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Am 16. Juli trat Rosalina Haussmann ins Freie, hinaus in die warme Luft des lauen Sommerabends. Schritt für Schritt entfernte sie sich von einem der vornehmen Landhäuser der Gegend, das der Architekt nach den speziellen Vorgaben ihres Mannes entworfen hatte. Schritt für Schritt schlurfte sie davon, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Das beruhte keineswegs auf einem Entschluss, der von langer Hand vorbereitet gewesen wäre oder der in vollem Bewusstsein nach und nach an Reife gewonnen hätte. Rosalina war vielmehr gestoßen worden, hinaus geschleudert von einer rotierenden Unwucht, die sich ihrer bemächtigt und an Geschwindigkeit gewonnen hatte.

Rosalina, von ihrer Familie und ihren Freunden Lina genannt, ging. Sie, die stets zugewandte Frau an der Seite ihres Mannes Gerrit, schön, gescheit und fürsorgliche Mutter ihres verbliebenen Kindes. Die Firma hatte Gerrit auf eine Geschäftsreise geschickt, frühestens in zwei bis drei Wochen würde er zurückkehren, hatte er gesagt. Ihr Sohn Benjamin hatte ohne ihr Wissen die Vorbereitungen für ein Praktikum im Ausland getroffen, aus seinen Ersparnissen den Flug nach Kathmandu bezahlt und sich am Ende von einem auf den anderen Augenblick ihrer mütterlichen Liebe entzogen, sechstausendfünfhundertsechsundsiebzig Kilometer Luftlinie weit weg, sie hatte es gegoogelt.

Mein Junge, mein kleiner Junge, warum nur bist du von uns fortgegangen?, kreiste es stereotyp durch ihre Gedanken, unaufhörlich, ohne Unterlass, seitdem sie Benny an der Absperrung im Flughafengebäude hinterher gewunken hatte, vor mehr als drei schier endlos scheinenden Wochen. Die marternde Sorge um ihn hatte die Frequenz der unrunden Schwingungen in ihr bis zu einer Kraft beschleunigt, die sie selber nicht länger zu halten vermocht hatte.

Sie hatte die Abendnachrichten im Fernsehen eher teilnahmslos laufen lassen und den Rest eines nicht mehr frischen Linsengerichts in sich hineingelöffelt, das sich im ansonsten nahezu leeren Kühlschrank befunden hatte.

Als sie die Entwicklung der Börsenkurse durchgegeben hatten, war sie aufgestanden, hatte den Fernseher ausgeschaltet, das Geschirr in die Küche gestellt und war eine halbe Ebene tiefer ins Schlafzimmer hinübergegangen. Sie hatte sich ausgekleidet und eine Weile ihr Spiegelbild betrachtet. Sicher, es ging ihr gut, sie hatte Familie, wohnte in einem schicken Haus und steckte in einem wohlgeformten Körper, doch dennoch stand alles in spottendem Widerspruch zum Zustand ihrer erstarrten Seele.

Sie hatte tief durchgeatmet und sich wieder angezogen, Schicht um Schicht, bis sie glaubte, der Kühle der Nacht gewappnet zu sein. Die geräumige Tasche mit dem gefälschten Louis-Vuitton-Label hatte sie liegen lassen und stattdessen einen leichten, schwarzen Nylonrucksack genommen, in den sie eine Kunststoffdecke mit dem Aufdruck einer Fluggesellschaft hineinstopfte, einen Spiralblock, Stifte, Seife, ihr Handy, die Geldbörse und drei Dosen Diazepam-Pillen, schließlich eine Plastikflasche Wasser und das Stück Brot, das noch übrig war. Mehr würde sie nicht brauchen.

Sie war nicht viel länger als eine Stunde unterwegs und bereits jetzt am Ende ihrer Kräfte. Den kurz aufflammenden Gedanken, umzukehren zu ihrem großen weichen Bett, verwarf sie müde. Sie stolperte über eine Wurzel, die quer über den ausgetretenen Weg verlief. Bald würde es stockfinster sein. Die dunklen Wacholderbüsche ragten spitz in den blauschwarzen Himmel. Lina tastete sich bis zu einer kleinen, sandigen Lichtung vor. Mit jedem Augenblick verloren die schemenhaften Gestalten der Bäume um sie herum an Gestalt. Sie nahm den Rucksack ab, legte sich darauf und rollte sich ein, um ihren Körper auf dem glatten Nylon zu betten. Es war still. So still. Ihr eigener Atem würde weithin hörbar sein. Ein lautloser Regen setzte ein und sprühte einen feuchten Film auf ihr Haar und auf die Decke, die viel zu klein war für sie. Der Sand nahm die Tröpfchen dürstend auf in der hereinbrechenden Nacht, die für die Natur Erholung versprach, nach einem heißen und trockenen Sonnentag.

Sie fröstelte. Die Stille drückte schwer auf ihr Gemüt. Und schon begann sie hinaufzukriechen, die Begleiterin der Nacht mit ihren dunklen Nischen. Sie machte sich weit und breit und ergriff Besitz von ihr, umschloss sie, zielstrebig, unaufhaltsam, den Atem raubend. In den Schultern und im Nacken flimmerten Tausende Nadeln wie unter Strom. Der Kloß im Bauch brannte, wuchs und wuchs und stemmte sich gegen die Rippen. Der Magen krampfte. Übelkeit stieg auf, gespeist aus stumpfem Einerlei. Auf der regennassen Stirn ergoss sich kalter Schweiß. Blind kramte Lina in ihrem Rucksack nach einem der Döschen und entnahm zitternd zwei der kleinen Pillen. Sie spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter und hoffte auf die Lethargie, die nicht allzu lange auf sich warten lassen würde. Lethargie, Lethargie wiederholte sie betont langsam und versuchte, all ihre Konzentration auf die drei Silben dieses Wortes zu legen, um die Dämonen zu vertreiben, die sich ihrer bemächtigt hatten.

Das rote Seidenkleid

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