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Kapitel 1

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Wien, Mittwoch, 30. Oktober

Wo war bloß der Notizzettel mit dem Namen des Restaurators? Theresa kämpfte sich durch die Stapel alter Prospekte, ungelesener Briefe und zerknitterter Zeitungen. Irgendwann musste sie die Unordnung im Vorzimmer in Angriff nehmen. Aber nicht heute!

Sie schloss die Augen und spielte die Szene nochmals durch. Paul hatte gestern bei ihrem Treffen die Adresse seines Onkels aufgeschrieben und das Papier in den Spiegelrahmen gesteckt … Ah, da war er doch: ›Rembert Wenz, Restaurierung & Antiquitätenhandel, Zirkusgasse 30, 2. Bezirk‹.

Wenn sie sofort losfuhr, würde sie es noch rechtzeitig schaffen, Dino mittags vom Kindergarten abzuholen. Ein schneller Blick in den Spiegel, die widerspenstigen Haare mit einem Gummi gebändigt, die dunkelbraune, speckige Lederjacke übergeworfen, das reichte, um einigermaßen passabel auszusehen.

Am Auto angekommen, schob sie das Bild auf den Rücksitz. Leon hatte es gestern noch sorgfältig verpackt. Zum Glück, dachte Theresa, als sie die kleinen Flocken beobachtete, die vom Himmel schwebten. Fröstelnd stieg sie in ihren klapprigen VW Sharan. Der erste Schnee in diesem Jahr. Typisches Allerheiligenwetter, da würden sie am Friedhof wieder frieren.

Nachdenklich lenkte Theresa den Wagen durch die engen Gassen des 2. Bezirks. Sollte Dino diesmal mitkommen? Beim Begräbnis war er auch nicht dabei gewesen. Sie schüttelte den Kopf. Nein, er konnte bei Leon bleiben. Ein Vater-Sohn-Vormittag tat den beiden gut. Ihr Mann arbeitete ohnehin zu viel und sah Dino zu selten.

Die altmodische Bronzeglocke über der Eingangstür kündigte ihren Besuch an. Theresa lehnte ihr Bild neben eine verstaubte Staffelei und atmete den Duft von modrigem Holz und feuchter Ölfarbe ein. In der Mitte des Geschäfts standen zwei verschnörkelte Eichentische. Überhäuft mit vergoldeten Kerzenleuchtern, geschnitzten Engelsköpfchen und kleinen Marmorskulpturen, glich der Anblick den sorgfältig arrangierten Stillleben alter Meister.

Theresa nahm eine kleine Pan-Figur aus Elfenbein in die Hand. Sein boshaftes Grinsen erinnerte sie an ihre Freundin Flora, wenn sie mit Paul stritt.

Ein Kribbeln im Nacken, ein Gefühl, dass jede ihrer Bewegungen genau registriert wurde, ließ sie den Hirtengott schnell wieder hinstellen. Unsicher blickte sie nach links und rechts. Diese latente Paranoia verfolgte sie seit Tagen. Schließlich entdeckte Theresa ihren Beobachter. Unbeweglich, einer ägyptischen Gottkatze gleich, thronte ein Siamkater auf einer Glasvitrine. Mit halb zugekniffenen Augen starrte er sie an. Wie ein Grabwächter aus längst vergangener Zeit, dachte Theresa. Wäre er ein Mensch gewesen, sie hätte ihn nicht gemocht.

»Hallo?«, rief sie zögerlich, erhielt jedoch keine Antwort. Sie versuchte, den durchdringenden Blick des Tieres zu ignorieren, und näherte sich langsam dem Glasschrank, um den Silberschmuck zu betrachten. Der Kater riss sein Maul auf und gähnte gelangweilt. »Brauchst gar nicht so überheblich zu tun«, zischte ihm Theresa zu.

Endlich hörte sie jemanden die Treppe heruntersteigen. »Ich bin gleich da!«, ertönte eine tiefe Stimme. Quietschend öffnete sich die Tür neben der Vitrine und ein älterer, hünenhafter Mann betrat den Raum.

»Entschuldigen Sie die Wartezeit, aber vielleicht konnten Sie in der Zwischenzeit einige Preziosen finden, die Sie kaufen möchten. Schneller habe ich es leider nicht geschafft, gefahrlos diese Hühnerleiter, die der Vermieter Treppe nennt, aus meinem Atelier herunterzuklettern.« Er schnaufte. »Irgendwann werde ich mir noch den Hals brechen.«

›Ja, vor allem wenn Sie weitertrinken‹ war Theresa versucht zu sagen, verkniff es sich jedoch im letzten Moment. Ein ausschweifendes Leben hatte im Gesicht des Restaurators Spuren hinterlassen. Man sah, dass er gutes Essen und vor allem ein gutes Glas Wein zu schätzen wusste, denn violette Äderchen zeichneten sich deutlich auf seiner Nase ab. Doch die buschigen weißen Augenbrauen, die Lachfältchen und das Strahlen in seinen Augen machten Rembert Wenz sympathisch. Was hatte Paul noch über seinen Onkel erzählt? Dass er zu keiner gut dotierten Pokerrunde Nein sagen konnte. Und wenn schon, dachte Theresa, sie spielten doch alle gerne.

Sie gab dem Restaurator die Hand und sagte: »Paul hat mich zu Ihnen geschickt. Ich bräuchte Ihren Rat.« Theresa deutete auf das Gemälde neben ihr.

»Der gute Junge. Denkt immer noch an mich«, murmelte Wenz und hob das Bild hoch. Nun bewegte sich auch der Kater, sprang elegant von der Vitrine und strich schnurrend um die Beine seines Herrchens.

»Hoppla! Renoir, mein Schöner«, sagte der Restaurator. »Sie haben meinen Wachhund bereits kennengelernt? Er wirkt ein bisschen arrogant und hochnäsig – ein Geschenk von Paul übrigens … Als ob die beiden verwandt wären.« Er machte eine Pause und lächelte. »Gut, sehen wir uns das Kunstwerk an.«

Theresa half ihm, die Klebebänder der Verpackung zu lösen und erzählte, dass ihr Vater das Bild vor rund vierzig Jahren aus der Verlassenschaft der Fürstin Igowski gekauft habe. Seither sei es weder restauriert noch gereinigt worden.

Wenz nickte stumm.

»Ein gewisser Sustermans hat es gemalt«, fuhr Theresa fort und beobachtete, ob der Name eine Reaktion bei ihm auslöste. Das Gesicht des Restaurators blieb unbewegt. Sie schluckte enttäuscht. »Vielleicht könnten Sie mir mit der Ikonografie weiterhelfen. Ich habe zwar eine Zeit lang Kunstgeschichte studiert, aber wer hier abgebildet sein soll, ist mir ein Rätsel.«

Der alte Mann legte das Gemälde in der Nähe der Eingangstür auf einen Tisch und begann es zu inspizieren. »Mal schauen … Auf den ersten Blick ist es eine Krönung. Die zwei Priester hier links hinter dem Altarstein scheinen eine Salbung vorzunehmen, hm ja, das dürfte eine Schale mit Öl sein … Im Zentrum der kniende, bärtige Mann mit dem Hermelinmantel ist unschwer als König zu erkennen.« Er strich sich übers Kinn. »Die Menschenmenge dahinter ist eigenartig … Einer hält eine Krone, der andere ein Zepter und einige sind bewaffnet … Außergewöhnlich.«

Vorsichtig, fast ehrfürchtig fuhr der Restaurator mit den Fingerspitzen über die Malschicht. Er hob das Bild hoch, um sich die Rückseite anzusehen. Nach einer kurzen Prüfung seufzte er und schüttelte den Kopf. Theresa ließ die Schultern hängen.

»Es gibt ziemlich unbegabte Kollegen«, brach Wenz schließlich das Schweigen. »Obwohl ich ungern abfällig über meinesgleichen spreche, muss ich sagen, dass in diesem Fall echte Dilettanten am Werk waren. Hier hätte nur ein Meister den Pinsel ansetzen dürfen. Das bedeutet viel Arbeit für mich, wenngleich eine schöne. Dieses Gemälde ist«, er überlegte kurz, »irgendwie besonders. Ich habe noch keine vergleichbare Darstellung gesehen.«

Nochmals musterte er konzentriert das Kunstwerk, kniff die Augen zusammen, als wolle er mit einem Röntgenblick Untermalungen finden. »Wirklich wunderbar«, flüsterte er, ging zur Tür und warf einen raschen Blick hinaus. »Gut, es hat aufgehört zu schneien, die Sonne kommt durch. Ich brauche Tageslicht.«

Ehe sich Theresa versah, hatte Wenz das Bild hinausgetragen und vor sein Geschäft auf einen Sessel gestellt. Eine alte Frau blieb neugierig stehen. Ihr Dackel schnüffelte aufgeregt an der Eingangstür und zerrte an der Leine. »Komm, Waldi, das Katzenvieh kratzt dir nur wieder die Schnauze blutig.« Sie nickte ihnen kühl zu, bevor sie weiterging.

Der Restaurator schmunzelte, bevor er sich wieder auf seine Arbeit besann. »Im Freien kommt die Schönheit noch besser zur Geltung. Die Oberflächenstrukturen sind trotz des schnellen Pinselstrichs exzellent ausgeführt. Schauen Sie sich den Hermelinmantel des Königs an. Oder die Gesichter!« Er hielt inne, in seinen Augen flammte Begeisterung auf. »Voller Charakter. Das sind keine Figuren wie aus dem Musterbuch. Auch die Komposition ist durchdacht. Diese Krüge«, er zeigte auf die prächtigen goldenen Gefäße am unteren Bildrand, »sind beispielsweise dazu da, den Blick des Betrachters zu lenken, ihn ins Bild einzuführen.« Wenz unterbrach seinen Redefluss. »Oh, entschuldigen Sie, ich doziere schon wieder.«

»Kein Problem, sprechen Sie weiter«, sagte Theresa und trottete Wenz hinterher, als er das Gemälde zurück in seinen Laden trug. »Es ist fast wie eine Vorlesung auf der Uni.«

Der Restaurator strahlte sie an, Lachfältchen bildeten sich rings um seine Augen. »Schön zu hören. Ich habe einige Bekannte, die meine Monologe furchtbar langweilig finden.«

Erneut nahm er das Kunstwerk in Augenschein. »Die Architektur der Gebäude im Hintergrund ist italienisch, aber die Gesichtszüge der Personen scheinen zum Teil nordisch zu sein. Ein eigenartiger Kontrast. Ich werde nachsehen, ob ich in meinen Büchern etwas zur Darstellung und zum Maler finde. Sustermans, sagten Sie?«

»Ja.«

Theresa hatte selbst bis vor einer Woche, als sie das Bild von der Wand genommen und die Vignette auf der Rückseite entdeckt hatte, noch nie von ihm gehört. Genau genommen war Flora auf die Markierung gestoßen. »Schau dir das an!«, hatte ihre Freundin aufgeregt gerufen und – das Gemälde in den Händen – mit der Nase auf den weißen Fleck gedeutet. Vorsichtig hatte Theresa daraufhin über die Staubschicht gestrichen und die Spinnweben vom Keilrahmen entfernt. Ein kleiner, vergilbter Zettel kam zu Vorschein. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie die blassviolette Schrift entzifferte. »Suttermann oder Sustermans, schwer zu lesen. Und was steht hier? Warte, das nächste Wort ist … Rubens«, stammelte sie. Dann versagte ihre Stimme.

»Rubens?« Flora lehnte das Bild vorsichtig an die Wand. »Wahnsinn! Würde ich noch rauchen, bräuchte ich jetzt sofort eine Zigarette!«

Sie fiel auf die Knie und fuhr mit beiden Händen durch ihre rotblonden Locken. Ganz die Tochter des Burgschauspielers Max Lombardi, dachte Theresa.

»Rubens! Thesi! Rubens!«

»Beruhige dich! Ich hab’s begriffen«, flüsterte Theresa. Der ›Bethlehemitische Kindermord‹, eines seiner lange verschollenen Werke, kam ihr in den Sinn. Es war vor Kurzem in Wien wiederentdeckt und für 70 Millionen Euro versteigert worden. Ihr Herz begann noch schneller zu schlagen. Sie setzte sich neben ihre Freundin auf den Boden und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen: »Wenn diese Vignette echt ist … unglaublich! Kannst du das Wort hier, das vor Rubens steht, entziffern?«

»Schule oder Schuh, wobei ich eher auf Ersteres tippen würde«, antwortete Flora mit einem Augenzwinkern.

»Schade, in dem Fall hat Rubens höchstwahrscheinlich doch nichts mit dem Gemälde zu tun.« Theresa sah den Geldregen in weite Ferne rücken. »Außer, Sustermans hätte in seiner Werkstatt gearbeitet …«

Flora unterbrach ihre Überlegungen. »Sei ehrlich, hast du den Zettel dahin geklebt, um mir einen Streich zu spielen?«

»Ich? Wie kommst du auf die absurde Idee?« Theresa hatte mit ihrem Zeigefinger den restlichen Staub vom Bild gewischt. »Das bekäme ich niemals so hin. Diese altmodische Schrift, das vergilbte Papier, die Spinnweben …«

»Wenn du es nicht warst, wer dann? Dein Vater?«

»Um mir nach seinem Tod ein Rätsel aufzugeben? Nein, das glaube ich nicht. Wahrscheinlich ist die Beschriftung von der Fürstin Igowski. Aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung.« Sie war ratlos, aber glücklich vor dem Bild gesessen und hatte beschlossen, alles über den Maler herauszufinden.

Der Restaurator holte Theresa zurück in die Realität. »Wobei solch ein Name auf der Rückseite nicht viel zu bedeuten hat. Als letzter gültiger Nachweis wäre es zu wenig. Viel wichtiger ist im Moment, dass wir den Patienten versorgen. Ich werde das Gemälde in mein Atelier tragen. Möchten Sie mitkommen?«

Theresa hätte Wenz’ Arbeitsraum zwar gerne gesehen, doch es war Zeit, Dino abzuholen. Sie schüttelte den Kopf. »Leider muss ich schon weg. Wie lange wird es dauern, bis das Bild fertig ist?«

»Brauchen Sie es dringend? Ein genaues Datum kann ich Ihnen nicht nennen.« Er nahm die Brille von der Nase und begann, sie mit dem Ärmel seines ausgefransten Pullovers zu polieren. Zögerlich fügte er hinzu: »Sie werden vermutlich von meinem Neffen wissen, dass ich ein kleines … nun ja, größeres Problem mit dem Trinken habe.«

Hätte sie aus Pauls Erzählungen nicht gewusst, dass sein Onkel eine Koryphäe auf seinem Gebiet war, und wäre der alte Herr ihr nicht so sympathisch gewesen – Theresa hätte ihr Bild spätestens in diesem Moment wieder eingepackt. Doch nun antwortete sie: »Egal. Es hing jahrzehntelang unbeachtet im Haus meiner Eltern, da werde ich es in den nächsten Wochen auch nicht vermissen. Lassen Sie sich Zeit.«

»Gut, danke. Ich melde mich, sobald ich fertig bin.«

»Könnten Sie mir sagen, wie viel die Restaurierung ungefähr kosten wird?«, fragte Theresa.

»Über den Daumen ist das schwer zu sagen. Eine einfache Reinigung reicht hier nicht. Ich muss viele alte Retuschen abnehmen. Grob geschätzt zwischen 1.500 und 4.000 Euro, je nachdem, ob eine Doublierung notwendig ist.« Er betrachtete die Rückseite. »Ach nein, ich sehe gerade, es wurde schon einmal zur Stabilisierung auf eine zweite Leinwand geklebt. Dann wird es billiger. Ich gebe Ihnen in den nächsten Tagen Bescheid.«

Theresa verabschiedete sich und ging nachdenklich zu ihrem Auto. 4.000 Euro! Sie musste Rücksprache mit Leon halten, für das Geld konnten sie die neuen Fenster kaufen, die schon längst fällig waren, oder sogar das Badezimmer renovieren. Ihr Mann hatte vor 15 Jahren das kleine Winzerhäuschen seiner Großeltern geerbt. Seither mussten sie ständig umbauen, herrichten oder ausbessern. Theresa hatte sich mit der Situation, dass sie mit den Arbeiten wohl nie fertig werden würden, abgefunden. Außerdem wäre ein anderes Haus mitten in Wien, noch dazu im 19. Bezirk, unerschwinglich gewesen.

Dino wartete bereits hinter der verschlossenen Glastür des Kindergartens und winkte ungeduldig, als Theresa um die Ecke bog. Jedes Mal, wenn sie ihren Sohn ansah, hatte sie das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Er besaß ihre dunkelbraunen, dichten Haare, ihre blauen Augen und ihre schwarzen, scharf geschwungenen Augenbrauen, die ständig in Bewegung waren – beim Sprechen, Lachen oder Denken. Heute war er ganz aufgeregt, weil er zu einer Geburtstagsfeier durfte. Auf dem Weg dorthin erzählte er ihr, dass er den anderen Kindern das Kunststück mit der verschluckten Luft zeigen wolle. Theresa musste zunächst schmunzeln, hielt ihm dann aber doch einen Vortrag über gutes Benehmen und erklärte, dass der Gastgeberin ein Rülpskonzert bestimmt nicht gefiele. Sie nahm sich vor, unbedingt mit Flora, Paul und vor allem mit Boris ein ernstes Wörtchen zu reden. Die drei brachten Dino definitiv zu viel Unsinn bei.

Nachdem Theresa ihren aufgekratzten Sohn bei den Eltern des Geburtstagskindes abgeliefert hatte, machte sie sich auf den Heimweg. Es blieben ihr noch drei Stunden, um endlich mit ihrem neuen Projekt zu beginnen. Seit dem Abschluss an der Graphischen Lehranstalt arbeitete sie als Illustratorin für ein monatlich erscheinendes Lifestyle-Magazin. Allerdings kaufte der Redakteur in letzter Zeit immer mehr Material bei Agenturen ein, und Theresa musste um ihren Job fürchten. Daher war ihr der Auftrag, Bilder für ein Kinderbuch zu zeichnen, gerade recht gekommen. Eine alte Schulfreundin hatte für den Text von ›David und die Regenbogenmaschine‹ bereits den Vertrag in der Tasche, und in zwei Wochen sollten sie dem Verlag das fertig illustrierte Buch vorlegen. 14 Tage schienen viel Zeit zu sein, aber Theresa neigte dazu, alles so lange wie möglich hinauszuzögern. Leon meinte einmal lachend, hätte es die Natur nicht anders geregelt, Dino wäre heute noch nicht geboren.

Ihr Auto fuhr wieder wie von allein und ihre Gedanken flogen zurück zum Restaurator. Dieser wunderbare Geruch in seinem Geschäft! Er erinnerte sie an ihre Kindheit, als sie mit ihrem Vater auf der Suche nach Antiquitäten stickige Dachböden und nach Weihrauch duftende Sakristeien durchkämmt hatte. Stammte der Zettel doch von ihm? Schickte er sie mit diesem Bild auf eine Art Schatzsuche? Sollte sie nicht lieber weiterforschen, wer dieser Sustermans war und was er mit Rubens zu tun gehabt hatte, anstatt zu zeichnen? Wenz war von dem Kunstwerk begeistert gewesen. Einzigartig sei es, hatte er gemeint. Etwas musste dran sein, vielleicht ein bisschen Rubens?

Nein, keine weitere Ablenkung mehr, rief sich Theresa zur Vernunft. Gleich nach dem Fund der vergilbten Notiz hatte sie einige Kunstgeschichteexperten kontaktiert. Von ihnen hoffte sie, in Kürze genauere Informationen über den Maler und die Darstellung zu bekommen. Und bei der Rehaklinik, die mittlerweile im Schloss der Igowskis untergebracht war, hatte sie angefragt, ob noch Aufzeichnungen über die Gemäldesammlung der Fürstin existierten. Erst wenn sie darauf Antworten bekäme, würde sie weiterrecherchieren. Jetzt musste sie sich endlich auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie brauchte dringend eine Idee, wie eine ›Regenbogenmaschine‹ aussehen könnte.

Als Theresa an einer roten Ampel stehen blieb, raschelte es unter ein paar unbezahlten Strafzetteln in der Mittelkonsole. Ach, hier war ihr Handy, sie vermisste es schon seit ein paar Tagen! Sie nahm ab und hörte der aufgeregten Stimme am anderen Ende der Leitung aufmerksam zu. Dino war beim Spielen die Treppe hinuntergefallen und wurde in diesem Moment mit Verdacht auf Beinbruch ins Allgemeine Krankenhaus gebracht!

Sofort wendete Theresa ihren Wagen. Sie hatte ihren Sohn doch erst vor etwa dreißig Minuten zu dieser Feier gefahren! Wie schaffte er es bloß immer, sich innerhalb kürzester Zeit in Schwierigkeiten zu bringen? Von ihr hatte er das sicherlich nicht!

Unfassbar! Seit Jahren suchte er nach diesem Bild, hatte längst nicht mehr daran geglaubt, es jemals in die Hände zu bekommen, und nun war es ihm auf einem silbernen Tablett präsentiert worden. Diese Frau hatte keine Ahnung, welchen Schatz sie besaß.

Jetzt nur nichts überstürzen! Er war so lange auf der Suche gewesen, da würde er die paar Tage Verzögerung auch noch ertragen. Bald wäre er am Ziel. Zufrieden rieb er sein stacheliges Kinn und öffnete eine Flasche Brunello. Das musste gefeiert werden!

Als Theresa nach drei Stunden Warterei im Krankenhaus zu Hause ankam, fiel sie geschafft aufs Sofa. Ihr Sohn hüpfte langsam hinter ihr her und legte sich neben sie. »Ich hätte gewonnen, Mama, aber Moritz hat mir ein Bein gestellt«, sagte er leise.

»Ich weiß, mein Schatz, du bist der Schnellste.« Sie streichelte seine weichen Haare. Moritz, dieses kleine Monster! Mit dem musste sie in nächster Zeit ein ernstes Wörtchen reden.

Dino rollte sich wie ein kleiner Igel auf ihrem Schoß zusammen und war nach zwei Minuten eingeschlafen. Auch Theresa schloss die Augen und versuchte durch Tiefenatmung zur Ruhe zu kommen. Ein, aus. Ein, aus. Ihre Lider wurden schwer. Auf einmal fand sie sich mitten im Geschäft von Rembert Wenz wieder und erblickte ihre Regenbogenmaschine. Sie schwebte ganz klar über der Pan-Figur aus Elfenbein.

Theresa war plötzlich hellwach und schob den schlafenden Dino sachte zur Seite. Wahrscheinlich brauchte man Aufregung, Ärger und Antiquitäten, um einen Geistesblitz zu haben. Sie suchte ihre Stifte und skizzierte schnell, was sie gesehen hatte: ein altmodisches Destilliergerät, verbunden mit den Rotationsblättern der Luftschraube, die Leonardo da Vinci vor 500 Jahren erfunden hatte. Gut kopiert war immer noch besser als schlecht erfunden, dachte sie zufrieden. Es schien trotz aller Aufregung ein guter Tag zu werden.

Bevor sie weiterzeichnen konnte, klingelte es. Theresa sah sich suchend um. Das Läuten führte sie zu ihrer Tasche, aus der sie das Handy zwischen Kosmetika und Kinderspielzeug hervorkramte. Sofort sprudelte Floras helle Stimme los: »Stell dir vor, nächste Woche wird im Wiener Auktionshaus ein Sustermans versteigert. Das Gemälde hat einen Schätzwert von 120.000 Euro!«

»Wow.«

»Genau!« Flora schwatzte begeistert weiter. »Da sollten wir dabei sein. Du hast ein kleines Vermögen geerbt. Wenn das die Jungs erfahren!«

Theresa schmunzelte. Mit den ›Jungs‹ meinte ihre Freundin Leon, Paul und Boris, die alle Ende 30 waren. Gemeinsam mit Flora hatte sie Boris vor Jahren im dunkelsten Winkel einer verstaubten Trattoria aufgegabelt und ihm, weil er traurig wirkte, eine dieser Korbflaschen mit Chianti spendiert. So wurde in dieser durchzechten Nacht der Grundstein für den Chianti-Club gelegt. Als Leon vor acht Jahren um Theresas Hand anhielt, bekam er Flora und Boris quasi als Mitgift dazu. Er wiederum hatte Paul in die Ehe eingebracht. Mittlerweile waren die fünf enge Freunde geworden … mehr oder weniger, wie Theresa oft dachte, wenn sie Flora und Paul beobachtete.

»He, bist du noch dran?«, rief Flora.

»Ja, wann ist die Versteigerung denn?«, fragte Theresa.

»Nächsten Dienstag um 14 Uhr. Ich gehe auf jeden Fall hin. Das ist mit einer Auktion auf E-Bay nicht zu vergleichen, denn ›Live is Life‹.« Flora summte ein paar Takte des alten Opus-Hits, bevor sie weitersprach. »Vielleicht schwirren da ein paar nette Kunsthändler herum. Apropos, was sagt der Restaurator zur ›Krönung‹?«

Theresa berichtete von ihrem Besuch bei Wenz und der Inspiration, die sie danach im Halbschlaf gehabt hatte.

»Hm, an Inspiration mangelt es mir gerade«, bemerkte Flora, die als Fotografin für eine Gourmetzeitschrift tätig war und nebenbei ihre erste Ausstellung vorbereitete. Dafür stellte sie Stillleben alter holländischer Meister nach und bearbeitete anschließend die Bilder am Computer, damit sie wie gemalt aussahen. Die fertigen Werke ließ sie auf riesengroße Leinwände drucken. »Ich brauche noch drei Exponate und die Vernissage ist in einem Monat. Hätte ich so tolle Krüge wie die auf deiner ›Krönung‹ …« Flora machte eine kurze Pause, bevor sie hektisch in den Hörer rief: »Oh, ich muss aufhören, hab ein Briefing für ein Gulasch-Shooting. Ciao!«

Gedankenversunken legte Theresa das Telefon beiseite. Floras Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Wenz hatte die Krüge ebenfalls besonders hervorgehoben. Eigentlich konnte sie sich jetzt mit gutem Gewissen ihrer Schatzsuche widmen. Die Regenbogenmaschine war fertig, mehr würde sie heute sowieso nicht mehr schaffen.

Sie fuhr ihren Laptop hoch und öffnete die digitalen Fotos des Gemäldes. Am unteren Rand stand ein silbernes Gefäß mit reicher Goldverzierung. Widderköpfe schmückten seine bauchige Mitte, den Henkel bildete ein Zwitterwesen aus Mensch und Fisch. Rechts neben dem Kelch befanden sich ein flacher Teller sowie eine kleine Schüssel. Maler benutzten oft die gleichen Dekorationsgegenstände für mehrere ihrer Bilder. Wenn sie diese Krüge auf einem anderen Gemälde von Sustermans fände, wäre bewiesen, dass er die ›Krönung‹ gemalt hatte.

Das Knarren der alten Haustüre schreckte sie auf.

»Hilfe, ich sehe nichts mehr!« Leon stand unbeweglich im Vorzimmer, einen Karton voller Computerteile in der linken, seine Laptoptasche in der rechten Hand. Theresa nahm ihm die beschlagene Brille von der Nase, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

»Danke. Es ist so kalt, man kann den kommenden Winter richtig riechen.« Er stellte die Kiste auf den Boden und zog die Baseballmütze vom Kopf. Seine kastanienbraunen, halblangen Haare standen nach allen Seiten ab. »Wo ist Dino? Wie geht es seinem Bein?«

»Hat sich nur den Knöchel verstaucht, er schläft im Wohnzimmer.«

»Gut«, flüsterte Leon. »Ich hab dir was mitgebracht. Schau mal nach.« Während er seinen schwarzen Parka sorgfältig aufhängte und etwas Unverständliches wegen der Unordnung im Vorzimmer murrte, fischte Theresa einen prächtigen Kunstband über Barockmalerei aus seiner Tasche.

»Wunderbar, das hält mich wieder von meiner Arbeit ab.« Sie lächelte ihn spitzbübisch an. »Bist du hungrig?«, fragte sie auf dem Weg in die Küche.

Leon folgte ihr. »Nein, danke. Ich habe übrigens Oliver am Kohlmarkt getroffen. Bei ein paar Tramezzini haben wir über dein Bild gesprochen. Er macht mir ein, zwei Angebote für eine Versicherung.«

»Was genau willst du versichern lassen? Das Gemälde eines unbekannten Meisters? Einen Sustermans? Einen möglichen Rubens? Ein Gemeinschaftswerk der beiden? Wir haben noch keine Bestätigung, von wem es wirklich ist. Der Restaurator meint, der Zettel allein reicht als Nachweis nicht aus. Von den Kunsthistorikern kam bis heute keine Antwort.«

»Warten wir ein paar Tage ab«, sagte Leon und öffnete eine Flasche Wein »Ich wollte nur wissen, ob unsere Haushaltsversicherung ausreichen würde oder ob wir eine Spezialversicherung brauchen. Außerdem war es nett, mal wieder mit ihm zu plaudern, er ist ein witziger Kerl.«

Theresa nickte etwas wehmütig. Ihr Leben spielte sich seit Dinos Geburt hauptsächlich zu Hause und auf den Spielplätzen der näheren Umgebung ab. Das Bild brachte wenigstens ein bisschen Abwechslung in ihr Leben. »Ich gehe nächste Woche mit Flora zu einer Auktion. Ein Sustermans soll für 120.000 Euro versteigert werden.«

Leon pfiff durch die Zähne. »Wenn ich Zeit habe, recherchiere ich, ob noch andere Sustermans in den letzten Jahren verkauft worden sind.«

Theresa legte den Kopf schief und beobachtete ihren Mann, wie er genussvoll einen Schluck Wein trank. Es schien ein guter Tag für ihn gewesen zu sein, ohne allzu viele Computerabstürze oder Systemausfälle. Leon war IT-Experte und kam immer dann zum Einsatz, wenn absolut nichts mehr funktionierte. Als Ausgleich zu seiner Arbeit in stickigen Serverräumen verbrachte er die meisten Sonntage freihängend in Österreichs Steilwänden. Theresa hasste seine Liebe zur Kletterei. Konnten sich seine Abenteuer nicht wie ihre im Kopf abspielen? Das war bei Weitem ungefährlicher.

Die Kunstjägerin

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