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5. Kapitel: Die Kämpfer (I)

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Steve Halloran hatte Angst. Furchtbare Angst. Wieder war er schweißgebadet aufgewacht, der Alptraum schwebte noch vor seinen geschlossenen Augen. Die Dunkelheit erschreckte ihn, trotzdem wagte er nicht, die Augen zu öffnen. Die Angst, sich in einer Umgebung wiederzufinden, die sich von der unterschied, die er, als er eingeschlafen war, noch als sein Zuhause betrachtet hatte, war noch größer.

Natürlich hatte das keinen Sinn. Er würde die Augen öffnen müssen oder wieder einschlafen. Doch daran hinderte ihn der gerade überstandene Alptraum. Es half nichts, und so versuchte er, sich zumindest auf den eventuell bevorstehenden Schock so gut es ging vorzubereiten.

Sein Zimmer hatte sich nicht verändert, soweit er dies auf den ersten Blick feststellen konnte. Da waren sein Schreibtisch, das Bücherregal, die wuchernde, exotische Topfpflanze, die Kommode, über der der Spiegel mit der abgebrochenen Ecke hing, seine Bongos.

Steve stieß einen erleichterten Seufzer aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Jeden Morgen die gleiche Quälerei. Manchmal hatte er schon Angst, abends überhaupt zu Bett zu gehen. Nächtelang hatte er wachgelegen, bis ihn dann irgendwann tagsüber die Müdigkeit überwältigt hatte und er eingenickt war, auch wenn es sich nur um Minuten handelte. Die Umgebungswechsel waren immer während des Schlafes erfolgt, mal in längeren, mal in kürzeren Abständen, mal tagsüber, mal des Nachts. Und sie hatten immer einen Schock ausgelöst, der ihn in ständiger Anspannung hielt. Er war abgemagert und sah aus wie eine lebende Leiche. Es handelte sich um ein Phänomen, an das man sich nicht gewöhnen konnte.

Aber was hieß hier »man« ? Er war es, der darunter litt. Er, Steve Halloran, 25 Jahre, Gelegenheitsarbeiter, politischer Aktivist, notorischer Weltverbesserer. Und soweit ihm bekannt war, war er der einzige Mensch in Goldentor, der diese Schrecken durchleben musste - vielleicht sogar der einzige auf der ganzen verdammten Welt.

Wahrscheinlich war er sowieso verrückt. Welche andere Schlussfolgerung konnte es geben? Das, was er erlebte, konnte unmöglich real sein. Er kannte sich nicht besonders gut aus mit psychologischen Definitionen von Verrücktheit. Es gab schließlich unzählige Arten, und sein Wahn mochte eine Art Schizophrenie oder eine andere psychische Krankheit sein, das war ihm letztlich ziemlich egal.

Aber konnte ein Verrückter oder psychisch Kranker, wie es so schön hieß, der seine Verrücktheit erkannt hatte und die Symptome als solch identifizierte, nicht etwas gegen seine Krankheit tun? Er war vorerst nicht bereit, zu einem Psychiater zu gehen. Er hielt nichts von Seelendoktoren und Psychotherapien, obwohl sein Freund Per, mit dem er immer so hervorragend streiten konnte, ihm einige Vorurteile in dieser Hinsicht genommen hatte. Per hatte sogar vorgeschlagen, ihn zu begleiten, aber Steve hatte diese Möglichkeit weit von sich gewiesen. Doch wenn das Phänomen andauerte, würde ihm dieser Gang nicht erspart bleiben, wollte er nicht wirklich den Verstand verlieren. Und dieser Zeitpunkt lag nicht mehr allzu weit entfernt.

Seine Gedanken schlugen einmal mehr Kapriolen und das kurz nach dem Aufwachen. Seit Wochen ging das nun so, und er bekam immer häufiger Kopfschmerzen davon. Aber wie sollte er die bohrenden Überlegungen abschalten können, wenn er nicht einmal den Hauch einer Erklärung für seine Symptome finden konnte, geschweige denn einen Ansatzpunkt für eine Lösung? Er schwang die Beine aus dem Bett, war froh, den Boden unter seinen nackten Füßen zu spüren, den er oft genug zu verlieren glaubte. Er war es nicht gewohnt, dass ihm Erklärungen fehlten. Seiner Ansicht und Erfahrung nach gab es Methoden und Theorien, wonach alles erklärt werden konnte, es war nur eine Frage der Zeit, diese Erklärungen zu finden. Mit Hilfe einer wissenschaftlich-dialektischen Analyse der sichtbaren Phänomene musste es möglich sein, die Wirklichkeit hinter dem Schein zu entdecken, sowohl die soziale, gesellschaftliche Wirklichkeit wie auch den Hintergrund für das eigene, persönliche Verhalten. Diese Herangehensweise hatte bisher immer zu Resultaten geführt, die das Fundament für seine persönliche Aktivität und Entfaltung lieferten. Natürlich stellten diese Resultate kein endgültiges Produkt dar. Die gesellschaftlichen Strukturen waren in dauernder Veränderung begriffen, und alle Theorien mussten diesen Veränderungen angepasst werden.

Per griff diese Auffassung jedes Mal stark an und behauptete, dass sein Verhalten von Faktoren bestimmt wurde, auf die er gar keinen Einfluss hatte, weil er sich nicht mit den unbewussten und verborgenen Seiten seiner Person auseinandersetzen wollte. Steve wies diese Ansicht als mystisch verklärt und damit reaktionär zurück, und so befanden sie sich mitten im heftigsten Streit, in dem keine Seite jemals einen Sieg davontrug.

Kein Wunder, dass ihm dauernd Per in den Sinn kam, denn was im Moment mit ihm geschah, entzog sich jeder Analyse und Theorie. Selbst Vermutungen und Hypothesen fielen ihm nicht ein. Das einzig Vernünftige schien das Akzeptieren einer psychischen Krankheit zu sein.

Dennoch mochte sich Steve damit nicht zufrieden geben, es widersprach einfach all seinen Vorstellungen und Überzeugungen. Es mussten doch Hinweise darauf existieren, welche Faktoren zu solch extremen Ausfallerscheinungen führen konnten.

Er war keinen besonders anstrengenden Stresssituationen ausgesetzt, politisch hatte er sich im letzten Jahr eher zurückgehalten, er pflegte normale Kontakte zu Freunden, hatte einige kürzere Liebesbeziehungen hinter sich, die ihn emotional nicht sehr aufgewühlt hatten, seine Jobs brachten ihm genug Geld ein, um davon bescheiden leben zu können ... Er kam einfach nicht hinter die Ursachen für seine Krankheit.

Dazu kam, dass alles so plötzlich begonnen hatte, von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung, ohne jegliche beunruhigende Anzeichen - fast wie eine Naturkatastrophe.

Und das machte ihn stutzig und ließ immer wieder den Verdacht aufblitzen, es handelte sich doch um ein reales Geschehen, das aufgrund unerklärlicher Umstände nur er allein in der Lage war wahrzunehmen.

Die Schlussfolgerungen aus dieser Überlegung waren allerdings fast noch erschreckender als die Annahme einer psychischen Erkrankung. Die Konsequenzen waren geradezu undenkbar ...

Mit zitternden Händen bereitete er sich sein Frühstück in der kleinen Küche, die nur durch einen Vorhang von seinem Wohn- und Schlafräum getrennt war. Wenn er so weiter machte, war er bald nicht nur ein psychisches Wrack.

Während er den Tisch deckte und die Kaffeemaschine in Gang setzte, fiel ihm die Wohngemeinschaft ein, in der er - nach seiner Erinnerung - noch vor zwei Wochen gelebt hatte. Eines Tages war er aufgewacht und hatte sich in dieser engen 1-Zimmer-Wohnung wiedergefunden. Diesen Schock hatte er bis heute nicht verdaut.

Zunächst hatte er das Erlebnis für einen seiner Alpträume gehalten und war wieder eingeschlafen. Als er zum zweiten Mal aufwachte, erging es ihm nicht besser: sein geräumiges Zimmer hatte sich in eine schäbige, kleine Behausung verwandelt. Er hatte geschrien und minutenlang die Kontrolle über sich verloren. Schließlich hatte er eine Tasse gegen die Wand geworfen, wobei sowohl die Tasse als auch der obere Rand seines Spiegels zerbrochen waren. Der Alptraum entpuppte sich als Wirklichkeit, und seine Freunde bestätigten ihm, dass er schon seit einem Jahr dort wohnte, die Regierung duldete kaum noch Wohngemeinschaften.

Seit dieser Zeit hatte er die Kontakte zu Freunden auf das Notwendigste beschränkt. Die Gespräche mit Ihnen verliefen allzu frustrierend, und er hatte den Eindruck, dass einige ihn schon als Sonderling oder Spinner betrachteten. Schließlich erinnerte er sich an Erlebnisse, die sich - nach ihrem Wissen - niemals ereignet hatten, an Dinge, die niemals existiert hatten, an Situationen, die niemals eingetreten sein konnten.

Fünf dieser plötzlichen Veränderungen waren über ihn hereingebrochen, und nach jeder hatten Umwälzungen stattgefunden, denen er hilf- und orientierungslos ausgesetzt war. Denn für alle anderen Menschen in Goldentor hatte es keine Veränderungen gegeben! Jeder - nach seiner Meinung - »neue« Zustand existierte in ihren Augen schon seit langem, und wie sollte er etwas erklären, das er unmöglich analysieren konnte?

Nach gesundem Menschenverstand konnte es nicht wirklich sein, dass von einer Minute zur anderen niemand in der Wohngemeinschaft mehr über Geld verfügte, kaum etwas zu essen da war, alle Leute schlechter angezogen, die Lebensmittelpreise um das Doppelte gestiegen waren, Militär in den Straßen patrouillierte, das Parlament faktisch entmachtet und jede Oppositionspartei verGesandten war. Das konnte nicht geschehen, nicht innerhalb von zwei Wochen. Niemand glaubte so etwas. Es handelte sich hier immerhin um gesellschaftliche Veränderungsprozesse, geschichtliche Abläufe und keinen Hokuspokus.

Und gerade er hatte sich immer eingebildet, etwas von historischen Veränderungsprozessen zu verstehen. Vielleicht war das seine Manie. Vielleicht litt er in diesem Punkt an krankhafter Selbstüberschätzung, und das wirkte sich jetzt auf so verheerende Weise aus.

Ach, Unsinn! Diese Erklärung klang ebenso dürftig wie alle anderen, die er sich zurechtgelegt hatte, seit das Phänomen aufgetreten war.

Er erinnerte sich an seine Gespräche mit Per, in denen er versucht hatte, seinem Freund nahezubringen, was mit ihm geschah. Die letzte Unterhaltung hatte einen besonders deprimierenden Verlauf genommen, nachdem Per darauf beharrt hatte, dass er sich in eine therapeutische Behandlung begeben sollte, und Steve ihn am Ende voller Ärger aus der Wohnung geworfen hatte. Natürlich hatte es wie jedes Mal damit begonnen, dass Per behauptete, Steve hätte mit ihm noch nie über dieses Thema gesprochen. Schon das hatte ihn zu einem Wutausbruch getrieben. Pers lässige, unschuldige Haltung, die Beine übereinandergeschlagen ... alles hatte ihn auf die Palme gebracht: seine unbewegliche Miene, die innere Ruhe, die er ausstrahlte, den bärtigen Kopf auf die Hand gestützt, die wasserblauen Augen, die fest auf ihn gerichtet waren. Steve war förmlich explodiert. Wieder einmal sollte er seine Geschichte erzählen, am Punkt Null anfangen, weil inzwischen eine »Veränderung« eingetreten war und Per sich an die vergangenen Gespräche nicht erinnern konnte, ja fest davon überzeugt war, sie hätten gar nicht stattgefunden.

Das Gespräch konnte so zu keinem Ergebnis kommen, wie alle anderen auch, die er mit seinen Freunden geführt hatte. Das Phänomen war unschlagbar. Es gab kein Mittel zu beweisen, dass die Vergangenheit, so wie er sie kannte, Wirklichkeit gewesen war, denn niemand anders hatte eine Erinnerung daran. So war er letztlich vor die Alternative gestellt: entweder war er verrückt oder alle anderen. Und in diesem Fall sagte ihm die Vernunft, dass er der Kranke war.

Wenn nur nicht diese Zweifel an ihm nagten, dieses Gefühl, als ob wirklich etwas geschah, das von einer Minute zur anderen die Welt veränderte.

Gerade deswegen hatte er bevorzugt Auseinandersetzungen mit Per gesucht. Sein Freund beschäftigte sich schon seit vielen Jahren mit Mystik, außersinnlichen Wahrnehmungen und Schriften aus den Magischen Ländern der östlichen Hemisphäre. Doch die Annahme, dass irgendeine geheimnisvolle Kraft seit einigen Monaten dabei war, die Welt - oder zumindest Goldentor - nach Belieben zu verändern, wobei sie ausgerechnet ihn, Steve Halloran, davon ausnahm, hatte selbst in Pers Gedankenwelt keinen Platz.

Steve glaubte ja selbst nicht daran. Wie oft hatte er sich mit Per über dessen mystischen Unsinn gestritten, und nun kam er selbst auf solch einen abstrusen Gedanken.

Schließlich war er es doch gewesen, der hartnäckig versucht hatte, Per davon zu überzeugen, dass all dieser Firlefanz nur dazu diente, den Menschen Flucht- und Scheinwelten zu eröffnen, um sie von der sozialen Realität abzulenken, damit die Herrschenden umso leichter ihre Macht festigen und ausbauen konnten. Pers differenzierte Betrachtungsweise war ihm ein steter Dorn im Auge, denn dieser leugnete den politischen Aspekt durchaus nicht, vertrat aber die Ansicht, dass dieser »politische Dogmatismus« eine einseitige Sicht der Welt erzeugte und eher schädlich als hilfreich sei - gerade auch im Kampf um eine bessere Gesellschaft. Die Tatsache, dass in anderen Ländern die soziale Realität gerade auf dem fußte, was Steve so vehement ablehnte, brachte Per einen weiteren Pluspunkt in ihren Debatten.

Und in gewisser Weise war Steve seinem Freund sogar dankbar für diese Auseinandersetzungen, die dafür sorgten, dass er seine Position immer wieder kritisch überdachte, und auch Menschen gegenüber aufgeschlossener wurde, die ihren Alltag nicht so wie er politischen Theorien und Aktivitäten verschrieben hatten.

Seinen düsteren Gedanken nachhängend nahm er, fast ohne es zu registrieren, sein karges Frühstück ein. Die letzten heißen Sommertage des Jahres begannen schon am Morgen seine Dachwohnung wie einen Grill aufzuheizen. Ab mittags war es hier kaum noch auszuhalten, und er nahm sich vor, die nahegelegene Badeanstalt aufzusuchen, ehe die Demonstration heute Nachmittag anfing. Er war froh, in dieser Hitze nicht arbeiten zu müssen, auch wenn das Geld von der Sozialfürsorge kaum zum Überleben ausreichte. Den letzten Job hatte er vor zwei Tagen gekündigt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass in dem Betrieb mit giftigen Stoffen ohne jegliche Schutzvorkehrungen hantiert wurde.

Er packte Handtuch, Badehose und zwei Bücher zusammen und machte sich auf den Weg. Solange ihm nichts besseres einfiel, würde er seine Tage wie bisher verbringen müssen, obwohl er nicht wusste, wie lange er es noch aushalten würde, wenn die »Zeitsprünge« - wie er das Phänomen vorerst getauft hatte - bei ihm weiter andauerten.

Draußen überfiel ihn die drückende Hitze, lähmte seine Gedanken. Ein leichter Wind wehte Smog und Staub aus der Industrieregion heran, der dröhnende Autoverkehr verursachte ihm Kopfschmerzen. So verbrachte er den halben Tag lesend, dösend und schwimmend in der überfüllten Badeanstalt auf einer verdorrten Wiese zwischen schwitzenden Leibern.

Seine Bemühungen nicht so viel zu denken, abzuschalten, gelangen ihm überraschend gut, denn als er irgendwann auf die Uhr sah, musste er sich bereits beeilen, um noch rechtzeitig zum letzten Vorbereitungstreffen für die geplante Demonstration zu kommen.

Der Anlass für die Demonstration war die gerade erfolgte Verschärfung der Sicherheitsgesetze, die es in Zukunft der Polizei erlaubte, »politische Tatverdächtige« bis zu 14 Tagen festzuhalten und in dieser Zeit auch Gespräche mit Anwälten und Familienangehörigen zu überwachen. In Goldentor konnte inzwischen von einer demokratischen Regierung keine Rede mehr sein, und diese Entwicklung hatte sich - zumindest für Steve - allein in den letzten zwei Monaten vollzogen. Für alle anderen, mit denen er gesprochen hatte, existierten diese quasi-diktatorischen Zustände allerdings schon seit Jahren. Auch die geringe Zahl an Menschen, die gegen dieses Regime Widerstand leisteten, schien nicht ungewöhnlich. Steve dagegen erinnerte sich an Zeiten - noch vor einem halben Jahr -, als die außerparlamentarische Opposition zu Tausenden zählte. Er hatte konkrete Hoffnungen gehegt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Regime endgültig abgewirtschaftet hatte. Es war sogar zu Reformen gezwungen worden, die Bevölkerung Goldentors hatte sich nicht mehr mit leeren Versprechungen abspeisen lassen. Die radikalen politischen Gruppierungen hatten offen den Sturz der Regierung propagiert, und ein nicht geringer Teil der Bevölkerung sympathisierte mit ihnen. Die Hoffnung, das Ende einer sogenannten Demokratie mitzuerleben, dessen politische und wirtschaftliche Machthaber sich immer mehr bereicherten, während die Menschen hier immer härter arbeiten mussten, um gerade genug zum Leben zu verdienen, war jäh verflogen.

Die »Zeitsprünge« hatten diese »Illusionen« zerschmettert. Steves Lebenssinn war tief erschüttert worden, und wochenlang hatte er geglaubt, in einem Alptraum zu leben, aus dem er irgendwann erwachen müsste. Alles, woran er geglaubt und wofür er gearbeitet hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Manchmal hatte er an Selbstmord gedacht, um diesem Schrecken zu entkommen. Diese Phase lag nun hinter ihm, er war wieder an die Oberfläche gekommen, obwohl immer noch ein Gewicht an ihm zerrte, das drohte, ihn wieder hinab zu ziehen zum Grund des Vergessens. Er schwamm nur mühsam, zerschlagen und ausgelaugt, doch der Wille weiterzumachen und eventuell die Ursache für seine Zeitsprünge zu ergründen, hatte die Oberhand behalten.

Das wenige, was die Medien über Städte wie Woltan oder das Schwere Lager verbreiteten, die über ähnliche gesellschaftliche Strukturen wie Goldentor verfügten, war auch nicht dazu angetan, bessere Stimmung zu erzeugen. Zumindest in Woltan zerbröckelte die demokratische Fassade ebenso, dort drängte das Militär in entscheidenden Machtpositionen.

Auch diese Einschränkung in der Berichterstattung der Medien über Ereignisse in anderen Lebensgemeinschaften, war für Steve ein Ergebnis der Realitätswechsel. Früher hatte es sowohl in der Presse als auch im Tri-Di wenigstens ab und zu Reportagen über andere Kulturen gegeben. Sie waren fast völlig aus der Presselandschaft verschwunden, und niemand erinnerte sich an sie. Ja, das Wissen um andere Lebensgemeinschaften überhaupt hatte bei allen rapide abgenommen. Von alternativen Gesellschaftsmodellen, wie sie in anderen Gegenden des Kontinents vorgelebt wurden, hatte kaum jemand gehört.

Wieso erinnerte nur er sich an die nächtelangen Diskussionen über die Art des Zusammenlebens in diesen Gemeinschaften? Hatten diese Gespräche wirklich nicht stattgefunden? Besaß er falsche Erinnerungen? Und wenn ja, woher kamen diese?

Steve war nicht überrascht, dass sich im Hinterzimmer des Cafes, in dem das Vorbereitungstreffen stattfand, nur ungefähr 40 Leute eingefunden hatten. Die Zeiten, in denen Versammlungen in der Stadthalle abgehalten wurden, waren vorbei bzw. hatte es nie gegeben. Er beteiligte sich auch nicht an der Auseinandersetzung um Strategie und Taktik, Militanz und Gewaltlosigkeit. Diese Diskussionen gehörten für ihn der Vergangenheit an, er glaubte sie längst überwunden. Es war ihm nicht möglich, längst bekannte Argumente immer aufs Neue auszutauschen.

Eine düstere Wolke von Resignation und Frustration umhüllte ihn. Er fühlte sich wie in einem schlecht inszenierten Schauspiel, dessen Thematik ihn nicht interessierte. Im Grunde war er nur aus einem diffusen Pflichtbewusstsein hierhergekommen.

Als alle schließlich, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein, aufbrachen, war nur eines klar: Es sollte versucht werden, die Rede von Bürgermeister Boltagen an die Bevölkerung von Goldentor, die zu einem großen Medienspektakel aufgebauscht worden war, zu verhindern oder nachhaltig zu stören. Diesen Plan allerdings hatte es auch schon vorher gegeben, und Steve war sich auch bewusst, dass es nicht möglich sein würde, die Rede zu verhindern. Niemand konnte ernsthaft anderes behaupten angesichts ihrer lächerlichen Anzahl. Selbst eine Störung erschien wenig glaubhaft.

Der Marktplatz vor dem Parlamentsgebäude war vollgestopft mit Menschen, von denen die Demonstrierenden nur einen kleinen Teil ausmachten. Trotzdem war ihre Wut fast körperlich zu spüren, als Steve sich unter sie mischte. Aus den sternförmig auf den Marktplatz zulaufenden Seitenstraßen drängten weitere Schaulustige in einem nicht enden wollenden Strom nach. Ein Spektakel würde es allemal, dachte Steve. Er fühlte Ärger in sich hochsteigen. Ärger über die Unverschämtheit des Bürgermeisters, der es nach der Verabschiedung der Sicherheitsgesetze auch noch wagte, diese Maßnahme öffentlich zu rechtfertigen und in einen »Sieg für die Demokratie« umzuwandeln. Nur dieser Ärger hatte ihn hierher getrieben, auch wenn er keine Chance für die ca. 300 Demonstranten sah, Boltagens Rede effektiv zu gefährden.

Vor einem Vierteljahr wären wir dreimal so viele gewesen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber in dieser Erinnerung hätte Boltagen einen solchen Versuch gar nicht erst zu unternehmen gewagt. Der Bürgermeister war nicht gerade ein handlungsfreudiger Mann, eher ein alternder Bürokrat.

Bei der Masseninszenierung heute handelte es sich um eine reine Machtdemonstration des Staates. Eine Schmierenkomödie, die das Volk beruhigen und einlullen sollte.

Die Rednertribüne auf der Balustrade vor dem Parlamentsgebäude war von einem massiven Polizeiaufgebot abgeschirmt. Weitere Einheiten der mit Schlagstöcken und Tränengas ausgerüsteten Beamten hielten sich hinter der Tribüne in Bereitschaft, um im Notfall eingreifen zu können. Ein anderes Spezialkommando, das sich kaum sichtbar noch hinter den Reihen der Polizei verbarg, war, wie Steves geschultes Auge erkennen konnte, mit Kotzgas und Gummigeschossen bewaffnet. Zivile Greiftrupps lungerten überall herum und suchten sich schon jetzt verdächtig aussehende Individuen heraus, um sie später abgreifen zu können. Alles bekannte Polizeitaktik, denen die Demonstranten in ihrer geringen Anzahl nichts entgegensetzen konnten. Das Presseaufgebot war enorm. Türme und Plattformen mit Kameras waren aufgestellt worden, um Boltagen aus jeder Perspektive in Szene setzen zu können. In den drei Tageszeitungen und den lokalen Tri-Di-Programmen würde es keine kritischen Stimmen geben. Alle Medien unterstanden seit kurzem einem Konzern und waren praktisch gleichgeschaltet.

Der gigantische Aufwand der offiziellen Medien sowie das unverhältnismäßig große Polizeiaufgebot bereiteten Steve ein mulmiges Gefühl, noch bevor der Auftritt des Bürgermeisters überhaupt begonnen hatte. Es schien ihm, als sei die Situation dafür vorgesehen, dass die Polizei bewusst Vorfälle provozierte, um dann alles eskalieren zu lassen. Dieses Vorgehen hatten sie in der Vergangenheit des Öfteren praktiziert, doch diesmal waren die Demonstranten darauf absolut nicht vorbereitet.

Er gab diese Vermutung an seine Nebenleute weiter, doch es herrschte die einhellige Meinung, dass die Polizei gerade angesichts der Medienpräsenz und der Menschenmassen dies nicht riskieren würde. Trotzdem hielt Steve sich zurück und sah sich nach Fluchtwegen um, die er gegebenenfalls nutzen konnte.

Dabei entdeckte er seinen Freund Per Vantryk auf der Außentreppe eines der kleinen Cafés, die um den Marktplatz gruppiert waren. Der Fotograf hantierte mit zwei Kameras, und seiner düsteren Miene zufolge fühlte er sich auch nicht besonders wohl.

Steve ging auf ihn zu und begrüßte ihn.

»Steve, wie geht es dir? Ich freue mich, dich zu sehen.«

Steve war erstaunt und gleichzeitig erleichtert über diese Reaktion. Der Streit mit Per hatte ihm wie ein Stein im Magen gelegen. Anscheinend trug er ihm nichts mehr nach.

Nicht besonders,« antwortete er wahrheitsgemäß. »Glaubst du, dass du die Bilder verkaufen kannst?«

»Das wird schwierig, es sind ja Dutzende von Pressefotografen hier. Vielleicht gelingt mir ein Schnappschuss, den ich an eine der kleinen Wochenzeitungen verkaufen kann. Die zahlen natürlich kaum etwas, und ich bin dringend auf das Geld angewiesen. Die Chancen stehen nicht gut. Aber falls hier wirklich etwas passiert, sollen die Bilder auch eher dazu dienen, das Geschehen aus einer anderen als der offiziellen Perspektive festzuhalten.«

»Dann hast du also auch kein gutes Gefühl.«

»Nein. Die ganze Show stinkt zum Himmel. Wozu der Rummel? Das ist doch sonst nicht Boltagens Art. Er kann zwar Theater spielen, hält sich aber eher zurück. Etwas anderes möchte ich dir noch sagen, bevor es hier losgeht: ich habe wiederholt über unser Streitgespräch nachgedacht ...«

»Ich weiß, ich habe mich wie ein Trottel benommen,« entschuldigte sich Steve.

»Darum geht es mir nicht. Dein blödes Verhalten hat mich im Nachhinein dazu gebracht, dass ich denke, es ist vielleicht doch mehr an deiner Geschichte, als ich zunächst wahrhaben wollte. Sonst wärest du ja nicht so in Wut geraten. Außerdem passt diese Sache einfach nicht zu dir. Du bist doch mit deinem rationalen Kopf immer ganz gut zurechtgekommen. Und dann plötzlich diese Psychose oder was immer es auch ist ... Wir müssen uns noch einmal darüber unterhalten.«

Steve sah ihn mit großen Augen an. Das war wieder einmal typisch für Per. Er sagte das so leichthin, dabei war es bestimmt nicht einfach für ihn, seine vehemente Ablehnung zu korrigieren.

»Nichts lieber als das! Ich brauche wirklich jemanden zum Reden. Ich könnte heute Abend bei die vorbeischauen.«

»Tu das. Ich bin auf jeden Fall zuhause ... Und pass auf dich auf.«

Steve nickte und mischte sich dann wieder unter die Demonstranten, die jetzt angefangen hatten, Parolen zu rufen und Transparente zu entrollen. Die Menge verhielt sich weiterhin abwartend. Der öffentliche Auftritt Boltagens war so ungewöhnlich, dass er inzwischen ca. 3000 Menschen angelockt hatte, obwohl nur mit dem üblichen Pathos, leeren Versprechungen und nichtssagendem Gerede zu rechnen war.

In diesem Augenblick betrat der Bürgermeister die Bühne. Steve fiel sofort auf, wie alt und schlecht Boltagen aussah. Aller Schminke zum Trotz wirkte sein Gesicht hohlwangig und schlaff, seine Bewegungen waren unsicher. Auch sein enormes Körpergewicht konnte er nicht ganz verbergen. Nur in seinen Augen glomm das nie verlöschende Feuer eines Fanatikers, der seinen Weg bis zum Ende gehen würde.

Der Mann ist nichts weiter als eine Gallionsfigur, dachte Steve. Die Mächtigen aus Wirtschaft und Politik hielten ihn sich nur, weil er ein guter Schauspieler war und bei ihm belanglose Worte wie großartige Enthüllungen klangen.

Seine Ansicht wurde bestätigt, als er neben Boltagen den Bankier Telström erblickte, eine graue Eminenz und Herrscher über ein Imperium aus Geld und Macht, das sich nicht auf Goldentor beschränkte. Ihm wurden intime Verbindungen zu den Militärs in Woltan und hohen Politikern im Schweren Lager nachgesagt. Ein Drahtzieher hinter den Kulissen. Der Banker wirkte im Gegensatz zu Boltagen trotz seines Alters energisch und gelassen. Er hielt sich stocksteif und blieb immer einen Schritt hinter dem Bürgermeister, aber Steve war sicher, dass er als Kontrollinstanz und Rückendeckung fungierte.

Die Rede nahm ihren Lauf, ein blubbernder Schwall von Seifenblasen mit immer wiederkehrenden Beteuerungen und Statements. Steve fing an, die Parolen der Demonstranten zu skandieren, jetzt innerlich ruhiger in der Annahme, dass diese Demonstration nach dem gleichen Schema wie etliche andere verlaufen würde. Es gelang den Demonstranten nicht, sich gegen die enorme Lautsprecheranlage durchzusetzen, und weitergehende Aktionen verGesandten sich bei derartig massierten Polizeikräften. Das hatten zum Glück auch die Militantesten unter ihnen eingesehen.

Boltagen hastete von einem Schlagwort zum nächsten, ohne seinen Worten die nötige Überzeugungskraft verleihen zu können. Die Menge zeigte sich wenig beeindruckt. Steve sah in apathische und mürrische Gesichter, spürte, dass die Menschen unruhig wurden. Boltagens Stern war am Verlöschen, sein Charisma verschwunden.

Vielleicht war er krank, dachte Steve. Aber Boltagen machte eher einen ausgelaugten, mitgenommenen Eindruck. Um Steve herum fingen die Menschen an, sich mit ihren Nachbarn zu unterhalten, ein Teil von ihnen wandte sich gelangweilt schon nach zehn Minuten zum Gehen.

Steve schmunzelte. Das würde den Regierenden gar nicht schmecken. Denn sie registrierten die Vorgänge ebenso, obwohl im Tri-Di sicher nur die klatschenden Anhänger der Bürgermeisters zu sehen sein würden. Er beobachtete, wie sich Telströms Gesicht zu einer ärgerlichen Fratze verzog. Vielleicht konnte Per hier einige schöne Fotos schießen.

Gerade als Steve sich überlegte, ob auch er nach Hause gehen sollte, - die Rede konnte sich noch lange hinziehen, Boltagen besaß einen unerschöpflichen Wortschatz - nahm er eine Veränderung wahr.

Die Luft um ihn herum begann zu knistern, als wäre sie elektrisch aufgeladen. Das Geräusch wurde innerhalb von Sekunden so intensiv, dass es ihm die Ohren verstopfte und keine anderen Töne mehr zuließ. Er hörte weder Boltagens Lautsprecherstimme, noch die Unterhaltungen seiner Nebenleute. Er sah, dass sie ihre Lippen bewegten und wollte ihnen etwas zurufen, doch ein Übelkeit erregendes Gefühl stieg in seinem Magen hoch, und er musste schlucken, um den Ekel herunterzuwürgen. Zugleich ergriff ihn eine Welle von Panik, und er vermutete zunächst den Einsatz von Kotzgas von Seiten der Polizei. Doch die Szenerie hatte sich nicht verändert. Noch nicht. Er bekämpfte seine Übelkeit und die aufsteigende Angst und hob erneut zu sprechen an, als das Knistern sich verstärkte und sich in einem lautlösen, weißen Blitz entlud.

Schlagartig wusste Steve, was vorging; obwohl er es bisher nie im Wachzustand miterlebt hatte: ein Realitätswechsel kündigte sich an.

War das der Moment, in dem sich seine Verrücktheit manifestierte? Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, und dann war der Augenblick auch schon vorüber.

Als wenn eine Kulisse durch eine andere ersetzt wurde, veränderte sich von einer Sekunde zur anderen seine Umgebung radikal. Um ihn herum schrien Menschen, rannten in wilder Flucht an ihm vorbei, stießen ihn zur Seite und drängten vom Marktplatz herunter. Das charakteristische Geräusch beim Abfeuern von Tränengasgranaten vermischte sich mit unverständlichen Lautsprecherdurchsagen und dem näherkommenden Trampeln schwerer Stiefel.

Entsetzt und gelähmt starrte Steve auf das erschreckende Bild, das sich seinen Augen bot: aus den Polizisten vor der Bühne war eine Abteilung Soldaten geworden, die im Gleichschritt mit mehreren gepanzerten Fahrzeugen langsam gegen die Menge vorrückte. Eine weitere Abteilung Soldaten rannte hinter dem Parlamentsgebäude hervor und riegelte den Platz zu dieser Seite völlig ab. Über der fliehenden Menge kreiste ein Armeehubschrauber, aus dem ebenfalls mit Tränengas geschossen wurde.

Immer noch bewegungsunfähig, seinen Augen nicht trauend, schwenkte Steve den Blick zur Bühne und erlebte einen Vorgang, der sich tief in sein Gedächtnis eingrub: Boltagen stand wie zuvor vor dem Mikrophon, die Arme triumphierend emporgerissen, ein irres Lachen verzerrte sein Gesicht. Auf seiner Schulter lag die Hand Telströms, der ebenfalls eine Siegerpose eingenommen hatte und nun seinem Freund die Hand schüttelte, als ob sie sich gegenseitig gratulierten.

In diesem Moment war sich Steve völlig sicher, erkannt zu haben, was wirklich geschah. Ein eiskalter Schauer ließ ihn frösteln.

Doch es war unmöglich, einen weiteren Gedanken zu fassen, er wurde von den panikerfüllten Menschen fast umgerannt, seine Augen begannen von dem Tränengas zu brennen, er musste husten und spucken.

Bloß weg hier, dachte er, hatte aber für einen Moment jede Orientierung verloren. Eine Hand fasste seinen Arm.

»Willst du hier Wurzeln schlagen?« keuchte es neben ihm.

»Vicki« , stieß er hervor und ließ sich von seiner ehemaligen Mitbewohnerin und Freundin mitziehen.

Ein Stich durchfuhr seine Brust, und trotz der brenzligen Situation schweiften seine Gedanken für einen Augenblick ab. Er hatte sie geliebt, liebte sie immer noch ... die kurze gemeinsame Zeit in der Wohngemeinschaft ... dann der Realitätswechsel vor zwei Wochen, der ihn in seiner jetzigen Behausung aufwachen ließ und Vickis Gefühle für ihn weggewischt hatte. Er war ihr seitdem aus dem Weg gegangen, und nun begegneten sie sich ausgerechnet hier wieder.

»Hier entlang!« rief die blonde Frau ärgerlich. »Was ist los mit dir? Träumst du oder hast du etwas abbekommen?«

»Nein, es geht schon wieder. Ich bin nur etwas durcheinander.«

»Das sind ja ganz neue Züge an dir.«

Allmählich fanden seine Füße den Rhythmus und er erkannte die Richtung, in die Vicki ihn führte. Er beglückwünschte sich im Nachhinein, dass seine Intuition ihm geraten hatte, sich nicht mitten in die Menge zu stellen. Wahrscheinlich wäre er von dort nicht mehr weggekommen. Das Schreien und Stöhnen der Fliehenden und Verletzten hinter ihnen, das dröhnende Geräusch des Helikopters und der Panzerfahrzeuge marterten seine Ohren. Doch nun, da der Fluchtinstinkt die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatte, klärte sich auch der Nebel in seinen Gedanken.

»Dorthin!« rief Vicki und zeigte auf eine der kleinen Seitenstraßen. »Von dort sind sie schon abgerückt.«

Plötzlich blieb Steve stehen, Vickis Finger krallten sich in seinen Arm. Die Geräuschkulisse hatte sich verändert, es klang wie ...

»Schüsse!« schrie er ungläubig. »Sie schießen auf die Leute!«

»Komm weiter, drängte Vicki. »Tu nicht so, als wäre das etwas völlig Neues für dich. Es hat ja Tote genug in den letzten Monaten gegeben, und du warst oft dabei. Du wusstest doch, worauf du dich hier einlässt.«

Automatisch rannte er weiter, seine Beine bewegten sich von selbst. Nun schossen sie also auf Menschen, konnte es noch schlimmer kommen?

Hatte es Zweck in einer Welt weiterzuleben, in der unausweichlich seine schlimmsten Horror-Visionen Wirklichkeit wurden? Was hatte sich noch alles innerhalb der wenigen Sekunden der Realitätsmanipulation verändert? Wo wohnte er jetzt? Hatte er noch die gleichen Freunde? Konnte Per sich noch an ihr Gespräch erinnern?

Wie betäubt folgte er Vicki durch ein Gewirr kleiner Straßen, alles wirkte noch verwahrloster, als er es gewohnt war. Farbe blätterte von den Fassaden der Häuser, die allesamt schäbig und heruntergekommen aussahen. Der Autoverkehr hatte stark abgenommen, die ausgemergelten Gestalten, an denen sie vorbeihasteten, stierten meist ausdruckslos vor sich hin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine eigene Fußbekleidung nur noch aus durchgelaufenen Turnschuhen bestand und seine Hose eingerissen und viel zu kurz war.

Einige andere Personen in ihrem Alter hatten sich ihnen angeschlossen, er kannte die Gesichter, die Namen wollten ihm nicht einfallen. Er registrierte dies alles, ohne dass es richtig zu ihm durchdrang.

Irgendwann standen sie dicht gedrängt in einem Hinterhof, eine leise geführte Auseinandersetzung folgte darüber, ob und welche Wohnungen und Verstecke vor dem Zugriff des Militärs sicher wären. Er hielt sich abseits, erledigt und ausgepumpt. Er fühlte sich wie eine leere Hülle, als könnte er sich hier hinsetzen und sterben, ohne es bewusst zu erleben.

Vicki kam zu ihm, ihre Hand streichelte seine Wange. Jetzt erst merkte er, dass er weinte.

»Steve, du bist ja völlig fertig. Komm mit uns. Wir haben beschlossen, uns im Slum-Viertel zu verbergen, bis wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt ist.«

Slums? Er schüttelte den Kopf. Er begriff es nicht. Er brauchte einfach Zeit. Slums hatte es in Goldentor nie gegeben. Es handelte sich um einen Begriff aus der Geschichte. Er bezweifelte, dass es irgendwo anders auf der Erde Slums gab. Was geschah mit ihm? Oder was geschah mit Goldentor?

»Ich gehe zu Per,« sagte er mit brüchiger Stimme. »Es ist ja nicht weit von hier. Ich warte noch eine Weile, bis es dunkel geworden ist. Und dann ... hier halte ich es nicht mehr aus.«

»Ich möchte wissen, was mit dir los ist,« sagte Vicki und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. »Da steckt doch mehr dahinter als diese Demonstration.«

Steve machte sich von ihr los. Er konnte ihre Nähe nicht ertragen, obwohl er sie herbeisehnte. Er hatte Angst zusammenzubrechen, wenn er jetzt seinen Gefühlen nachgab. Am liebsten hätte er ihr einfach gesagt, dass er sie liebte, aber das war unmöglich.

»Vielleicht erzähle ich dir später alles,« sagte er ohne Überzeugung.

»Wenn alles vorbei ist.«

»Bist du sicher, dass du allein klarkommst?«

»Ja, natürlich. Ich muss mich nur ein wenig ausruhen.«

Sie musterte ihn kritisch. In dem Halbdunkel war ihr Gesicht kaum zu erkennen .

»Na gut. Du musst ja wissen, was du tust.«

»Keine Angst. Bei Per bin ich sicher.«

Sie verabschiedeten sich, die kleine Gruppe verließ einer nach dem anderen den Hof. Steve setzte sich auf den kalten Boden, den Rücken gegen eine der herumstehenden Mülltonnen gelehnt. Ihn fror, obwohl die Luft immer noch warm war. Er hatte einen pappigen Geschmack im Mund, spürte kaum seinen Körper. Er atmete ein paarmal tief durch, um seine Verkrampfung zu überwinden, aber der Schock steckte weiterhin in seinen Knochen.

Er musste mit Per reden, auch wenn dieser infolge der Realitätsveränderung wieder alles vergessen hatte. Er musste seine Entdeckung teilen. Er konnte unmöglich diese Last allein tragen. Und dann musste er aus Goldentor verschwinden, solange das noch möglich war. Vielleicht waren sie ihm schon auf der Spur, wenn sie so mächtig waren, wie er jetzt glaubte.

Der Anblick von Boltagen und Telström hatte ihm die Augen geöffnet. Der Moment ihres Triumphes war zum Moment seiner Erkenntnis geworden. Er war nicht verrückt, oh nein, es geschah wirklich: nicht etwa die Zeit wurde verändert, sondern die Realität, und die beiden spielten eine wichtige Rolle bei diesem Vorgang. Es klang absurd, aber er war vollkommen davon überzeugt: in irgendeiner ihm unbekannten Art und Weise korrigierten irgendwelche Leute nach ihrem Belieben die Wirklichkeit in Goldentor!

Per musste ihm helfen, seine Gedanken zu sortieren. Was geschah, war ungeheuerlich. Unmöglich hätte er noch vor kurzem gedacht. Aber er hatte es miterlebt und hatte Boltagen und Telström gesehen. Er wusste nicht, weshalb der Vorgang gerade ihn nicht erfasste. Er konnte sich auch nicht vorstellen, wie so etwas vor sich ging. Wurde eine Art Waffe benutzt, eine technische Apparatur, die diesen unglaublichen Vorgang ermöglichte? Er wusste nur, dass es geschah, und dass er, aus welchem Grund auch immer, davon verschont blieb.

Es hatte keinen Zweck, sich das Gehirn darüber zu zermartern, wie geschichtliche Abläufe, die ja das ständige Produkt der Handlungen aller Menschen waren, von einem Augenblick zum anderen in eine bestimmte Richtung gedrängt werden konnten. Der Gedanke war schwindelerregend. Aber das Absurde war Wirklichkeit geworden. Hatte ihn Per nicht immer glauben machen wollen, dass Realität nur in einer gesellschaftlichen Übereinkunft bestand, etwas als real anzuerkennen und etwas Anderes ins Reich der Phantasie zu verbannen? Lag dort der Punkt, wo der geheimnisvolle Manipulator ansetzte? Und konnte solch eine Macht gestoppt werden?

Der Gedankenwirrwarr bereitete ihm Kopfschmerzen.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Er wartete noch eine halbe Stunde, dann raffte er sich auf und verließ ebenfalls den Hinterhof. Auf den Straßen war von Polizei oder Militär nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sich das Geschehen anderswohin verlagert, oder es war bereits alles vorbei. Trotzdem blieb Steve vorsichtig, als er sich Pers Wohnung näherte.

Er hoffte, dass sein Freund zu Hause war, falls er nicht festgenommen worden war oder ihm noch etwas Schlimmeres zugestoßen war. Schnell verbannte er diesen Gedanken wieder. Es durfte ihm einfach nichts geschehen sein.

Als er schließlich vor Pers Haustür stand, hallte das Krachen der Schüsse immer noch in seinen Ohren wieder.

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt

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