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II. Die Auffächerung

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Wenn die Perspektivendrehung zu neuen Einblicken führen soll, muß das Licht jedoch in seine Spektralfarben zerlegt werden, so daß die Texte in unterschiedlichen Beleuchtungen lesbar werden. Diesem Interesse kommt das Johannesevangelium, das auch darin als die höchste Reflexionsstufe des Neuen Testaments erscheint, dadurch entgegen, daß es der Aussage: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), andere gleichrangige gegenüberstellt, von denen für die Erschließungsfrage vor allem „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35), „Ich bin der gute (rechte) Hirt“ (Joh 10,11) und „Ich bin die Tür“ (Joh 10,9) in Erwägung zu ziehen sind. Doch worin besteht das hermeneutische Erträgnis des Lichtmotivs?

Wenn man das „Licht der Welt“ auf den kardinalen Satz: „Gott ist Licht, und Finsternis ist nicht in ihm“ (1Joh 1,5), und damit auf die große Gottesentdeckung Jesu zurückbezieht, ergibt sich die Antwort fast von selbst. Dann wirkt dies Licht verstärkend auf gleichsinnige, auslöschend jedoch auf gegensinnige Aussagen ein. Logien, die der Entdeckung Jesu entsprechen, leuchten dann in einem vordem kaum geahnten Glanz und Sinngehalt auf, während andere, wie insbesondere die vielfältigen Gerichts- und Drohworte ihren Schrecken verlieren und im Sinn von ernsten Warnungen lesbar werden. Da sich die Einsicht in die zentrale Lebensleistung Jesu kaum angebahnt, geschweige denn allgemein durchgesetzt hat, ist mit paradigmatischen Zeugnissen kaum zu rechnen. Allenfalls kann die Tatsache dafür in Anspruch genommen werden, daß die von den Kirchen jahrhundertelang praktizierte Pädagogik der Einschüchterung, die ihre Ziele durch die Suggestion von Gewissens-, Sünden-, Teufelsängsten zu erreichen suchte, zunehmend an Einfluß verliert und damit diese Ziele verfehlt. Gleiches gilt dann aber auch von den Drohworten des Evangeliums, auf die sich diese Einschüchterungsversuche vornehmlich bezogen, und die nun im selben Maß ihren bewußtseinsprägenden Einfluß einbüßen.

Als positives Paradigma hat dagegen Kierkegaard zu gelten, der aus lebensgeschichtlichen Gründen dazu gelangte, die „Große Einladung“ Jesu an die Bedrückten und Beladenen (Mt 11,28) als die zentrale Botschaft des Evangeliums zu begreifen, selbst für den Fall, daß der historische Jesus dieses Wort niemals gesprochen hätte4. Für ihn wird aufgrund des zentralen Stellenwerts, der diesem Wort zukommt, dann das ganze Evangelium als eine einzige Einladung lesbar, da Jesus nicht nur wie andere Wohltäter der Menschheit den durch ihre Lebenslast Bedrückten Hilfe anbietet, sondern die von ihm gewährte Hilfe ist. Das aber hat sein einzigartiges Gottesverhältnis zur Voraussetzung, wie es sich in dem Jubelruf bekundet:

Alles ist mir von meinem Vater übergeben, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will (Mt 11,27).

Auch dieser Spruch kann im Licht des gefundenen Interpretaments als Schlüsselwort zum ganzen Evangelium gewertet werden, das dann als Aufforderung erscheint, mit Jesus und dem, was er von Gott zu sagen hatte, in einen unaufhörlichen Dialog einzutreten, weil das, was er aus seiner Mitwisserschaft mit dem Vater mitzuteilen hat, niemals ausgeschöpft und zuende erklärt werden kann.

Was das auf die Bibel fallende Licht bewirkt, wird überdies durch die Szene der Apostelgeschichte von der Bekehrung des äthiopischen Kämmerers (Apg 8,26-40) verdeutlicht. Als er die Botschaft von Jesus Christus hört, werden die sich ihm vorher bei der Lektüre des jesajanischen Lieds vom Gottesknecht aufdrängenden Zweifel mit einem Schlag gegenstandslos. Denn im Licht dieser Botschaft wird ihm klar, daß kein anderer als Jesus mit dem leidenden Gottesknecht gemeint sein konnte. Ihm widerfährt somit das, was Paulus mit dem Bildwort von der weggenommenen Hülle (2Kor 3,13f) meint. Sobald sie durch das befreiende Wirken des Geistes fällt, werden die alttestamentlichen Worte auf neue Weise, nämlich auf Christus hin, verstehbar. Sollte das aber nicht auch für die in dieser Bedeutung zunächst nicht ersichtlichen „sperrigen“ Stellen der neutestamentlichen Texte gelten? Wenn Paulus seine Aufgabe darin erblickt, alles Widerstrebende niederzubrechen und der Herrschaft Christi zu unterwerfen (2Kor 10,5), kann das durchaus auch auf scheinbar oder wirklich Unvereinbares und Widersprechendes im Feld neutestamentlicher Aussagen bezogen werden. Denn das von Jesus ausgehende Licht ist nicht nur Helle, sondern auch Energie, die zum kämpferischen Umgang mit dem ihm entgegenstehenden Dunkel befähigt.

Was das Licht für die Augen ist, ist das Brot für das Leben. Verbleibt Jesus im Aspekt des Lichts in einer deutlichen Distanz zum Leser, so gibt er diese im Brotwort auf, da seine Zusage: „Ich bin das Brot des Lebens“, erst dann verstanden ist, wenn man das darin gemachte Anerbieten begreift, zum Lebensinhalt des Rezipienten zu werden. Das ist so neu, so überwältigend und so durchgreifend, daß sich von da aus wiederum ein Gesamtkonzept ergibt. Wie das Neue Testament für Kierkegaard zu einer einzigen Einladung an seine Leser wurde, so jetzt zu der nicht weniger umfassenden Bekundung seines Angebots, in ihm und seiner lebendigen Mitte den erfüllenden Lebensinhalt zu finden. Im Wechsel von Einladung und Anerbieten aber bestehen die Atemzüge dieser einzigartigen Schrift, die jetzt, mit diesem neuen Aspekt, erst wirklich fühlbar werden.

Demgegenüber betont der mit dem Hirtenmotiv eröffnete Aspekt, daß das Neue Testament im selben Sinn, wie es Einladung und Anerbieten ist, auch als Wegweisung und Gesetz zu gelten hat. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich Jesus von einem Gesetzgeber grundlegend dadurch, daß er als Hirte den von ihm gewiesenen Weg nicht nur zeigt, sondern auch geht. Was das besagt, wird deutlich, sobald man seine Art, den Menschen vom Bösen abzuhalten, mit der durchschnittlichen Praxis vergleicht, die dieses Ziel mit Hilfe von Geboten, Direktiven und Verboten anstrebt und oft genug das Gegenteil erreicht. Er hält vom Bösen dadurch ab, daß er sich dem Menschen als das leibhaftige Prinzip Liebe einstiftet und ihn dadurch unfähig macht, Böses auch nur zu beabsichtigen, geschweige denn, es dem Mitmenschen anzutun. Es war Paulus, der in dem durch eine politische Einschaltung verunklärten dreizehnten Kapitel des Römerbriefs diesen Königsweg der Immunisierung nachzeichnete und mit dem Satz besiegelte:

Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu, sie ist die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,10).

Er selbst ist somit, wie schon der „Hirte des Hermas“ betonte, das von ihm erlassene Gesetz5; und er ist es überdies in einer Weise, daß er zu dessen Erfüllung verhilft, sofern ihm dafür nur Raum gegeben wird. Das ist mit dem Bildgedanken gemeint, wonach er im Unterschied zu allen andern Gesetzgebern den von ihm gewiesenen Weg mitgeht.

Gegenüber diesem weg- und richtungweisenden Aspekt bezeichnete der mit dem Bildwort von der „Türe“ angesprochene die eröffnende und erschließende Perspektive, denn:

Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn waltet, da ist Freiheit (2Kor 3,17).

Dieses Wort weist insofern auf den ersten Aspekt zurück, als damit zunächst, wie sich bereits zeigte, die „enthüllende Wirkung“ des „erleuchtenden Schlüssels“ angesprochen ist. Denn der Ausspruch bezieht sich unmittelbar auf die vom Gottesgeist weggenommene „Hülle“, die zuvor über den auf Jesus voraus- und hinweisenden Bibelstellen – und nicht nur den alttestamentlichen – lag6. Doch reicht seine Bedeutung, vor dem Hintergrund der dem Apostel gestellten Aufgabe gesehen, ungleich weiter. Denn er sah sich vor eine aufreibende Doppelaufgabe gestellt, bei deren Lösung alles darauf ankam, die Botschaft Jesu unverkürzt an die Welt weiterzugeben. Einerseits galt es für ihn, sich unmißverständlich von dem gesetzeshörigen Judenchristentum abzugrenzen, andererseits aber nicht weniger, die Botschaft in die Welt der Spätantike hineinzutragen, die er nach 2Kor 10,4f von Bollwerken verbaut und von Sinngespinsten verschleiert sah. Das betraf sowohl den ängstigenden Fatalismus, der an die Stelle des verfallenden Gottesglaubens getreten war, als auch die pseudoreligiösen Kulte und Mysterien, in denen die alten Idole weiterlebten. In genialer Intuition entledigte sich Paulus dieser Aufgabe mit dem Programmwort „Freiheit“, mit dem er das jesuanische Schlüsselwort „Reich Gottes“ in eine zeit- und situationsgerechte Sprache umsetzte, mit dem er sich aber gleichzeitig auch vom Judenchristentum distanzierte und der in Fatalismus und Aberglauben verstrickten Umwelt das rettende Stichwort zurief.

Dies geschah keineswegs nur für seine eigene Zeit. Auch die Gegenwart erweist sich, auf ihre Grundbefindlichkeit hin befragt, als ein „Zeitalter der Angst“7, und sie ist nicht weniger durch eine Anfälligkeit für Esoterik und Sektierertum gekennzeichnet. Noch gravierender aber erscheint, zumal im Blick auf die Folgen, die Diagnose Paul Valérys, wonach der heutige Mensch mit dem Rücken zur Zukunft lebt8, also in einem bedenklichen Sinn zukunftsunfähig ist.

Kaum bewies sich diese Hemmung irgendwo deutlicher als in der Unfähigkeit der Wissenschaften und Künste, das Ereignis des freiheitlichen Aufbruchs von 1989, das wie kein anderes die Tür zur Zukunft aufgestoßen hat, angemessen zu würdigen. Während Philosophie und Theologie, die beiden Erstangesprochenen, sensibel auf die ungeheure Todeserfahrung des vergangenen Jahrhunderts reagierten, zeigten sie sich außerstande, die Zeitzeichen zu deuten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen – etwa durch den Entwurf einer neuen „Philosophie der Freiheit“ oder das Konzept einer „Theologie des Friedens“. Trotz bedeutsamer Ansätze im Werk Werner Tübkes und Wilfried Kochs gilt Gleiches auch für die Kunst9.

In dieser Unfähigkeit, das Signal zum Aufbruch in die europäische Zukunft zu würdigen, bekundet sich, radikaler besehen, die Krise im Freiheitsbewußtsein und Freiheitswillen der Gegenwart. Umso aktueller ist, heute wie damals, die paulinische „Reduktion“ des Christentums auf das Prinzip Freiheit10. Für diese Krise im heutigen Bewußtsein ist deren genuine Bedeutung aufschlußreich. Denn im christlichen Verständnis ist Freiheit primär nicht die emanzipatorische Freiheit der gesprengten Fesseln, sondern die elevatorische der freigesetzten je größeren Möglichkeiten. Das eine betont Paulus durch seine Lehre von der Entmachtung der – als Inbegriff aller niederzwingenden Tendenzen verstandenen – „Weltelemente“ (Gal 4,3.9), das andere durch den Gedanken von dem durch Christus eröffneten „Zugang“ zur Gnade Gottes (Röm 5,2), mit der er den Raum der dem Glaubenden offenstehenden Möglichkeiten meint. In diesem Fall besteht die Aktualität in der Beobachtung, daß die Gegenwart einem progressiven Reduktionismus verfallen ist, der, mit Thomas Manns „Doktor Faustus“ gesprochen, auf die Zurücknahme der für ihn in Ludwig van Beethovens „Neunter Symphonie“ verkörperten christlichen Dimension abzielt11: eine fortschreitende „Einebnung“, die ebenso den von Jesus entdeckten Gott der bedingungslosen Liebe wie die sich daraus ergebende Konsequenz, den Raum des Aufatmens, der Hoffnung und der Freiheit, und nicht zuletzt den zu einer Metapher seiner selbst und damit zur „Eindimensionalität“ verflachenden Menschen betrifft12. Dem kann nur ein Kraftakt entgegenwirken, der darauf abzielt, den Lebens- und Atemraum wiederherzustellen, der durch die Lebensleistung Jesu eröffnet und von Paulus mit seiner Freiheitsbotschaft ausgemessen wurde. Wenn das gelingt, wird der darin aufatmende Mensch auch wieder lernen, der Zukunft in ihr dunkles Gesicht zu sehen und ihre Herausforderungen anzunehmen.

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