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6. Lasst ihn gehen!

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Wie er bei der Erweckung der Tochter des Jairus anordnet, „dem Mädchen etwas zu essen zu geben“ (Mk 5,43), so kümmert sich Jesus auch in der Lazarusszene um das Schicksal des Herausgerufenen, indem er befiehlt:

Bindet ihn los und laßt ihn gehen! (Joh 11,44)

In der kirchlichen Tradition wurde dieser Befehl durchweg metaphorisch, meist – wie bei Hieronymus – auf die „Fesseln der Sünde“, gelegentlich auch – wie bei Origenes – auf die nach 2Kor 3,16ff vom Gesicht des Glaubenden weggefallene Hülle bezogen. Was aber besagt dieser Befehl, wenn er unter Voraussetzung des „Hintersinns“ auf Jesus bezogen wird? Eine erstaunliche Antwort darauf gibt Albert Schweitzer mit der Schlußbetrachtung seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ in der neu bearbeiteten Auflage von 1913, in der er das Ergebnis seines gewaltigen Unternehmens zusammenfaßt:

Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus,

um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn

dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen.

Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen

der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und

Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen

Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern

ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück24.

Im Anschluß daran gibt Schweitzer auch zu verstehen, warum die von diesem Zurückweichen Jesu ebenso befreite wie erschreckte Theologie Jesus mit allen Künsten und Gewaltmitteln nicht in der Gegenwart festzuhalten vermochte, sondern ziehen lassen mußte. Es war einerseits die Eigengesetzlichkeit des Vorgangs, die das „befreite Pendel“ in seine ursprüngliche Lage zurückschwingen ließ. Andererseits aber war es vor allem die Folge der auf Jesus angesetzten Methode, also der historischen Kritik. Ihr wirft Schweitzer vor, das ihr eingeschriebene Ziel nicht erreicht und dadurch das historische Fundament, auf welchem Jesus tatsächlich stehe, verfehlt zu haben. Denn dazu gehöre nun einmal die Gewalt, mit der sich der historische Jesus in seinen „Imperatorenworten“ zur Geltung brachte, aber auch das „Eschatologische in seinen Gedanken“, das seine unvergleichliche Größe ausmache. Das eine aber habe sie durch die Egalisierung seiner Sprache eingeebnet; das andere sei bei ihr zu kurz gekommen, weil sie aus ihrer Denkwelt keinen Zugang gefunden, deutlicher noch: weil sie trotz der auf eine Endzeitsituation hindeutenden Zeichen der Zeit nicht an ein von Gott zu erwartendes Zeitenende geglaubt habe25.

Im Namen Jesu, wie er ihn sah, bricht Schweitzer damit den Stab über die humanistischliberal bestimmte Theologie seiner Zeit, gleichzeitig aber auch über die Gegenwartstheologie, soweit sich diese dem Instrumentarium der historisch-kritischen Methode verschreibt. Seine Zustimmung findet sie nur, sofern es ihr gelang, die Gestalt Jesu von den Banden zu befreien, mit denen er „seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war“. Unwillkürlich stimmt er sich damit auf den Befehl des Erweckers in der Lazarusszene ein, der nunmehr in den Satz gefaßt werden könnte: Bindet mich los und laßt mich gehen!

Doch in dieser Fassung bezieht sich der Befehl nicht nur auf die von Schweitzer angesprochene Fesselung Jesu an den „Felsen der Kirchenlehre“, sondern zweifellos auch auf die nicht minder harten Zwänge der historisch-kritischen Methode. Daß diese ihn zu ihrer schmerzlichen Überraschung „nicht festhalten“, sondern in seine Vorzeit „ziehen lassen“ mußte, entsprach nämlich ihrem spezifischen Geschichtsverständnis, das als historisch gewiß nur gelten ließ, was sich als glaubhaft bezeugtes Faktum in dessen eindeutig umschriebenem Gewesensein festmachen ließ. Unter völlig neuen Perspektiven, wie sie durch Ernst Käsemanns Kritik an Rudolf Bultmann eröffnet worden waren, vertiefte das Karl Barth durch seine ironische Bemerkung, daß sich maßgebende Neutestamentler zu seiner „nicht geringen Verblüffung aufs neue, mit Schwertern und Stangen bewehrt, auf die Suche nach dem ‚historischen Jesus‘ begeben haben“, woran er sich selbst jedoch „lieber nicht beteiligen möchte“26.

Was die von Schweitzer kritisierte Forschung an dem in seine Zeit zurückgetretenen Jesus wahrnahm, widerstrebte jedoch überdies ihrer vom Geist des aufgeklärten Humanismus geprägten Denkweise. Weder durch seinen gebieterischen Einsatz für das Gottesreich und die „Imperatorenworte“, mit denen Jesus diesem Bahn brach, noch für die Naherwartung, die seine Botschaft bestimmte, hatte sie ein Organ. So wuchs die Entfremdung, in die sie ihn zunächst nur methodologisch abgedrängt hatte. Aber darf es dabei bleiben?

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