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Prinzessin Elethia

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Ich war zehn Jahre alt, als ich meiner Mama beschrieb, wie die Hebamme und der Arzt aussahen, die ihr dabei geholfen hatten, mich endlich auf die Welt zu bringen. Ich sagte ihr außerdem, dass Papa im Wartezimmer auf die Frage, ob ich ein Junge oder ein Mädchen sei, zu der versammelten Familie sagte, er wisse es nicht, aber ich sei vollkommen gesund und Mama sei wohlauf.

Ich sagte ihr nicht, dass ich mich daran erinnern konnte, dass es später Nachmittag war, dass der Himmel schmutzig-orange war und der Turm der nächsten Kirche sechs Mal gegen das Tor des Himmels schlug.

Mama schaute mich eine Zeitlang stumpf an. Dann lächelte sie säuerlich und sagte: „Du erfindest Sachen.“

Später, im Laufe unseres gemeinsamen Lebens, schaute mich Mama noch einige Male so an, stumpf, ausdruckslos, verstummt, ohne zu wissen, was sie sagen sollte, überrascht von dem, was sich ihr darbot.

Ich brachte fünf Söhne zur Welt. Drei von einem Typen, zwei von einem anderen. Mit allen fünfen war ich je neun Monate schwanger. Meine Mama hatte mich nach zehneinhalb Monaten Schwangerschaft geboren.

Jedes Mal, wenn ich spürte, dass ich schwanger war, griff ich mir mit den Händen auf den Bauch und sagte: „Hier ist ein Junge, ich werde einen Sohn gebären.“ Ich wollte keine Tochter. Ich wollte nicht, dass meine Tochter zum ersten Mal Sex mit ihrem Stiefvater hätte. Ich wollte nicht, dass ein betrunkener Junge unter Drogeneinfluss ihr eine Tätowierung machte, ein Krimineller, der im Gefängnis tätowieren gelernt hätte. Ich wollte nicht, dass irgendjemand in Florida zu meiner Tochter sagte, dass er sie so lange vergewaltigen würde, bis es ihm reichte, und sie dann mit einem Messer aufritzen und den Krokodilen im Sumpf zum Fraß vorwerfen würde. Ich wollte nicht, dass meine Tochter ein Junkie würde, ich wollte nicht, dass sie jemandem einen blasen müsste, um an ihre Drogen heranzukommen ...

Mama saß in der Küche und trank Bier. Sie hatte einen Job zu Ende gebracht, war nach Hause gekommen, um sich zu duschen und anschließend zum nächsten Job zu gehen. Ich sagte zu Mama, dass ich schwanger war, dass ich zu meinem Freund, einem Kriegsveteranen, ziehen würde, er saß im Rollstuhl und konnte nicht gehen. Er war im Irak verwundet worden.

Mama schaute mich so an wie damals, als ich zehn Jahre alt war und ihr die Hebamme und den Arzt beschrieben hatte. Es dauerte eine Weile. Schließlich blinzelte sie und ihr Gesicht war nicht mehr das gleiche. Irgendetwas entwich aus ihr. Ich sagte: „Ich hab nichts erfunden.“ Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, holte zwei Dosen Bier heraus und machte beide auf. Eine reichte sie mir: „Stoßen wir an, liebe Tochter. Ein Mund weniger in meinem Haus, eines mehr in deinem Haus, das du dir mit deinem Ficker im Rollstuhl teilst.“

Papa trug mich auf der Schulter. Ein wenig tat ich so, als würde ich schlafen, ein wenig lachte ich Mama zu, die hinter uns her ging, sie streckte mir die Zunge raus und machte für mich Elefantenohren. Es war ein warmer Abend, aus einigen Gärten roch es nach gemähtem Gras.

Papa war Automechaniker. Seine Hände waren rau und aufgerissen und die Risse waren schwarz vor Fett und Öl. Er roch nach Moschus und Garage.

Eines Abends schrie er im betrunkenen Zustand Mama an, stieß sie auf die Couch und machte mit erhobenem Arm einen Schritt auf sie zu, um sie zu schlagen. Ich schrie, er solle Mama in Ruhe lassen, er solle sie nicht schlagen. Ich war sechs Jahre alt. Papa und Mama stritten oft und Papa schlug Mama. Ich bat Gott darum, dass es aufhörte. Aber es hörte nicht auf. Also hörte ich auf, an Gott zu glauben.

Papa drehte sich zu mir um und schlug mich. Meine Wange tat sehr weh, aber ich weinte nicht. Er schlug mich wieder, ich schwieg und legte mir die Hände übers Gesicht. Er schlug mich auf die Hände. Ich weinte nicht. Papa war erstaunt, er schaute Mama an, dann mich. Mama schrie: „Verlass dieses Haus oder ich rufe die Polizei, du hast das Kind geschlagen.“

Papa drehte sich um und ging. Er schlug die Haustür zu. Ich konnte hören, wie er die Autotür aufmachte und dann zuknallte. Ich schaute aus dem Fenster. Er hatte seinen Kopf aufs Lenkrad gelegt. Ich verließ das Haus und schlich mich zum Auto. Das Fenster war offen. Papa weinte laut. Ich kehrte ins Haus zurück und sagte zu Mama: „Ich will, dass Papa wieder zurückkommt. Ich hole ihn jetzt. Dich hat er nicht geschlagen. Mich hat er geschlagen, ich verzeihe ihm.“

In unserer Nachbarschaft lebte eine alte Indianerin. Einmal hatte sie mich weinen gesehen, als ich noch ganz klein war. Sie sagte zu mir, ich solle sofort damit aufhören. Sie sagte zu mir, ich müsse so sein wie die Indianerkinder – sie weinen niemals. Wenn ein noch ganz kleines Indianerbaby zu weinen beginnt, legt seine Mutter ihre Hand über den Mund und die Nase des Babys. Auf diese Weise lernen die Babys ganz schnell – Weinen bedeutet, nicht mehr atmen zu können.

Mama gab mir den Namen Elethia, aber sie rief mich nicht so, sondern Annie. Ich weiß nicht, warum. Ich fragte nie.

Papa sagte, er hätte zu trinken und zu rauchen aufgehört. „Du machst Witze“, sagte ich und konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Papa schaute mich ernsthaft an: „Prinzessin, hüte deine Zunge.“

Dieses „Prinzessin, hüte deine Zunge“ hatte ich schon ewig nicht mehr gehört. Ich war noch klein gewesen, ich hatte irgendetwas gesagt, Papa hatte mir eine Ohrfeige gegeben und gesagt: „Prinzessin, hüte deine Zunge.“ Ich wiederholte es, kassierte wieder eine Ohrfeige und dann: „Prinzessin, hüte deine Zunge.“ Ich sage es noch einmal, aber leiser, weil mir das Gesicht weh tat, und Papa erhob die Hand, um mich zu schlagen, tat es aber dann doch nicht. Mama hatte ihn mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen.

„Der Arzt sagt, ich habe Lungenkrebs“, sagte Papa. Ich denke, ich habe ihn in diesem Moment so angeschaut, wie Mama mich mehrmals angeschaut hat, wenn ich ihr etwas Wichtiges mitteilte: stumpf, ausdruckslos, ohne zu blinzeln. „Der Arzt sagte, der Krebs wurde rechtzeitig entdeckt, alles wird okay sein. Ich muss nur aufhören zu rauchen und zu trinken und eine Therapie machen. Er hat gesagt, ich werde meine Haare verlieren. Es ist nicht schade um die Haare. Viele habe ich ja ohnehin nicht mehr, aber es ist schade um den Bart und um den Schnauzer. Ich habe mir ein Rasiergerät gekauft. Deshalb habe ich dich auch angerufen, du sollst mir die Haare schneiden, ganz ganz kurz.“

„Wo ist deine Freundin?“, fragte ich und betrachtete Papas braunen Schnauzer und Bart, ohne ein einziges graues Haar. Papa lachte: „Auf und davon. Sobald sie gehört hat, was mit mir los ist, hat sie gesagt, ihr Vater ist daran gestorben und sie will nicht ein zweites Mal das gleiche durchmachen. Schlampe.“

Papas Haare fielen bald aus. Er litt unter Schlaflosigkeit. Häufig rief er mich an, ohne auf die Uhrzeit zu achten. Ich ging immer ans Telefon. „Ja, Papa.“ Ich hörte eine Zeitlang zu, was er zu sagen hatte, dann legte ich den Hörer auf den Teppich und schlief weiter. Papas Stimme sprach zur Dunkelheit meines Schlafzimmers. Papa sprach über vieles, aber meistens sprach er über seine Kindheit, die er auf einer kleinen, ärmlichen Farm verbracht hatte, und über seinen gewalttätigen Vater, der die Kinder geschlagen und die Frau vergewaltigt hatte. Papas Vater war mit sechsundvierzig gestorben. Er hinterließ sieben kleine Kinder, das eine reichte dem anderen gerade mal zum Ohr, und eine schwangere Frau. Einige Monate später fanden die Kinder ihre tote Mutter auf dem Küchenboden, als sie aus der Schule zurückkehrten. Zwischen ihren nackten Beinen lag in einer Blutlache ein totes Baby, durch die Nabelschnur mit der Mutter verbunden.

Papa war zweiundfünfzig Jahre alt, als er starb. Ich war damals zweiunddreißig Jahre alt, mein fünfter Sohn war gerade unterwegs.

Mama schlief im Sessel. Der Fernseher war an: Werbung für zehn CDs mit Musik aus den Sechzigern. Links von Mama stand ein Beistelltisch, darauf ein überquellender Aschenbecher und drei Bierdosen. Ich nahm jede von ihnen kurz in die Hand; die erste war leer, die zweite ebenfalls, in der dritten war noch ein wenig Bier. Ich trank es aus und stellte die Dose zurück auf den Beistelltisch. Diesen Beistelltisch, die Lampe daneben, den zweiten Staubsauger und noch den einen oder anderen Gegenstand im Haus hatte Mama beim Container hinter dem großen Gebäude zwischen dem Einkaufszentrum und dem Hotel „Radisson“ gefunden, in der Nähe der Autobahn 480. Papa hatte ihr diesen Bergwerk von Schrott gezeigt. Er brachte unterschiedliche Dinge von dort mit. Bei Umzügen ließen die Bewohner einige Sachen zurück, Regale, Lampen, Kinderspielzeug, Weihnachtsbäume aus Plastik ... Papa brachte alles nach Hause, er konnte immer alles gebrauchen. Was kaputt war, wurde von ihm repariert, er reinigte die Sachen, malte manche an und verkaufte dann alles vor seiner Garage. In der Nachbarschaft brachte er dann Plakate mit der Information an, GARAGE SALE an dem und dem Tag, an der und der Adresse. Als er uns verließ, wegen einer Frau aus dem Büro der Autoreparaturwerkstatt, in der er damals arbeitete, und zwar weil die Frau nach einigen Malen, die sie mit ihm in seinem Jeep in den Pausen Liebe gemacht hatte, schwanger wurde, sagte Mama: „Jetzt soll er diesen ganzen Müll zu ihr nach Hause schleppen.“ Aber nachdem Papa weg war, ging Mama manchmal zu dem Gebäude und schaute nach, ob es bei dem Container noch etwas gab, das man zu Hause gebrauchen könnte.

Ich setzte mich in den Sessel und schaute Mama beim Schlafen zu. Viel Arbeit, vier Kinder, unterschiedliche Typen vor und nach Papa, viel Bier und auch etwas Härteres – all das hatte dafür gesorgt, dass Mama gealtert war. Schlafend, mit offenem Mund, ohne ihre Zahnprothese, ohne Schminke schaute sie zehn Jahre älter aus als sie tatsächlich war. Leider habe ich ihre schönen blauen Augen nicht geerbt. Die Halbschwester und die beiden Halbbrüder ebenfalls nicht.

Ich ging zum Kühlschrank. Eine Bierdose legte ich in die Tasche, die andere machte ich auf und kehrte zum Sessel Mama gegenüber zurück. Aus dem Fernseher ertönte Musik aus den Sechzigern, zehn CDs für Hundertzwanzig Dollar, gratis Zustellung. Von jedem Lied waren einige Takte zu hören. Zehn Minuten später ging ich wieder in die Küche; eine Bierdose machte ich auf, die andere legte ich in meine Tasche, damit ich später noch etwas hätte bei mir daheim. Wieder betrachtete ich Mama, sie hatte besseres Haar als ich. Ich dachte: „Nächstes Jahr um diese Zeit wirst du tot sein, Mama.“

Nachdem ich das Bier getrunken hatte, stellte ich beide Dosen auf den Beistelltisch neben die anderen drei. Lautlos öffnete ich die Haustür, ging auf den Flur hinaus, und als ich die Tür zumachte, glaubte ich, von innen zu hören: „Ich weiß ... du hellseherische Schlampe.“

Ich kehrte nicht ins Haus zurück. Ich stieg ins Auto, machte den Motor an und fuhr langsam los. Nach dem zweiten oder dritten Haus hörte ich im linken Ohr Mamas Flüstern: „Die Mutter deines Vaters, die Ärmste, hieß Elethia. Dein Vater mochte keine Namen. Er erwähnte nie die Namen seiner Eltern, Geschwister oder Arbeitskollegen ... den Namen seiner Mutter sprach er ein einziges Mal aus, zu Beginn unserer Beziehung, nachdem wir auf dem Rücksitz seines alten Buick LeSabre Sex gehabt hatten, während wir rauchten, nachdem du in meinem Inneren gezeugt wurdest.“

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