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Er brachte ein Weltbild ins Wanken

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Antoine Henri Becquerel (1852–1908), Entdecker der natürlichen Radioaktivität


Henri Antoine Becquerel, französischer Physiker * 15. Dezember 1852 in Paris25. August 1908 in Le Croisic (Bretagne)

Namen seien nur Schall und Rauch, meint Goethe in Faust I. Ob er sich da nicht geirrt hat? Der Name Becquerel jedenfalls ist geradezu ein Synonym für eine Naturerscheinung, die weder Schall noch Rauch hinterläßt. Im Gegenteil: Sie ist absolut lautlos und unsichtbar und gerade deshalb so unheimlich.

Antoine Henri Becquerel hat die natürliche Radioaktivität entdeckt und damit die moderne Atomphysik begründet. Sein Name ist heute in aller Munde, weil er 1985 – sozusagen als Nachfolger von Marie Curie, der berühmten französischen Chemikerin polnischer Herkunft, die den ersten radioaktiven Stoff isoliert hat, das Radium – in den Rang einer Maßeinheit erhoben wurde.

Wer war dieser Monsieur Becquerel? Wie kam er zu jener Entdeckung, die seinen Namen unsterblich machte, weil sie ein bis dahin als unumstößlich geltendes Weltbild verändert hat?

Antoine Henri Becquerel war ein Mann von zierlicher Statur und gepflegtem Äußeren. In der besten Wohnlage von Paris, nahe den Champs Elysées, bewohnte er eine prächtige Villa. Die herrschaftlichen Räume waren mit wertvollem altem Mobiliar und feinen Gobelins, mit chinesischem Porzellan und kostbaren Gemälden ausgestattet. Am Muséum National d’Histoire Naturelle war er der führende Physiker. Seine Schüler bewunderten seine Eloquenz, die Fachkollegen schätzten seine Kompetenz. In ganz Frankreich galt er als großer Wissenschaftler, im Ausland wurde sein Name jedoch kaum bekannt.

78 Jahre nach seinem Tod begann seine zweite Karriere. Sie machte ihn weltberühmt, wenn auch in einer wenig rühmlichen Weise. Sein Name wurde geradezu zu einem Synonym für unsichtbare Gefahr und allgegenwärtiges Unheil. Wenn er genannt wurde, dann mit besorgtem Gesicht und oft im Zusammenhang mit Milchpulver, Haselnüssen und Pilzen. Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 stand der Name des französischen Physikers Becquerel im Mittelpunkt heftiger Diskussionen über Nutzen und Gefahren der Kernenergie. Die Maßeinheit der Radioaktivität erlangte plötzlich eine ungeheure, wenn auch fragwürdige Popularität. Selten wurde eine Maßeinheit so oft – und meist auch so falsch – zitiert.

Verdächtiges Glimmen am Leuchtschirm

Antoine Henri Becquerel, geboren am 15. Dezember 1852 in Paris, entstammte einer alten Gelehrtenfamilie. Vater und Großvater gehörten zu den führenden Physikern Frankreichs, und so lag es nahe, daß Henri in ihre Fußstapfen treten und ebenfalls Physiker werden sollte. Nach dem Lyzeum wurde er an der Eliteschule Ecole Polytechnique für seine spätere Aufgabe als Lehrer und Wissenschaftler ausgebildet. Weitere drei Jahre widmete er sich an der Ecole des Ponts et Chaussées dem Studium des Brücken- und Straßenbaus. Es folgte die übliche akademische Laufbahn: Assistent an der Ecole Polytechnique, Lehrstuhl für Physik an der Ecole des Arts, Chefingenieur in einem Ministerium. Von 1891 an bekleidete er, in direkter Nachfolge seines Großvaters und seines Vaters, die beiden Lehrstühle für Physik am Musée d’histoire naturelle und am Conservatoire Nationale des Arts et Métiers in Paris. Bis an sein Lebensende war Becquerel auch für die Ausbildung des Physikernachwuchses an der Ecole Polytechnique verantwortlich.

Die SI-Einheit Becquerel

Das Becquerel ist die Einheit der Aktivität einer radioaktiven Strahlungsquelle.

Definition: 1 Becquerel (Bq) ist die Aktivität einer radioaktiven Strahlungsquelle, bei der sich im zeitlichen Mittel von 1 Sekunde 1 Atomkern eines Nuklides umwandelt.

1 Bq = 1 / s

Schon als 24jähriger bearbeitete Becquerel eigenständig neue Forschungsgebiete. Dabei entdeckte er die infraroten Banden im Spektrum des Sonnenlichts und die Drehung der Polarisationsebene des Lichtes im Magnetfeld. Es folgten Arbeiten über die Sonnentemperatur und den Magnetismus bei Nickel und Kobalt. Jahrelang beschäftigte er sich mit den eigentümlichen Phänomenen der Luminiszenz und der Phosphoreszenz. Sie führten ihn schließlich zu jener Entdeckung, die seinen Namen später unsterblich machen sollte.


Wilhelm Conrad Röntgen, Professor an der Universität Würzburg, der mit den X-Strahlen den Anlaß gab für Becquerels Untersuchung der Uransalze

Am 8. November 1895 hatte Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923), Professor für Physik an der Universität Würzburg, wieder einmal mit Kathodenstrahlen experimentiert. Dabei entdeckte er auf einem im gleichen Zimmer stehenden Leuchtschirm zufällig ein schwaches Glimmen. Er ging dieser Erscheinung nach und fand, daß sie von einer unbekannten Strahlung herrührte, die auf der Erde nicht natürlich vorkommt. Es war eine ganz ungewöhnliche elektromagnetische Strahlung. Sie war so energiereich, daß sie scheinbar widerstandslos durch Eichentüren und dicke Bücher, sogar durch Metallplatten hindurchging. Röntgen war völlig überrascht und wußte nicht, was er von diesen unbekannten Strahlen halten sollte. Er bat einige Kollegen um Rat, auch den berühmten französischen Mathematiker und Wissenschaftsphilosophen Henri Poincaré (1854–1912). Dieser hielt am 20. Januar 1896 vor der Pariser Académie des Sciences einen Vortrag über den damaligen Stand der Naturwissenschaften. Dabei konnte er von der Existenz neuer Strahlen berichten, die den menschlichen Körper durchdringen, so daß die Skelettknochen sichtbar werden. Als Beweis zeigte Poincaré den verblüfften Zuhörern eine von Röntgen selbst angefertigte fotografische Aufnahme, auf der die Handknochen von Frau Röntgen abgebildet waren.


Die Handknochen von Frau Bertha Röntgen, aufgenommen am 22. Dezember 1895 (die erste Röntgenaufnahme der Geschichte)

Indiskrete Strahlen

Die Nachricht von den geheimnisvollen Strahlen – Röntgen selbst bezeichnete sie als »X-Strahlen«, weil sie sich in das bestehende Lehrgebäude der Physik nicht einordnen ließen – war eine wissenschaftliche Sensation. Nicht nur die Gelehrten diskutierten sich die Köpfe heiß. Wochenlang beherrschten die Strahlen auch die Schlagzeilen der Gazetten, in den Salons der feinen Gesellschaft waren sie das Lieblingsthema der Saison. Die Phantasie trieb seltsame Blüten, windige Geschäftemacher witterten ihre große Chance. Eine Pariser Firma bot eine Spezialbrille an, die angeblich in der Lage war, mit Hilfe der indiskreten Strahlen die Kleidung zu durchdringen. Im Gegenzug propagierte eine Londoner Firma »X-Strahlen-sichere Dessous« für die Damen.

Doch zurück zu dem denkwürdigen Akademievortrag. Unter den Zuhörern befand sich auch Henri Becquerel. Aufmerksam hatte er die vom Vortragenden geäußerte Vermutung registriert, daß möglicherweise jede elektromagnetische Strahlung, also auch das Licht, fluoreszierendes Material zur Abgabe von X-Strahlen anregen könne. Professor Becquerel, anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der Fluoreszenz, kam diese Hypothese reichlich unwahrscheinlich vor. Er beschloß, am nächsten Tag sofort die Probe aufs Exempel zu machen. Eine Reihe unbelichteter Fotoplatten verpackte er in schwarzes, lichtdichtes Papier und legte auf jedes Päckchen ein Kreuz aus reinem Kupfer. Dann nahm er aus dem Laborschrank diejenigen Salze, die nach seiner Erfahrung am Licht fluoreszieren, streute sie einzeln auf die verschiedenen Päckchen und legte diese für einen Tag an die Sonne. Das Ergebnis war, wie er vermutet hatte, durchweg negativ. Mit einer Ausnahme: Auf einer einzigen Fotoplatte zeigte sich nach dem Entwickeln tatsächlich der schwache Schatten eines Kreuzes. Die Platte war mit einem Uransalz beschichtet gewesen.


Selbst die renommierte Zeitschrift Life zeigte ihren Lesern die »aussichtsreichen« Einblicke mit Hilfe der X-Strahlen. Eine Abendgesellschaft, fotografiert einmal mit einem normalen Plattenapparat, unten mit Hilfe der Röntgenstrahlen

Geheimnisvolles Salzlicht

Als kritischer und systematischer Experimentator wollte sich Becquerel nicht auf einen einzigen Versuch verlassen. Er präparierte weitere Fotoplatten mit Uransalz und legte sie, weil der Himmel bewölkt war, in eine Schublade, um auf besseres Wetter zu warten. Sicherheitshalber prüfte er nach ein paar Tagen, ob die Platten noch in Ordnung waren. Dabei bemerkte er zu seiner Überraschung, daß auf einer Platte wieder das Kreuz zu sehen war, sogar viel deutlicher, und das, obwohl diese Platte überhaupt nicht in der Sonne gelegen hatte. Woher konnte die Schwärzung stammen, etwa von dem Uransalz selbst? Mit größter Sorgfalt durchgeführte weitere Untersuchungen lieferten den Beweis: Alle Uransalze, auch das reine Uranmetall, senden eine Strahlung aus, welche die Fotoplatten sogar in absoluter Dunkelheit schwärzen. Becquerel hatte durch Zufall, Scharfsinn und Wachsamkeit die natürliche Radioaktivität entdeckt.


Die Schwärzung dieser Fotoplatte läutete das Atomzeitalter ein. In der unteren Hälfte die vagen Umrisse des Kupferkreuzes, oben eine handschriftliche Notiz des Entdeckers

Daß diese Zufallsentdeckung eine neue Epoche der Menschheit einleiten würde, nämlich das Atomzeitalter, das konnte Becquerel nicht ahnen. Ihm war noch nicht einmal der Begriff »Radioaktivität« bekannt. Das von ihm beobachtete Phänomen betrachtete er als eine Art »langlebige Fluoreszenz«, eine Strahlung, die kurioserweise von einem Metallsalz ausging. Die Wissenschaft kannte ja schon mehrere Strahlenarten, die Radiowellen beispielsweise und das Sonnenlicht, das Leuchten der Glühwürmchen und das Phosphoreszieren verfaulenden Holzes. Warum sollte es nicht auch eine Art »Salzlicht« geben? Am 2. März 1896 berichtete Becquerel vor der Académie des Sciences über die Entdeckung einer natürlichen Strahlung des Elements Uran, welche ebenso wie die X-Strahlen des Herrn Kollegen Röntgen feste Körper durchdringen konnte. In mehreren Aufsätzen legte er weitere Beobachtungen über die »Becquerelstrahlen« vor. Als ein Echo ausblieb, verlor er das Interesse und wandte sich wieder seiner Fluoreszenzforschung zu.

Woher kommt die Energie?

Vielleicht wäre seine Entdeckung in Vergessenheit geraten, hätten sich die aus Polen stammende Marya Sklodowska (1867–1934) und der französische Physiker Pierre Curie (1859–1906), ihr Kollege und späterer Ehemann, nicht gefragt, woher denn die zwar geringen, aber deutlich meßbaren Energiemengen stammen, die vom Uran und seinen Verbindungen unablässig ausgestrahlt werden. Sie arbeiteten ungeheure Mengen uranhaltiger Pechblende auf in der Hoffnung, die unbekannte Energiequelle zu finden. Nach zwei Jahren konnten die beiden Forscher in den Comptes Rendus verkünden, daß sie aus 8000 kg Pechblende ein knappes Gramm eines neues Elementes isoliert hatten, von dem eine extrem starke Strahlung ausging. Das Element solle den Namen »Radium« – das Strahlende – erhalten.


Der Brief an die französische Akademie, in dem Becquerel seine Entdeckung beschreibt

Die Entdeckung des Radiums brachte das hergebrachte Weltbild der Wissenschaft ins Wanken. Der Beweis war erbracht, daß die Atome eben nicht »atomos«, d. h. unteilbar, sind. Sie mußten aus noch kleineren Partikeln aufgebaut sein. Nun war Becquerels Interesse an den Uransalzen wieder geweckt. Er fand heraus, daß die radioaktiven Strahlen imstande waren, Gase zu ionisieren und elektrisch leitend zu machen. Das war insofern eine wichtige Entdeckung, als man nun diese Strahlen auch messen konnte, nämlich mit einem ganz einfachen Goldplättchen-Elektroskop.

Das vergessene Glasröhrchen

Für die Entdeckung der Radioaktivität erhielt Henri Becquerel im Jahr 1903 den Nobelpreis für Physik, gemeinsam mit dem Ehepaar Curie. Eigentlich hätten diese drei Forscher auch den Nobelpreis für Medizin verdient gehabt: Unabhängig voneinander entdeckten sie die physiologischen Wirkungen der radioaktiven Strahlen auf das lebende Gewebe, und zwar am eigenen Körper. Von Marie Curie persönlich hatte Becquerel anläßlich eines Besuches einige Milligramm Radium erhalten. Das achtlos in die Westentasche gesteckte Glasröhrchen hatte er bereits vergessen, als sich nach einigen Tagen an seinem Körper schwere Verbrennungen zeigten. Marie Curie, der er von seiner Vergeßlichkeit und ihren schmerzhaften Folgen erzählte, gestand, daß auch sie Verbrennungen an den Händen erlitten habe, als sie ungeschützt mit Radiumpräparaten gearbeitet hatte. Ihr Ehemann Pierre Curie griff dieses bis dahin unbekannte Phänomen auf und bestätigte durch einen Selbstversuch die zerstörende Wirkung der radioaktiven Strahlen auf biologisches Gewebe. Die gemeinsame Veröffentlichung der drei Forscher hatte zur Folge, daß sich drei Jahrzehnte später die Strahlentherapie des Krebses allgemein durchsetzen konnte.

In seinen letzten Lebensjahren wurde Becquerel mit zahlreichen Preisen und Medaillen geehrt. Ausländische Akademien ernannten ihn zu ihrem Mitglied. Die Académie des Sciences wählte ihn 1908 zum Präsidenten und Sekretär auf Lebenszeit. Doch schon sechs Wochen später, am 25. August 1908, starb Becquerel im Alter von 56 Jahren auf seinem Landsitz Le Croisic in der Bretagne an den Folgen der Strahlenschäden, die er sich bei der Arbeit mit den radioaktiven Uransalzen zugezogen hatte.

Dunkle Vorahnung

War sich Henri Becquerel über die Folgen seiner epochalen Entdeckung im klaren? Daß er sie zumindest geahnt hat, geht aus einer Äußerung hervor, die er gegen Ende seines Lebens machte: »Ob die Wissenschaft schließlich so weit fortschreiten wird, daß sie die praktische Verwendung des ungeheuren Energievorrats zu nutzen vermag, dies ist eine Frage, auf die nur die Zukunft antworten kann. Man möge aber daran denken, daß die Elektrizität in den Anfängen der Forschung auch nur als reine Spielerei angesehen wurde, zu nichts nütze, als Kinder zu unterhalten, indem sie mit einer geriebenen Siegellackstange Papierschnitzel anzuziehen versuchen.«

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