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8. Das Zugesprochensein

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Der Begriff „Christomathie“ stammt von Ignatius von Antiochien, der auf seinem Todesweg nach Rom der Gemeinde von Philadelphia schrieb:

Ich vertraue der Gnade Jesu Christi, der jede Fessel von euch nehmen

wird. Ich ermahne euch, nichts aus Streitsucht zu tun, sondern

gemäß der Lehre Christi [christomathia]32.

Zur näheren Bestimmung dieser „Christomathie“ gibt der Fortgang des Briefs einen bemerkenswerten Aufschluß:

Da hörte ich einige sagen: Wenn ich etwas nicht in den Urkunden,

im Evangelium finde, glaube ich nicht; und als ich ihnen erwiderte,

dass es geschrieben steht, gaben sie mir zur Antwort: dies steht ja in

Frage. Mir aber ist Urkunde Jesus Christus; mir sind die unversehrten

Urkunden sein Kreuz, sein Tod, seine Auferstehung und der

durch ihn begründete Glaube; in diesen will ich durch euer Gebet

gerechtfertigt werden33.

Dem fügt Ignatius hinzu:

Die Priester waren eine gute Einrichtung, doch besser ist der Hohepriester

Jesus Christus, der in das Innerste des himmlischen Heiligtums

eintreten darf. Ihm allein sind Gottes Geheimnisse anvertraut.

Er ist die Tür zum Vater34.

In dieser Zusatzaussage kommt, hochaktuell, das Medienproblem ins Spiel. Die Kontrahenten insistieren auf einer vom Bibeltext gebotenen Belegstelle, während Ignatius selbst auf den zurückgreift, der in den Texten gemeint ist und in ihnen „zu Wort kommt“. Was aber die Entstehung der Texte anlangt, so scheint er die Meinung des Papias von Hierapolis zu teilen, für den die aus Büchern geschöpften Berichte niemals denselben Wert haben konnten wie das lebendige mündliche Zeugnis35. Danach ist mit dem Begriff „Christomathie“ eine „Lehre“ angesprochen, die zu ihrer Herkunft noch so sehr offensteht, daß in ihr ein Nachklang der Stimme ihres Urhebers hörbar ist, eine Lehre also, die man sich in diesem Sinn „gesagt sein lassen“ muß.

Schon auf Grund dieser wenigen Hinweise ist ein von dem gewohnten deutlich verschiedenes Rezeptionsverhalten gefordert. Während beim Textverstehen der optische Eindruck dominiert, ist hier in erster Linie eine hörende, also auf das akustische Moment achtende Einstellung vonnöten. Dabei bezieht sich diese nicht etwa auf den rezipierten Wortlaut, sondern auf den vom Ursprung der Mitteilung her erklingenden und selbst bei völlig stillem Verhalten hörbaren „Unterton“. Denn hier gilt in gesteigerter Form, was eine Nachlaßnotiz Nietzsches als den innersten „Anlaß“ des Verstehens ausmacht:

Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern

Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten

gesprochen werden – kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft

hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft:

alles das also, was nicht g e s c h r i e b e n werden kann36.

Von daher gewinnt dann auch der Begriff „Lehre“ einen von dem üblichen deutlich unterschiedenen Sinn, den man genauer als „prozessual“ bezeichnen könnte. Noch am besten ließe sich das mit „Belehrung“ wiedergeben. Was mit der Christomathie zur Rede steht, ist somit keine festumschriebene Doktrin, die in einer Summe von Sätzen zusammengefaßt werden könnte, sondern ein Vorgang, bei dem der, den Ignatius die Urkunde des Glaubens, den Hohepriester des Allerheiligsten und die Tür zum Vater nennt, das Denken des von ihm Belehrten inspiriert und leitet.

Damit ist keineswegs verneint, daß sich die Aneignung auch dieser Lehre – wie jeder anderen – in Sätze verfaßt und satzhaft wiedergegeben werden kann. Insofern nimmt die Christomathie rückläufig immer wieder christologisches Gepräge an, ganz abgesehen davon, daß sie nur in dieser Form mit der Christologie in ein Wechselverhältnis zu treten vermag. Doch geht es dabei nicht darum, die christologischen Positionen zu korrigieren oder zu ergänzen, sondern um den Versuch, sie im Gegensinn zu ihrer „Diktion“ lesbar zu machen. Diese Positionen haben von ihrer Entstehung her den Charakter von Entwürfen, die durch Argumentationsketten strukturiert und systemhaft aufgebaut sind. In der Korrepondenz mit der Christomathie gewinnen sie jedoch die Form von Zusagen. Jetzt dominiert in ihnen weniger das spekulative als vielmehr das rezeptiv-dialogische Moment. Denn die Christomathie lebt in gegenstandstheoretischer Hinsicht von der Einsicht, daß der Gegenstand der Theologie nicht im Modus des Vorhandenseins, sondern in dem des Zugesprochenseins gegeben ist. Doch damit ist der Gesichtskreis der Anrufung bereits auf den der Zugangs- und Prinzipienfrage hin überschritten. Davon ist eine erste Konkretisierung dessen zu erwarten, was bisher nur in präludierender Rede angesprochen werden konnte.

1 J. W. von Goethe, Faust I, Prolog im Himmel, V. 243–270, in: ders., Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hrsg. u. kommentiert v. E. Trunz, Jubiläumsausg., unveränd. Nachdruck, München 2014, S. 16.

2 Ders., Faust II, 5. Akt: Mitternacht, V. 11382–11498, a.a.O., S. 343–346.

3 Boëthius, Trost der Philosophie I, 2. Prosa, aus dem Lat. übs. u. hrsg. v. K. Büchner, Bremen 1964, S. 5; ausführlicher dazu: R. Heinzmann, Philosophie des Mittelalters (Grundkurs Philosophie 7), Stuttgart 3/2008, S. 95–115.

4 Boëthius, Trost der Philosophie I, 1. Prosa, a.a.O., S. 1. <E. Biser übersetzt diese Stelle wie folgt: „Einst sang ich Lieder heiteren Herzens; jetzt kommen mir nur traurige Weisen in den Sinn. Gramgebeugt gebieten mir die Musen, was ich schreibe, während Tränen mein Gesicht überströmen. Sie wenigstens konnte die Gewalt nicht vertreiben, und so folgten sie, die einstigen Gefährtinnen meiner heiteren Jugend, nun dem Greis auf den Weg in sein herbes Geschick.“>

5 L. v. Beethoven, Fidelio, op. 72, 1. Akt, 6. Auftritt, Nr. 9, Rezitativ und Arie.

6 Dazu: W. Lütgert, Die Johanneische Christologie, 2., völlig neu bearb. Aufl., Gütersloh 1916, S. 50–64: Die Einheit Jesu mit Gott; ferner: ders., Die Liebe im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristentums, Leipzig 1905.

7 Ignatius von Antiochien, An die Smyrnäer 10,2, in: Die Apostolischen Väter, aus dem Griech. übs. v. F. Zeller (Bibliothek der Kirchenväter – im Folgenden abgekürzt: BKV – 1. Reihe, Bd. 35), München 1918, S. 147–152, S. 151; ferner: K. Berger u. C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzung und Kommentar, Frankfurt a. M. u.a. 1999, S. 806–810, S. 809.

8 H. U. v. Balthasar, Eschatologie, in: J. Feiner u.a. (Hgg.), Fragen der Theologie heute, Einsiedeln u.a. 1957, S. 403–421, S. 403.

9 R. Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung (1950); Die Macht. Versuch einer Wegweisung, in: ders., Werke, hrsg. v. F. Henrich, Sachbereich Anthropologie und Kulturkritik, Mainz u.a. 1986, S. 9–94, S. 94; dazu: E. Biser, Der inwendige Lehrer. Der Weg zu Selbstfindung und Heilung (1994), Norderstedt 2002, S. 53f.

10 I. Bachmann, Früher Mittag, in: dies., Werke, hrsg. v. C. Koschel u.a., Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, München u.a. 4/1993, S. 44f, S. 45.

11 Ebd.

12 Dazu: E. Biser, Der Zuspruch des Geistes, in: ders., Der Mensch im Horizont Gottes, hrsg. v. P. Jentzmik, Limburg 2007, S. 129–139; ferner: U. Wilckens, Der Brief an die Römer, Teilbd. 2: Röm 6-11 (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 6/2), Zürich u.a., 3/1993, S. 160ff; S. 179f.

13 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), nach dem Text der Originalausgabe hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 6/1952, S. 48.

14 Dazu: Ders., Ausführung des ontologischen Beweises in den Vorlesungen über Religionsphilosophie vom Jahre 1831, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, auf d. Grundlage d. Werke v. 1832–1845 neu ed., red. v. E. Moldenhauer u.a., Bd. 17: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Frankfurt a. M. 1986, S. 528–535.

15 Dazu: J. Kremer, Lazarus – die Geschichte einer Auferstehung. Text, Wirkungsgeschichte und Botschaft von Joh 11,1-46, Stuttgart 1985.

16 R. Guardini, Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi, 8., unveränd. Aufl., Würzburg 1951, S. 149–156; S. 220–225.

17 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, Teil 2: Kommentar zu Kap. 5–12 (Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 4.2), Freiburg i. Br. 1971, S. 427f.

18 Dazu: E. Biser, Theologie als Therapie (1985), unveränd. Nachdruck, Norderstedt 2002, S. 148–151: Der verwundete Therapeut.

19 Dazu: S. Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: ders., Werkausgabe, aus dem Dän. übs. u. hrsg. v. E. Hirsch u.a., Bd. 2: Einübung im Christentum. Der Augenblick, Düsseldorf u.a. 1971 [im Folgenden abgekürzt: Werkausgabe Bd. 2], S. 9–307, S. 102; dazu: E. Biser, Gotteskindschaft. Die Erhebung zu Gott, Darmstadt 2007, S. 89.

20 Dazu: R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 10), Zürich u.a. 1982, S. 187ff.

21 F. Hölderlin, Friedensfeier, in: ders., Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe), hrsg. v. F. Beißner, Bd. 3, Stuttgart 1957, S. 531–538.

22 A.a.O., V. 43ff, S. 534.

23 Ders., Versöhnender der du nimmergeglaubt. Erste Fassung, V. 1–8, a.a.O., Bd. 2, Stuttgart 1951, S. 130–132, S. 130.

24 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 2, München u.a. 1966 (Lizenzausgabe), S. 620.

25 A.a.O., S. 622.

26 K. Barth, How my mind has changed, in: Evangelische Theologie 20 (1960) 3, S. 97–106, S. 104.

27 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 2, a.a.O., S. 630.

28 K. Rahner, Zur Theologie und Spiritualität der Pfarrseelsorge, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 14, Zürich 1980, S. 148–165, S. 161.

29 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 2, a.a.O., S. 630.

30 Dazu: G. Lüdemann, Texte und Träume. Ein Gang durch das Markusevangelium in Auseinandersetzung mit Eugen Drewermann, Göttingen 1992, S. 9–47: Hinführung zu Drewermann oder: Träume – die vergessene Sprache Gottes?; ferner: U. H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, S. 131–135: Träume – Gottes vergessene Sprache?.

31 Dazu: E. Biser, Der inwendige Lehrer, a.a.O., S. 39; S. 77f.

32 Ignatius von Antiochien, An die Philadelphier 8,1f, a.a.O. (BKV, 1. Reihe, Bd. 35), S. 142–146, S. 145; ferner: K. Berger u. C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, a.a.O., S. 801–805, S. 803f.

33 Ebd.; dazu: E. Biser, Eine Christus-Hermeneutik, in: ders., Die Entdeckung des Christentums. Der alte Glaube und das neue Jahrtausend, Freiburg i. Br. u.a. 2/2201, S. 105–119.

34 Ignatius von Antiochien, An die Philadelphier 9,1, in: K. Berger u. C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, a.a.O., S. 804.

35 Nach Eusebius v. Caesarea, Kirchengeschichte, aus dem Griech. übs. v. Ph. Haeuser, III 39, in: ders., Ausgewählte Schriften (BKV, 2. Reihe, Bd. 1, II), München 1932, S. 150–154, S. 151.

36 F. Nietzsche, Nachgelassenes Fragment (Sommer – Herbst 1882), 3 [1] 296, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u.a., München u.a. 1980 [im Folgenden abgekürzt: KSA], Bd. 10, S. 89.

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