Читать книгу WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN - Eberhard Weidner - Страница 4

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Es war wie die weltberühmte Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Denn nach ihrem Erwachen wusste sie zunächst nicht zu sagen, ob nun das schmerzhafte Pochen in ihrem Schädel dafür gesorgt hatte, dass sie erwachte, oder es sich nicht eher andersherum verhielt und der Kopfschmerz erst in dem Moment entstanden war, als sie begonnen hatte, zu sich zu kommen.

Da sie instinktiv ahnte, dass der Schmerz sich intensivieren würde, sobald sie die Augen öffnete, ließ sie diese lieber noch zu. Sie überlegte, ob sie heute zur Schule musste oder ausschlafen konnte. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, welcher Tag heute war. Das kam am Wochenende gelegentlich vor. Dann wachte sie auf, dachte, sie müsste gleich aufstehen, weil sie Schule hatte, und dann fiel ihr ein, dass Samstag oder Sonntag war und sie sich beruhigt noch einmal auf die andere Seite drehen und weiterschlafen konnte. Auch dieses Mal wartete sie auf diese Erkenntnis, doch anders als gewohnt stellte sie sich heute nicht ein, sodass sie weiter darüber nachgrübeln musste.

Hatte sie etwa doch Schule? Aber wieso hatte sie dann den Wecker nicht gehört? Vielleicht war es also tatsächlich so, dass der bohrende Schmerz in ihrem Kopf sie geweckt hatte. Oder sie hatte ein Geräusch im Haus gehört. Ihre Mutter möglicherweise, die immer vor allen anderen aufstand, um in Ruhe die erste Tasse Kaffee des Tages zu genießen, bevor die anderen lärmend herunterkamen und sie Pausenbrote für die Kinder machen musste. Oder ihr Vater, der noch schnell ins Bad schlurfte, kurz bevor ihr Wecker klingelte und sie das Bad für die nächsten zwanzig Minuten mit Beschlag belegte. Nur die Nervensäge Robin, ihr neunjähriger Bruder, konnte es nicht gewesen sein, denn der stand nie vor den anderen auf, sondern erst im letztmöglichen Moment, bevor Mama die Geduld verlor, nach oben ging und ihm die Decke wegriss. Dann hatte er gerade noch Zeit für eine Katzenwäsche, das Zähneputzen und ein hastiges Frühstück, bevor er aus dem Haus rannte.

Sie versuchte sich zu erinnern, was sie am letzten Abend getan hatte, um über diesen Umweg in Erfahrung zu bringen, was für ein Wochentag heute war, stieß jedoch anstelle einer Erinnerung nur auf gähnende Leere. Sie runzelte die Stirn, was den Schmerz unter ihrer Schädeldecke augenblicklich verstärkte.

Warum kann ich mich nicht daran erinnern, was ich gestern Abend getan habe?, fragte sie sich beunruhigt.

Es sah immer mehr so aus, als würde sie unter einem Kater leiden. Aber wie konnte das sein, wo sie doch schon aus Prinzip keinen Alkohol trank? Niemals! Und dabei machte sie auch keine Ausnahmen. Sie trank noch nicht einmal ein Glas Sekt, wenn eine ihrer Freundinnen Geburtstag feierte. Doch die Symptome, unter denen sie heute früh litt – stechender Kopfschmerz und eine riesige Gedächtnislücke –, erinnerten sie unwillkürlich an das, was Freunde und Bekannte über die Nachwirkungen von übermäßigem Alkoholgenuss erzählt hatten. Außerdem hatte sie, wie ihr erst jetzt auffiel, einen trockenen Hals und einen ekelhaften Geschmack im Mund. Bitter und intensiv, so als hätte sie vor dem Schlafengehen Medizin eingenommen.

Da das Pochen in ihrem Schädel nicht wie erhofft schwächer, sondern mit jeder Minute noch intensiver wurde, beschloss sie, aufzustehen und eine Schmerztablette zu nehmen. Außerdem wollte sie sich die Zähne putzen und den Mund gründlich ausspülen, um den scheußlichen Geschmack loszuwerden.

Sie öffnete die Augen und blinzelte in die trübe Helligkeit, die sie umgab und ihre Kopfschmerzen – wie sie richtig vermutet hatte – zusätzlich anheizte. Sie stöhnte laut und lang gezogen, allerdings weniger wegen der Schmerzen, sondern eher wegen dem, was ihre Augen ihr zeigten. Denn sie erkannte augenblicklich, dass sie gar nicht zu Hause in ihrem Bett lag, wie sie seit dem Aufwachen geglaubt hatte, sondern ganz woanders war. An einem fremden Ort, den sie noch nie gesehen hatte und an dem sie nie zuvor gewesen war.

Sie hob den schmerzenden Kopf vom Kissen, das ihr nun nicht mehr so weich wie ihr eigenes erschien. Und auch die Matratze, auf der sie lag, war viel härter, dünner und unbequemer. Mit behutsamen Bewegungen ihres Kopfes und ihrer Augen sah sie sich um.

Das Licht, das es ihr erlaubte, ihre Umgebung zu erkennen, war diffus und kam durch eine rechteckige, vergitterte Öffnung unmittelbar unter der unverputzten Betondecke. Auch die Wände sahen aus wie in einem Rohbau und waren schmucklos. Als sie den Kopf langsam nach links wandte, entdeckte sie eine fensterlose Tür aus Metall, die hellgrau gestrichen war.

Ich muss in einem Kellerraum sein. Aber warum bin ich hier? Und wer hat mich hierher gebracht?

Sie versuchte erneut, sich an die letzten Ereignisse unmittelbar vor dem Einschlafen zu erinnern. Doch alles war wie ausgelöscht. Ihr kam der vage Gedanke, dass sie mit Freunden unterwegs gewesen und anschließend im Dunkeln allein nach Hause gegangen war. Aber alles, was danach eigentlich kommen müsste, war weg, als hätte es nie existiert oder wäre nachträglich gelöscht worden.

Für den Bruchteil eines Augenblicks erschien, wie von einem Blitzlicht aus der Dunkelheit gerissen, ein Gesicht vor ihrem inneren Auge, um allerdings sofort wieder zu verschwinden, bevor sie in der Lage war, Details zu erkennen. Ihr wurde lediglich bewusst, dass sie die Person, der das Gesicht gehörte, nicht kannte und nie zuvor gesehen hatte.

Aber warum sehe ich dann ihr Gesicht vor mir, während ich darüber nachgrüble, was mit mir geschehen ist?

Obwohl sie das Antlitz nur für die Dauer eines Lidschlags gesehen hatte, fiel ihr im Nachhinein auf, dass es zwei gänzlich unterschiedliche Ausdrücke gezeigt hatte. Erst lächelnd und freundlich, aber schon im nächsten Moment böse und verzerrt. Fast wie die beiden gegensätzlichen Seiten ein und derselben Medaille.

Sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren und das Gesicht noch einmal aus der Finsternis ihrer verlorenen Erinnerungen reißen zu können. Es gelang ihr aber nicht. Außerdem verstärkte sich der Schmerz, je intensiver sie nachdachte.

Also öffnete sie die Augen wieder und richtete ihren Oberkörper auf. Es klirrte metallisch, als sie sich bewegte. Sie sah nach unten und entdeckte voller Entsetzen, dass ihre Handgelenke von eisernen Schellen umschlossen wurden, die durch silberne, massiv wirkende Ketten mit einem Stahlring in der Wand verbunden waren. Sie hob die Hände näher vor ihre Augen, als könnten sich die Fesseln dadurch als Trugschluss herausstellen. Doch schon das laute Klirren, das sie dadurch erzeugte, bewies ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die Schellen und Ketten lösten sich partout nicht in Luft auf, sosehr sie sich das auch wünschte, und plötzlich konnte sie auch deutlich ihr Gewicht und die Enge um ihre Handgelenke spüren.

Die eisige Kälte der Todesangst griff nach ihrem Herzen, umschloss es mit knochigen Fingern und drückte in dem Augenblick zu, als ihr bewusst wurde, was das alles – die fremde Umgebung, der Kopfschmerz, die Erinnerungslücke und die Ketten – bedeuten musste.

»Aber wer …?«, fragte sie mit krächzender Stimme, ehe ein Hustenanfall sie verstummen ließ. Während sie hustete, löste jede einzelne Erschütterung ihres Körpers in ihrem gequälten Schädel weitere weißglühende Pfeile aus purem Schmerz aus, die in alle Richtungen flogen.

Aber als hätten die neuen Schmerzimpulse sie befreit, tauchten plötzlich Erinnerungen in ihr auf. Es waren allerdings ganz andere Erinnerungen, als sie erwartet und erhofft hatte. Sie erinnerte sich nämlich daran, dass vor ein paar Tagen eine junge Frau verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht war. Sie wohnte ganz in der Nähe von Fürstenfeldbruck und sah ihr sogar ein bisschen ähnlich. Beide hatten langes, hellblondes Haar und hübsche, ebenmäßige Gesichtszüge. Beide waren groß gewachsen und schlank. Sie hatte die andere zwar nicht gekannt, da sie in verschiedenen Orten wohnten und unterschiedliche Schulen besuchten, dennoch hatte ihr spurloses Verschwinden sie entsetzt und beunruhigt.

Sollte ihr nun dasselbe widerfahren sein und das gleiche Schicksal drohen wie der verschwundenen Frau, die nur ein knappes Jahr jünger war als sie.

»Aber wieso ausgerechnet ich?«

Es schien, als wären ihre Worte von jemandem vernommen worden und hätten in einem anderen Teil dieses Hauses eine Reaktion ausgelöst, denn plötzlich wurden direkt über ihr Geräusche laut. Stampfende Schritte ertönten, verharrten kurz, wurden dann lauter, nachdem vermutlich eine Tür geöffnet worden war, polterten anschließend Stufen herunter und kamen dann rasch näher.

Ihr Herz schlug mit jedem lauter werdenden Schritt der unbekannten Person schneller und heftiger, während es noch immer im eiskalten Griff ihrer furchtbaren Angst steckte. Denn selbst wenn sie denjenigen, der sich ihr näherte, gar nicht kannte, musste es sich doch um die Person handeln, die sie aus ihrem normalen Leben gerissen und an diesen albtraumhaften Ort gebracht hatte und nun hier gefangen hielt.

Als die Schritte schließlich unmittelbar vor der Tür zu ihrem Kellerverlies verstummten, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Mit ängstlichem Blick und laut klopfendem Herzen starrte sie die geschlossene Tür an, die einzige Barriere, die nun noch zwischen ihr und ihrem Entführer lag.

Ein Schlüssel drehte sich im Türschloss. Dann wurde ein Riegel zurückgezogen. Die Tür öffnete sich mit einem nervenzerreißenden Quietschen. Es fuhr ihr durch Mark und Bein und hätte sie beinahe laut schreien lassen.

Beim Anblick des Maskierten, der den Kellerraum betrat, konnte sie sich allerdings nicht länger beherrschen. Sie schrie so laut und schrill, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte. Doch ihr Schrei währte nur Sekunden, bevor der Vermummte nach vorn sprang und ihr ins Gesicht schlug. Nicht so fest, dass sie verletzt wurde oder das Bewusstsein verlor, aber doch fest genug, um ihr Schreien zu einem leisen Wimmern werden zu lassen.

»Endlich aufgewacht, Miststück?«, fragte der Maskierte, der eine bunte Clownsmaske und eine bis zum Boden reichende schwarze Kutte mit Kapuze trug, mit dunkler, rauer Stimme. Er legte seine behandschuhte, rechte Hand unter ihr schmales Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Dann können wir ja endlich anfangen, dir Schmerzen zuzufügen, die du für den kümmerlichen Rest deines kurzen, beschissenen Lebens nicht mehr vergessen wirst, damit du das, was du getan hast, endlich eingestehst und bereust.«

Durch die Augenschlitze konnte sie die Augen der Person sehen, die sie mitleidlos und zornig anfunkelten. Noch mehr als der Schlag ins Gesicht und die ganze Maskerade ließ sie dieser Blick frösteln und das Schlimmste befürchten …

WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN

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