Читать книгу Die Neue Welt - Florian Hoffmann - Страница 13

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SAM LEE SITZT IM HOODIE IM WOHNZIMMER seines neuen Zuhauses in Miami. An der Ostküste ist es bereits ziemlich spät. Obwohl ich ihn im Dämmerlicht auf meinem Monitor nicht optimal sehen kann, entgeht mir nicht, wie braun gebrannt er inzwischen ist, wie relaxed. Als wir uns das erste Mal trafen, trug er noch die schicksten Klamotten und war ziemlich blass um die Nase.

Sam und ich lernten uns 2017 in China kennen, nahe der nordkoreanischen Grenze in Dalian. Wir waren beide zu einem Vortrag des chinesischen Premierministers eingeladen. Das Wetter war großartig und ich wollte die 800 Meter vom Hotel zum Konferenzzentrum nicht wie die anderen Teilnehmer:innen mit dem Bus zurücklegen, sondern zu Fuß. Ich merkte schnell, warum ich der Einzige war. Während die Busse die Checkpoints ohne Weiteres passieren durften, wurde ich alle zehn Meter von einem Sicherheitsbeamten aufgehalten und darauf hingewiesen, doch bitte etwas weiter rechts oder links zu laufen. Kurzum, der Premierminister wartete mit seiner Rede nicht auf mich – und weil ich nicht zu spät in den Raum platzen wollte, steuerte ich die nächste Kaffeebar an. Dort traf ich Sam, der sich ebenfalls entschlossen hatte, den offiziellen Part auszulassen.

Sam konnte auf eine Bilderbuchkarriere zurückblicken: gute Uni, danach Investmentbanker bei Goldman Sachs, dann Topposition im Management von WeWork. Zuständig für das Wachstum der Co-Working-Firma. Er war ständig unterwegs. Wir verstanden uns auf Anhieb gut und tauschten uns in den darauffolgenden Jahren regelmäßig aus. Über die WeWork-Kultur und, nachdem WeWork mehr oder weniger kollabierte, sowohl über seine freiberuflichen Projekte als auch sein Vorhaben: der wachsenden Gruppe von Freiberuflern in den USA zu helfen, erfolgreich ein möglichst selbstbestimmtes, berufliches Leben zu führen. Nicht zuletzt, weil er selbst unabhängig bleiben wollte und sich für ihn ein eindeutiger Trend abzeichnete.

Im Frühling 2021 wurde in den USA ein neues Phänomen beobachtet, das in Europa genauso sichtbar ist: »The Great Resignation«. Nachdem die Büros wieder eröffneten und viele Firmen ihre Mitarbeitenden aufriefen, wieder vom Büro aus zu arbeiten, passierte Unvorstellbares. Monat für Monat kündigten Millionen von Amerikaner:innen ihre Jobs. Monatlich um die vier Millionen. Im Dezember 21 sogar noch mehr. Und obwohl es in dem Land noch immer eine hohe Arbeitslosenquote gibt, sind diese Millionen von offenen Stellen nicht leicht neu zu besetzen. Mit so einer großen Verschiebung herrscht in vielen Branchen akuter Personalmangel. Allen voran Dienstleistung, Gesundheit, Transport und Logistik.

Während der Pandemie haben Millionen von Fachkräften gekündigt. Weil sie sich entschieden haben, ab jetzt für sich selbst zu arbeiten. Selbst zu bestimmen, womit sie ihr Geld verdienen und wie sie ihre Arbeit mit ihrem Leben in Einklang bringen wollen.

Sam Lee

Sam ist mitten im Thema. Er zeigt mir neue Statistiken und Hintergrundartikel über den Zoom-Bildschirm. Zum Beispiel geht Upwork, eine führende Jobplattform für Freelancer:innen, davon aus, dass zehn Millionen derer, die gekündigt haben, sich nicht mehr nach einem festen Job umschauen, sondern den Schritt in die Selbständigkeit gehen werden. Im Jahr 2021, zwinkert Sam, haben laut Hustler mehr Menschen gegoogelt »Wie ich ein Business starte« als »Wie ich einen neuen Job finde«. Hinzu kommt: Die Kündigungen reduzieren sich nicht auf die Bildungselite. Besonders in der Gastronomie, Hotellerie oder Pflege kamen Mitarbeitende nicht zurück. Zeit-Journalist Mark Schieritz, der mich unlängst für einen Artikel interviewte, spricht in diesem Zusammenhang von »der neuen Macht der Angestellten« und einem »Machtgefälle«, das sich »langsam zwar, aber spürbar« umkehrt. Ich sehe das ähnlich: Die Bedeutung der Führungskräfte für den Geschäftserfolg nimmt ab, während die Bedeutung der Mitarbeitenden zunimmt – vor allem, wenn Freelancer:innen und (selbstorganisierte) Projektgruppen statt etablierter Hierarchien das Arbeitsleben bestimmen.

Der große Sprung in die Selbständigkeit hat natürlich nicht nur etwas mit einer neu erlernten Flexibilität oder einer schwindenden Lust auf Angestelltendasein zu tun. Gerade im Dienstleistungssektor stagnierten bereits vor Corona die Löhne, es fehlten Perspektiven – und Menschen sahen sich aufgefordert, nicht nur über neue, berufliche Optionen nachzudenken, sondern auch über den Wert ihrer Arbeitskraft. Die Pandemie wirkte dann wie eine Zäsur: Aus »man müsste« wurde in vielen Fällen ein »ich will«. Freier arbeiten, unabhängiger, sinnorientierter, selbstbewusster.

Jetzt glüht der Zoom-Bildschirm. Sam führt aus, dass er am Anfang überrascht war – im Gegenteil zu den vielen Geschichten über Freelancer:innen –, mehr Geld bei weniger Zeitaufwand zu verdienen. Um seine Erfahrung und das Know-how anderer erfolgreicher Selbständiger weiterzugeben, hat er deshalb die Plattform IndeCollective gegründet mitsamt Ausbildungsprogramm. Dort lernen Freiberufler, wie auch sie ihre Nische finden, sich (nicht unter Wert) verkaufen und ihre finanzielle Zukunft planen. Denn klar ist: Der Shift von einem Vollzeitangestellten zu einer/einem selbständigen Unternehmer:in funktioniert nicht auf Fingerschnipp. Fähigkeiten, Know-how und Netzwerk lassen sich nicht eins zu eins übertragen.

Selbständig heißt nicht einsam.

Suche die Unterstützung der vielen, die deinen Weg stützen.

Dass Sam erfolgreich und zugleich entspannt ist, erkenne ich nicht nur an seiner gesunden Gesichtsfarbe. Sein Kollektiv hat regen Zulauf. Deshalb bringe ich ihn auch bald darauf mit weiteren virtuellen Gästen in einer Zoom-Sitzung zusammen. Es sind Führungskräfte aus großen Konzernen. Von der »The Great Resignation« haben die meisten noch nicht gehört. Sam führt sie durch die Neue Welt. Eine Welt, in der sich die gewohnt festen Arbeitsstrukturen auflösen. »Bei dieser Entwicklung«, so Sam, »müssen wir die Menschen sorgsam begleiten, um möglichst wenige unterwegs zu verlieren.« Zum anderen brauche es clevere Lösungen, mit denen sich die Zusammenarbeit von Menschen, die bereits heute unabhängiger und flexibler arbeiten (wollen), organisieren lässt.

Vielleicht denkst du jetzt, dass die Selbständigenquote in Deutschland immer noch die niedrigste in Europa ist. Und dass viele junge Menschen den sicheren Hafen der Festanstellung ansteuern. Doch der Aufbruch in die Neue Welt sucht Freelancer:innen und Festangestellte, Sinnsucher:innen und Sinnstifter:innen gleichermaßen. Ich reise deshalb wieder nach London und von dort aus virtuell nach Finnland. Dort will ich Menschen treffen, die in der Vernetzung kreativ sind. Denn mich interessiert, wie konkret die Neue Arbeitswelt schon ist.

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