier ist. Wir bringen ihm jeden Tag Blumen. Hast du ihm welche gebracht, Tante Wilma?«

Wilma wurde es heiß und kalt unter dem durchdringenden Blick des Kindes. Sie brachte kein Wort über die Lippen.

»Du willst doch nicht, dass ich das alles deinem netten Mann sage«, fuhr Natascha fort. »Aber wenn du unfreundlich zu Viola bist und behauptest, dass ich hier ausgenützt werde und arbeiten muss, dann sage ich es ihm doch.«

»Ich habe das doch nicht so gemeint, wie du es auffasst«, murmelte Wilma verlegen.

Natascha warf ihr einen schrägen Blick zu. »Ich weiß genau, wie du es gemeint hast. Ich bin nicht mehr dumm. Ich kann mit Adele und Wendelin richtig reden. Sie erklären mir alles, und in der Schule bin ich die Beste. Ich kenne auch schon alle Orchideen- und Rosenarten. Hast du nie eine Arbeit gehabt, die dir Spass gemacht hat, Tante Wilma?«

Wilma wurde das Kind unheimlich, aber vor allem hatte sie Angst, dass Ben nun doch die ganze Wahrheit erfahren könnte. Sie hatte gemeint, Viola einschüchtern zu können, wenn sie mit ihrem Mann kam. Aber nun kapitulierte sie vor dem wachen Verstand dieses Kindes, von dem sie sich bis auf den Grund ihrer Seele durchschaut sah.

»Möchtest du die Treibhäuser anschauen?«, fragte Natascha höflich.

»Ich verstehe nichts davon«, wehrte Wilma ab.

»Das ist sehr schade. Du solltest etwas von den kleinen Pflanzen verstehen. Wie sie wachsen und gedeihen, wie sie gehegt und gepflegt werden müssen. Adele sagt, das ist bei den Menschen genauso. Aber Daddys Grab wirst du sicher besuchen wollen«, meinte sie dann. »Wenn du mit deinem Mann hingehen willst, werde ich dir Blumen holen. Du musst nett zu ihm sein, Tante Wilma. Er meint es gut, denke ich. Deswegen wollte ich dich ja allein sprechen.« Sie drehte sich um. »Oh, da kommt Onkel Tino. Ich werde schnell zu ihm laufen und ihm sagen, dass er nicht böse zu werden braucht. Das braucht er doch nicht?«, fügte sie mit einem schrägen Blick hinzu.

*

Wilma und ihr Mann waren zu Bernd Oldenhoffs Grab gegangen. Natascha hatte ihnen Blumen mitgegeben, wie sie es versprochen hatte. Mit einem zufriedenen Lächeln kam sie nun ins Haus zurück.

»Man sollte es nicht für möglich halten«, murmelte Tino, »das Kind scheint die geborene Diplomatin zu sein. Dass die Sache so sanft abgehen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Kannst du mir verraten, wie du das fertiggebracht hast, Natascha?«

»Was?«

»Dass Wilma so kleinlaut war.«

Natascha zuckte die Schultern. »Ich habe ihr nur gesagt, dass ihr Mann nett ist und sie ihn nicht ärgern soll.«

Wie dem auch war, in Wolkenstein war wieder Friede eingekehrt. Natascha machte ihre Runde, um alle zu beruhigen, die darum gebangt hatten, sie wieder hergeben zu müssen. Nein, das wäre nie in Frage gekommen, versicherte sie immer wieder, sie gehöre doch hierher. Zu ihrer Puppe aber sagte sie: »Weißt du, Miss Molly, ich hoffe nur, dass Mr Lavant Tante Wilma nie so kennenlernt, wie wir sie gekannt haben. Dann würde er mir schrecklich leidtun.«

Auch Viola hatte sich wieder beruhigt.

»Vielleicht war es gut, dass ich nicht da war«, sagte Tino zu ihr. »Natascha ist doch die bessere Diplomatin. Ein Grund mehr, dass ich den Beruf gewechselt habe.«

»Wenn sie sich weiter so entwickelt, wird für uns bald keine Arbeit mehr bleiben, fürchte ich«, lächelte Viola.

»Meinst du, dass sie unser einziges Kind bleiben wird?«, fragte er lächelnd.

»Bestimmt nicht. Ich bin mir dessen sogar ganz sicher, Liebster.«

Ihre Augen lächelten zärtlich zu ihm empor, und in überströmendem Glück schmiegte sie sich an ihn.

»So sicher?«, erkundigte er sich verhalten.

»Seit heute Vormittag«, nickte sie. »Beinahe wäre ich ohnmächtig geworden.«

»Nicht nur wegen der Aufregung?«

»Eine Mircovich wird nicht so leicht ohnmächtig«, lachte sie. »Das muss schon triftige Gründe haben.«

»Vielleicht ist es bei einer Volland anders«, neckte er sie.

»Erst recht nicht. Ich musste ja erst Frau Volland werden, um ein Baby zu bekommen.«

»Dafür bekommst du einen Extrakuss. Nun bin ich aber gespannt, was unsere Natascha sagen wird.«

»Sollen wir es ihr schon bald sagen?«

»Du kennst doch ihre Einstellung. Kleine Pflänzchen müssen gehegt und gepflegt werden, damit sie gedeihen können. Das ist bei den Blumen nicht anders als bei den Menschen. Ich bin überzeugt, dass sie alles tun wird, um auch das werdende kleine Menschlein zu hegen und zu pflegen.«

Und damit sollte er recht behalten. Natascha war überglücklich. »Wir haben auch für viele Kinder Platz«, erklärte sie mit einem seligen Lächeln. »Und es sind alles unsere eigenen.«

»Hoffentlich meint sie nun nicht, dass wir gleich ein ganzes Dutzend bekommen«, scherzte Tino.

*

»Was schreibst du denn dauernd, Tammy?«, erkundigte sich Nick. »Immer noch diesen blöden Aufsatz? Ich bin stets rasch fertig, wenn wir einen Aufsatz schreiben müssen. Ich schreibe nur zwei Seiten, dann ist Schluss.«

»Das ist doch für einen Wettbewerb«, erklärte sie ihm. »Der beste Aufsatz wird gedruckt, und dafür bekommt man einen Preis.«

»Auch bloß so ’ne Urkunde wie Sascha sie beim Sportfest bekommen hat?«

»Nein, einen richtigen Preis. Man kann sich etwas wünschen.«

»Was denn?«, wollte Nick wissen.

»Eine Kamera oder eine Reise oder ein Tonbandgerät.«

»Das kannst du dir doch alles kaufen«, stellte er verwundert fest.

»Ich will es ja auch gar nicht für mich behalten.«

»Für wen willst du es denn?«, fragte Nick neugierig.

»Das kann ich doch nicht sagen, bevor ich nicht weiß, ob ich überhaupt einen Preis bekomme.«

»Und worüber musst du den Aufsatz schreiben? Wie heißt das Thema?«

»Wie ist Nächstenliebe zu verwirklichen!«

»Das ist aber ein schweres Thema. Liebe Güte, ihr müsst euch aber schon arg plagen. Na, dann will ich dich nicht stören. Hoffentlich bekommst du den Preis.«

Nick trollte sich. »Was ist eigentlich Nächstenliebe, Mutti?«, fragte er Denise, die sich eben mit ihrem Jüngsten beschäftigte.

»Wie kommst du darauf?«

»Weil Tammy einen Aufsatz darüber schreibt.«

»Man kann es nicht mit ein paar Worten sagen, Nick. Nächstenliebe schließt vieles ein. Wenn man Kranken und Bedürftigen hilft, ohne dazu verpflichtet zu sein. Wenn man es als selbstverständlich betrachtet, nicht nur an sich zu denken.« Dabei dachte Denise, das beste Beispiel hat er doch Tag für Tag vor Augen. Aber es ist ihm und uns allen schon so selbstverständlich geworden, dass wir es gar nicht mehr als Nächstenliebe betrachten. Sie war sehr gespannt, was Tammy darüber schreiben würde.

Nick betrachtete seinen kleinen Bruder. »Jetzt wird es ja schon«, meinte er. »Aber er wächst ziemlich langsam.«

Viel zu schnell, dachte Denise. Alle Kinder wachsen viel zu schnell heran.

»Was darf ich mir zum Geburtstag denn wünschen?«, wollte Nick noch wissen.

»Was möchtest du denn?«

»Am liebsten ein richtiges großes Kinderfest, zu dem alle kommen: Susi und Natascha, die Zwillinge und Marco.«

»Für viele ist das aber eine weite Reise«, gab Denise zu bedenken.

»Aber einmal im Jahr könnten wir doch alle zusammenkommen, findest du nicht? Dann würde ich mir gar nichts anderes wünschen.«

Das ist seine Art von Nächstenliebe, überlegte Denise. Er vergisst seine Spielgefährten nicht.

»Wir werden uns schon etwas Hübsches einfallen lassen«, versicherte sie.

*

»Du lieber Gott«, seufzte Denise, »Tammy hat ja einen Tag vor Nick Geburtstag. Das hätten wir beinahe übersehen.«

»Das wäre aber sehr peinlich gewesen«, meinte Alexander von Schoenecker. »Aber das kommt davon,

dass das Mädchen nie von sich spricht.«

»Bin ich froh, dass ich noch mal den Kalender durchgesehen habe. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn wir das versäumt hätten.«

»Wie ich Tammy kenne, hätte sie nicht ein Wort darüber verloren. Sie ist ein seltsames Mädchen. Was haben andere in dem Alter schon alles im Kopf. Wir können nur hoffen, dass Andrea auch einmal so wird.«

Während nun alle darüber nachdachten, womit sie Tammy eine Freude machen könnten, bereitete ihnen Tammy eine riesengroße Überraschung.

Sie hatte den besten Aufsatz geschrieben und ausgerechnet an ihrem Geburtstag sollte dieser in einer Feierstunde in der Schule verlesen werden.

»Dann fällt ja deine ganze schöne Geburtstagsfeier ins Wasser«, murrte Nick enttäuscht.

Tammy errötete. »Ihr habt an meinen Geburtstag gedacht?«, fragte sie staunend.

»Was denkst du denn eigentlich!«, entrüstete sich Nick. Dann erkundigte er sich: »Müssen wir denn zu der Feier gehen?«

»Müssen nicht, aber ganz Sophienlust ist eingeladen«, gestand Tammy verlegen.

»Ganz Sophienlust?«, wunderte sich Nick. »Weiß Mutti das schon?«

»Der Direktor wollte es ihr mitteilen. Mir ist das alles so peinlich. Ich wusste doch nicht, dass so viel Aufhebens davon gemacht wird.«

»Dann musst du wohl einen ganz tollen Aufsatz geschrieben haben«, vermutete Nick.

Tammys Gesicht färbte sich noch dunkler. »Eigentlich gar nichts Besonderes. Nur, was ich mir so dachte.«

Nick konnte nicht leugnen, dass er neugierig war. Und Tammys Geburtstag konnten sie ja auch zusammen mit seinem eigenen feiern.

Tammy war das nur recht. Sie stand nicht gern im Mittelpunkt, und als der große Tag heranrückte, hätte sie am liebsten kapituliert. Doch am Morgen sollte sie eine so große Freude erleben, dass sie völlig fassungslos war.

Jack Wilburn kam nach Sophienlust. Mit einem großen Strauß rosa Rosen und einem goldenen Kettchen, an dem ein wunderhübsches Medaillon hing, gratulierte er als einer der ersten. Denise hatte nicht verraten, dass er sich schon ein paar Tage zuvor angemeldet hatte.

Tammy fand zuerst gar keine Worte. Dann stammelte sie: »Du hast an meinen Geburtstag gedacht?«

»Es war Dad«, gestand er ehrlich. »Ich wusste ja nie, wann du Geburtstag hast. Aber es ist der siebzehnte, Tammy, und nun bist du schon fast erwachsen.«

Schüchtern gab er ihr einen Kuss auf die Wange, und zum erstenmal wurde es Tammy bewusst, dass sie auf dem Wege war, erwachsen zu werden.

»Du bist schon ein richtiger Mann«, staunte sie.

»Das macht nur der Anzug«, erwiderte er verlegen. »Ein paar Jährchen hat es schon noch Zeit. Aber weil ich ein Stipendium bekommen habe, hat Dad mir die Reise spendiert. Wirst du die Kette immer tragen, Tammy?«

»Immer, Jack«, beteuerte sie leise. »Sie ist wunderschön. Du hast schrecklich viel Geld für mich ausgegeben.«

»Du hast heute einen großen Tag, Tammy«, lenkte er verlegen ab. »Die haben mir schon alles erzählt.«

»Dass du gekommen bist, ist die größte Freude«, gestand sie. Sie sah dabei so anmutig aus, dass Jack sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Aber das traute er sich doch nicht.

»Darf ich auch mitkommen?«, fragte er.

»Ach, du liebe Güte, Jack. Wollen wir uns nicht lieber drücken? Mir ist das alles gar nicht recht.«

Jack fand jedoch, dass eine solche Auszeichnung etwas ganz Besonderes sei, und so fanden sich alle zur Feierstunde in der Aula des Gymnasiums ein.

Die Kinder von Sophienlust saßen in den ersten Reihen. Sie trugen ihre Festtagskleidung und waren mucksmäuschenstill. Sie wussten nicht, was da auf sie zukommen würde, aber dass es für Tammy ein ganz besonderer Geburtstag war, verpflichtete sie schon dazu, geduldig und ungewöhnlich aufmerksam der feierlichen Ansprache zu lauschen, die der Direktor hielt.

Tammy wurde abwechselnd rot und blass, als sie sich so gelobt hörte und dazu auch noch Jacks bewundernde Blicke spürte.

Dann wurde ihr Aufsatz verlesen. Er begann mit den schlichten Worten: »Es ist eine wahre Geschichte, die ich niederschreibe, aber ich weiß nicht, wie ich das Wort Nächstenliebe besser ausdrücken könnte als in dem einen Begriff: Sophienlust!«

»Sie hat von uns geschrieben«, wisperte Nick aufgeregt seiner Mutter zu und wunderte sich, dass dieser Tränen in die Augen traten.

»Hier wird nicht gefragt: Wer bist du? Woher kommst du, was besitzt du?«, hieß es weiter. »Hier wird die Tür aufgetan, es heißt einfach: Willkommen!

Wie es begann, weiß ich nur aus Tagebüchern und Erzählungen anderer. Was ich selbst jedoch hier erlebte, erleben durfte, war so wunderbar, dass ich immer voller Dankbarkeit an diese Zeit zurückdenken werde, die meinem Denken und Wollen ein Ziel setzte. In Sophienlust wird nicht von Nächstenliebe gesprochen, hier wird danach gelebt, und alle, die daran teilhaben dürfen, können sich glücklich schätzen.«

»Wie schön Tammy schreiben kann«, raunte Andrea. »Das habe ich gar nicht gewusst. Geredet hat sie doch nie viel.«

»Pssst«, machte Sascha.

»Du bist ein ganz wundervolles Mädchen«, flüsterte Jack.

*

Dass Tammy ihren Preis für ein krankes Kind zur Verfügung gestellt hatte, war die Krönung dieser Stunde gewesen. Aber niemand hatte sie dazu gebracht, auf das Podium zu gehen und die Glückwünsche in Empfang zu nehmen.

Denise schloss Tammy in die Arme. Die Kinder umringten sie und sahen sie mit strahlenden Augen an. Tammy hatte in Worte gekleidet, was sie nicht ausdrücken konnten und doch Tag für Tag erlebten.

»Und nun wird der Aufsatz auch noch gedruckt werden«, erklärte Magda stolz. »Die ganze Welt wird erfahren, dass es Sophienlust gibt.«

»Wir können nur hoffen, dass es manchem ein Beispiel sein wird, der nicht weiß, was er mit seinem Geld anfangen soll«, stellte Alexander von Schoenecker fest. »Tammy hat dir ein Denkmal gesetzt, Denise.«

»Das Urgroßmama Wellentin gebührt«, wehrte Denise bescheiden ab. »Aber nun wird wahrscheinlich eine Lawine auf uns zurollen. Bis jetzt haben wir sozusagen im Verborgenen geblüht. Jetzt wird Sophienlust bekannt werden.«

»Nun werden wir endlich wieder Abwechslung bekommen«, war Nicks Kommentar. »Aber morgen wird erst einmal gefeiert!«

*

Und wie gefeiert wurde! Nick wusste gar nicht, wen er zuerst begrüßen sollte!

Susi Berking kam mit ihrem Vater. Ihre Mutti war leider verhindert, weil sich wieder ein Baby angemeldet hatte.

Auch Angelika Frobenius mit den Zwillingen Oliver und Odette konnte Nick begrüßen und danach die ganze Familie van Droemen. Mit ihnen waren auch Dr. Quirin, seine Frau Katrin und die kleine Monika gekommen, der es schon beim ersten Besuch in Sophienlust so gut gefallen hatte.

Opa und Oma von Wellentin mit Kati durften selbstverständlich nicht fehlen. Allerdings glichen sie mehr glücklichen Eltern als Großeltern, und Kati hatte es gar nicht so gern, wenn Dominik ihre geliebte Mutti Omi nannte.

Unter den Gästen waren auch Lutz und Claudia Brachmann mit Sohn Stefan, die ja ohnehin zum lebenden Inventar von Sophienlust gehörten, ebenso Dr. Wolfram, seine Frau Edith und Töchterchen Petra. Auch Barbara Baumgarten war mit ihren drei Kindern zur Stelle. Dr. Baumgarten aber wollte nachkommen, sobald er einige dringende Arztbesuche erledigt hatte.

Alle waren mit Sophienlust innig verbunden, doch keiner hatte bisher die Gefühle, die sie bewegten, in so ergreifende Worte gekleidet wie Tammy Dickson.

»Nur Natascha sind ihre Orchideen natürlich wichtiger«, bemerkte Nick missbilligend. Doch in dem Augenblick, als man sich an der großen Festtafel niederlassen wollte, traf sie ein.

»Du darfst nicht böse sein, Nick«, sagte sie, »aber uns ist eine ganz tolle Kreuzung gelungen, und wir mussten doch warten, bis sie auch aufblüht. Nun wollen wir sie Orchidee Dominik nennen, obwohl Orchideen eigentlich weibliche Namen haben.«

»Dann nennen wir sie doch lieber Orchidee Tammy«, schlug Dominik großmütig vor. »Dass du doch gekommen bist, genügt mir.«

Für Tammy war es fast zu viel der Ehre, aber weil Jack nicht von ihrer Seite wich, überstand sie auch diese Stunden.

»Nun weiß ich wenigstens schon, welche Blumen ich für dein Brautbukett wählen soll«, raunte Jack ihr zu. »Ich werde es vorsichtshalber gleich heute bestellen.«

»Willst du es dir nicht lieber noch überlegen?«, meinte Tammy schüchtern.

»Ich denke gar nicht daran«, versicherte Jack. »Spätestens seit gestern weiß ich, dass es keine andere Frau für mich geben wird. Solch ein Mädchen findet man alle hundert Jahre

einmal.«

Zufällig hörte das Alexander von Schoenecker. Er lächelte still in sich hinein, denn er wusste wenigstens drei Männer, die bisher das gleiche gesagt hätten: Lutz Brachmann, Robert Quirin und er selbst. Und jeder von ihnen war überzeugt, die allerbeste Frau bekommen zu haben.

Tammy und Jack waren jung, sehr jung sogar. Aber Tammy war ein Mädchen, für das es sich zu warten lohnte. Siebzehn Jahre jung, reich und unabhängig, hatte sie doch schon erkannt, dass der Sinn des Lebens nicht im Genießen lag.

Bezaubernd sah sie an diesem Tag aus, als hätte das noch ferne Glück ihr junges Antlitz bereits geprägt.

Wolfgang Rennert hatte seinen Chor zusammengetrommelt. Ganz einfach war es heute nicht, weil alle so aufgeregt waren. Aber Carola, die wie von einem schweren Druck befreit schien, half ihm.

»Wir sind jung, die Welt ist offen«, sangen die Kinder mit ihren hellen klaren Stimmen, »oh, du weite schöne Welt!«

Und Carola lächelte, wenn Wolfgang Rennerts Augen die ihren trafen.

»Bin ich froh, dass die Tammy einen festen Verehrer hat«, meinte Gretli zu Magda. »Nun wird Carola endlich ganz beruhigt sein.«

»Was ihr jungen Dinger schon für Probleme habt«, brummte Magda. »Aber Tammy hat bewiesen, dass sie den Sinn des Lebens erfasst hat.«

»Warten wir mal ab, was nun auf uns zukommt«, bemerkte Gretli leicht anzüglich. »Hoffentlich bringen wir alle Kinder unter, die uns nun ins Haus schneien werden. Aber mir gefällt es. Ich finde es wundervoll in Sophienlust. Und wenn du es auch aus meinem Munde hören willst: Ich möchte nirgendwo anders sein.«

Vor der Geburtstagsgesellschaft aber erklärte Dominik: »Jetzt machen wir es jedes Jahr so. Seid ihr einverstanden?«

»Einverstanden«, schallte es ihm vielstimmig entgegen. »Hoffentlich ist dann noch für alle Platz!«

»Dann bauen wir eben an«, versicherte er. »Was meinst du, Mutti?«

»Das wäre aber dann wohl schon deine Entscheidung«, erwiderte sie. »Aber im Moment haben wir ja noch Platz.«

»Und leider wird es ja auch so sein, dass nicht alle für immer bei uns bleiben«, antwortete er leise.

»Aber vergessen werden sie Sophienlust nie«, erklärte Tammy.

»Ich bestimmt nicht«, erwiderte Jack. »Bleibst du hier, bis ich dich hole?«

»Wir werden weit voneinander getrennt sein, Jack«, flüsterte sie.

»Aber ich weiß, wo ich dich finden und in Gedanken suchen kann. Und ich möchte dich nirgendwo anders lieber wissen, als hier.«

»Dann werde ich hierbleiben«, versicherte sie, und ihre Lippen fanden sich zu einem ersten Kuss, der ein Versprechen war.

Sophienlust Paket 1 – Familienroman

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