Читать книгу WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN - Eberhard Weidner - Страница 9

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Als sie den Feldweg verließen und unter das Blätterdach der Eiche traten, wurden die beiden Beamten der Mordkommission von den Anwesenden begrüßt und erwiderten die Grüße. »Ich komm gleich zu dir, dann unterhalten wir uns«, sagte Schäringer zu Christian Krautmann von der Spurensicherung. Dann gesellten sie sich zu Stefan Bauer, der mit verschränkten Armen neben dem Stamm des Baumes stand und mit ausdrucksloser Miene dem Gerichtsmediziner bei seiner Arbeit zusah. In der rechten Hand hielt er zwei Beweismittelbeutel aus transparenter Plastikfolie.

Zunächst sah es so aus, als hätte er die Ankunft der beiden Kollegen von der Mordkommission gar nicht bemerkt, so konzentriert beobachtete er, was Dr. Mangold tat. Als diese aber keine Anstalten machten, wieder zu gehen und ihn in Ruhe zu lassen, hob er geradezu widerwillig den Blick und sah zuerst Schäringer und dann Baum abschätzig an. »Sieh an, die Kollegen von der Abteilung Mord und Totschlag sind also auch schon da.«

Bauer war Mitte vierzig, von durchschnittlicher Statur und durchschnittliche eins einundachtzig groß. Er hatte kurzes und in der Mitte gescheiteltes, hellbraunes Haar und einen Zehntagebart. Er war leger gekleidet, trug eine ausgewaschene, hellblaue Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein hellblaues Jeanshemd im Western-Style. Seine Füße steckten in beigen Freizeitschuhen von Adidas.

Schäringer erinnerte sich, dass der Kriminaloberkommissar seit Neuestem nicht nur für Vermisstenfälle zuständig, sondern auch Leiter einer Sonderkommission war, die vorgestern eingerichtet worden war, nachdem innerhalb weniger Tage zwei junge Frauen spurlos verschwunden waren. Die erste war die siebzehnjährige Nadine Blume. Sie wohnte in der Gemeinde Emmering, die im Osten an das Stadtgebiet von Fürstenfeldbruck grenzte, und besuchte die elfte Klasse des Graf-Rasso-Gymnasiums. Sie war vor acht Tagen auf dem Heimweg vom Nachmittagsunterricht gewesen, allerdings nie zu Hause angekommen und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Und vor zwei Tagen war eine weitere Schülerin verschwunden. Die achtzehnjährige Nele Schumacher aus dem Ortsteil Buchenau ging aufs Viscardi-Gymnasium. Sie war mit Schulfreunden abends beim Pizzaessen gewesen, bevor auch sie spurlos verschwand. Gemeinsam war beiden jungen Frauen nicht nur, dass sie etwa im gleichen Alter waren und aufs Gymnasium gingen, sie waren auch bildhübsch und sahen sich sogar ein bisschen ähnlich. Beide hatten langes und sehr helles, blondes Haar und waren groß und schlank. Nach Neles Verschwinden wurde daher eilig eine Sonderkommission eingerichtet, die sich auf die Suche nach den beiden Frauen konzentrierte. Und Stefan Bauer wurde kurzerhand zum Leiter der Soko ernannt.

»Morgen, Kollege Bauer«, grüßte Schäringer, ohne auf die Bemerkung des anderen einzugehen. Er wollte kein frisches Öl ins Feuer gießen, sondern war nur hier, um seine Arbeit zu erledigen, so gut es ihm möglich war. Persönliche Animositäten hatten dabei seiner Meinung nach nichts zu suchen. »Was hat Sie denn hierher verschlagen?«

»Sie müssen sich verirrt haben, Bauer«, sagte Baum und deutete auf den Toten. »Das da ist eindeutig ein Kerl und keins Ihrer verschwundenen Mädchen. Nach denen sollten Sie lieber woanders suchen. Aber was soll’s? Jeder kann sich mal täuschen.«

»Morgen, Schäringer. Ist Ihr Schoßhündchen eigentlich immer so bissig?«

Schäringer zuckte mit den Schultern. »Nicht immer. Aber wenn wir so früh am Tag schon unsere erste Leiche zu Gesicht bekommen, läuft er zur Hochform auf.«

Baum grinste Bauer frech an, knurrte und machte: »Wuff!«

»Aber um noch einmal auf meine Frage zurückzukommen«, sagte Schäringer. »Was suchen Sie denn nun wirklich hier?«

»Dasselbe wollte ich eigentlich Sie fragen.«

Schäringer runzelte die Stirn und sah Bauer fragend an. »Warum mein Kollege und ich hier sind, dürfte sich ja wohl von selbst erklären. Schließlich liegt da drüben für jedermann sichtbar eine männliche Leiche, die kurz zuvor noch an einem Strick an diesem eindrucksvollen Baum hing. Obwohl die äußeren Umstände klar für einen Suizid sprechen, sind die tatsächliche Ursache und die genaueren Umstände des Todeseintritts vor der Untersuchung des Leichnams durch den Gerichtsmediziner und der Würdigung der gefundenen Beweise gleichwohl unklar. Eindeutig ist bislang nur, dass es sich um keinen natürlichen Tod handelt. Wir sind somit hier, um die Todesermittlungen durchzuführen und zu prüfen, ob es sich tatsächlich um einen Freitod handelt oder ob eine andere Person für das Ableben des jungen Mannes verantwortlich ist. Solange also nicht mit hundertprozentiger Sicherheit feststeht, dass er sich selbst und aus freien Stücken umgebracht hat, ist und bleibt das ein Fall für die Mordkommission. Und nachdem ich mein Sprüchlein aufgesagt habe, sind Sie mit Ihrem an der Reihe, Bauer. Was tun Sie hier? Hat der junge Mann etwas mit den Ermittlungen der Soko zu tun?«

Bauer nickte. »Das hat er tatsächlich, Schäringer. Sie und Ihr Hündchen können sich also gleich wieder in Ihr Auto setzen und zurück ins Büro fahren, denn das hier ist ein Fall für meine Soko.«

»Wenn er noch einmal Hündchen zu mir sagt, pinkle ich ihm ans Bein. Darf ich?«

»Von mir aus«, sagte Schäringer. »Aber vorher erklären Sie mir mal, warum das kein Fall für die Mordkommission sein soll, Bauer, und woher Sie diese Erkenntnis haben. Stammt sie etwa von den Dingen, die Sie in diesen Beweismitteltüten mit sich herumtragen?«

»In der Tat. Sie waren ja schon immer ein ganz Schlauer, Schäringer. Am besten sehen Sie es sich selbst an.« Er reichte Schäringer eine der Beweismitteltüten, in der sich ein Stück Papier befand.

»Was ist das?«, fragte Schäringer. »Ein Abschiedsbrief?«

Baum trat nach einem feindseligen Blick auf Bauer näher an seinen älteren Kollegen, um ebenfalls einen Blick auf das durch die Kunststoffhülle geschützte Beweisstück werfen zu können.

»Nicht direkt ein Abschiedsbrief«, sagte Bauer. »Allerdings so gut wie. Aber in meinen Augen ist es vor allem ein lupenreines Geständnis dieses Burschen, was das Verschwinden und die wahrscheinliche Ermordung von Nadine Blume angeht.«

»Sie meinen also, dass er der Entführer der beiden Schülerinnen ist und sie auch schon getötet hat?«

Bauer nickte mit grimmiger Miene. »Lesen Sie doch selbst, was er geschrieben hat.«

Schäringer folgte der Aufforderung und konzentrierte sich auf das Schriftstück in seiner Hand. Es handelte sich um ein kariertes Blatt Papier im Format DIN-A5, das an einer Seite einen unregelmäßigen, ausgefransten Rand aufwies, weil es augenscheinlich aus einem Heft oder einem Notizbuch herausgerissen worden war, und mehrere Knickstellen besaß, wo es ursprünglich mehrfach gefaltet gewesen war. Auf eine Seite des Blattes hatte jemand mit blauem Kugelschreiber in großen Druckbuchstaben, die mehrere Kästchen hoch waren, folgende Worte geschrieben:

BLÜMCHEN IST VERSCHWUNDEN, UND ICH BIN SCHULD!

ICH HAB SIE AUF DEM GEWISSEN!

ES TUT MIR ALLES SO LEID!

WAS SOLL ICH NUR TUN?

Die dicken Linien, aus denen die einzelnen Buchstaben bestanden, waren mehrfach nachgezeichnet worden, sodass sie sich sehr tief in das Papier eingedrückt und dieses teilweise sogar aufgerissen hatten.

»Klingt mir allerdings weder nach einem eindeutigen Abschiedsbrief noch nach einem lupenreinen Geständnis«, sagte Schäringer. »Schließlich kündigt der Schreiber in keiner Weise unmissverständlich an, sich selbst zu töten, sondern fragt nur, was er tun soll. Außerdem steht auch nirgendwo explizit, dass er das Mädchen – mit Blümchen ist vermutlich das erste Entführungsopfer Nadine Blume gemeint – entführt und umgebracht hat. Falls das Ganze überhaupt von diesem jungen Mann hier stammt. Aber um das zu klären, muss die Schrift erst mit einer Schriftprobe von ihm verglichen werden. Wenn Sie mir also nichts Eindeutigeres vorlegen können, Kollege, werden wir bestimmt nicht unverrichteter Dinge ins Büro zurückkehren, sondern hier, wie geplant, unseren Job erledigen und die Todesermittlungen durchführen.«

»Vielleicht überzeugt Sie das hier mehr«, sagte Bauer und hielt den zweiten Beweismittelbeutel hoch, sodass Schäringer und Baum seinen Inhalt erkennen konnten.

»Was ist das?«, fragte Baum. »Ein Armband?«

»Ihr Schützling kann ja tatsächlich mehr als nur kläffen und Bäume anpinkeln, Schäringer. Das ist tatsächlich ein Armband, genauer gesagt ein Bettelarmband oder auf Englisch charm bracelet. An die Kettenglieder werden kleine Anhänger oder charms gehängt, die Symbole darstellen und ganz unterschiedliche Bedeutungen haben können: Glücksbringer, Glaubenszeichen oder auch zur Erinnerung an bestimmte Orte oder Personen. Der Name kommt vermutlich daher, dass man sich die Symbole ursprünglich erbettelt hat.«

»Ich vermute mal«, sagte Schäringer, »dass es nicht dem jungen Mann, sondern eigentlich Nadine Blume gehörte.«

»Damit liegen Sie goldrichtig. Und auch mit Ihrer anderen Vermutung von vorhin haben Sie übrigens ins Schwarze getroffen. Nadine Blume wurde von ihren Freundinnen und Freunden Blümchen genannt.«

»Und das hatte der Tote bei sich?«, fragte Baum und deutete mit dem Zeigefinger auf das Bettelarmband in der Tüte.

»Ja. Jemand von der Spurensicherung fand es zusammen mit dem Zettel in einer Hosentasche.«

»Trug Nadine Blume das Bettelarmband auch am Tag ihres Verschwindens?«, fragte Schäringer.

»Nach Aussage ihrer Angehörigen und Freundinnen trug sie es jeden Tag. Wir gehen daher davon aus, dass sie es auch anhatte, als sie verschwand.«

»Dann gibt es zumindest einen Zusammenhang zwischen dem jungen Mann und dem Verschwinden des Mädchens«, räumte Schäringer ein, um sofort zu ergänzen: »Aber mehr auch nicht. Und solange nicht hundertprozentig feststeht, dass der Junge sich selbst erhängt hat, ergibt sich auch nicht der geringste Zweifel an der Zuständigkeit der Mordkommission, um die exakte Ursache und die Umstände seines Todes aufzuklären.«

»Dann führen Sie und Ihr …«, Bauer sah Baum abschätzig von oben bis unten an, »… Lakai von mir aus Ihre Todesermittlungen durch. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieser Typ hier mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die beiden Mädchen entführt und getötet hat. Damit ist das in erster Linie ein Fall für mich und die Soko. Kommen Sie mir also besser nicht in die Quere.«

»Korrekt müsste es eigentlich heißen: ein Fall für die Soko und mich«, sagte Baum. »Der Esel nennt sich eben immer zuerst. Aber das würde Ihnen natürlich gut in den Kram passen, Bauer, nicht wahr? Kaum sind Sie zwei Tage Leiter der Soko, schon können Sie den Medien und der Öffentlichkeit den Täter präsentieren, auch wenn es letztendlich gar nicht Ihr Verdienst war. Und jetzt wollen Sie sich natürlich von niemandem die Butter vom Brot nehmen und Ihren großen Ermittlungserfolg streitig machen lassen, nicht wahr? Dieser Mann will auf Teufel komm raus Karriere machen, Franz.«

»Mag sein, dass du recht hast, Lutz. Aber das interessiert mich alles nicht«, sagte Schäringer. »Mir geht es nur darum, dass wir ungestört unsere Arbeit erledigen können. Falls der junge Mann sich tatsächlich selbst umgebracht hat, finden wir das bald heraus und sind hier schnell fertig. Dann gehört er wieder ganz Ihnen, Bauer, und Sie können mit dem Fall machen, was Sie wollen. Aber bis es so weit ist, bleibt das unser Fall. Und falls er sich doch nicht selbst aufgehängt hat, sondern umgebracht wurde, um einen Mord zu vertuschen und ihm gleich noch die Entführung und Ermordung der Mädchen in die Schuhe zu schieben, was meiner Meinung nach durchaus in Betracht zu ziehen ist, dann werden wir weiter ermitteln und alles daransetzen, den Mörder zu finden. Also geben Sie mir schon den Beutel mit dem Armband, Bauer. Ich werde die Beweise dem Leiter der Spurensicherung übergeben, damit sie kriminaltechnisch untersucht werden können.«

Für einen Moment sah es ganz so aus, als wollte Bauer sich weigern. Seine Finger schlossen sich noch fester um die obere Hälfte der Beweismitteltüte, sodass seine Knöchel weiß wurden. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass Schäringer glaubte, er könnte sie leise knirschen hören. Dann verzog Bauer jedoch das Gesicht und zeigte ein falsches Grinsen, bevor er sagte: »Na gut, Schäringer, für den Moment haben Sie vielleicht gewonnen, weil es momentan tatsächlich noch Ihr Fall ist. Aber sobald Sie feststellen, dass diese kleine Drecksau, die zwei junge Frauen ermordet hat, sich tatsächlich durch einen feigen Selbstmord seiner Festnahme und Verurteilung entzogen hat, erwarte ich, dass Sie mir augenblicklich alle Unterlagen und Beweise übergeben.«

»Selbstverständlich«, sagte Schäringer, ohne eine Miene zu verziehen, und griff nach dem Beutel mit dem Bettelarmband. »Darf ich?«

Bauer ließ los, sodass Schäringer das Beweisstück an sich nehmen konnte, wandte sich wortlos ab und marschierte davon.

»Wuff, wuff!«, rief ihm Baum hinterher und grinste schadenfroh.

Ohne sich von jemandem zu verabschieden, ging Bauer zu seinem Wagen und stieg ein.

»Der Arsch soll bloß aufpassen, dass er beim Ausparken nicht gegen unser Auto fährt!«, sagte Baum und beobachtete mit Argusaugen, wie der verhasste Kollege aus der Lücke fuhr, seinen Wagen auf dem schmalen Feldweg wendete und davonbrauste. »Dem haben wir’s aber gegeben, Franz!«

»Wozu auch immer diese Diskussion gut war?«, sagte Schäringer und seufzte. »Aber wenigstens können wir jetzt anfangen, ungestört unsere Arbeit zu machen. Also komm und lass uns mal ein Wörtchen mit Krautmann reden.«

WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN

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