Читать книгу Jeder wird noch von mir sprechen, wenn ich groß bin - Elmar Weihsmann - Страница 9

6. Die Arbeiterklasse geht ins Paradies

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Ich kann es kaum glauben, nach nur einer Woche in der Lehre habe ich schon eine ganze Menge neue Freundschaften geschlossen und nicht nur das, wir sind alle irgendwie gleich, für die im Gymnasium sind wir alle nur doof, aber hier sind wir es nicht, hier sind wir junge Arbeiter und das ist ein Unterschied, denn unter uns gibt es noch Arbeitslose, Unterstandslose, Sozialhilfeempfänger, Sandler, arbeitslose Obdachlose, obdachlose Arbeitslose, es geht also die soziale Leiter ganz schön weit nach unten, wenn man nicht aufpasst und seinen Arsch nicht hochbekommt, aber, zum Glück bin ich nicht so eine.

Von wem ich das alles weiß? Von meinem Chef natürlich, der hat mich dem Betriebsrat vorgestellt und der hat mir von der Gewerkschaft erzählt, der auch Seppi und Ali und Jasmin und Tina und auch die Jugoslawin angehören. Warum sollte ich also nicht zur Gewerkschaft gehen?

Aber auch ein Kunde hat mich ermutigt zur Gewerkschaft zu gehen. Erstaunlicher Weise ist es der Filmfreak, der ja eigentlich Unternehmer ist, weil er irgendwie einen guten Job hat und es sich leisten kann den Filmclub in der Stadt zu betreiben, der in Wahrheit schon ganz schön groß ist und zwei Säle hat. Der Filmfreak hat mit der Jugoslawin gesprochen und ihr gesagt, dass ich ihm unlängst einen guten Obsttipp gegeben habe, was mein Ansehen steigen lässt, aber er hat die Schlüsse von den roten Tomaten irgendwie politisch gezogen und gemeint, dass es zu wenige Rote gibt, und dass es nicht schaden kann, sich auch bereits als Jugendliche für seine Rechte zu interessieren.

Hm?

Ich habe Rechte? Das habe ich überhaupt noch nie gehört!

Die Jugoslawin ist ganz der Meinung des Filmfreaks. „Da habt ihr es gehört, Mädels, von einem der es wissen muss. Geht zur Gewerkschaft und wenn ihr schon mal dort seid, gleich zur Jugendorganisation, im Arbeitsleben heißt es die Ohren steifhalten.“

Da ist vielleicht was dran? Jedenfalls gibt der Filmfreak Tina und mir je eine Freikarte für das Kino am Wochenende kombiniert mit der Aufmunterung es doch demnächst mit der Gewerkschaft zu versuchen.

Schon wieder etwas neues, die Neuigkeiten erschlagen mich, was ist nur aus meinem alten Leben geworden?

Seit über einer Woche habe ich nicht mehr an die Kinder-WG gedacht, dabei habe ich mich dort echt gut gefühlt.

Ich fahre mit Seppi und Ali nach Hause, natürlich habe ich mir gleich ein Fahrrad im Lehrlingsheim besorgt, was total einfach war, weil, wie vorhergesagt, kaum ein Lehrling sich aufs Fahrrad schwingt.

„Und wieso seid ihr bei der Gewerkschaft?“ frage ich die beiden.

„Es ist wichtig, dass uns jemand bei den Geschäftsleuten vertritt.“

„Wieso? Der Geschäftsführer ist doch total nett.“

„Der ist nur ein kleiner Fisch.“

„Es geht um die ganz großen Haie in der Zentrale, die um jeden Pfennig fuchsen.“

„Da brauchst du wen, der die Power hat, mit diesen Leuten Klartext zu reden, dass du auch was am Ende des Monats bekommst, wenn du eh schon schwach bei Kasse bist.“

Es geht also wieder ums Geld, es hätte mich schon fast gewundert wenn nicht.

Na gut, was soll’s, dann gehe ich eben auch zur Gewerkschaft, weil alle im Supermarkt dort sind und keiner was dagegen hat, dass auch ein kleines Kücken wie ich dort ist.

Uff, geschafft. Ich bin jetzt Mitglied einer Arbeitnehmervertretung. Vorerst zumindest.

Am Sonntag gehen wir alle aus dem Lehrlingsheim, die nicht nach Hause gefahren sind, ins Kino. Im Saal ein läuft der neueste Actionfilm aus den USA, dort gehen die Jungs alle rein, aber für uns Mädels ist das wirklich nichts. Der Filmfreak ist da und fragt uns, ob wir es nicht einmal mit einem italienischen Film versuchen möchten, er ist zwar schon ziemlich alt, aber sehr gut und er spendiert den Eintritt, damit wir nicht um die Freikarte umfallen, die er im Supermarkt immer wieder verteilt.

Wenn das kein Angebot ist?

Die Hälfte der Mädels entschließen sich doch in den Actionfilm zu gehen, weil sie ein italienischer Film nicht interessiert, aber die Jasmin und die Tina gehen mit mir ins Kino zwei und man höre und staune auch Ali schließt sich mir an, weil er lieber mit uns Mädels abhängt, als sich einen Film anzusehen in dem die Fetzen fliegen und das Blut von der Leinwand fließt, Blut hat er schon genug gesehen im Leben, aber leider echtes und das reicht ihm jetzt, es wird noch genug Actionfilme geben, die er sich reinziehen kann.

Der Film im Kino zwei ist natürlich überhaupt nichts für ganz kleine Küchen.

Im Gegenteil. Der Filmfreak hält zwar eine Einführung, ohne die wir nur Bahnhof verstanden hätten, aber selbst mit der Einführung steigen wir bald aus der Handlung aus.

Aber in dem Film geht es sehr viel um die Arbeit in einer italienischen Fabrik, um die Gewerkschaft, um Arbeitskämpfe und Streiks, unglaublich was es alles gibt, und solchen Leuten, die so etwas organisieren soll ich mich anschließen?

Nach Filmende setzt sich der Filmfreak noch mal mit allen hin und spricht noch gut eine Stunde mit uns über den Film. Natürlich hat keiner von uns Lehrlingen auch nur einen Pieps gemacht, weil solche Filme natürlich nicht für die Kids aus einem Lehrlingsheim gemacht wurden, aber niemand im Kino sieht uns schief an. Im Gegenteil, irgendwie sind diese viel älteren Leute sehr zufrieden, dass wir kleinen Kälber hier sind und an der Diskussion zum Film teilnehmen.

Vielleicht gibt es doch noch Erwachsene, die solche Kids wie uns noch nicht ganz abgeschrieben haben?

Offensichtlich, denn die Leute übernehmen unsere Getränke und die guten Marmeladenbrote, die es hier statt dem Popcorn gibt.

Natürlich sind die Actionfans schon längst im Lehrlingspup zurück und saufen dort ordentlich im Limorausch ab, als wir Italienfilmgeschwängerten endlich auftauchen.

„Hey, wo seit ihr den abgeblieben?“

„Euer Film hat ganz schön lange gedauert, was?“

„Ihr habt euch wohl befingert?“

Allgemeines Gelächter. Die Sexmethode zieht immer, wenn was nicht stimmt. Das ist also auch hier so.

Aber wir lassen uns nicht entmutigen, wir ganz bestimmt nicht und ich erst recht nicht, auch wenn ich jetzt einfach mit den Wölfen heulen muss und mit ihnen unser Lied anstimme.

„Weil wir Lehrlinge sind, da kennt uns jedes Kind, wir reißen Bäume aus, wo keine sind!“

Wir Kids vom Lehrlingsheim sind keine Kinder von Traurigkeit. Prost!

Jeder wird noch von mir sprechen, wenn ich groß bin

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