Читать книгу Der Junge mit dem Feueramulett: Der heilige Vulkan - Frank Pfeifer - Страница 6

Unterwegs

Оглавление

Wallas schaute in den Sternen übersäten Nachthimmel. Um ihn herum rauschte der Wind durch das Winxgras, das ihm die Aussicht nach allen Richtungen verstellte. Es blieb ihn nur der Blick in den Himmel. Und in eine ungewisse Zukunft. Er hoffte, dass er sich mit dem Minas-Schwert nicht geirrt hatte. An dieser Waffe hing das Schicksal des gesamten Reiches. Freiheit oder weiterhin Tyrannei lagen auf der Waagschale. Und in den Händen eines unwissenden Jungen. Oder war selbst das nur sein eigener Wunschgedanke?

Er musste auf seiner Flucht vor den Schergen des Herrschers auf einer dieser Lichtungen gelandet sein, die sich wie von Geisterhand über Nacht in den Winxgrasfeldern bildeten. Vielleicht von betrunkenen Riesenkaninchen, die aus unerfindlichen Gründen im Rausch in exakten Kreisen im Gras herumhoppelten? Der alte Torak hatte davon gehört. Früher! Früher, als er selbst noch ein Geächteter war. Ein Abtrünniger. Verfolgt von den Häschern des Drachenkönigs. Der Verräter.

Das war lange her. Jetzt jagten ihn die Schergen Flanakans, dem er einst in die Große Schlacht gefolgt war. In die Schlacht der Ausgestoßenen gegen die Unterdrückung durch den Drachenkönig. Aber auch dem Drachenkönig hatte er einst gedient, Aidan. Allen war er untreu geworden. Wallas, der Untreue. Er musste lachen. Wie paradox. Alles wendet sich ins Gegenteil.

Wieviele Tage hatte er in einem der Verstecke des Widerstands in Conchar, der Hauptstadt des Reiches Haragor, ausgeharrt? Wallas wusste es nicht mehr. Stunden und Tage ohne Licht, ohne Morgen und ohne Abend, irgendwann hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Niemand war gekommen, um ihm Bescheid zu sagen, dass die Luft wieder rein war. Was war also aus Gsam geworden, seinem Mitstreiter? Hatten ihn die Schergen gefasst? Oder war er gar tot? Was hatte Gsam seinen Söhnen verraten? Oder waren die beiden Hitzköpfe Gsaxt und Gsark derart zerstritten, dass sie das gemeinsame Ziel aus den Augen verloren hatten?

Aber welches gemeinsame Ziel überhaupt? Sollte er das nicht wissen? War er nicht der Kopf der Bewegung in Conchar gewesen, die aus jugendlichem Trotz und Übermut entsprungen war, in einer Zeit, in der man als junger Torak denkt, dass man es mit der ganzen Welt aufnehmen kann? Falls man die wenigen Wesen, die sich hier zusammen getan hatten, überhaupt als Bewegung bezeichnen konnte? Nach Jahren und Jahrzehnten im sogenannten Widerstand war selbst er langsam müde geworden. Irgendwann gewöhnt man sich dann doch an alles. Dann gibt es eben Menschen und Toraks und andere Wesen und nicht alle haben nun mal die gleichen Rechte. Er konnte die Menschen, die voller Arroganz auf die massigen Toraks heruntersahen, sogar ein wenig verstehen. Verstehen ist vielleicht das falsche Wort. Er konnte nachvollziehen, dass sich manche Menschen in der Gegenwart von Wesen, die fast doppelt so groß und viermal so schwer wie sie selbst waren, unwohl fühlten. Und in ihrer Gleichmut hatten es die Toraks hingenommen, dass sich dieses Unwohlsein der Menschen ihnen gegenüber in Überheblichkeit und später in Ungerechtigkeit verwandelt hatte. Man arrangierte sich als geduldiger Nomade mit den scheinbar unabwendbaren Tatsachen. Den Schergen, den Wachen und ihrer Willkür. Dem unausgesprochenen Verbot, dem Schöpfergott Branu zu huldigen. Dann beugt man sein Haupt eben vor Goiba, der Göttin der Nacht. Ist ein braver Bürger. Hauptsache man hat abends einen Krug mit Schoff auf dem Tisch, mit dem man seine Sorgen hinunterspülen kann. Aber Flanakan und seine Oberpriesterin Tsarr hatten die Daumenschrauben immer enger angezogen. Man konnte es sich in seiner Nische einfach nicht bequem machen. Und seit einigen Jahren die Leibeigenschaft! Gerade für die jungen Toraks wie Gsams Söhnen war die Bedrohung unerträglich, für eine geringes Vergehen die Freiheit einbüßen zu müssen. Ein Mensch konnte sich selbst bei Schwerverbrechen freikaufen, einem Torak wurde für Kleinigkeiten das Joch aufgezwungen. Und dann war dieser Junge aufgetaucht, Kard! Ein Kind des Feuers. Solch einen Menschen hatte es zuletzt unter den Drachenkönigen gegeben. Nur dass die Drachenprinzen damals derart arrogant gewesen waren, dass sie auf alle anderen Wesen Conchars, nicht nur auf die Toraks, wie auf dreckige Würmer hinabgesehen hatten. Für ihn, Wallas, war Flanakan damals ein Held gewesen. Ein halber Vampyr, ein Bastard, ein Ausgestoßener, der es wagte, den überheblichen Herrschern die Stirn zu bieten. Aidan, der Gerechte? Das wurde er erst Jahrzehnte später, als die Wesen Haragors sich nicht mehr an ihn erinnern konnten und sie eine Geschichte brauchten, um der zunehmenden Drangsalierung Flanakans etwas entgegensetzen zu können.

Und hätte er jemals einen Gedanken an den Widerstand vergeudet, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass er eines Tages aufwachen würde und die Rauchsäulen seiner niedergebrannten Schmiede hinterherschauen würde? Er sah noch genau, wie der Rauch vom Wind erfasst wurde, von ihm in kleine Stücke gerissen und dann einfach zerfasert wurde, sodass nichts mehr übrig blieb?

Eigentlich war er im Grunde seines Herzens doch auch nur ein einfacher Torak. Wesen, die in den Jahrtausenden des Nomadentums gelernt hatten, Sturm, Kälte und Hitze gleichmütig zu ertragen. Und war der Widerstand im Grunde nicht doch nur jugendlicher Trotz, weil er tief im Herzen noch die Hoffnung hegte, dass er einen würdigen Platz in dieser Welt beanspruchen durfte? Jugendlicher Trotz? Wallas schnaubte verächtlich. Über hundert Jahre war er jetzt alt und handelte immer noch aus jugendlichem Trotz? Aber selbst jetzt hatte er, wenn er in seinem Versteck den Wind durch das Winxgras streichen hörte und in die Sterne sah, keine bessere Erklärung.

Und immer mehr hatte sich Flanakan, der Bastard, der Ausgestoßene, der es eigentlich besser wissen sollte, den Menschen zugewandt. Er hatte ihnen mehr Privilegien zugestanden und den Toraks und all den anderen Wesen diese aberkannt. Und so war der alte Wallas immer trotziger geworden. So wie andere Toraks und sogar einige Menschen, die ebenfalls sahen, dass hier ein Gleichgewicht gestört war. Eine Trotzbewegung.

Aber die meisten der geduldigen Toraks ertrugen doch lieber das Joch, als sich der Gefahr auszusetzen, dass man ihnen auch noch die letzten Bequemlichkeiten entriss. Mit der Gewissheit, dass es in jeder Wüste irgendwo ein Wasserloch gab, dass alle Stürme irgendwann verebbten, wenn man nur lange genug wartete. Und wartete und wartete und wartete. Und wartete und wartete und wartete. Und … irgendwann tot umfiel. Hauptsache mal landete nicht in einer von betrunkenen Riesenkaninchen niedergetrampelte Lichtung. Ohne Dach über den Kopf, ohne Schoff und gejagt von allen Schergen und Wachen des Reiches. Wallas stöhnte innerlich auf. War er denn noch zu retten? Was hatte er hier zu suchen?

Und war es richtig gewesen, alle Hoffnungen auf ein halbes Kind zu setzen? Kard war sicherlich kein gewöhnlicher Mensch. Seine magische Verbindung zum Feuer war unübersehbar. Aber würde er die Aufgabe meistern können, die er, Wallas, ihm zugedacht hatte? Würde er es bis zum Onchu schaffen, um das Minas-Schwert weihen zu lassen? Ein geweihtes Schwert, um sich damit gegen Flanakan zu stellen. Jetzt, alleine unter dem Sternenhimmel, kam ihm dieser Plan doch ziemlich einfältig vor.

Ein wirkliches Ziel hatte er selbst in diesem Moment auch nicht. Wohin sollte er gehen? Er wusste von anderen Unzufriedenen in anderen Städten. Aber die Verbindungen waren nur lose. Im ersten Augenblick fiel ihm niemand ein, zu dem er in dieser Situation fliehen konnte. In Conchar selbst gab es natürlich einige Toraks und Menschen, denen er vertraute. Aber nach Conchar zurückzukehren, wäre Selbstmord gewesen. Inwieweit sich der Widerstand außerhalb der Hauptstadt organisiert hatte, wusste er nicht genau. Es gab nur Gerüchte und Erzählungen, aber der Kontakt zwischen ihnen war noch nie besonders ausgeprägt gewesen.

Er würde in die Alte Stadt gehen! Sie war weit weg von Conchar und Flanakan und ihre Bürger standen im Ruf, sich ständig gegen die Repressalien des Herrschers aufzulehnen. Dafür patrouillierten in den Gassen auch dreimal soviel Wachen wie in Conchar und man musste wirklich aufpassen, keinem Spitzel in die Hände zu fallen. Überhaupt drehte sich in der Alten Stadt inzwischen alles nur noch um Argits, um das verführerische Klirren der Münzen. Nachdem Flanakan und Tsarr eingesehen hatten, dass sie aus der ehemaligen Hochstätte des Branu-Kultes keine mustergültige Goiba-Kolonie machen konnten, hatten sie der Stadt Lizenzen für das Glücksspiel gegeben. Ein gewiefter Schachzug. Denn in der ehemaligen und inzwischen verarmten Minenhochburg des Reiches, in dem nach der Großen Schlacht die meisten Zechen zum Stillstand gekommen waren, konnte sich Flanakan auf diese Weise als Heilsbringer feiern lassen. Und die Wesen, wenn er sie schon nicht mit der Ehrfurcht vor Goiba beeindrucken konnte, wenigstens mit ihrer Gier nach Geld und Gold an die Geschicke des Reiches binden.

Außerdem kannte Wallas in der Alten Stadt einige Erzhändler, da er dort schon einige Male selbst Nachschub für seine Schmiede in Conchar besorgt hatte. Und natürlich Tsarkoik, der Kopf des Widerstandes in der Alten Stadt. Wenn er noch lebte? Denn er war genauso alt wie Wallas. Spitzel gab es natürlich auch überall, er würde die Augen offen halten müssen. Aber Tsarkoik galt als ein unbescholtener Erzhändler, einer der wenigen, die auch mit Silber handelten und aus dessen Eisen man aus unerfindlichen Gründen ein gleichzeitig festes wie biegsames Metall herstellen konnte. Dies war zwar bestens geeignet für Küchenmesser aber man konnte auch Schwerter damit herstellen.

Damals, als er mit der alten Gova Kard im Waisenhaus der Goiba-Schwestern gefunden hatte, war Tsarkoik sein Gastgeber gewesen. Und das war ja in den Augen eines Toraks noch nicht so lange her. Vor sieben oder acht Jahren, keine Zeit für einen alten Torak. Also auf in die Alte Stadt, dachte Wallas, in diesen Morast aus Gier, Trunksucht, Spitzeln, Wachen und seltsamerweise einigen Freunden.

*

Kard war sich sicher, dass inzwischen nicht nur der Oberste Scherge des Reiches, Laoch, ihnen auf den Fersen war, sondern dass auch Amazonen und besonders die fischigen Ichtos ihre Spitzel ausgesandt hatten, um des Minas-Schwertes habhaft zu werden. Den Ganzkörperanzug, den er seit seiner Tätigkeit als Putzsklave bei den Amazonen trug, musste er in Klatschmünde irgendwie loswerden. Er könnte ihn aber als Schlafanzug behalten, überlegte Kard. Der Stoff war so kuschelig weich! Wenn er nicht nackt durch die Gegend laufen wollte, musste er sich allerdings noch eine Weile damit begnügen. Die Kapuze hatte er vorsorglich abgetrennt, und wenn er Ärmel und Hosenbeine hochgekrempelte, sah man auf den ersten Blick nicht, dass es die Arbeitskleidung eines Amazonensklaven war. Trotzdem ging ihr erster Gang in Klatschmünde in ein Bekleidungsgeschäft. Als er mit seinem Freund Odysseus zum letzten Mal hier gewesen war, hatte er nicht viel von der Stadt gesehen, da sie sich nur im Hafenviertel aufgehalten hatten. Als sie diesmal durch die Randgebiete die Stadt betraten, fiel ihm erst auf, welches Labyrinth die Gassen und Häuser bildeten. Zum Glück hatte er Madad an seiner Seite, der nicht nur immer gut gelaunt war, sondern dessen Nase ihm immer den rechten Weg wies.

Und Kard hatte von Odysseus gelernt. Madad hatte ihn zu einem Geschäft geführt, indem nicht nur Stoffe, sondern auch Frauenkleider angeboten wurden. Kaum hatten sie den Laden betreten, roch auch Kard den feinen Hauch von Parfum. Es erinnerte ihn entfernt an den Duft des Zinnobermoschus, mit dem Rosie sie vor den Dungratten gerettet hatte. Aber während sich Odysseus bei Kards letztem Besuch in einem ähnlichen Geschäft in eine waschechte Amazone verwandelt hatte, sollte es für Kard diesmal etwas anderes sein. Mit zusammengebundenen Haaren, verstellter Stimme und neuem Kleid konnte aus dem Jungen ein Mädchen werden. Aus dem Amazonensklaven Kard wurde nun die arme Waise Kardania, die mit ihrem Hund durch Haragor vagabundierte. Schön wäre es gewesen, wenn man Madad noch in ein Schaf oder ein Trüffelschwein hätte verwandeln können. Aber Madad wehrte sich heftig gegen die Idee, dafür einen Branu-Priester zu suchen, der einen Verwandlungszauber anwenden könnte. Einerseits wäre das wohl angesichts ihrer zusammengeschrumpften Reisekasse unerschwinglich gewesen, andererseits sah man auch in Conchar manchmal die Ergebnisse eines missglückten Zauberspruchs. Wesen mit zwei Köpfen oder drei Armen oder manche mit scharlachroter Haut, Opfer missglückter Experimente eines Feuer-Magiers. Und ein in ein Schaf verwandelter Madad mit zwei Köpfen, der Kard von morgens bis abends mit fürchterlichen Flüchen belegen würde – was konnte es schlimmeres geben? Schließlich war das Ziel des Unternehmens, unerkannt zu bleiben, um etwaige Verfolger abzuschütteln. Ein fluchendes Trüffelschwein wäre diesem Zweck nicht dienlich gewesen.

Doch um die Weiblichkeit von Kard noch ein wenig zu verstärken, gingen sie dann doch zu einer Credna-Gova, die nicht nur Wangenrot und Belladonna-Augentropfen anbot, sondern auch Haarwaschmittel und Achselodem. Hier fand Kard Pillen, die laut Packungsbeilage versprachen, aus wild gekräuselten Locken schöne lange glatte Haar zu machen. Ideal für ihre Zwecke. Er wäre nicht mehr der Jüngling mit dunklen lockigem Haar, sondern das arme Waisenmädchen mit langer schwarzer Mähne.

Das Minas-Schwert landete wieder versteckt in einem Bündel auf seinem Rücken und nun war Kardania mit ihrem treuen Hund bereit für die Reise. Jetzt mussten sie sich nur noch überlegen, wie sie zur Alten Stadt kamen. Fest stand, dass sie keines der Ichto-Taxis nehmen wollten und Amazonen wollten sie in Zukunft auch aus dem Weg gehen. Inzwischen hatte sich der Tag seinem Ende zugeneigt und das arme kleine Waisenmädchen hatte beschlossen, sich ein geschütztes Plätzchen irgendwo in einer Seitengasse zu suchen, in dem der Wind Laub und Staub in einer Ecke zu einem halbwegs weichen Lager aufgetürmt hatte. Kardania, den Kopf auf ihren treuen Hund gebettet, ließ gerade erste Schnarchlaute erklingen, als eine Stimme zu vernehmen war.

»Schau das arme Ding. Mutterseelenallein. Und so ein süßer Hund.«

»Ja, ja, komm schon, Magdalena. Lass sie schlafen. Der geht es gut.«

Kardania öffnete vorsichtig eines ihrer Augen, aber nur unmerklich, und sah eine freundlich blickende Frau mit roten Bäckchen und daneben einen missmutig blickenden Mann, der ein wenig hin und her schwankte. Wahrscheinlich hatte seine Frau ihn gerade aus einer Wirtschaft abgeholt.

»Aber Schnäuzelchen, hast du die Gebote Crednas vergessen? Willst du das Mädchen hier in der Kälte allein lassen?«

»Ist gar nicht so kalt. Und die hat doch ihren Hund. Schau mal, das ist doch ein Riesenvieh, der wird schon nichts passieren.«

»Schnäuzelchen, das kann ich nicht zulassen. Bei Credna, unserer Schutzpatronin. Diese Nacht, sicherlich hat Goiba unseren Weg gelenkt, werden die beiden ein richtiges Dach über dem Kopf haben.«

»Magdalena, dein großes Herz macht aus unserem Haus noch eine Armenherberge. Letzte Woche der kleine Junge, der Ausreißer, weißt du noch. Davor diese schwangere Frau, die dann gar nicht mehr gehen wollte, bis plötzlich ihr Mann mit seinen drei Brüdern vor der Tür stand. Und jetzt dieser Balg? Vielleicht ist sie eine gesuchte Verbrecherin? Und die Schergen stehen morgen früh in unserem Haus?«

»Bei Goiba, Credna und Luchta – was bist du doch für ein Schwarzseher! Schau dir das Mädchen an. Es ist hungrig und friert. Was sollte die mit den Schergen am Hut haben? Nicht wahr, meine Kleine?«

Kardania, die inzwischen ihre Augen geöffnet hatte und dem Gespräch der beiden interessiert gefolgt war, nickte heftig. Ein warmes Bett heute Nacht? Vielleicht noch eine Suppe? Vielleicht wird doch noch alles gut?

»Ich…«, Kard musste sich räuspern, um seine Stimmlage einige Oktaven heller klingen zu lassen, »ich bin nur ein armes Waisenmädchen. Wir wollen zur Alten Stadt, da habe ich Verwandte.«

»Ach, die Alte Stadt, ja.« Der Blick des Mannes verklärte sich, offensichtlich wallten Erinnerungen an seinen letzten Besuch dort auf. Diese Gedanken ließen ihn verträumt mit dem Kopf wackeln und er handelte sich damit einen Ellbogenstoß seiner Frau in die Rippen ein. »Äh, ja, die Alte Stadt, ein gefährliches Pflaster. Sünde. Überall Sünde. Nichts für kleine Mädchen, sage ich dir. Wirklich nichts für kleine Mädchen.«

»Aber sonst weiß ich nicht wohin, werte Herrschaften.« Kard versuchte sich in einem entschuldigenden Augenaufschlag.

»Thomasius. So kannst du mich nennen. Sag ja nur. Kein gutes Pflaster dort.«

»Auch nicht für ältere Herren, nicht wahr, Schnäuzel-chen.«

»Ach, ich weiß nicht…«

»Wie auch immer. Sicherlich habt ihr nichts gegen ein warmes Bett und etwas zu Essen einzuwenden, bevor es in diesen Sündenpfuhl geht. Und da hat mein Mann wirklich recht. Das ist kein Ort für ein junges Mädchen. Ich hoffe, deine Verwandten gehen dort einer seriösen Beschäftigung nach.«

»Schmied, mein Onkel ist Schmied«, beeilte sich Kardania zu sagen und sie lauschte verwundert dieser piepsigen Stimme, die da aus ihrem Mund kam.

»Nun gut, das hört sich seriös an. Es gibt da soviel Sünde, wisst ihr. Glücksspiel zum Beispiel! Nicht wahr, Schnäuzelchen?«

Magdalena warf ihrem Mann einen bösen Blick zu. Thomasius lächelte gequält. »Ja, aber auch… Schmiede… und Erzhändler… und Holzhändler…«

»Genau, du warst ja beim Holzhändler, das hatte ich vergessen. Und nur böswillige Branu-Govans und das Schicksal ließen dich in diese Spielhölle fallen.«

»Ach, Magdalena, komm, das ist doch jetzt wirklich schon eine Weile her.«

»Sieben Jahre. Sieben Jahre, in denen ich jeden Tag zu Credna gebetet habe, dass meine Liebe zu dir so stark ist, um deine Schwächen mitzutragen. Sieben Jahre!«

»Ist gut, die beiden können mit«, unterbrach Thomasius seine Frau, bevor sie in ein Klagegebet verfiel, mit dem sie ihm dann vielleicht die ganze Nacht in den Ohren lag. Er drehte sich um, Magdalena gab Kardania ein Zeichen und dieses unschuldige Mädchen und ihr Hund folgten den guten Leuten durch die Gassen, bis sie vor einem kleinen Haus standen. Das muss eine Glückssträhne sein!

›Tische, Stühle und Schränke‹ war auf einem Schild neben der Eingangstür zu lesen, die in die Werkstatt des Tischlers Thomasius führte. Die Werkstatt selbst war nicht groß, ein Arbeitstisch, ein seltsames Gerät, das ihnen der Mann stolz als Tischbohrmaschine vorstellte, und einige Stühle, die zum Abholen bereit an der Wand standen, füllten fast den gesamten Raum aus. In einer kleinen Kammer hinter der eigentlichen Werkstatt waren die Späne zusammengefegt worden und ergaben so ein halbwegs weiches Lager. Bevor sich Kard und Madad aber dort zu Ruhe legen konnten, bedeutete ihnen Magdalena ein Stockwerk höher zu kommen und bot ihnen dort noch einen Teller warme Suppe an. Und für Madad gab es sogar einen alten Knochen, auf dem der Cu dann mit verdrehten Augen, ihre Gastgeber aber freundlich anlächelnd, herumkauen durfte. Bevor sie hinunter in die heimelige Kammer gingen, bedankte sich Kardania vielmals. Und Magdalena lächelte und war glücklich, diesem armen Wesen helfen zu können. Und sogar der griesgrämige Thomasius musste die Mundwinkel verziehen, als diese ungezogene Göre herzhaft rülpste.

Unten in der Kammer kuschelte sich Kardania mit ihrem Hund in die Späne. Auch wenn es ein wenig kratzte, war es warm, trocken und windgeschützt.

»Mädchen sein ist gar nicht so schlecht, Madad.«

»Meinst du, die guten Leute hätten uns nicht mitgenommen, wenn du nicht verkleidet gewesen wärst.«

»Glaube nicht. Aber wer weiß. Aber da du von Verkleidung redest. Ich wollte noch die Pillen nehmen. Dauert ja bestimmt eine Weile bis die wirken. Dann bin ich noch mehr Mädchen, ich glaube, das ist nicht schlecht. Lange glatte Haare, ein bisschen unschuldig gucken, und schon haben wir Suppe und Bett. So lässt es sich gut reisen.«

Kard holte die Pillen hervor und betrachtete die kleinen schwarzen Kapseln. »Ich nehme am besten gleich zwei. Dann wirkt es vielleicht schneller.« Er führte die Hand zum Mund und wenige Augenblicke später weiteten sich seine Augen vor Überraschung.

»Du, Madad, die schmecken richtig gut. Ich weiß nicht genau nach was, irgendwie süß. Kleben zwischen den Zähnen. Aber wirklich, wirklich lecker.«

»Echt?«

»Ja, klar, probier mal.«

»Yo, kann ja nicht schaden, mal eine zu probieren, oder? Mama sagt immer: Probieren geht über studieren.«

»Eine weise Frau, deine Mama.«

Madad schlabberte eine Pille vom Boden, die Kard ihm dort hingelegt hatte.

»Hm, du hast recht, wirklich lecker. Nach Anis, würde ich sagen.«

»Anis? Noch nie gehört.«

»Macht Mama immer zu diesem Fest, wo die Menschen Kerzen auf einen Baum stecken.«

»Echt? Kenne ich nicht. Obwohl, damals im Waisenhaus gab es, glaube ich, auch so was. Aber daran kann ich mich kaum noch erinnern. Bei Wallas gab es das auf jeden Fall nicht. Ist ja auch voll gefährlich. Kerzen auf einem Baum. So ein Quatsch. Echt lecker, die Pillen, oder?«

»Ja, lecker, gib mal noch eine her.«

Und ehe sie sich versehen hatten, hatten die beiden die komplette Packung geleert. Bevor Kardania dann die Augen zufielen, streifte ihr Blick noch einmal die Pillenschachtel. 3-Monate-Vorratspackung stand da. Ach egal, wenn die jetzt schon alle sind, ich komme ja auch so als Mädchen durch.

Hatte Kard wunderbar geschlafen! Er wollte gar nicht die Augen aufmachen. Wann hatte er zuletzt so wunderbar weich in einem Bett gelegen? War er überhaupt schon einmal in seinem Leben mit diesem samtweichen Gefühl aufgewacht? Kard rekelte sich wohlig in den Holzspänen, die an diesem Morgen überhaupt nicht mehr kratzten. Er öffnete die Augen. Aber seltsamerweise blieb alles dunkel. Hatten sie die Fensterläden gestern Abend noch geschlossen? Und konnten sie so dicht sein, dass kein Schimmer Tageslicht in die Kammer fiel? Und was kitzelte ihn da an der Wange? Kard hob die Hand, um sich zu kratzen und landete in einer weichen, strähnigen Masse. Und während sich seine Finger automatisch durch diese Masse wühlten, um an die juckende Stelle heranzukommen, zupfte es an seiner Kopfhaut. Aha, das sind also meine Haare, dachte er in seinem halbwachen Kopf. Er strich sich die Strähnen aus dem Gesicht und schon lichtete sich die Dunkelheit.

»Hey, Madad, bist du wach?«

Kard wollte seinem Freund erfreut die langen Haare zeigen, bekam aber vor Schreck einen halben Herzanfall, als sich neben seiner Lagerstätte ein abscheuliches Wesen erhob und dumpfe Laute von sich gab. Wie eine Trauerweide, die von magischer Hand emporgehoben wurde. Nur dass dieses Wesen statt mit Ästen und Blättern über und über mit dunklen Strähnen überzogen war. Das Untier zitterte heftig unter seiner pelzigen Last. Was, bei Branu, ist das für ein Monster? Kard sprang auf, wollte zur Tür hasten, aber unbekannte Kräfte zogen an seinem Körper und brachten ihn zu Fall. Er konnte sich wieder hochrappeln, erreichte die Tür, öffnete sie und konnte einen Schritt in die Werkstatt tun, als ihn die Schreie von Thomasius und Magdalena, die gerade die Treppe herunterkamen, stutzen ließen.

»Was ist das für ein Untier?«, schrie er die beiden an. Doch Thomasius und Magdalena sahen ihn an und statt ihm zu helfen, schrieen sie noch lauter. Dann hasteten sie die Treppe herunter, öffneten mit einem Schwung, der die Grundfesten des Gebäudes erzittern ließ, die Haustür und flohen vor dem Grauen, das sich ihn dargeboten hatte. Zum Glück hörte Kard nun hinter sich die vertraute Stimme von Madad.

»Was…wer… bist du?«

Kard drehte sich um, froh, dass sein Freund von dem Untier nicht gefressen worden war, und wollte Madad eigentlich warnen. Aber mit Entsetzen stellte er fest, dass nicht Madad, sondern das haarige Untier hinter ihm stand und auf seltsame Art mit dem Cu verschmolzen war, denn zwischen den Haaren erblickte er die unverkennbaren Augen seines Freundes. Und auch die Stimme war eindeutig die von Madad. Welcher böser Zauber ist hier am Werk?

»Madad? Was ist mit dir passiert? Du, du… bist du verzaubert? Das bist doch du? Oder bist du ein Dämon, der uns von Branu und seinen Brüdern geschickt worden ist?«

»Also Mama sagt immer, dass Goiba die schlimmste Hexe ist. Warum sollte uns Branu verzaubert haben?«

»Wieso wir? Also bist du es? Du bist Madad? Mein lieber, echter Madad?«

Erleichtert wollte Kard auf seinen Freund zugehen, um ihn zu umarmen, aber er verfing sich in irgendetwas und landete der Länge nach auf dem Bauch.

Madad lachte. Was bitte schön war daran komisch?

»Yo, Kard, wie du aussiehst!« Madad, oder dieses haarige Bündel, das sich als Madad ausgab, verformte sich zu einer Fellkugel und rollte lachend über den Boden. Kard fand das nicht witzig. Zum Glück war er weich gefallen. Aber als er aufstehen wollte, fiel er gleich schon wieder hin. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als ob ihn jemand an den Haaren gezogen hätte. Wütend wollte er sich umdrehen, um dem hinterlistigen Angreifer Paroli zu bieten, aber da war niemand. Stattdessen fiel er wieder hin. Es war wie verhext. Ein Schreck durchlief ihn. Hat Tsarr uns gefunden und mit einem Fesselzauber belegt?

»Madad, was ist hier los. Sind wir verhext worden.«

Das rollende Fellbündel kam zum Stillstand, dann erscholl aus diesem Haarberg das unverkennbare Lachen des Cus.

»Nein, Kard. Ich befürchte, wir haben uns selbst verhext.«

»Wie, was? Was meinst du?«

»Einmal tief durchatmen und nicht bewegen?«

»Nicht bewegen?«

»Genau! Und jetzt ganz langsam den Kopf drehen?«

Kard schob sich die Haare aus dem Gesicht und folgte Madads Ratschlag. Ganz langsam bewegen. Es ziepte schon wieder auf seiner Kopfhaut. Vielleicht hatten sich winzige Vampyre in seinem Haar ein Nest gebaut und zogen nun daran?

»Und was siehst du?«

Kard sah an sich herunter. Und um sich herum. Überall Haare. Lange, schwarze Haare. Welch schlimmer Zauber hat mich in dieses Gefängnis gesperrt?

»Haare, Madad, überall Haare«, flüsterte Kard sichtlich schockiert.

»Genau, Kard. Haare. Und zwar deine eigenen.«

»Äh, wieso…?«

Langsam dämmerte es Kard. Das Haarwuchsmittel. Das leckere Haarwuchsmittel. Das leckere MAGISCHE Haarwuchsmittel. Als ihm diese Erkenntnis kam, musste er sich erstmal setzen. Natürlich. Das waren seine eigenen Haare. Er war sich dauernd selbst auf die Haare getreten und daher hingefallen. Kein Wunder, dass der Tischler und seine Frau die Flucht vor ihnen ergriffen hatte.

»Ist vielleicht ganz gut so?«

Wie schafft es Madad nur, immer so fröhlich zu klingen?

»Wieso gut, Madad? Wie sind Haarmonster. Schau dich mal an. Überall Haare. Wir sehen ja aus wie wandelnde Riesenperücken.«

»Genau. Und das ist doch nicht schlecht. Ich glaube nicht, dass Laoch oder jemand anderes nach zwei wandelnden Riesenperücken sucht. Oder?«

Da hatte Madad natürlich recht. Das war ein Vorteil. Aber auch der einzige.

»Aber ich kann ja noch nicht einmal zwei Schritte gehen, ohne über die eigenen Füße… äh Haare zu fallen. So kommen wir nie zur Alten Stadt.«

»Das stimmt.« Jetzt wirkte auch Madad etwas ratlos.

»Aber ich habe eine Idee. Wir gehen zu dieser Credna-Priesterin zurück und die soll uns ein Haarschrumpfmittel verkaufen. Muss es doch geben, oder? Wenn es Haarwuchsmittel gibt, muss es auch Haarschrumpfmittel geben!« Zwischen seinen Haaren blickte Kard seinen Freund verzweifelt an. Er würde doch jetzt nicht bis ans Ende seines Lebens als Riesenperücke herumlaufen müssen? Der Fellhaufen schüttelte sich, anscheinend hatte Madad genickt.

»Das machen wir, Kard. Gute Idee. Aber ich finde, wir sollten das als Zeichen des Schicksals sehen. So wie wir jetzt sind, erkennt uns keiner. Ich könnte mir vorstellen, dass man einen ganz anständigen Wahter aus dir machen könnte. Überall Haare und so groß bist du auch nicht. Und ich bin ein zahmer Faol! Die Wahter könnten zahme Faols haben. Für die Jagd. Oder als Abschreckung. Das weiß hier doch auch keiner.«

Kard überlegte. Madads Plan könnte klappen. Die Wahter lebten im Dunklen Wald am Fuße des Drachengebirges. Es waren kleine, scheue Waldmenschen, die man nur selten in den Städten sah. Das wäre eine gute Tarnung. Trotzdem brauchten sie auch dieses Haarschrumpfmittel. Wer weiß, wie viel ihre Haare sonst noch wuchsen? Am Ende würden sie die ganze Stadt noch mit ihren Haaren überfluten.

Nachdem sie ihre Mähne notdürftig gestutzt hatten, verließen Kard und Madad das Haus des Tischlers und machten sich auf zu der Credna-Gova, die ihnen das Mittel verkauft hatte. In dem kleinen Laden stapelten sich in den Regalen dutzende von Schälchen und Kästchen mit undefinierbaren Ingredienzien. Eine Unzahl verschiedenster Parfums, Haarfärbemittel oder Pinsel in allen Größen wurde genauso zum Kauf angeboten wie Pasten und Pillen zur Verschönerung der äußeren Erscheinung. Der helle Schrei der Gova unterbrach Kards Verwunderung über die Mannigfaltigkeit des Angebots. Als Kard und Madad den winzigen Laden betreten hatten, war die Gova gerade nicht hinter dem Verkaufstresen gewesen, sondern hatte im Dunkel dahinter fluchend in irgendwelchen Kisten gewühlt. Offensichtlich hatte sie nicht bemerkt, wie die beiden riesigen Haarbüschel den Laden betreten hatten, denn als sie jetzt den Verkaufsraum wieder betrat, hatte ihr der Anblick der haarigen Wesen einen riesigen Schreck versetzt. Die Gova, eine kleine Menschenfrau mit ersten grauen Strähnen, trug ein einfaches dunkelblaues Kleid, das mit vielen roten Herzen bestickt war.

»Du bist… du bist doch die…?« Weiter kam die Gova nicht, denn eine Lachsalve schüttelte sie derart, dass die tausend Herzen auf ihrem Kleid wild durcheinander hüpften.

Jetzt meldete sich auch Madad zu Wort. »Yo, also sooooo lustig ist das nicht.«

Kard gab dem zweiten Haarbüschel einen Tritt und Madad verstand und hielt fortan die Schnauze. Es musste nicht jeder wissen, dass sich hier ein Cu versteckte. Die Gova schien bisher noch nicht bemerkt zu haben, dass sich unter den Haaren zwei Wesen versteckt hatten.

»Aaah, haaa, aaah, haaa.« Die Frau hielt sich den Bauch und kam aus dem Prusten gar nicht mehr heraus. »Das hatte ich schonmal, ist aber schon eine ganze Weile her. Du musst mir gar nichts sagen. Ich weiß schon. Die ganze Packung. Aaah, haaa, aaah, haaa.«

Kard kam sich ganz schön dumm vor und war froh, dass die Haare sein ganzes Gesicht bedeckten. Wahrscheinlich war er darunter rot wie eine Tomate.

»Und…äh…?«

»Ja, ja, ich weiß schon. Ein Gegenmittel, ha, ha, ha. Du hast Glück, junge Frau. Weißt du, wir Frauen rennen immer einem Ideal hinterher und sind nie mit uns so zufrieden, wie wir sind. Die einen haben zu kurze Haare, die anderen einen zu dicken Bauch, die einen sind zu groß, die anderen zu klein. Und für alles habe ich ein Mittelchen. Weißt du, Mädchen. Liebe ist eine Illusion. Wir machen uns schön für unser Spiegelbild und für die Männer und am Ende glauben wir an die von uns selbst geschaffene Illusion. Mir soll es recht sein, ist mein Geschäft. Und für die, die schönes wallendes Haar haben wollen, gibt es Haarwuchsmittel und für die, denen Damenbart und Haare auf den Beinen nicht gefällt, gibt es auch verschiedene Mittelchen. Lass uns mal schauen.« Immer noch vor sich hin glucksend führte die Gova die behaarte Kardania zu einem Regal und holte, nachdem sie die verschiedensten Aufschriften durchgegangen war, ein Kästchen hervor.

»Aber diesmal nicht alles auf einmal nehmen. Verstan-den?«

Das Haarbündel nickte und Kard las leise die Aufschrift. »Grottenolmextrakt. Nur bei Neumond einnehmen.«

»Genau. Nur bei Neumond. Und diesmal würde ich dir raten, dich auch daran zu halten. Kennst du Grottenolme?«

Die Haare schüttelten sich.

»Sie leben tief in den Höhlen von Schtalyr, der Heimat der Vampyre. Kein Lichtstrahl dringt je in ihren Lebensbereich. Wird ein Grottenolm auch nur wenige Augenblicke dem Licht, dem Fluch Branus, ausgesetzt, dann schmilzt seine Haut wie Eiszapfen in der Sonne.« Mit vielsagendem Blick schaute die Gova auf die starre Riesenperücke vor ihr. »Und wenn du so dumm bist, eine dieser Pillen nicht in der dunkelsten Nacht der dunkelsten Nächte zu nehmen, wird sich deine Haut auflösen wie die eines Grottenolms.«

Die Gova wartete, bis sich die schaurige Wirkung ihrer Worte auch schön in Kards Gehirn eingeätzt hatte.

»Angesichts der Beschwerden kannst du dann aber gleich drei dieser Pillen nehmen. Normalerweise nimmt man nur eine. Aber du bist… ein Sonderfall.« Schon wieder musste die Gova lachen und verbarg dies nur schlecht hinter ihrer hohlen Hand.

Kard war das Lachen vergangen. So ein Mist, das alles hier. Er nahm die Pillen und dann machten sich er und Madad so schnell wie möglich aus dem Staub. Die Kosmetik- und Schönheitsartikelverkäuferin sah verwundert, wie sich im Dickicht der großen Perücke noch ein zweites Wesen zu bewegen schien. Nachdem sie wieder allein war, bildete sie sich ein, dass ihr Laden nach nassem Hundefurz roch. Aber im Lauf der Jahre hatte ihr die Nase auch schon so manchen Streich gespielt, sodass sie hier keinen weiteren Gedanken verschwendete.

Es mag unheimlich unpraktisch sein, mit so langen Haaren durch die Gegend laufen zu müssen. Dauernd stolpert man darüber, bleibt an jeder Ecke damit hängen und wird von den Leuten komisch angeguckt. Aber es hatte eben auch seine Vorteile. Niemand erkannte einen! Kard und Madad waren einfach zwei wandelnde Wischmopps. Sie waren weder Mensch noch Torak noch Cu noch Hund. Die meisten hielten sie tatsächlich für Wahter, die man derart selten zu Gesicht bekam, dass niemand genau sagen konnte, wie sie aussahen. Da die Wesen bestrebt sind, alles Unbekannte in Bekanntes zu verwandeln, waren Kard und Madad nun eben langhaarige Wahter. Da den beiden dies absolut recht war, hatten sie sich auch entschlossen, die Haare nicht vollkommen abzuschneiden. Jeder weiß ja, dass Haare um so schneller wieder nachwachsen je öfter man sie rasiert. Immerhin hatten sich die beiden entschlossen, die Haare dann auf Fußhöhe zu kürzen, damit sie wenigstens ohne großes Stolpern durch die Welt kamen. Aber bereits mittags waren die Pracht auf eine Länge gewachsen, dass sie sich beim Gehen vorsehen mussten.

Aber wie kamen sie jetzt in die Alte Stadt, ohne dauernd über die eigenen Füße zu fallen? Da sie dank ihrer Haarpracht quasi inkognito reisten, konnten sie nun auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen. So konnten sie als Deckmatrosen auf einem Frachtschiff anheuern, das die Klatsch bis zum Wasserfall befuhr, der sich aus der Hochebene von Asch-by-lan herabstürzte. Denn sie waren die besten Deckschrubber weit und breit. Indem sie einfach mit den Füßen über die Planken schlurften und die eigenen Haare dabei als Putzlappen benutzten, erzielten Kard und Madad eine Sauberkeit, die dieses Frachtschiff, die Morana, bisher noch nicht kennengelernt hatte. Zweimal am Tag kürzten sie ihre Haare beziehungsweise diese matschige, verklebte Pampe, zu denen die Haarenden sich inzwischen verwandelt hatten, und legten ein kleines Päuschen ein. Die reichte aus, damit wieder putzfähiges Material nachwachsen konnte. Zwar blieben sie oft an Astlöchern und Kerben hängen und erfreuten die Mannschaft dann mit Jaulen und Flüchen, aber nach einer Weile hatten sie ein Tempo und ein Haarspitzengefühl, dass sie diese Unannehmlichkeiten großteils vermeiden konnten. Der Kapitän der Morana, ein Torak namens Kslam, der in seinem ganzen Leben noch nie weiter als bis zu den Klatschfällen gereist war, war ganz begeistert von den Wathern, die er nun an Bord hatte.

Madad wusste, natürlich von Mama, dass die Wahter eine dunkle, singende Stimme hatten, also versuchten sich die beiden in solch einer Tonlage. Am Abend ihres ersten Tages, als die zwei Bos-Ochsen, die das Schiff gegen die Strömung zogen, abgeschirrt und die Morana am Ufer vertäut war, versammelte sich die Mannschaft um die beiden augenlosen Riesenperücken, um alles aus dem Leben der Wahter zu erfahren. Kard war ein wenig hilflos, denn er wusste selbst ja nichts über die richtigen Wahter. Außer eben, dass es kleine behaarte Wesen waren, die tief in den Wäldern des Drachengebirges hausten. Aber der kleine Bucklige, so nannte die Mannschaft Madad, die nicht sehen konnte, was sich hinter dem Haarvorhang tatsächlich befand, wusste natürlich, dank Mama und einer übersprudelnden Fantasie, doch einiges zu berichten.

»Nein, nein«, sang Madad in dunklem Bariton, jede Silbe so lange wie möglich hinziehend, »wir sehen nicht alle so aus. Wir haben eine Wette verloren.« Pause, Pause, Pause. Alle Vokale nachklingen lassen. Pause. Pause. Pause. Die Mannschaft war ganz Ohr. »Natürlich ging es um ein Mädchen.« Ein Mädchen? Oh, jetzt wurde es interessant. Die Mannschaft, die wie der Namen ja schon sagt, aus lauter Männern, Toraks, Menschen und sogar einem Ichto-Lotsen, bestand, platzte vor Neugier. Einer wagte es sogar, eine Frage zu stellen. In Bemühen, sich dem Sprachtempo der vermeintlichen Wahter anzupassen, sprach der Matrose sehr, sehr, sehr langsam.

»Also gibt es bei euch auch Mädchen?«

Pause.

Pause.

Pause.

»Ja.«

Pause.

Pause.

Pause.

»Aha.«

Madad erfand dann eine dramatische Geschichte, in der er sich mit dem Langen, so hatte man Kard dann hier an Bord getauft, um die Gunst eines Mädchens stritt. Um sie zu beeindrucken habe er, der Bucklige, behauptet, dass er es wagen würde, sich über den Waldrand hinaus zu trauen und bis in die Alte Stadt zu gehen. Etwas, was jeder normale Wahter tunlichst vermied, auch wenn die Alte Stadt die einzige Ansammlung fremder Wesen war, die sie überhaupt besuchten. Aber der Lange hier, hatte ein große Klappe. Jedenfalls wenn es um Mädchen ging, nicht wahr? Kard ließ ein Grunzen vernehmen, das man als Zustimmung werten konnte. Der hätte dann behauptet, dass er sich sogar bis auf die Hochebene vor der Alten Stadt wagen würde. Man musste sich das mal vorstellen. Nirgends ein Baum oder ein Felsen, auf den man klettern konnte. Nur dieses flache Land, ab und zu ein Strauch oder eventuell ein vereinzelter Baum. Sonst diese Leere. Diese Weite. Ein Alptraum für jeden Wahter. Schließlich hätten die beiden sich derart hochgeschaukelt, dass man am Ende lauthals verkündete, man würde sich bis ans Meer trauen. Bis nach Klatschmünde. Nur die großen Helden der Wahter hatten das bisher gewagt. Und ein paar Händler. Und ein paar Abenteurer. Und der Onkel des Schwiegervaters der Tochter von dem einen, von dem sie mal gehört hatten. Aber vor allen Dingen die Helden. Und leider hätte dieses Mädchen mit den mandelbraunen Augen und dem samtweichen Fell sie nicht etwas angstvoll zurückgehalten und sich allein an ihren Worten ergötzt. Nein, dieses wunderhübsche aber völlig mitleidlose Mädchen wollte, dass den Worten nun auch Taten folgten. Und der ganze Stamm schien das ebenfalls zu erwarten. Also war ihnen nichts weiter übrig geblieben, als loszuziehen. Hinaus aus dem schützenden Wald, hinaus auf die leere Ebene und bis zu diesem schrecklichen, schrecklichen Meer, dessen schiere Unendlichkeit sie bis in ihre tiefsten Träume nun verfolge. Zum Glück habe ihr Govan, jeder weiß, dass die Wahter eher Branu zugeneigt sind, ihnen diesen Haarzauber verpasst. So mussten sie nicht dauernd in die Leere schauen, sondern konnten sich in ihr eigenes Dunkel zurückziehen, was sie an die Heimeligkeit ihres schützenden Waldes erinnerte. Daher die langen Haare, dessen Wachstum tatsächlich magisch sei. Nein, nicht alle Wahter sähen aus wie sie, etwas kürzer wären die Haare normalerweise schon. Die Hälfte der Mannschaft schnarchte schon, als der Bucklige endlich endete. Aber die, die noch wach waren, nickten verständnisvoll. Ja, man soll den Mund nicht zu voll nehmen. Das konnte ein böses Ende nehmen.

Ganze sieben Tage dauerte es, bis die Bos-Ochsen es geschafft hatten, die schwere Morena gegen die Strömung bis zu den Klatschfällen zu ziehen. Die Deckplanken glänzten, als käme das Schiff frisch aus der Werft. Niemand wollte mehr Wahtergeschichten hören. Jeden Abend dieser gleiche monotone Singsang, die Mannschaft hatte jetzt wirklich genug und betrachtete abends doch lieber die schweigenden Sterne.

Während Kslam bald wieder mit neuer Ladung zurück nach Klatschmünde fahren würde, mussten sich Kard und Madad nun eine neue Mitfahrgelegenheit zur Alten Stadt suchen. Zuvor aber freuten sie sich, dass diese Nacht endlich Neumond war und sie nun endlich das Haarschrumpfmittel einnehmen konnten. Da die Nacht lauwarm zu werden versprach, suchten sie sich ein Lager im Freien, ein wenig abseits vom Umschlagplatz, denn auch nach Sonnenuntergang wurde weiterhin Ladung gelöscht oder die leeren Schiffe mit neuer Ware beladen. Im schummrigen Licht der Abenddämmerung las Kard nochmals genau den Beipackzettel. Die Gova in Klatschmünde hatte ihnen eingeschärft, diesmal wirklich alles genau nach Vorschrift zu machen, da sonst unerwartete Nebenwirkungen auftreten könnten. Kard und Madad hatten erstmal genug von allen Nebenwirkungen und waren erpicht darauf, alles genau nach Vorgabe zu erledigen. Da Madad zwar wie ein Buch reden aber nicht lesen konnte, war es Kards Aufgabe, alles zu entziffern.

»Eine Stunde vor, bis eine Stunde nach Mitternacht…«, grummelte Kard vor sich hin. Sie hatten sich eine Anhöhe in der Nähe der Klatsch ausgesucht, ein kleiner Hügel, der von einem kleinen, krummen Baum gekrönt war und auf dem das Gras, wahrscheinlich von Schafen, gemäht worden war. Die sogenannten Mäh-Schafe waren in ganz Haragor beliebte Mittel der Flurpflege, schmeckten gut und ihr Fell gab wunderbare Liegekissen für Säuglinge her. So hatten die Freunde eine gute Sicht auf Treidelpfad und Fluss und in dieser Nacht auch einen funkelnden Sternenhimmel, der sich gerade langsam ankündigte.

»Goiba zu Ehre, Goiba zu loben, Goiba zu preisen dreimal laut singen, wenn möglich in C-Dur.«

Kard führte seine Finger über die Buchstaben, er konnte zwar lesen, aber seine herausragendste Fähigkeit war das nicht gerade.

»Dabei siebenmal einen Hampelmann machen. Also Beine und Arme springend auseinander breiten und wieder zusammen klatschen.«

»Und wie soll ich das machen?« Der Haarberg, unter dem sich Madad befand, wackelte seltsam, wahrscheinlich versuchte er gerade, die genannte Übung auszuführen.

»Credna für die viele Liebe, die sie in die Welt bringt, danken. Und Luchta für den ganzen Reichtum. Falls man weder Liebe verspürt, noch reich ist, genügt es, wenn man sich einfach so bei den Schwestern von Goiba bedankt. Danach aber Goiba um so mehr danken.«

Kard murmelte leise vor sich hin und übte schonmal die Danksagungen. Dann vertiefte er sich wieder in den Zettel. Seufzend blickte er auf.

»Also, wenn wir bei Wallas damals ab und zu Branu gedankt haben, brauchte man nicht so viele Worte. Ein Räucherstäbchen anstecken und fertig. Erinnert mich aber doch ganz schön an das Waisenhaus damals. Die Govas bekamen gar nicht genug vom Beten. Morgens, mittags, abends und zur Nacht mussten wir alle niederknien. Hatte ich ganz vergessen.«

»Aber Wallas hat erzählt, dass du bei jeder Kleinigkeit in die Tempel gerannt bist.«

»Hat er das?« Kard strich sich die Strähnen aus dem Gesicht und wollte Madad anblicken, sah aber nur diese riesige Perücke. »Stimmt schon. Habe ich mir damals wohl so angewöhnt. Nichts machen ohne den Segen der Götter. Der Göttinnen, eher gesagt. Und in Conchar haben das alle gemacht. Goiba hier, Goiba da. Hallo? Conchar ist die Stadt von Tsarr. Das Goiba-Zentrum des Reiches. Nacht und Kälte gib uns deinen Segen, Goiba unser im Himmel und so, das haben da alle gemacht.«

»Ja, ja, ist ja schon gut, Kard. Dann bist du ja der richtige Mann für dieses Ritual hier, oder?«

»Genau!« Kard warf sich in die Brust.

»Die Pille nicht lutschen, sondern sofort mit einigen Schlucken Wasser herunterspülen«, las Kard weiter vor.

»Entweder schmecken die diesmal abscheulich oder wieder so gut, dass man süchtig wird«, knurrte Madad.

»Ich werde es nicht ausprobieren. Ich folge den Anweisungen. Wenn ich mir das recht überlege, hätte ich das sowieso machen sollen. Dann wäre ich nicht hier und müsste mich nicht um dieses Minas-Schwert kümmern. Einfach den Geboten folgen, das wäre das Beste gewesen.«

»Brav, brav, brav, du armes kleines Schaf.«

»Was heißt hier brav, selber Schaf. Ihr Cus haltet euch sowieso an keine Regeln.«

»Doch, doch. Mama sagt immer, folge immer deinen eigenen Regeln.«

»Ja, sage ich doch.«

»Wieso, sind doch auch Regeln, halt die eigenen.«

»Ja, aber jeder normale Mensch schaut doch, dass er den Geboten der Götter folgt. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder macht, was er will?«

Die Diskussion mit Madad ermüdete Kard. Außerdem wusste er, dass sie sowieso nichts bringen würde. Madad war einfach ein Dickkopf. Und hörte, wenn überhaupt, nur auf seine Mama. Goiba, Branu, sollten die Götter sich doch erst einmal untereinander einig werden. Jetzt galt es erstmal, die Haarpracht wieder loszuwerden. Ob mit Goiba oder Branu oder welchem Gott auch immer, war Kard gerade ziemlich gleichgültig. Die Haare mussten weg! Auch wenn sie zugegebenermaßen Vorteile brachten.

Kards innerer Wecker klingelte genau eine Stunde vor Mitternacht. Erschrocken stellte er fest, dass er eingenickt war, auch die Perücke neben ihm schnarchte lautstark.

»Madad.«

»Was, wie, wo?«

»Es ist so weit, wir können jetzt die Pillen nehmen.«

Kard und Madad begannen die Göttinnen zu preisen. Eine Eule, die sich den krummen Baum als Aussichtsplatz für ihre nächtliche Jagd ausgesucht hatte, flog erschrocken davon. Auch einige Wühlmäuse, die den Hügel bevölkerten, suchten das Weite. Dann die rituelle Gymnastik, die auch die Gnome im Inneren des Hügels aufrüttelte und sie veranlasste, sich fluchend noch tiefer ins Erdreich zurückzuziehen. Schließlich das Gebet. Goiba, Goiiiiibaaaaa. Du Allerhöchste Gööööööttttin. Dann schälten sich Hände und Pfoten aus dem haarigen Gestrüpp, Kard öffnete die Pillenschachtel, nahm eine heraus und legte sie Madad auf die Zunge und schüttete ihm danach Wasser in den offenen Schlund. Auch für sich selbst nahm Kard dann eine Pille heraus, warf sie sich zwischen die Zähne und nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche. Hoffentlich gibt es diesmal keine überraschenden Nebenwirkungen.

Eine Weile verharrten die Freunde in Ehrfurcht davor, dass sie den Anweisungen der Packungsbeilage so brav Folge geleistet hatten. Doch dann spürten beide, wie sich die Wirkung der Pille in ihrem Inneren entfaltete. Ein übler Brechreiz gepaart mit dem Geschmack von mehreren Litern Verdauungsresten stieg beiden in die Kehle. Die zwei Riesenperücken begannen zu stöhnen und zu fluchen und rollten erst auf der Kuppe des Hügels herum, dann aber, da sie offensichtlich keine Kontrolle mehr über ihre Körperbewegungen hatten, den Hügel hinab und hinein in das hohe Gras. Wie auf ein Kommando standen sie dann auf, stolperten, hüpften, rannten zum Ufer der Klatsch und tranken auf dem Bauch liegend den halben Fluss leer.

»Mann, das ist ja so ekelhaft.« Kard war der erste, der wieder seine Stimme gefunden hatte. Von Madad kamen nur einige gurgelnde Geräusche.

»Wenn ich überlege, wie lecker die Haarwuchspillen waren, scheint es irgendwie logisch, dass das Haarschrumpfmittel dann das Gegenteil bewirkt.«

»Oh, Madad ist jetzt ein Philosoph.« In Kards Stimme kämpften Ironie und Ekel miteinander.

»Yo, genau. Alles hat seinen Preis. Man bekommt nichts geschenkt. Und so weiter.« Madad schien es schon wieder besser zu gehen, wenn er zu solch tiefsinnigen Erkenntnissen kommen konnte.

»Auf Nacht folgt Tag, auf Leckereien Ekel. Oder so.« Kard wollte es sich nicht nehmen lassen, auch seine philosophischen Qualitäten zum Besten zu geben.

»Du sagst es, lieber Freund. In dem Sinne würde ich sagen. Jetzt sind wir wach. Lass uns schlafen gehen.«

»Gut gesprochen, du kluger Cu. Lass uns zum Hügel hochgehen und in die Sterne schauen.«

Am nächsten Morgen wachten die beiden nicht wie sonst die vergangenen Tage in einem Nest neuer Haare auf, sondern fanden sich in der gleichen Haarpracht wieder, in der sie eingeschlafen waren. Das stetige Haarwachstum war gestoppt. In ihren Mündern hatte sich aber auch der schlechte Geschmack nach alten Füßen gemischt mit Essenzen getrockneter Kuhfladen gehalten. Selbst nachdem sie sich den Rachen erst mit reinem Flusswasser, dann mit einer Mischung aus nach Minze duftender Wiesengräser mehrfach gespült hatten, blieb ein Rest des unangenehmen Geschmackes unter der Zunge hängen. Nachdem sie das Haar dann auf Knöchelhöhe gestutzt hatten, noch wagten sie sich nicht aus der Anonymität heraus, zottelten sie daher missmutig zum Pfad, der entlang der Klatschfälle zum Hochplateau führe.

Der Weg schlängelte sich in vielen Serpentinen den steilen Abhang hinauf bis zum Hochplateau von Asch-by-lan. Obwohl sie bereits am frühen Morgen aufgebrochen waren, benötigten sie bis zum Nachmittag, bis sie ihr Ziel erreichten. Auf dem Weg waren ihnen einige Karawanen entgegengekommen, die ihre Last zum unteren Umschlagplatz transportierten, und die sie alle für seltsame Wahter hielten, denn was sollten diese behaarten Gestalten sonst sein? Kard gab ihnen auch mit verstellter Stimme bereitwillig Auskunft und bestätigte den Reisenden ihre Herkunft.

»Jetzt gehen wir zurück nach Hause, in den Dunklen Wald.«

Auch auf dem Hochplateau gab es einen Umschlagplatz für die Waren, die aus der Alten Stadt kamen oder dorthin sollten. Der Wasserfall unterbrach hier den Fluss, der bis zu dieser Stelle schiffbar war. Er war es wesentlich voller, als bei Kards letztem Besuch vor wenigen Wochen. Damals war er Rosie hinterhergeeilt, die den Cu als Trophäe nach Amazonien geschleppt hatte. Madad konnte sich kaum noch an seinen letzten Aufenthalt hier erinnern. Die listige Rosie hatte ihm damals ein Betäubungsmittel ins Futter gegeben. In seiner Erinnerung war alles verschwommen.

Auf dem damals leeren Gelände, auf dem die Waren für den Transport ins Tal gesammelt wurden, konnte Kard jetzt verschiedene Lager von Reisenden entdecken, die offensichtlich nicht hinunter ins Tal wollten, sondern in die Alte Stadt. Auf jeden Fall feilschten einige von ihnen mit den wenigen Lastkahn-Kapitänen, die in der Anlegebucht festgemacht hatten. Und zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Conchar beziehungsweise ihrer Stippvisite in Bo-Baoghalta entdeckten sie auch wieder die schwarzen Uniformen der Wachen. Instinktiv duckte sich Kard und schaute gehetzt in alle Richtungen. Aber weder Laoch oder andere Schergen noch die Faolskis waren zu sehen. Die Wachen standen bei den Booten und kontrollierten die Reisenden. Manche wurden abgewiesen und liefen dann fluchend zurück zum Lagerplatz. Offensichtlich hatte sich hier die Oberste Verwaltungsbehörde eingemischt, denn ohne offizielle Reisegenehmigung ließen die Wachen niemanden an Bord. Kard entspannte sich ein wenig, als er feststellte, dass die Wachen tatsächlich nur an der Anlegestelle standen und dort überwachten, wer auf dem Wasserweg in die Alte Stadt wollte.

Auch eine fluchende kleine Gestalt, die ein Riesenkaninchen hinter sich her zerrte, war abgewiesen worden.

»Hey du! Warum haben sie dich nicht auf das Schiff gelassen?«

»Hey du. Wieso hast du so lange Haare?« Der Kleinwüchsige war schlecht gelaunt, das war klar, aber er war offensichtlich auch neugierig.

»Wir sind Wahter.«

»Aha, eher eine Fatamorgana. Ha. Ha.« Der Kleine schlug sich auf die speckige Lederhose, die er trug und lachte herzhaft über seinen eigenen Witz. »Ich habe schon Wahter gesehen, die waren zwar haarig, aber nicht so haarig wie ihr. Seid ihr verflucht, habt ihr Filzläuse, sollen die Vögel Nester in euren Haaren bauen?« Wieder lachte der kleine Mann, offensichtlich ein geborener Scherzbold.

Kard erzählte kurz die Geschichte von der Wette, dem Mädchen und der langen Reise.

»Aha, und jetzt geht es zurück in den heimatlichen Wald. Schön. Wir würden ja auch gerne in die Richtung. Zur Alten Stadt. Da findet der Kongress der Respektlosen statt. Natürlich ganz geheim. Aber jeder weiß es. Alle Respektlosen Haragors versammeln sich. Jawohl!«

»Respektlose?« Kard hatte zwar mehr zu sich selbst gesprochen, aber natürlich hatte der kleine Kerl seine Worte gehört.

»Sag nicht, du hast noch nie von den Respektlosen gehört? Den Scherzkeksen? Den Unsinn-Machern? Den Troubadouren der Sinnlosigkeit? Den königlichen Hofnarren?«

Kard zuckte unter seiner Haarpracht die Schultern, was der Kleine ganz richtig deutete. Der gute Mann summte dann kurz, um sich in die richtige Tonlage zu bringen und fing dann an zu singen.

»Wir kennen keine Herren und auch keine Frau

denn dafür sind wir nä-ähmlich viel zu schlau.

Wir kennen keine Gesetze und auch keinen Richter,

denn dafür sind wir nä-ähmlich viel zu helle Lichter.

Wir kennen keine Götter und zahlen keine Steuer,

und dafür nennen uns die anderen schreckliche Ungeheuer.«

Stolz warf sich der kleine Mann, nachdem der letzte Ton verklungen war, in die Brust. »Darf ich mich vorstellen, Oiklihd, ehemaliger Hofnarr im Dienste Flanakans, jetzt Riesenkaninchen-Rebell.«

»Äh, ja, wir sind…«, Kard überlegt, er hatte keine Ahnung, welche Namen die Wahter trugen. »Nenn uns einfach Tim und Tom, unsere Waldnamen kann kein Mensch aussprechen.«

»Tim und Tom?«

»Genau! Ich bin Tim und der Bucklige ist Tom. Und entschuldige die Frage, aber was macht man denn so als Respektloser.«

Der Kleine schaute Kard erstaunt an.

»Ihr Hinterwäldler bekommt ja wohl auch gar nichts mit, oder? Die Respektlosen, die Gesetzlosen, die Gottlosen? Noch nie von gehört?«

Anscheinend wollte Oiklihd schon wieder anfangen zu singen, doch Madad kam ihm zuvor.

»Yo, doch, doch, Kaaaa.. äh Tim. Diese Spaßvögel, die nur Unsinn im Kopf haben.«

»Unsinn?« Oiklihd sah den buckligen Haarschopf entrüstet an. »Du sagst das, als ob Unsinn etwas Sinnloses wäre. Etwas, was keinen Zweck hat, was man einfach mal so macht. Aber das stimmt nicht. Wir bringen den Wesen Haragors das Lachen. Aber bei euch im Wald gibt es wohl nicht viel zu lachen. Da fallt ihr noch von den Bäumen, was?« Und Oiklihd schlug sich wieder prustend auf die Schenkel und selbst sein Riesenkaninchen schien belustigt zu schnauben.

»Und lacht man etwa über Steuern? Über Wachen? Über Könige? Oder gar über Götter? Hä? Hä? Hä?«

Kard und Madad aka Tim und Tom schüttelten ihre Mähnen.

»Seht ihr, seht ihr. Deswegen nennt man uns die Respektlosen. Wir lachen über alles und machen uns über jeden lustig. Und deswegen mögen uns die Wachen nicht da hinten. Wir lachen über sie. Das ist besser als jedes Schwert, versteht ihr. Wir lachen über die Wachen, über Flanakan und sogar über Goiba.«

Kards Herz machte einen Sprung.

»Was, ihr lacht sogar über Goiba? Seid ihr verrückt? Fürchtet ihr nicht ihren Zorn?«

»Nein, nein. Wir lachen auch über Branu, das gleicht sich wieder aus. Das ist wie in der Mathematik. Minus mal Minus macht Plus.«

»Mathe… was?« Madad/Tom hatte offensichtlich davon noch nie gehört.

»Mathematik? Zahlenzauber?« Jetzt wurde die Stimme von Oiklihd plötzlich ganz leise. »Eine Magie, die aus einem Land jenseits von Haragor kommt.« Vielsagend hob Oiklihd die linke Augenbraue und schaute die Freunde an.

Kard/Tim begann als Erster zu lachen. Madad/Tom setzte mit ein. »Magie, die außerhalb von Haragor… ha, ha, ha. Das ist ein Scherz, oder?« Die Riesenperücke schüttelte sich, als ob unter ihren Füßen die Erde beben würde. »Jeder weiß, dass jenseits des Meeres oder jenseits der Südlichen Wüste, das Große Nichts ist, das Reich der Götter, das Große Unvorstellbare.«

»Sagt wer?« Oiklihd ließ sich vom Gelächter der beiden nicht aus der Ruhe bringen.

»Du willst uns zum Lachen bringen, oder, Oiklihd, der Respektlose? Oder? Das kannst du nicht ernst meinen, oder?«

Oiklihd kniff die Augen zusammen. »Wer sagt denn, das da nichts ist? Flanakan? Dem glauben wir nicht. Die Govas, Govans und sonstige Götzendiener? Denen glauben wir nicht. Wir glauben nur unseren Ohren und Augen und Nasen. So ist das bei uns.«

Madad wälzte sich auf dem Boden. Der Kerl war zu komisch. Ein echter Scherzkeks. »Wieso bist du nicht mehr Hofnarr bei Flanakan? Ich finde dich großartig. Königlich. Göttlich.«

»Danke, danke, ich weiß.« Oiklihd, offensichtlich geschmeichelt, verneigte sich in Richtung der rollenden Fellkugel.

»Aber Flanakans Sinn für Humor hat in den letzten Jahren extrem nachgelassen. Ganz abgesehen von dieser Tsarr, die konnte uns eigentlich noch nie leiden. Wenn die lacht, dann stirbt meist irgendjemand. Und das ist wirklich nicht lustig.«

Nachdenklich kratzte sich Oiklihd am Kopf.

»Wie auch immer. Wir müssen jetzt in die Alte Stadt hüpfen. Wenn man uns auf den Booten nicht mitnimmt, dann geht es eben zu Fuß weiter. Vielleicht wollt ihr uns ja begleiten? Wäre doch lustig, oder?«

Warum nicht, dachte sich Kard und nickte ermunternd in Richtung Madad. »Ja, wäre vielleicht ein Spaß.«

»Wir haben zwei Kaninchen frei. Ich bin jetzt einfach mal der Despot in der Gruppe. Wir sind zu dritt, wisst ihr. Drei Narren und fünf Kaninchen. Und ich bestimme jetzt, dass ihr mitkommt. Die Meinung der anderen interessiert mich heute nicht. Lustig, oder?«

»Vielleicht?« Unsicher stimmte Kard zu. Auf jeden Fall wäre ihre Tarnung noch perfekter. Und mit den Riesenkaninchen wären sie schneller in der Alten Stadt als zu Fuß.

»Machen wir.« Auch Madad stimmte zu, und so liefen sie hinter Oiklihd und seinem Riesenkaninchen her, beäugt von den neugierigen Augen der anderen Reisenden. Ein Kleinwüchsiger, ein Riesenkaninchen und zwei zottelige Wahter – so etwas sah man in Haragor nicht alle Tage.

Oiklihd stellte ihnen seine zwei Kumpanen vor. Arschimaedes und Puetontagoras, ein Torak und ein Mensch, beide keineswegs so kleinwüchsig wie Oiklihd. Arschimaedes, Torak, Spezialist für schlüpfrige Witze, begann mit Oiklihd sofort einen deftigen Wortwechsel darüber, dass Despot zu sein nur für den witzig ist, der eben der Despot ist. Für die anderen konnte es bestenfalls als schadenfroher Dritter lustig sein. Aber bevor die Respektlosen sich darüber weiter streiten konnten, beschlossen sie, dass jeder einmal der Despot sein dürfte. Immer dann, wenn man auf dem Weg eine blaue Tür sehen würde, sollten die Rollen gewechselt werden. Irgendeine Regel musste es ja geben.

Kard war gleichzeitig fasziniert wie verunsichert. Die drei waren lustig, keine Frage. Aber dass Oiklihd auch keinen Respekt vor den Göttern hatte, gefiel Kard überhaupt nicht. Dass man entweder Branu oder Goiba oder einem der anderen Göttern mehr oder weniger zugetan war, verstand Kard. Er hatte es sich angewöhnt, sich mit allem Göttlichen auf guten Fuß zu stellen. Lieber mal ein Schälchen Winxbier zu viel geopfert, als sich dem Zorn einer vernachlässigten Gottheit zuzuziehen. Und der Gedanke, dass es neben dem Göttlichen noch etwas anderes geben sollte, diese Mathemagie, erzeugte geradezu einen Brechreiz in ihm. Am besten, er passte sich so schnell wie möglich auch diesen Gegebenheiten an, sonst würde er noch ganz wirr im Kopf werden.

Der Torak, Arschimaedes, hatte etwas Naives, Kindliches an sich, auch wenn er schon über siebzig Jahre alt war. Für einen Torak war er damit in den besten Jahren. In seinem Alter hatten die meisten Toraks gerade eine Familie gegründet und waren dabei, viele kleine Torakkinder in die Welt zu setzen. Und gerade davor lief der gute Arschimaedes auch davon, wie er unumwunden zugab.

»Da war dieses Mädchen«, er grinste in die Runde, als ob er einen tollen Scherz gerissen hätte, »wir arbeiteten beide auf den Winxfeldern, ihr versteht schon, oder?« Wieder grinste er in die Runde und machte mit seinen Hüften kreisende Bewegungen. Oiklihd hieb Tim/Kard in die Seite und meckerte ein leises Zwergenlachen in sich hinein und Puetontagoras hieb dem Buckligen grinsend auf die haarige Schulter. Pflichtschuldig setzte Kard, der sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte, sodass wenigstens Auge, Mund und Nase sichtbar waren, ebenfalls ein Grinsen auf. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, was gerade so komisch ist.

»Und eines nachts«, berichtete Arschimaedes weiter, »als ich mal wieder durch die Winxfelder zu diesem Mädchen schlich, landete ich in einem kreisrunden Kreis mitten im Gras.«

»Kreise sind immer kreisrund, du Hirni.«

»Das kommt auf die Perspektive an. Von schräg oben sieht ein Kreis wie eine Ellipse aus.«

»Quadratquatsch.«

Bevor sich Arschimaedes und Oiklihd richtig in die Wolle bekamen, hakte Madad nach. »Yo, das mit den Kreisen im Gras, das kennen wir auch. Was hat es damit auf sich?«

Alle drei Respektlosen atmeten synchron tief ein und begannen alle gleichzeitig zu reden. »Kreisrund müssen sie sein…Winxbier…keine Ahnung wieso…hoppel, hoppel, hoppel…Neumond, Vollmond, egal…«

»Äh, ich verstehe kein Wort. Könnt ihr euch mal darauf einigen, wer erzählt? Vielleicht du, der Despot?« Madad schaute, auch wenn das niemand registrieren konnte, da sein gesamter Kopf unter seinen Haaren begraben war, fragend in die Runde.

»Nein, niemand fragt den Despoten, ob er etwas tun soll oder will oder kann. Der Despot tut es einfach. Daher bestimme ich, dass nicht ich, sondern Puetontagoras die Geschichte erzählen soll.«

Puetontagoras, Mensch, vielleicht um die vierzig, normale Statur, nicht zu groß, nicht zu klein, dunkler Vollbart unter kleinen blauen Augen und mächtiger Nase, atmete tief ein. Dann strich er sich die Krümmel weg, die auf seiner dunkelblauen, mit sinnlosen Buchstabenkombinationen (sin, cos, lim) bestickten Hose, gelandet waren. Er legte auch das Winxbrot, an dem er bisher geknabbert hatte, zur Seite. Dann wandte er den Blick zu den Riesenkaninchen, die versuchen, Grasbüschel herauszuziehen, die sich in den Fugen und Rissen des Platzes versteckten.

»Diese Tiere, ha.« Dann schwieg Puetontagoras eine Weile und schaute vielsagend in die Runde. Kard, jetzt tatsächlich neugierig, wollte dem vielsagend Schweigenden ein wenig auf die Sprünge helfen.

»Ja? Diese Tiere?«

»Ha, diese Tiere, ha, du denkst, ha, du siehst einfach nur große Kaninchen, ha, was, ha?«

Langsam dämmerte es Kard, wieso Puetontagoras bei den Respektlosen war. Das kurze Lachen, was er ständig von sich gab, hatte eine enervierende Wirkung auf seine Zuhörer. Die beiden anderen Respektlosen schienen sich aber schon daran gewöhnt zu haben. Sie zeigten auf jeden Fall kein Zeichen von Unruhe oder übler Laune. Ein Beispiel, dem Kard folgen wollte.

»Aber, ha, diese Tiere….«, langes Schweigen, »sind Kinder der Mathematik«. Vielsagender Blick in die Runde. »Dies offenbaren sie, ha, wenn sie zu viel Schoff getrunken haben.«

»Wartet mal«, in Madads Stimme konnte man ein gewisses Glucksen hören. »Die Kaninchen trinken Schoff?«

»Sie trinken Bier aus Winx,

dann drehen sie sich links,

und machen einen Kreis,

ganz ohne Scheiß.«

»Wieso…?« Kard schaute die Respektlosen fragend an.

»Ha, wieso, wieso. Ha! Das ist ein Zeichen. Ha. Sie senden Zeichen. Ha.«

»Na was denn jetzt? Was für Zeichen? Ein Kreis ist ein Kreis ist ein Kreis?« Madad schien fast ein wenig verärgert.

»Ha, ein Tier, das einen perfekten Kreis hüpft? Welches andere Tier macht das? Wir haben sie alle ausgemessen. Die kleinen Kreise, die großen Kreise. Alle sind perfekt. Es kann, ha, da nur eine Antwort geben, ha!«

Schweigen.

»Ja, und?« Kard war jetzt schon ganz unruhig. Puetontagoras machte es auch wirklich spannend.

»Die Riesenkaninchen stammen nicht von dieser Welt! Ha! Sie sind Außerharagorische! Ha. Und senden Zeichen an ihre Brüder und Schwestern. Ha. Eines Tages werden sie vom Himmel steigen und alle Riesenkaninchen Haragors wieder mitnehmen. Ha.«

Jetzt schwiegen erst einmal alle. Genau, dachte Kard. Außerharagorische Riesenkaninchen. Klar wie Kloßbrühe. Was denn sonst? Was für ein Riesenschwachsinn. Was für eine Respektlosigkeit gegenüber den Göttern! Ich glaube, Puetontagoras läuft nicht ganz rund.

»Also mit diesen Kreisen im Winxgras senden die Riesenkaninchen Zeichen an die Götter?« Madad versuchte sich auch einen Reim auf das Gesagte zu machen.

»Nein, ha, nein. Nicht an die Götter. An die Außerharagorischen. An ihre Brüder und Schwestern.«

»Aber da oben,« Madads Haarbüschel drehte sich und nur Kard ahnte, dass da gerade ein Cu mit seiner Schnauze in den Himmel wies, »da sehe ich Sonne, Mond und Sterne. Wolken. Regentropfen. Alles Elemente des Göttlichen, mag es nun Branu oder Goiba sein.«

»Ihr, ha, Ungläubigen.«

»Äh, wieso, ihr seid doch die Ungläubigen.«

»Nein, alles ist Mathematik.«

Kard, dem der Kopf brummte, und der seiner Verwirrung irgendwie Herr werden wollte, bat um einen Becher Schoff. Dies wirkte für die Respektlosen wie eine Zauberformel. Sofort war alles Außerharagorische vergessen, die Riesenkaninchen mutierten zu ganz normalen Transportkaninchen und man unterhielt sich fortan über den Weg, den man noch zur Alten Stadt bewältigen musste. Außerdem über das Wetter und, dank Arschimaedes, über die Schönheit gewisser Torakmädchen.

Am nächsten Morgen war es Kard ganz übel. Und das lag nicht an dem stetigen Auf und Ab, am Durchschütteln seines ganzen Körpers und insbesondere seines Magens, wie es der Ritt auf Riesenkaninchen notwendigerweise mit sich brachte. Schlimmer als diese körperlichen Strapazen war der Umstand, dass die Respektlosen ihre gottlosen Reden schwingen konnten, ohne sofort von Goiba oder Branu zermalmt zu werden. Hatten ihn die Govas im Waisenhaus nicht beigebracht, dass nur die Demut vor dem Willen der Götter einem das Überleben sicherte? Dass man, wenn man schon nicht wie sie selbst seine ganze Existenz im Dienste eines Gottes stellen wollte, den Göttern stets Opfer bringen musste, um sie gewogen zu halten? Und wie oft hatte Kard dankbar an Branu oder gar Goiba gedacht, wenn er mal wieder einer scheinbar ausweglosen Situation, etwa einem wütenden, zahlungsunwilligen Kunden, unverletzt entkommen war? Und was musste er jetzt ansehen? Da hoppelte der kleine Oiklihd da vorne auf seinem Riesenkaninchen und sang lauthals ein Spottlied auf Goiba. Er hatte zwar zugegeben, dass er das niemals machen würde, wenn eine Wache in der Nähe war, aber hatte nicht Goiba selbst ihre Ohren überall? Auch wenn er es Oiklihd nicht direkt wünschte, aber es wäre ungemein beruhigend gewesen, wenn genau in diesem Augenblick ein dicker, schwarzer Felsbrocken aus den Wolken geflogen käme, um den Sänger unter sich zu begraben. Aber es geschieht nichts. Einfach gar nichts. Waren die Götter gar nicht darauf bedacht, dass man sie ständig lobpreiste? Schliefen sie vielleicht auch mal oder kümmerten sie sich, Kard erschrak über diesen Gedanken, auch mal um Außerharagorisches? Diese und andere Gedanken schwirrten ihm zwischen den Ohren herum. Der innere Lärm, der so verursacht wurde, machte Kard derart konfus, dass ihm ganz schlecht wurde.

Plötzlich bemerkte Kard die Stille. Oiklihd hatte aufgehört zu singen, man hörte nur noch das leise Rauschen des Windes und das sich jetzt verlangsamende Gehoppel ihrer Reittiere. Kard strich sich die Haare aus dem Gesicht, beendete die Betrachtung seiner Innenwelt und schaute nach vorne. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Vor ihnen hatten dutzende Wachen eine Straßensperre errichtet. Das schwarz-rote Banner Flanakans wehte im Wind und Kard konnte deutlich die Schwerter und Speere sehen, deren Metall das Sonnenlicht reflektierte. Oh Branu, Goiba, all ihr Götter, ist das Euer Zeichen? Madad musste seine plötzliche Nervosität bemerkt haben.

»Wir sind Wahter, vergiss das nicht, Kard. Ich kann keine Faolskis riechen. Wir müssen hier nur das übliche Schauspiel bieten, dann wird das schon gut gehen.«

»Gut, gut, gut.« Kard atmete mehrmals tief ein. Keine Faolskis, das ist gut. Das ist sogar sehr gut. Würde es etwas nützen, Goiba um Beistand zu bitten? Würde sie sein Gebet erhören, während sie sich noch wenige Augenblicke zuvor angesichts der Schmählieder taub gestellt hatte?

Inzwischen hatten sie sich bis auf wenige Schritte der Straßensperre genähert.

»HALT. ABSITZEN.«

Dass Soldaten auch immer so schreien müssen. Die Wache, die ihnen auf dem Weg entgegengetreten war, hatte die Hand gehoben, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Für einen kurzen Augenblick herrschte angespannte Stille. Das Kettenhemd der Wache klirrte leise. Er schlug sich bedrohlich mit dem gezogenen Schwert in die offene Handfläche. Ein dumpfes Klopfen dröhnte über den Köpfen der Reisenden.

Wie verhalten sich Respektlose angesichts dieser Situation? Kard überfiel eine kurze Panikattacke. Würden sie sich selbstmörderisch in die Schlacht mit den weit überlegenen Gefolgsleuten Flanakans werfen? Würde Oiklihd gleich ein Spottlied auf die Wachen anstimmen und sie damit alle ins Gefängnis bringen? Würde Arschimaedes etwa einen schlüpfrigen Witz zum Besten geben, in denen Wachen eine unrühmliche Rolle spielten? Panik. Panik. Panik. Aber nein. Oiklihd beließ es dabei, den Tonfall des Soldaten perfekt zu imitieren.

»HALT. ABSITZEN.«

Leider rührten sich daraufhin weder er noch seine respektlosen Begleiter. Nur Kard und Madad glitten von ihren Reittieren. Die Wache war etwas irritiert und es fiel ihr nichts Besseres ein, als ihren Befehl zu wiederholen. Ein wenig lauter diesmal.

»HAAAALT. AAABSITZEN.«

Oiklihd tat wie zuvor und wiederholte den Befehl. Ein perfektes Echo. Doch als die Wache einen Schritt vortrat und dabei das Schwert deutlich lauter in die Handfläche klatschen ließ, stiegen auch die drei Respektlosen von ihren Reittieren ab.

»Seid ihr schwerhörig?«

»Wie bitte? Können sie lauter reden? Wir sind etwas schwerhörig!«

Erneut war die Wache etwas verwirrt. Da stand dieser Winzling vor ihm, der ihm gerade mal bis zum Gürtel reichte und schien ihn nicht wirklich ernst zu nehmen. Während jeder muskelbepackte Torak vor einer Wache den braven Bürger spielte.

»WOHIN GEHT DIE REISE?«

Was für eine dämliche Frage, dachte selbst Kard, der noch ganz in Schockstarre war und das Geschehen vor ihm mit angehaltenem Atem beobachtete.

»ZUR ALTEN STADT, LIEBE WACHE.«

Liebe Wache? Der Soldat runzelte die Stirn, trat, das Schwert in eine Hand klatschend, noch einen Schritt auf Oiklihd zu, der aber milde lächelnd stehen blieb und dem Blick des großen Mannes standhielt.

»UND WAS WOLLT IHR IN DER ALTEN STADT?«

»WIR BESUCHEN MEINE GROSSMUTTER.«

»DIE GROSSMUTTER?«

»GENAU. LUDMILLA KAMILLA MARIONELLA. STUMPFGASSE 7.«

»AHA. DAS WERDEN WIR ÜBERPRÜFEN.«

Der Soldat drehte sich um und stapfte zu seinen Männern. Kard beobachtete, wie er zu einem Tisch ging, auf dem ein riesiges Buch lag. Dort sprach er mit seinem Kollegen, der daraufhin geschäftig in den Seiten blätterte. Irgendwann schienen sie gefunden zu haben, was sie gesucht hatten. Aber Kard bemerkte, wie sie sich kopfschüttelnd unterhielten. Kurz darauf kam die Wache zu ihnen zurück.

»LUDMILLA KAMILLA MARIONELLA. STUMPFGASSE 7?«

»GENAU. MEINE GROSSMUTTER!«

»IHR SEID NICHT DIE EINZIGEN, DIE EURE GROSSMUTTER BESUCHEN. VOR EUCH WAREN SCHON SIEBEN ANDERE GRUPPEN DA. WAS IST DA LOS?«

»SIE WIRD HUNDERT JAHRE ALT, LIEBE WACHE. EIN GROSSES FEST. DA KOMMEN ALLE KINDER, ENKELKINDER, URENKEL, URURENKEL AUS GANZ HARAGOR.«

»AHA. UND WIE ERKLÄRST DU, DASS LUDMILLA KAMILLA MARIONELLA EINE TORAK IST UND DU SO EIN KLEINER ZWERG?«

»ANGEHEIRATET, LIEBE WACHE. DER BRUDER MEINER GROSSMUTTER, DESSEN KINDER, DAVON WIEDER DER SCHWAGER. VON DEM DER SCHWIEGERSOHN. DAS IST DER BRUDER MEINES VATERS.«

Kurze Stille.

»AHA. VERSTEHE. NA DANN.«

Misstrauisch betrachtete er die Gruppe und erblickte dann die vermeintlichen Wahter.

»AUCH ANGEHEIRATET, WIE?«

Madad räusperte sich unter seiner Fellmatte. »VOM BESAGTEN ONKEL DIE TANTE. DAVON DIE SCHWESTER. WIR SIND DIE STIEFKINDER.«

Wiederum ein Moment vollkommener Lautlosigkeit.

»AHA. VERSTEHE.«

Erneute Stille. Scharrende Riesenkaninchenpfoten in trockenem Sand. Pfeifender Wind. Das hohle Krächzen einer Schwarzkrähe weit oben in den Wolken. Das Glucksen von Kards Magen.

»UND EURE PASSIERSCHEINE?«

Die Oberste Verwaltungsbehörde schien, was die Einreise in die Alte Stadt betraf, nichts dem Zufall zu überlassen.

»WIR HABEN NUR DIE EINLADUNG UNSERER GROSSMUTTER!«

Oiklihd holte ein Flugblatt heraus, auf dem für das Treffen der Respektlosen geworben wurde.

»NACH PARAGRAF 123 DER REISEGENEHMIGUNGSAUSNAHMEVERORDNUNG UND LAUT BESCHLUSS DER OBERSTEN VERWALTUNGSBEHÖRDE IM FALL HANSEN GEGEN KLATSCHMÜNDE IST DIES EINE OFFIZIELLE, ALLEN OFFIZIELLEN ANFORDERUNGEN GENÜGENDE REISEGENEHMIGUNG.«

Die Wache sah Oiklihd ausdruckslos an, drehte sich dann auf dem Absatz herum und ging zu seinen Männern zurück. Kard beobachtete, wie sie die Köpfe zusammensteckten und dann mehrmals mit den Schultern zuckten, als ob keiner wüsste, wie hier zu entscheiden wäre. Schließlich kam die Wache zurück und stellte sich in Position.

»PASSIEREN!«

Schweigend hoppelten die Reisenden erst an dieser Wache, dann an der versammelten Mannschaft der Uniformierten vorbei. Kard hörte die Wache leise vor sich hinmurmeln. »Paragraf wie? Onkel von wem?« Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und man konnte förmlich sehen, wie er sich den Kopf zermarterte. Kard war wirklich froh, dass der Uniformierte nun angestrengt Paragrafen und Verwandtschaftsgrade durchging und sie nicht weiter beachtete. Auch die anderen Wachen murmelten leise vor sich hin, während die Schar an ihnen vorüberzog. Wer hatte sie nun beschützt? Goiba oder Branu? Kard suchte nach einem Zeichen. Etwas, was ihm die Sicherheit gab, dass die Götter ihnen ihren Segen gegeben hatten. Aber das einzige, was er spürte, war das kalte Pulsieren des Drachenzahns auf seinem Brustbein. Also doch Branu?

Der Weg zur Alten Stadt war bei weitem nicht so gut in Schuss, wie die Straßen, die nach Conchar führten. Tiefe Schlaglöcher, vom Regen gerissene Rinnen und heruntergefallene Äste machten den Reisenden das Fortkommen schwer. Die Riesenkaninchen mussten im Zickzack springen, um die Hindernisse zu umrunden. So kamen sie langsam aber dafür stetig voran. Waren sie anfangs noch durch die Wildwiesen der Hochebene gehoppelt, veränderte sich bald das Landschaftsbild. Der Boden wurden steiniger, unfruchtbarer, das Gras verschwand langsam und machte weiten, karg bewachsenen Geröllfeldern Platz, in denen nur dorniges Gebüsch noch Nahrung fand. Die Kaninchen bewegten sich langsamer, da auch der Weg nun hart und steinig war. Das Drachengebirge schob sich immer näher und Kard konnte die dunklen Wälder sehen, in die sie bald eindringen würden, um den Onchu zu suchen. War das Gebirge bisher nur ein schmaler Strich am Horizont gewesen, oft nicht sichtbar, da die Luft zu trübe, die Wolken zu dicht gewesen waren, zeigte es sich nun immer mehr in seiner ganzen Mächtigkeit. Seit Kard denken konnte, war dieser Ort immer nur ein Sagengebilde gewesen, angereichert mit den Geschichten der Drachenkönige und der Fabel vom Großen Krieg. Und das, obwohl er die ersten Jahre seines Lebens doch im Waisenhaus unweit der Alten Stadt verbracht hatte! Aber in seiner Erinnerung spielte der Wald und das Gebirge keine große Rolle. Sein Leben hatte innerhalb der Mauern des Waisenhauses stattgefunden und nur zum Holz holen war man in den Wald gegangen. Die Govas hatten ihnen eingeschärft, die Wege nicht zu verlassen und sie vor den Schrecken des Waldes gewarnt. Die braven Waisenkinder hatten auf die Warnungen der Priesterinnen immer gehört.

Er konnte sich auch nicht erinnern, zurückgeblickt zu haben, damals, als die Alte und Wallas ihn mitgenommen hatten. Ein kleiner Junge, ängstlich aber aufgeregt, der sich gleich an den großen Torak gedrängt hatte und der neugierig nach vorne, in die Zukunft geschaut hatte. Erst jetzt, als Kard sich seiner alten Heimat näherte, nahm er das Dunkle und die Schwere des Waldes und die Weite und die scheinbare Unendlichkeit des Gebirges wirklich wahr. Und er empfand auch nicht gerade Wiedersehensfreude. Ganz im Gegenteil. Alles wirkte befremdlich und auch irgendwie feindlich. Selbst der Drachenzahn auf seiner Brust beruhigte ihn diesmal nicht wirklich, sondern sein Pochen erschien ihm fast schmerzhaft. Auch der Humor der Respektlosen hatte nachgelassen, vorsichtig, jeden Sprung bedenkend, bewegten sich die Riesenkaninchen mit ihren Reitern durch die Steinwüste.

Der Junge mit dem Feueramulett: Der heilige Vulkan

Подняться наверх