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Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mich jemand an der Schulter anrempelte. Ich zuckte wie immer sofort automatisch zurück und presste meine Hände eng an den Körper, bevor mir einfiel, dass ich dieses Mal Handschuhe trug, um mich vor unwillkommenen körperlichen Kontakten zu schützen.

Der Mann, der sich mit einem riesigen Trolley an meinem Sitzplatz vorbei durch den Gang gezwängt und mich dabei angestoßen hatte, ging ohne ein Wort der Entschuldigung weiter und rempelte den nächsten Fahrgast an.

Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, wo ich mich befand, nachdem ich so tief in meinen Erinnerungen versunken gewesen war, die mir so intensiv und lebhaft erschienen waren, als hätte ich sie soeben noch einmal durchlebt.

Ich saß wieder einmal in einem U-Bahn-Waggon, da öffentliche Verkehrsmittel in einer Großstadt wie München immer noch die beste und einfachste Art waren, rasch von einem Ort zum anderen zu gelangen. Ausnahmsweise musste ich allerdings nicht stehen, sondern hatte einen Sitzplatz ergattert. Ich entspannte mich wieder und sah mich um, ob einer der anderen Fahrgäste meine instinktive und übertriebene Reaktion auf den Rempler bemerkt hatte. Doch die anderen Leute beachteten mich gar nicht und waren in ihre Tageszeitungen, Bücher, Smartphones und E-Book-Reader vertieft. Ich hob den Blick und musterte die Menschen, die im Gang und vor den Türen standen. Aber mit Ausnahme einer jungen, dunkelhaarigen Frau, die jedoch nur ungefähr in meine Richtung sah, bevor sie ihren in die Ferne gerichteten, verträumten Blick weiterschweifen ließ, sah niemand her.

Ich überprüfte, ob die dünnen, naturfarbenen Baumwollhandschuhe noch richtig saßen, bevor ich die Arme vor der Brust verschränkte und die Hände in meine Achselhöhlen schob, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen. Es wäre nicht das erste Mal, dass mich jemand schief oder argwöhnisch ansah, weil ich schon im Frühherbst Handschuhe trug. Vermutlich dachten die meisten Menschen dabei unwillkürlich an etwas Ansteckendes, denn in der Regel zuckten sie zurück und machten, sofern es möglich war, einen oder zwei Schritte zurück. Aber obwohl ich die Handschuhe bei meinen Fahrten in der U-Bahn wegen des dichten Gedränges, das in den Waggons herrschte, bereits seit dem Vorfall vor anderthalb Wochen trug, an den ich mich vorhin so lebhaft erinnert hatte, hatte ich mich noch immer nicht an die Blicke und Reaktionen meiner lieben Mitmenschen gewöhnt.

Als die U-Bahn in die nächste Station einfuhr und langsamer wurde, warf ich rasch einen Blick durch das Fenster nach draußen, um festzustellen, wo wir uns befanden. Ich befürchtete zunächst, ich wäre zu lang in meinen Erinnerungen versunken gewesen und hätte meine Station verpasst, doch zum Glück war es nicht so. Ich war gerade noch rechtzeitig in die Gegenwart zurückgekehrt, denn hier musste ich raus. Im Grunde musste ich dem rücksichtslosen Rüpel, der mich angerempelt hatte, sogar noch dankbar sein.

Ich klemmte mir die Mappe mit dem Storyboard für einen Zeichentrick-Werbespot unter den linken Arm, stand auf und hielt mich an einer Haltestange fest, während die U-Bahn abbremste und dann mit einem Ruck zum Stehen kam, der mich einen halben Schritt nach vorn taumeln ließ.

Ich bin gelernter Grafik-Designer und arbeite freiberuflich als Illustrator, Comiczeichner und -texter. Meine Comics veröffentliche ich unter dem Künstlerpseudonym Rex. Das ist allerdings kein Zeichen von Überheblichkeit und bedeutet nicht, dass ich mich für den König der Comic-Künstler halte, sondern ist lediglich die lateinische Übersetzung meines Nachnamens, denn mit bürgerlichem Namen heiße ich Richard König. Rex war ich schon von meinen Klassenkameraden genannt worden, nachdem wir in der siebten Klasse im Lateinunterricht zum ersten Mal auf das Wort gestoßen waren, obwohl einer meiner Schulfreunde, mit denen ich auch heute noch Kontakt habe, steif und fest behauptet, mein Spitzname komme von Tyrannosaurus Rex, weil ich meine Freunde schon seit frühester Jugend mit meinen selbstgezeichneten Comics tyrannisiert hätte. Das stimmt nicht! Aber egal, woher mein Spitzname nun tatsächlich stammte, war es naheliegend, ihn zu benutzen, als ich nach einem Künstlerpseudonym suchte. Am liebsten zeichne und texte ich Bildgeschichten für Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverlage. Unter anderem erscheinen meine Comics regelmäßig im Kindermagazin einer großen Bank. Daneben arbeite ich aber auch für Werbe- und PR-Agenturen und fertige Animationsfilme für Musikvideos oder Werbespots. Davon kann man nicht unbedingt reich werden, aber wenn man fleißig, nicht sehr anspruchsvoll und darüber hinaus genügsam ist, kommt man damit gut über die Runden. Um mir daneben ein kleines Zubrot zu verdienen, gebe ich gelegentlich auch Kurse und veranstalte Workshops.

Auch an diesem Tag war ich beruflich unterwegs. In der Mappe unter meinem Arm befand sich die Arbeit der letzten drei Tage. Es handelte sich um das Storyboard für einen Zeichentrick-Werbespot, den ich bei der Werbeagentur vorbeibringen wollte, die mich damit beauftragt hatte. Ich hatte schon öfter mit der Agentur zusammengearbeitet und war zuversichtlich, dass den Verantwortlichen mein Entwurf für den Spot, den ich nach ihren Rahmenvorgaben erstellt hatte, gefallen und ich den Auftrag für den Trickfilm bekommen würde. Ich hatte gestern noch bis spät in die Nacht daran gefeilt und war daher auch ziemlich müde.

Schon der Gedanke genügte, um mich sofort gähnen zu lassen. Ich hielt mir die rechte Hand vor den Mund, während sich die Türen öffneten und die ersten Fahrgäste in Bewegung setzten, um die U-Bahn zu verlassen. Die Frau an meiner rechten Seite bemerkte, dass ich Handschuhe trug, und warf mir einen argwöhnischen Blick zu, als wäre ich hauptberuflich ein Serienkiller, der auch in seiner Freizeit keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte. Ich sah sie an und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Sie riss vor Entsetzen Mund und Augen gleichzeitig auf und hatte es plötzlich sehr eilig, von mir weg und aus dem Waggon zu kommen.

Ich grinste, doch das Grinsen verging mir sofort wieder, als ich einen stechenden Schmerz hinter meiner Stirn verspürte. Diese verdammten Kopfschmerzen! Manchmal kündigten sie sich lange vorher an, sodass ich mich darauf vorbereiten konnte. An anderen Tagen überfielen sie mich aus heiterem Himmel mit einer Intensität, die Übelkeit erregend war. Heute war unglücklicherweise Letzteres der Fall. Ich unterdrückte ein Stöhnen, das mir im Gedränge mit Sicherheit noch mehr unliebsame Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste eingebracht hätte.

Die Kopfschmerzen traten zum Glück nur gelegentlich auf. Ich hatte sie seit meinem Unfall, so wie ich seit dem Erwachen aus dem Koma bei direktem Körperkontakt auch die Totengesichter der Menschen sehen konnte, die in Kürze starben. Ich wusste nicht, was ich mehr verabscheute. Meistens meine merkwürdige Fähigkeit, denn dabei war ich ohnehin nur ein hilfloser Zuschauer und konnte nicht das Geringste ausrichten. Außerdem jagte mir diese Gabe noch immer eine Heidenangst ein, weil ich nicht verstand, wie so etwas überhaupt möglich war und warum ausgerechnet ich damit gestraft worden war. Nur wenn die Kopfschmerzen besonders stark waren, war es mir lieber, das Antlitz des Todes auf den Gesichtern eines Todgeweihten zu sehen, denn das war wenigstens nicht mit Schmerzen verbunden.

Als ich aus der U-Bahn auf den Bahnsteig trat, spürte ich bereits, dass die Schmerzen, die gerade eben mit einem kräftigen Pochen gegen die Tür meines Verstands ihren Besuch angekündigt hatten, heftig werden würden. Daher beschloss ich, auf der Stelle ein paar Schmerztabletten zu nehmen, um sie so früh wie möglich zu bekämpfen. Ich hatte zwar noch mehr als genug Zeit bis zu meinem Termin in der Werbeagentur, weil ich ohnehin vorgehabt hatte, vorher noch in einem Café in aller Ruhe einen Cappuccino zu trinken, doch da der Auftrag lukrativ und wichtig war, wollte ich bis dahin wieder in einer möglichst präsentablen Verfassung sein.

Totengesicht

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