Читать книгу Sebastian in der Mühle - Eva Johne - Страница 4


Das Gesindehaus und die Puppenspieler

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Mehrere Stufen auf einmal nehmend, gelangte Sebastian im ersten Stock des Mühlenhauses an und riss die grüne Bürotür auf. Er grinste, auch das war wie immer. Alle starrten in die Computer, die Vereinsleute und die Gaststättenmitarbeiter. Keiner schaute hoch und Sebastian brüllte nur: „Hallo, ich bin wieder da!“, knallte die Tür zu und wandte sich zur Küche. Die beiden Köche waren bei den Vorbereitungen fürs Mittagessen. Sebastian erkannte nur den Lehrling. ‚Aha‘, dachte er, ‚wieder einmal ein neuer Koch.‘

Den Lehrling fragte er: „Was kann man denn heute essen?“ „Was du willst!“ Sebastian freute sich immer auf diesen Moment, hob die blanken Deckel der Warmhaltebehälter, packte sich einen Teller voll Braten, Gemüse, Kartoffeln und aus den Kühlbehältern ein Schüsselchen voll Salat. Der Lehrling hackte währenddessen irgendwelches Grünzeug in einer Geschwindigkeit, die Sebastian Achtung abnötigte. „Was hackst du da?“ fragte er.

Der Lehrling verzog leicht das Gesicht: „Brennnesseln!“ Sebastian schüttelte sich: „Entenfraß.“

„Quatsch, d e r Küchenrenner im Frühling und Sommer! Kannste glauben. Das essen die Leute gern.“ „Hm, ich bestimmt nicht“, brummte Sebastian und verschwand. Auf der Terrasse, hinten am großen Wasserrad, ließ er sich an einem der Tische nieder. Da war sein Liebling, das riesige Wasserrad. Er hatte noch nie ein größeres gesehen. Ach, war es schön, wieder hier zu sein! Langsam aß er seinen Teller leer.

So, das war geschafft. Nun schnell noch sein Zimmer im Gesindehaus beziehen und dann... ja, was dann? Sebastian runzelte die Stirn. Zu dumm, dass Onkel Thomas keine Zeit hatte.

Beim Überqueren des Hofes besah sich Sebastian sein Quartier. Das Haus war ein kleines Fachwerkhaus, in dem früher die Knechte, Mägde und Müllerburschen gewohnt hatten, eben das Gesinde. Er kannte es noch als baufälliges Haus. Vor einer Weile hatte er zusammen mit Onkel Thomas tapfer Lehm gestampft, um beim Ausfachen zu helfen. Eine wahre Knochenarbeit, vor allem weil das Stroh, das dem Lehm beigemischt wurde, wahnsinnig in die Füße stach.

Sebastian war gespannt, wie sein Zimmer wohl hergerichtet sein würde. Atze, die schwarzweiße Katze der Mühle, miaute ihn an und strich um seine Beine. Er hob die Katze hoch und ging mit ihr zum alten großen Steintrog, aus dem munter Wasser plätscherte. Die winzige Linde daneben war wohl doch etwas gewachsen, denn er musste den Kopf heben, um bis zu ihrer Spitze sehen zu können.

Die zweite Gruppe Kinder hatte sich nun auch in der Mühle eingefunden. Es waren die Kinder, mit denen Sebastian aus dem Bus gestiegen war.

Während er an einigen Mädchen vorbeilief, schnatterte er:

„Gag, gag, gag.“

Empört drehten sie sich um. Der lachende Blonde war aber schon im Gesindehaus verschwunden. Er staunte. Inzwischen war das gesamte Fachwerkhäuschen renoviert. Gut sah es aus, die Holztreppen waren geölt und die Türen gestrichen. Im ersten Stock rechts lag das Wanderburschenzimmer mit den verrückten Inschriften. Nicht gerade fein, was die Burschen an die Wände gekritzelt hatten. Aber Onkel Thomas hatte alles sauber mit Gaze abkleben lassen, damit es erhalten blieb. Da schlief er bestimmt nicht. Sicher im größeren linken Zimmer. Als er diese Tür öffnete, staunte er nicht schlecht.

Neulich war hier überhaupt nichts los. Jetzt standen im Zimmer ein Bett aus Holz mit Kissen und Deckbett, beides mit lustig gepunktetem Stoff bezogen, ein Tisch, ein Stuhl. Das alles gefiel ihm. Er sprang auf das Bett, probierte, ob es gut gefedert war, machte das Licht an und aus und entdeckte in einer Ecke sogar einen kleinen Fernseher. Das war ein sehr schönes Ferienzimmer! Hier konnte er es aushalten.

Der Lärm draußen hatte inzwischen erstaunliche Ausmaße angenommen. Während Sebastian ans Fenster trat und das ganze Geviert überschaute, schlich sich Atze ganz leise in die Nähe des Bettes und machte es sich schließlich auf dem gepunkteten Deckbett richtig bequem. Sebastian betrachtete die links liegende Scheune, wo sich im Erdgeschoss ein Theater mit etwa 80 Sitzplätzen befand. Puppenspieler, Schauspieler und Musiker nutzten diese Stätte für Gastspiele. Direkt gegenüber stand das Mühlenhaus, unten links mit der Gaststätte und darüber den Büros und der Küche. Unten rechts war der Mühlenraum. Das Viereck des Hofes wurde durch das ehemalige Stallhaus abgeschlossen. Aber es war kein Stall mehr, sondern eine romantische Ruine, die im Sommer, in den warmen Nächten, durch allerlei Schauspiel zum Leben erweckt wurde. Sebastian hatte hier mit seinen Eltern schon manchen Abend am Lagerfeuer verbracht. Besonders lustig fand er die Abende, wenn der Onkel und der Mühlengeist Muki dabei waren. Manchmal dachte er daran, wie wohl die Schauspieler und die Leute vor der Ruine reagieren würden, wenn sie wüssten, dass sich unter der Bodenplatte ein uralter Kellerraum verbarg. Nicht einmal Onkel Thomas kannte dessen Alter. Der Ort kam Sebastian immer ein bisschen gruselig vor. Er fragte sich oft, was man wohl in dem alten Keller finden könnte, würde man ihn heute betreten.

Er wandte sich den Puppenspielern zu, die noch ausluden. Sebastian sprang die Holztreppe hinab und rannte zum Auto, das von neugierigen Kindern bereits umringt war. Die Ordnung im Laderaum imponierte ihm immer wieder. Kein bisschen Platz war verschenkt worden. Alles war genau ausgeklügelt.

Der Puppenspieler schaute ungeduldig auf den Jungen, der ihm irgendwie im Weg stand:

„Hallo Sebastian, du willst uns doch hoffentlich beim Ausladen und Aufbauen helfen!“

Sebastian nickte und packte mit an, so gut es ging. Stoffballen, Leisten, Balken, Kisten und Kästen wanderten vom Transporter in die Scheune. Nun würde es vier Stunden dauern, bevor alles an seinem Platz war und das Spiel beginnen konnte. Fast einen halben Meter groß und schwer wie ein voller Wassereimer waren die Puppen, die fachmännisch – das wusste Sebastian – Marionetten genannt wurden. Andere Puppenspieler hatten durchaus auch kleinere Marionetten oder spielten mit ganz anderen Figuren. Wer seine Ausrüstung allerdings in einem Nebengelass der Theaterscheune aufbewahren wollte, um sich den Transport zu sparen, war schlecht beraten. Aus den Haaren oder Beinkleidern so mancher Puppe hatte sich die eine oder andere Maus schon einen Kuschelplatz gebaut. Manchmal saß Sebastian mutterseelen allein im Theaterraum und träumte vor sich hin. Aber nie zu lange. Der eigentümliche Geruch, die Dunkelheit in der fensterlosen Scheune, Geräusche unterm Gebälk im Zuschauerraum oder das Knarren von Balken und Brettern über ihm trieben ihn dann wieder hinaus auf den Mühlenhof.

Onkel Thomas verabschiedete sich gerade mit unzähligen „Glück-zu“-Müller-Grüßen von der ersten Kindergruppe und begann die Führung für die zweite im Hof an der Tafel, die er extra für die Führungen hier aufstellen lassen hatte. Sebastian musste lächeln, als er zusammenzuzählen versuchte, wie oft Onkel Thomas am Tag wohl „Glück zu“ sagte: 40 mal, 60 mal? Man sah es ihm nicht an, falls er dessen müde sein sollte.

Als Onkel Thomas mit den Kindern zum Wasserrad lief, überlegte Sebastian, was er mit sich anfangen könnte. Er hatte alle begrüßt, alles gesehen, was nun? Er hatte sich in der Mühle noch nie gelangweilt. Sollte jetzt der Zeitpunkt für das erste Mal gekommen sein? Zu dumm, dass sein Freund Paul erst am Abend Zeit für ihn hatte. Unschlüssig saß er auf den Stufen vor der Eingangstür zur Mühle. Ihm wollte absolut nichts einfallen. Nein, fernsehen konnte er jetzt nicht, dazu war das Wetter auch viel zu schön. Langsam kroch eine Idee aus seinem Kopf. Hm, das war nicht schlecht.

Er wollte gleich damit beginnen, für sich selbst und mit sich selbst eine Mühlenführung zu machen. Er hatte nichts von dem vergessen, was Onkel Thomas immer erzählte. Denn schon oft hatte er Kindergruppen durch die Mühle begleitet. Und Onkel Thomas erzählte immer so lustig, dass man sich vieles schon anhand der vielen Eselsbrücken merken konnte, die der Müller baute. Vielleicht gelang ihm seine Mühlenführung so gut, dass er dem Onkel zur Hand gehen konnte? Obwohl ihn der Gedanke ein wenig erschreckte, war er jetzt schon ganz stolz auf sich angesichts der vielen neidischen Blicke der Kinder, wenn er als rechte Hand des Müllers das Werkzeug hochheben oder die Wasserklappe ziehen durfte. Also los!

Er würde üben, so oft er konnte! Überzeugt davon, dass das d i e Sache war, postierte sich Sebastian vor der Wandtafel im Hof.

Sebastian in der Mühle

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