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Wie Vaso Mraović dem Tod zuvorkam

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Der Arzt hatte Vaso Mraović gesagt, er sei krank. Ernsthaft krank.

Wie lange noch?

Na ja, ein Jahr. Es tut mir leid.

Meine Mutter ist sechzig geworden. Der Alte dreiundsechzig. Meine Frau war zweiundsechzig, als sie gestorben ist. Ein ganzes Jahr als Flüchtling. Hier im Krankenhaus. Die Ärzte sagten, es sei Leukämie. Aber ich glaube, sie ist vor Trauer krepiert. In der Nacht, in der sie starb, sagte sie der Nachtschwester: Ružica, ich bin dann mal weg.

Wohin denn, Mütterchen?

Zu meinem Miloš.

Wer ist denn Miloš, mein Mütterchen?

... mein einziger Sohn ... mein Augenlicht.

Sie ist vor Kummer gestorben. Wie so viele ... ich bin jetzt sechsundsechzig, und wenn ich dieses eine noch vollmache, von dem du da sprichst, dann sind es siebenundsechzig. Genug.

Der Arzt zog eine Flasche aus dem Schrank, tat sie in eine Plastiktüte und stellte sie vor Vaso auf den Tisch: Nimm das mit. Das ist für den anderen Stiel.

Ein Jahr zuvor hatte der Arzt auf dem Markt zwei Äxte gekauft, eine große und eine kleine. Er brauchte sie für sein Wochenendhaus im Wald. Der Verkäufer hatte ihm gesagt, wenn er einen guten Stiel wolle, solle er einen alten Flüchtling aus Kroatien aufsuchen, in den einstigen Brigadiersbaracken am Waldrand.

Den Wald hatte es früher nicht gegeben. Den hatten Brigadiere aus ganz Jugoslawien gepflanzt. Sie kamen jahrelang, jeden Sommer. Sie pflanzten und pflanzten, und jetzt ist hier ein schöner Wald, ziemlich groß. Jugoslawien gibt es nicht mehr, den Wald schon, und in den zahlreichen Baracken waren nach 1995 die Flüchtlinge aus Kroatien untergebracht.

Der Arzt fand Vaso, gab ihm die Äxte und fragte ihn, wann die Stiele denn fertig wären.

Komm in zwei Tagen wieder.

Gemächlich schnitzte Vaso die Stiele. Zuerst den für die größere Axt, dann für die kleinere.

Der Arzt kam die Stiele abholen: Er sieht, dass sie schön sind, kräftig. Sie sehen ausgezeichnet aus. Was meinst du, wie lange sie wohl halten werden?

Wenn du richtig hackst, überleben sie dich vielleicht sogar.

Zeig mir, wie man Holz hackt.

Vaso zeigte ihm, wie man Holz hackt. Dann setzten sie sich am Waldrand auf einen Baumstamm und rauchten, schweigend.

Der Arzt stand auf: Vaso, das hast du schön gemacht. Sag mir, was ich dir schuldig bin.

Nichts. Ich hab das einfach so geschnitzt, um mir die Zeit zu vertreiben. Jetzt bin ich hier, da kommt mir ein wenig Abwechslung ganz gelegen. Meine Frau ist tot ... nimm es einfach, möge es dir zum Besten dienen.

Der Arzt ging zum Auto und kam mit einer Whiskyflasche wieder: Wenn du schon kein Geld willst, nimm das hier. Ich habe es von einem Patienten. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bekommst du noch eine Flasche. Für den anderen Stiel.

Die Baracken waren früher voller Leute, junge und alte. Langsam, mit den Jahren, gingen die Jungen ins Ausland, die Alten starben. Es starben wirklich viele Leute. Manche Alten gingen in den Wald und kamen nicht mehr zurück. Weit von ihrem Haus und Herd und ihren Gräbern.

Vaso Mraović überstand den Winter in seinem Zimmer: zwei Eisenbetten, ein Tisch, zwei Stühle, ein kleiner Herd, ein Wasserkanister, drei Kaffeetässchen, eine Stielkanne, ein Brett an der Wand, darauf eine Tüte Zucker, eine Tüte Salz, fünf Teller, eine kleine Schachtel mit Löffeln, Gabeln und Messern, zwei Rollen Toilettenpapier, eine Laterne, daneben eine Kerze, eine Streichholzschachtel, ein Haufen Tablettenschachteln, auf dem Boden eine Holztruhe, als Lampe eine nackte Glühbirne in der Fassung, ein Fenster. In der Baracke zehn kleine Zimmer auf beiden Seiten des Flures. Am Ende des Flures eine Herren- und eine Damentoilette.

Als der Wald ergrünt war, rechnete sich Vaso aus, dass ihm noch ungefähr ein Jahr geblieben war. Er packte seinen Jagdrucksack. Er tat einen kleinen Klappspaten hinein, den er vor langer Zeit in Zagreb auf einem Armee-Trödelmarkt gekauft hatte, alle Arzneischachteln von ihm und seiner Frau, eine Flasche Wasser.

Er klopfte an die gegenüberliegende Tür.

Joka, lebst du noch?

Ich lebe noch, Vaso, genau wie du. Warum sollte ich denn nicht mehr leben?

Joka, ich wollte mich verabschieden. Ich gehe nach Hause.

Wo willst du denn hin, Vaso, hast du den Verstand verloren?

Ich gehe meine Leute besuchen, das Land meiner Väter und Großväter ... ich hab nicht mehr viel Zeit, daher will ich es noch einmal sehen. Die Luft riechen, mich am Wasser satt trinken ...

Vaso, dort geht man nicht mehr hin ... sie werden dich abschlachten, so wie sie Miloš geschlachtet haben.

Vaso fuhr mit dem Bus nach Belgrad, dann mit dem Zug nach Zagreb. Am Zagreber Hauptbahnhof stand er lange und schaute die Leute an, die irgendwo hinreisten oder zurückkehrten, an ihm vorbei gingen, genauso sprachen wie er selbst. Er dachte sich: als hätte es nie Krieg gegeben.

Zwei Stunden später saß er in einem Bus nach Karlovac. Er war schweißgebadet. Er legte das Gesicht in die Hände und verharrte so bis nach Karlovac.

Als er in Karlovac aus dem Bus ausstieg, wusch er sich das Gesicht am Brunnen, trank Wasser, füllte die Flasche und begab sich sofort auf Seitenstraßen aus der Stadt hinaus. Er wollte vor Anbruch der Dunkelheit in seinem Dorf sein. Er nahm nicht die Straße, sondern Feldwege, querfeldein. Er wollte weder jemanden sehen noch gesehen werden.

Auf dem ersten größeren Hügel blieb er stehen und drehte sich zur Brücke über dem Korana-Fluss. Sogleich begann er, den Kopf nach rechts und nach links zu drehen, so wie man es tut, wenn man etwas kaum zu glauben wagt.

Miloš, Miloš …

Dann setzte er sich auf den Boden und wandte den Kopf weiterhin nach links und nach rechts.

Nachdem er sich auf den Rücken gelegt hatte, schaute er in den geröteten westlichen Abendhimmel: Es gibt keinen Gott. Gibt es nicht. Es hat ihn auch niemals gegeben. Welcher Gott würde zulassen, dass dreizehn junge Männer unten an der Brücke abgeschlachtet werden? Welcher?

Vor Einbruch der Dunkelheit hockte Vaso auf dem Hügel vor seinem ehemaligen Zuhause. Aus seinem Schornstein und denen der umliegenden Häuser stieg Rauch auf. In einigen Fenstern brannte Licht. Man vernahm den Geruch von Stall, Kühen, Dung und blühenden Obstbäumen. In seinem Hof war an einem blühenden Apfelbaum eine Ziege festgebunden. Eine Frau kam aus dem Haus, zog sich an der Schwelle Schuhe an, dann ging sie zum Apfelbaum, band den Strick los und nahm die Ziege mit in den Stall.

Vaso streckte sich, legte sich seinen Rucksack unter den Kopf und schaute den sich langsam verdunkelnden Himmel an. In einem Moment war ihm, als höre er die Stimme seiner Mutter, die ihn ins Haus rief. Er schloss die Augen. Er war auf Heimaterde. Er schlief friedlich ein.

Es waren fremde Hähne, die Vaso Mraović weckten. Er stand auf und schaute sein Haus und die Häuser seiner früheren Nachbarn an. Hier lebten jetzt irgendwelche anderen Leute. Er drehte sich um und ging zum Friedhof. Dort befanden sich die, die er kannte, die übriggeblieben waren, die Seinigen.

Der kleine Dorffriedhof sah nicht mehr so aus, wie er ihn verlassen hatte. Er war jetzt mit Gestrüpp, Gebüsch, Schlingpflanzen und hohem Unkraut zugewuchert. Aus den Gräbern und neben den Kreuzen und Gedenksteinen wuchsen jetzt junge Buchen und Eichen.

Langsam schlug sich Vaso zu der Stelle durch, wo die Gräber seiner Familie waren, schon immer. Er fand den Stein, auf dem einmal die Namen seiner Großeltern gestanden hatten. Die Marmorplatte mit den Namen seiner Eltern, die er hatte aufstellen lassen, war umgeworfen und mit Efeu bedeckt. Neben dem bereits ziemlich angefaulten Kreuz seines Miloš wuchsen zwei junge Buchen. Die Stämme, dick wie ein Unterarm, hatten sich mit dem Kreuz verbunden und stützten es, damit es nicht umfiel. Vaso kniete sich hin, küsste die ausgebleichten Plastikbuchstaben mit dem Namen seines Sohnes, dann umarmte er die jungen Baumstämme und das Kreuz. Er weinte nicht, er schluchzte nicht auf, er rührte sich nicht, er flüsterte einfach nur ein paar Mal: Miloš, Miloš ... mein Miloš ...

Vaso Mraović verbrachte den ganzen Tag mit seinen toten Mraovićs. Mit dem kleinen Klappspaten entfernte er den Efeu, das Gestrüpp, Laub und Unkraut von ihren Gräbern. Er richtete den Grabstein seiner Eltern wieder auf. In der Abenddämmerung holte er alle Medikamentenschachteln und die Wasserflasche aus dem Rucksack. Er schluckte alle Tabletten und alle Kapseln. Er legte seinen Rucksack neben die zwei jungen Buchen und das Kreuz. Er zog das Kreuz seines Sohnes aus der Erde. Er legte sich auf den Boden, bettete den Kopf auf dem Rucksack und legte das Kreuz auf seine Brust. Er schlief mit dem Kreuz auf der Brust ein, mit den Armen auf den Querbalken, mit einer Hand den Vornamen seines Sohnes fest umschlungen, mit der anderen den Nachnamen.

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