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2 Der weiße Neger

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Vielleicht hieß er ja Harald Harren und war ein Verwandter von einer meiner angebeteten, ruhigen, schönen Favoritinnen, Annemie Harren. Sei es dahingestellt, wie es um die Verwandtschaftsverhältnisse und den Familiennamen nun wirklich bestellt war. Die Geschichte steht jedenfalls auf zwei soliden Beinen:

Der Vorname ist sicher und meine Verehrung für Anne-Marie ebenfalls.


Die folgende Vorgeschichte ist für den Titel der Haupterzählung recht bedeutend: Im zarten Alter von etwa drei Lenzen besuchte ich, am Händchen meiner Erzeuger, den jährlichen Vogelschuss an Christi Himmelfahrt auf der Obstwiese hinter der Gasstätte Beumers. Wo sonst Herr Kranen und seine Jagdgenossen ihre Strecke begossen, stand der Pfahl mit seinen Querlatten, dem Kugelfang in Form eines solide dahinter genagelten Holzbretts und davor die holzgeschnitzten Vögel, die es zu zerschießen galt. Offensichtlich hatte sich mein Vater Leo noch nicht von der Ächtung der Schützenbrüder vor meiner Geburt erholt und zeigte überhaupt keine Ambitionen, den Vogel abzuschießen und noch einmal Schützenkönig zu werden.

Seine erste Regentschaft hatte ich ihm vermasselt. Nach der Herbstkirmes 1955 war durch die üblichen Dorftratschereien das Gerücht zur sichtbaren moralischen Gewissheit geworden: das unverheiratete Schützenkönigspaar marschierte bereits mit seinem Nachwuchs durch die Schützenfeste und Kirmesveranstaltungen. Dieser skandalöse Umstand konnte auch nicht mehr durch die Hochzeit der beiden Geächteten, knapp fünf Monate vor meiner Geburt wiedergutgemacht werden. Dem Ornat entledigt, unehrenhaft seines höchsten Amts in der Sankt Urbanus Schützenbruderschaft beraubt, erwarteten meine Eltern 1956 die Niederkunft ihres Skandalsöhnchens.

Dafür rächte ich mich in meinem Erwachsenenleben durch totale Ignoranz gegenüber der Bruderschaft. Wohl eher intuitiv, denn erst vor vier Jahren erfuhr ich von den genaueren Umständen.


So stelle man sich also einen kleinen, pummeligen, schwarzen Lockenkopf, zwischen seiner eleganten, rothaarigen Mutter im feinsten Tuch und dem stolzen Vater, mit Hut über der fortschreitenden Glatze auf dem Gras Weg durch die erheiterte, euphorische Dorfgemeinschaft promenierend, vor. Bei einem der Getränkestände musste ich wohl etwas mir völlig Unbekanntes, Unmögliches zum ersten Mal in meinem jungen Leben entdeckt haben, dass mich zu einem spontanen, empörten, lauten Aufschrei veranlasste:


„Mama, Papa, guckt mal, die haben sich gar nicht gewaschen!“


Meine gesamte Werteordnung hinsichtlich der Körperhygiene der Endfünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die ich recht früh verinnerlicht und schätzen gelernt hatte, brach vor meinen unschuldigen Kinderaugen beim Anblick einer Studentengruppe aus Ghana jäh zusammen. Diese Menschen hatten es tatsächlich gewagt, an diesem besonderen Tag, an dem der neue Schützenkönig ermittelt werden würde, an dem jeder sich, so gut er konnte, herausgeputzt hatte, wie es Einkommen und Geschmack eben erlaubten, sich hier inmitten des Epizenters rheinischen Volkstums, sozusagen bis an den heiligen Gral deutscher Stammesrituale, heranzupirschen und so zu tun, als gehörten sie dazu. Ihr Aussehen erinnerte mich an den warmherzigen Kohlenhändler, der mich manchmal auf seinem Beifahrersitz Platz nehmen ließ, wenn er bei meinen Großeltern den fettig schimmernden, schwarzen, kaugummiartigen Brennschlamm, die Eierkohlen, die feinkörnigen Anthrazitkohlen und den Brechkoks anlieferte. Schwarz wie seine Ladung in den verstaubten, dunkelbraunen Säcken, die er aufbuckelte, waren seine Kleider, Hände und natürlich das verschwitzte Gesicht, das den herumwirbelnden Kohlenstaub der Umgebung aufsaugte wie ein feuchter Schwamm.

Hier standen also, nach meinem klar umrissenen, beschränkten Weltbild eines Dreijährigen, ungewaschene Kohlenhändler und fassten mit ihren schmutzigen Händen die frischen Biergläser an, aus denen ich meine Fanta trinken sollte.

Nach diesem ersten, falschen Eindruck, was den Ursprung der schwarzen Haut von Afrikanern anging, war natürlich eine Aufklärung über mich ergangen und ich hatte schon eher eine Ahnung, was auf mich zukommen würde, als der Ankunft von Harald in unserer Klasse des zweiten Schuljahrs so etwas wie die Verkündigung des Herrn in der Bibel vorauseilte. Aus Kenia sollte er kommen, kam aber nicht zum angekündigten Termin. Seine Eltern arbeiteten wohl bei der Entwicklungshilfe und führten offenbar ein unstetes Leben zwischen den Kontinenten, um die Missionierung der Dritten Welt mit den Errungenschaften des Deutschen Wirtschaftswunders voranzutreiben.

Als Harald dann eines morgens von seiner blonden Mutter in den bereits begonnenen Unterricht gebracht wurde, war die Verblüffung recht ausgewachsen.

Auch Harald war blond, mit einem Mecki gekrönt. Er sprach übersprudelnd viel und gutes Deutsch, was uns Dorfschülern immer noch Schwierigkeiten bereitete, weil die einen mehr, die anderen weniger, durch die Dominanz des „Platts“ in ihren Familien und überhaupt auch außerhalb der Schule, mit der Zweisprachigkeit zu kämpfen hatten.

Sein Teint war glatt und goldbraun, so als wäre er gerade aus einem Endsommertag in unseren kalten, grauen Winterregen herabgerieselt. Er sah so gar nicht wie die Afrikaner vom Vogelschuss aus. Dennoch kam er aus Afrika, was er uns auch lautstark mit vielen Geschichten von wilden Tieren und exotischen Pflanzen zu beweisen versuchte. Neben den üblichen Holzmaskensouvenirs, Speeren und Pfeil und Bogen, hatte er komische Holzstücke von etwa Kinderarmlänge angeschleppt. Dabei hielt er selbstbewusst und ungefragt einen erläuternden Monolog über die Besonderheit dieser Keulen. Daraus würde Zucker gemacht. Damit erntete er nicht nur unsere Skepsis an all seinen Geschichten, sondern auch noch einvernehmlich abweisendes, höhnisches Gelächter. Er wollte uns erzählen, woraus Zucker gemacht wird? Den ganzen vergangenen Herbst über hatten wir die vermatschten Land- und Dorfstraßen mit unseren kleinen Fahrrädern durchpflügt. Und immer waren es die Doppelhänger an den Traktoren und Zugfahrzeugen, die aus den nassen Zuckerrübenfeldern den Matsch zwischen den grobprofiligen, großen Reifen auf die Asphaltdecke abrollten. Wir hatten, was Klugscheißer Harald natürlich nicht wissen konnte, weil er da noch bei den Negern war, zu Sankt Martin auch Fackeln aus Zuckerrüben geschnitzt. Dabei naschten wir das frische, weiße Fleisch aus Augen- und Mundhöhlen der entstehenden Gesichter und wussten seitdem, warum unser „Siepnaat“ aus Zuckerrübensaft hergestellt wird.

Das letzte Lachen allerdings kam aus den flinken Augen des blonden Negers. Er kämpfte gerade wie ein Löwe aus der Massai Mara um seine soziale Anerkennung in der neuen Klasse. Demzufolge musste er nun zwangsläufig punkten. So ruhig und siegessicher er das Lachgewitter abgewettert hatte, gleichermaßen höflich und galant zögerte er keinen Augenblick, nachdem sich der Sturm der Entrüstung in der Klasse gelegt hatte, Fräulein Jansen um ihr Klappmesser zu bitten. Das parkte sie immer zum Obstschneiden vor sich auf dem Lehrerpult. Entgegen deren Prinzip, die Messergewalt nicht in Kinderhände abzugeben, erlaubte sie ihm, es sich vom Pult zu holen. Nach einer Warnung vor der Schärfe der Klinge und Harald ihr wiederum im Gegenzug versichernd, dass er in Afrika immer mit viel größeren Dolchen verletzungsfrei operiert habe, war seine Wirkung auf unsere Lehrerin wohl überzeugend genug. Sie befürchtete keine Dolchstoßattacke auf die Klasse, weil er unumwunden klarstellte, mit ein paar Messerschnitten lediglich kleine Zuckerrohrstücke ab raspeln zu wollen, damit jeder einmal kosten könne. Ein Meister mit dem Messer, lagen in Windeseile zwanzig kleine Stückchen von dem schilf- oder bambusartig aussehenden Stock vor ihm auf seinem Arbeitsplatz. Brav folgten alle Schüler seiner Einladung, machten dem zufrieden strahlenden Rohrschnitter seine Aufwartung und steckten sich einen Holsplitter zwischen die teilweise noch wackeligen Milchzähne.

Die vorher am lautesten protestiert hatten, fragten demütig nach einem Nachschlag, als wollten sie sich für ihre voreilige Besserwisserei entschuldigen. Harald schnitt emsig weiter, bis das Messer seiner neuen Lehrerin begann stumpf zu werden und der Zuckerrohrschatz zusehends schrumpfte.


So führte der weiße Neger aus Kenia das Zuckerrohr in Birgden ein.

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