Читать книгу Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book) - Елена Макарова - Страница 20

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Kindheit und Jugend sind bedeutende Phasen der Interessenentwicklung (Tracey, 2001). Theorien zur Entwicklung beruflicher Interessen (Gottfredson, 2002; Todt, 2000) nehmen an, dass von der Geburt bis in das Jugendalter eine fortschreitende Differenzierung beruflicher Interessen stattfindet, die in einer Abnahme von Interessen sowie einer Einschränkung der Breite des individuellen Interessenspektrums resultiert. Als Ursache für die zunehmende Differenzierung beruflicher Interessen werden einerseits eine zunehmende Exploration der Umwelt und individueller Erfahrungen sowie die zunehmende Bedeutung sozialer Vergleiche in Kindheit und Jugend angeführt. In der Persönlichkeitspsychologie wird die zeitlich begrenzte Abnahme von Persönlichkeitsmerkmalen, die aus den umfassenden biologischen, sozialen und psychologischen Veränderungen in Kindheit und Jugend resultieren, als «disruption principle» bezeichnet (Soto & Tackett, 2015).

Unsere Studie untersuchte, inwiefern sich die «disruption hypothesis» auch auf die Entwicklung beruflicher Interessen von der späten Kindheit bis in das frühe Jugendalter übertragen lässt. In Übereinstimmung mit bisherigen Befunden (Hoff et al., 2018) zeigt sich in unserer Studie mit Viert- bis Sechstklässlern über eine Zeitdauer von drei Jahren eine Abnahme der Interessensbereiche R, I, A, S und C, während der Interessensbereich E stabil blieb. Allerdings beschränken sich die Veränderungen im konventionellen Interesse lediglich auf den zweiten und dritten Messzeitpunkt. Das «disruption principle» lässt sich demnach auf die Entwicklung beruflicher Interessen übertragen. Durch den zunehmenden Kontakt mit anderen lernen Kinder Geschlechterrollen und geschlechtstypische Interessen und Berufe kennen und beurteilen ihre eigenen Interessen, Stärken und Schwächen anhand ihrer relativen Position innerhalb ihrer Peergruppe. Die rasanten biologischen Veränderungen der Pubertät und die steigende Bedeutung sozialer Vergleiche führen gleichzeitig zu einer Abnahme des Selbstbewusstseins und der Selbstwirksamkeitserwartung. Da eine enge Verbindung zwischen der Entwicklung von Interessen und Selbstwirksamkeitserwartungen besteht, führt eine Abnahme der Selbstwirksamkeitserwartung zu einer Abnahme entsprechender Interessen (Denissen, Zarrett & Eccles, 2007). Gerade die Missbilligung durch Peers besitzt einen starken Einfluss auf die Entwicklung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in beruflichen Interessen (Gottfredson, 2002).

Späte Kindheit und frühe Adoleszenz gelten als zentrale Phasen der Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in beruflichen Interessen (Hoff et al., 2018). Unsere Ergebnisse stützen die Annahme, dass sich Unterschiede in den beruflichen Interessen von Mädchen und Jungen bereits am Ende der Primarschule nachweisen lassen (Gottfredson, 2002). Allerdings unterscheiden sich unsere Ergebnisse von den bei Jugendlichen und Erwachsenen metaanalytisch berichteten Geschlechtsunterschieden (Su et al., 2009). Einerseits berichten Mädchen über ein höheres intellektuell-forschendes Interesse als Jungen (dT1 = -.33 und dT3 = -.39). Andererseits fallen die Unterschiede im praktisch-technischen (dT1 = .46, dT2 = .62 und dT3 = .42) und sozialen Interesse (dT1 = -.41, dT2 = -.29 und dT3 = -.46) von Mädchen und Jungen noch deutlich geringer aus als bei Jugendlichen und Erwachsenen (d = .84 und d = -.68), während die Geschlechtsunterschiede im sprachlich-künstlerischen Interesse (dT1 = -.77, dT2 = -.86 und dT3 = -.99) bei den Viert- bis Achtklässlern größer sind als bei Jugendlichen und Erwachsenen (d = -.35). Ähnliche Befunde für das intellektuell-forschende und praktisch-technische Interesse berichten Xu und Tracey (2016) in einer Längsschnittstudie mit Siebt- und Achtklässlern. Entgegen unseren Erwartungen zeigte sich in unserer Studie kein Unterschied in der Entwicklung des praktisch-technischen und sozialen Interesses von Mädchen und Jungen. Sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen nahm das praktisch-technische und das soziale Interesse über einen Zeitraum von drei Jahren ab. Tracey (2002) berichtet in einer Längsschnittstudie mit Fünft- und Siebtklässlern über Unterschiede in den Entwicklungsverläufen von Mädchen und Jungen: Mädchen zeigten eine stärkere Abnahme des intellektuell-forschenden und konventionellen Interesses, während bei Jungen das soziale und sprachlich-künstlerische Interesse stärker abnahm. Möglicherweise lassen sich die diskrepanten Befunde mit dem jüngeren Alter unserer Stichprobe erklären. Die Kinder unserer Stichprobe waren zum ersten Messzeitpunkt im Durchschnitt erst zehn Jahre alt und befanden sich wahrscheinlich erst am Anfang eines fortschreitenden Differenzierungsprozesses.

Welche Implikationen lassen sich aus unseren Befunden für die Förderung von MINT-Interessen und eine gendersensible Berufswahl ableiten?

Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen, Werten und Selbstwirksamkeitserwartungen wurden als zentrale Aspekte zu Erklärung der anhaltenden Disparität von Frauen und Männern in MINT-Studiengängen und -Berufen identifiziert (Eccles & Wang, 2015; Kossek, Su & Wu, 2017). Sowohl unsere eigenen Ergebnisse als auch andere Forschungsbeiträge (Hoff et al., 2018; Su et al., 2009; Tracey & Sodano, 2008) zeigen, dass sich Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen früh herauskristallisieren und bis ins Jugendalter verstärken. Initiativen, die auf eine Förderung von MINT-Interessen ausgerichtet sind, sollten daher bereits in der späten Kindheit initiiert werden, bevor Kinder rigide Rollenstereotype erwerben. Wie Gottfredson (2002) in ihrer «Theory of Circumscription and Compromise» darstellt, bildet sich bereits im Kindesalter eine Karte an Berufsbildern und -wünschen aus, die im Zuge der Selbstkonzeptentwicklung sukzessiv reduziert wird, das heißt, das Spektrum an Berufen, das für die eigene Person als adäquat betrachtet wird, reduziert sich kontinuierlich und weitgehend unbewusst. Interessant ist der Befund, dass das intellektuell-forschende Interesse, das sich vor allem auf naturwissenschaftliche Themen und Tätigkeiten bezieht, anders als bei Jugendlichen und Erwachsenen in unserer Stichprobe von Viert- bis Sechstklässlern bei den Mädchen höher ausgeprägt war als bei Jungen. Ähnliche Ergebnisse zeigt eine Längsschnittstudie von Xu und Tracey (2016) mit Siebt- und Achtklässlern. Geschlechtsunterschiede in naturwissenschaftlichen Interessen sind stark domainspezifisch – das zeigt sich sowohl in der Beliebtheit von Schulfächern (Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2014) als auch im Geschlechterverhältnis in naturwissenschaftlichen Studiengängen (Eccles & Wang, 2015). Während sich Mädchen eher für Biologie und Life Sciences interessieren, zeigen Jungen ein stärkeres Interesse an Chemie und Physik. Vermutlich besitzen bei den Viert- bis Sechstklässlern Aktivitäten wie «in der Natur sein» und «Tiere und Pflanzen beobachten» noch einen höheren Stellenwert als bei Jugendlichen, dementsprechend fällt das Interesse bei Mädchen in dieser Altersgruppe höher aus als bei Jungen. Offen bleibt, wie das intellektuell-forschende Interesse bei Mädchen langfristig aufrechterhalten werden kann. Hier scheint einerseits eine sukzessive Förderung von der Primarschule bis in die weiterführende Schule zentral sowie ein MINT-Unterricht, der sich stärker am Alltag und der Lebensumwelt von Mädchen orientiert, zum Beispiel indem der Bezug der Physik zum menschlichen Körper in den Vordergrund gestellt wird (Häußler & Hoffmann, 1995).

Weiterhin erscheint es uns wichtig, die Annahme der «Social Cognitive Career Theory» (SCCT, Lent et al., 1994) zur Reziprozität der Entwicklung beruflicher Interessen und Selbstwirksamkeitserwartungen bei der Entwicklung von Interventionsprogrammen zu berücksichtigen. Eine altersbedingte Abnahme von Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeitserwartungen resultiert sehr wahrscheinlich in einer Abnahme entsprechender Interessensbereiche. Interventionsprogramme, die eine Förderung von MINT-Interessen bei Mädchen und sozialer Interessen bei Jungen zum Ziel haben, müssen also zeitgleich die Selbstwirksamkeitserwartung von Mädchen und Jungen in diesen Themenbereichen stärken. Die SCCT geht davon aus, dass die Steigerung von Selbstwirksamkeitserwartung durch die Bereitstellung von Explorationsmöglichkeiten und Lernerfahrungen gelingt, bei denen Kinder praktische Erfahrungen sammeln. Dabei erscheint es besonders wichtig, dass Kinder auch mit Herausforderungen und Widerständen konfrontiert werden, da gerade deren Überwindung die Selbstwirksamkeitserwartung stärkt.

Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book)

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