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V. Die Einladung

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Die Antwort gibt Søren Kierkegaard, der in der „Großen Einladung“ Jesu an die Bedrückten und Beladenen (Mt 11,28) das Schlüsselwort zum ganzen Evangelium entdeckte, zumal er dieses, wie dies seine „Einübung im Christentum“ deutlich macht, aus lebensgeschichtlichen Gründen auf dem Hintergrund des johanneischen Berichts vom Massenabfall (Joh 6,60-66) las. Dadurch entschlüsselte sich ihm die Einladung als die mit höchster Dringlichkeit angebotene Hilfe, die den mit ihr identischen Anbieter geradezu als Hilfsbedürftigen erscheinen läßt, so daß es von ihm heißt:

O, mit geöffneten Armen stehen und sprechen: „kommet her!“ – und daß dann alle fliehen, ja, nicht allein fliehen, sondern fliehen in Ärgernis. O, der Welt Heiland zu sein! 21

Unübersehbar schimmert in diesem Wort der Existenzakt Jesu durch, der ihn in den Erweisen seiner Selbstübereignung bei allem verschwenderischen Reichtum zugleich extrem verletzlich erscheinen läßt, weil er sich dadurch von den Adressaten seines Angebots und ihrer Reaktion abhängig macht. Das gilt aber in erster Linie von seiner Hinwendung an den Vater, die sich lebensgeschichtlich zu seiner Todeshingabe steigerte, weil er erst von dem als die extremste Annäherung an Gott verstandenen Tod die definitive Beantwortung seiner Existenz und Sinnfrage erwarten konnte. Das steigerte sich dann nochmals in dem Wagnis, die erhoffte Antwort durch die ehrfürchtig-zärtliche Anrede „Abba – Vater“ vorwegzunehmen und mit ihr den der Menschheit immer noch verschlossenen Himmel zu stürmen. Mit diesem Wagnis überbrückte er den Abgrund der Gottferne, durchbrach die Mauer der Unnahbarkeit Gottes und erschloß den Zugang zu seinem Herzen. Wie für Nietzsches Zarathustra das Herz der Erde „aus Gold“ bestand22, entdeckte er in diesen sich ihm öffnenden „Tiefen der Gottheit“ (1Kor 2,10) das Geheimnis der sich ewig verschenkenden und zurückempfangenden Liebe: den Gott, in dem „nur Licht und keine Finsternis“ ist (1Joh 1,5), den Gott, den das Neue Testament dann auf seiner in den johanneischen Schriften erreichten höchsten Reflexionsstufe „die Liebe“ nennt (1Joh 4,16). Indem er sich die Anrede, nur von seinem Adressaten verstanden zu werden, „gesagt sein ließ“, wurde er sich im selben Atemzug auch seiner Gottessohnschaft bewußt; denn in dieser antizipierten Form konnte sein „Abba – Vater“ nur so lauten, wie es ihm dann von der Himmelsstimme auch in aller Form zugesprochen wurde: Sohn.

Damit ist die Vermutung, die den neutestamentlichen Schriften zugrundeliegende Vergewisserung könne sich auf die ambivalente Gottesvorstellung der religiösen Traditionen beziehen, definitiv zugunsten des von Jesus entdeckten Gottes der vorbehalt- und bedingungslosen Liebe ausgeräumt. Dafür sprechen sich diese Schriften nicht nur aus, sie werben vielmehr mit ihrer ganzen Suggestivität für ihn. Mehr noch: Im Sinn des Kierkegaardschen Schlüsselwortes sind sie eine einzige, wenngleich vielstimmige Einladung, die von ihm an jeden Leser ergeht. In jedem ihrer Sätze richtet sich, wie im Gleichnis vom großen Gastmahl, der Anruf an ihn: „Mein Herr lädt dich ein!“ So entspricht die Form der Mitteilung ihrem Inhalt. Denn die den Menschen suchende Liebe Gottes könnte nicht klarer und beredter zur Sprache gebracht werden als im Ton der um sie werbenden Einladung.

Für die Lektüre des Neuen Testaments hat das weitreichende Konsequenzen. Denn das Licht, das nunmehr auf die Texte fällt, hat zur Folge, daß die mit der Suggestion konformen Stellen hervortreten und an Leuchtkraft gewinnen, während gegensinnige ihre Bedrohlichkeit verlieren und verblassen. Für den ersten Fall kann die „Große Einladung“ als Paradigma gelten, das dann rückläufig auch erklärt, daß Kierkegaard das Evangelium im Blick auf das mit Jesus gegebene Interpretament gelesen hatte. Wie Hermann von Lips nachwies, gehört die Einladung in den Kontext der aus alttestamentlichen Wendungen geschöpften weisheitlichen Aussagen, die den Rang dessen verdeutlichen, der nach Lk 11,31 „größer ist als Salomon“ und der nach 1Kor 1,30 „von Gott für uns zur Weisheit“ geworden ist – was mit sich bringt, daß, zusammen mit der Einladung, auch Stellen wie der Freudenruf Jesu, der ohnehin als Auftakt dazu überliefert ist, eine ungeahnte Strahlkraft gewinnen:

Ich danke dir, Vater des Himmels und der Erde, daß du dies vor Weisen und Gebildeten verborgen, Unmündigen aber geoffenbart hast. Ja, Vater, so war es dein Wille. Alles ist mir von meinem Vater übergeben, und niemand kennt den Sohn, als nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will (Mt 11,25ff)23.

In diesem Glanz wird aufs neue deutlich, daß der Mitteilungswille Jesu in seinem Gottesverhältnis, näherhin in seiner Selbstübereignung an Gott, wurzelt und von dorther seine Struktur und Stoßkraft gewinnt. Und es klärt sich überdies, daß es Jesus wie in seinen Reden und seiner therapeutischen Tätigkeit letztlich darum zu tun ist, sein Gottesverhältnis, also seine Gottessohnschaft, an die Menschheit weiterzugeben.

Im selben Maß, wie diese dem einfallenden Licht konformen Stellen an Leuchtkraft gewinnen, verblassen dann aber die gegensinnigen, vor allem in Gestalt der Gerichts- und Drohworte des Evangeliums. Daß Jesus nach dessen Bericht wiederholt von Gericht, Verwerfung und Hölle sprach und daß er seine Botschaft ebenso oft mit Drohungen verband, steht außer Frage. Doch bei der gelegentlich dafür in Anspruch genommenen Wendung „wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt“ (Mk 9,48), handelt es sich um einen Rückgriff auf den Schluß des Buches Jesaja (66,24) und damit auf das Bild einer endzeitlichen Entscheidungsschlacht mit ihren von Maden und Wundfieber gepeinigten Opfern, das vom Evangelium bewußt nicht übernommen wurde24. Nicht anders steht es um das dafür gleichfalls ins Feld geführte Psalmwort vom „Heulen und Zähneknirschen“ (Ps 112,10), dem schon aufgrund seines floskelhaften Gebrauchs im Matthäusevangelium (Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30) jede Beweiskraft abgeht. Da sich eine Tätigkeit Jesu in Chorazin und Bethsaida nicht nachweisen läßt, ist das gegen diese Städte gerichtete Drohwort (Mt 11,21f) der von ihrer Missionserfahrung in diesem Gebiet enttäuschten nachösterlichen Gemeinde zuzuweisen. Allenfalls könnte sich der Kafarnaum angedrohte Höllensturz auf den in der dortigen Synagoge erfolgten Massenabfall beziehen (Joh 6,66); indessen stößt sich diese johanneische Darstellung mit der damit identischen der Jüngerbefragung bei den Synoptikern (Mt 16,13ff; Mk 8,27ff; Lk 9,18ff), die diese Szene, historisch gesehen, mit größerem Recht in die Gegend von Cäsarea Philippi verlegen, so daß Kafarnaum als Ort des Geschehens entfällt. Als einzige Stellen, an denen Jesus tatsächlich mit dem „Verderben der Hölle“ (Mt 10,28) zu drohen scheint, bleiben dann seine Warnungen vor Verführern und vor dem Abfall in der Stunde der Todesdrohung und Gefahr. Die Warnung vor dem, der nicht nur die Macht hat „zu töten, sondern auch noch in die Hölle zu werfen“ (Lk 12,5), gehört nach heutigem Forschungsstand – ebenso wie die Androhung des „Strafgerichts der Hölle“ (Mt 23,33) – zur Gerichtspredigt urchristlicher Propheten, die im Rückgriff auf das vorjesuanische Gottesbild zur Standhaftigkeit angesichts der sich verschärfenden Verfolgung zu bewegen suchten25. Ähnliches gilt von der Warnung vor Verführern aus den eigenen Reihen (Mt 24,5.23-26), die gleichfalls nachösterliche Verhältnisse voraussetzt26.

Indessen werden sämtliche Einwände, insbesondere auch der in Gestalt der erwähnten Gerichts- und Drohworte, gegenstandslos angesichts der von dem Neutestamentler Ernst Fuchs herausgestellten Tatsache, daß Jesus wagt, „an Gottes Stelle zu handeln“27, und dies im Sinn der von ihm in diesem Gott entdeckten bedingungslosen Liebe, die sich aller, besonders der ins gesellschaftliche Abseits Verstoßenen annahm, die nach Lk 6,35 sogar die Undankbaren und Bösen mit ihrer Güte umfing und die selbst deren Ablehnung mit nur umso größerem Einsatz beantwortete. Selbst dies wird jedoch nochmals von der Einsicht übergriffen, daß Jesus mit der seine Entdeckung besiegelnden Abba-Anrufung Gottes die Zusicherung seiner Gottessohnschaft vorwegnahm und es als seine große Lebensaufgabe empfand, diese – wie es dann in seiner Rede- und Wundertätigkeit geschah – an die Menschen weiterzugeben. Das verleiht seinem Leben die von keinem Rückschlag beeinträchtigte Zielstrebigkeit und Transparenz. So wurde er, mit Eduard Schweizer gesprochen, selbst zum „Gleichnis Gottes“ und zum großen Gotteswunder und in beidem das von Gott in ihm gesprochene „reine Ja“ (2Kor 1,19), so daß er selbst als seine Botschaft und selbst als das von ihm verkündete und heraufgeführte Gottesreich zu gelten hat. Das ist das Licht der Fackel, mit der dieser – nach Milan Machoveč, aber auch nach eigenem Bekunden (Lk 12,49) – größte Revolutionär der Religionsgeschichte die Welt in Brand setzen wollte28, und mit der er noch immer gegen die herrschende Trübnis ankämpft. Das ist dann aber auch das Licht, in dessen Schein die gegensinnigen Aussagen des Evangeliums schon vor ihrer wissenschaftlichen Relativierung verblassen. Doch worin besteht konkret dieses Licht?

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