Читать книгу Versteckspiel mit T-Rex - Friederike Elbel - Страница 5

II

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„Robert! Bitte steh auf. Deine Geschwister frühstücken bereits“, hallte die Stimme seiner Mutter durch das Treppenhaus. „Wenn die beiden mit ihrem Haustierchen selber nachts Gassi gehen müssten, lägen sie jetzt bestimmt noch tief schlafend in ihren Bettchen und säßen nicht am Frühstückstisch“, knurrte er übermüdet in seine Bettdecke. Wieso hielt ihm seine Mutter immer das untadelige Benehmen seiner zwei kleinen Geschwister vor? Wenn sie auch nur ahnen würde, welch grausame Mordanschläge ihre beiden süßen Zwillinge hinter ihrem Rücken mittels eines lebenden T-Rex ausüben wollten, wäre sie bestimmt nicht so ausgeglichen. Müde schleppte er sich in das Albtraumbad. Das Waschbecken, das von einer Firma stammte, die, wie man unter dem Beckenrand lesen konnte, im Jahr 1853 gegründet worden war, funktionierte nur zu 50 Prozent. Entweder kam kein Wasser und wenn, dann braunes, oder der Abfluss war verstopft. Es war auch schon vorgekommen, dass beide Katastrophen zur gleichen Zeit geschahen. Während er sich die Zähne putzte, examinierte er im Spiegel seine dunklen Augenringe. Dieser Anblick sollte seiner Mutter eigentlich Sorgen bereiten und ihn krankheitsbedingt in der Schule entschuldigen. Doch tapfer wie er war, überwand er seine Müdigkeit und als er in die Küche schlenderte, die in ihrer Größe und ihrer Düsternis jedem Gruselschloss in den Karpaten alle Ehre gemacht hätte, warf ihm seine Mutter nur einen kurzen, oberflächlichen Blick zu und widmete sich dann wieder den Zwillingen, um ihnen beim Anziehen der Jacken zu helfen.

„Mach schnell. Wir müssen los. Ich habe dir ein Brot für unterwegs fertig gemacht“, rief sie ihm zu.

„Weshalb? Die Schule fängt doch erst in einer Stunde an“, protestierte er.

„Ich habe vorher eine Lehrerkonferenz. Bis deine Unterrichtsstunde anfängt, kannst du noch ein bisschen lernen“, schlug ihm seine Mutter vor.

„Mami, ich bin durch meine guten Noten schon jetzt als Streber gebrandmarkt. Wenn ich noch besser werde, sprechen selbst die Lehrer nicht mehr mit mir“, war sich Robert diesbezüglich ziemlich sicher. Er langte nach dem von seiner Mutter für ihn vorbereiteten Frühstücksbrot und biss herzhaft hinein, denn das nächtliche Bäumewerfen machte hungrig. Er hatte den ersten Bissen noch nicht heruntergeschluckt, als ihn jemand Kleines am T-Shirt zupfte. Langsam drehte er seinen Kopf nach links unten, bis er in hellblaue, bettelnde Augen sah. Er ahnte, was das bedeutete.

„Unser Glücksdrache hat noch Hunger“, wisperte Miranda. „Wir können leider erst heute Mittag, wenn der Kindergarten zu Ende ist, beim Bauernhof die Eier abholen. Gibst du uns also bitte dein Butterbrot?“ Er konnte schlecht einen T-Rex verhungern lassen, übergab seiner Schwester widerspruchslos sein Brot und überlegte, was mit den Eiern des Nachbarn gemeint sein könnte. Über diese Mitteilung seiner Schwester zermarterte er sich im Auto den Kopf, denn bei dem besagten Mann liefen im Hof ein paar mickrige Hühner herum, die von einer hässlichen, weißen Bulldogge beschützt wurden. Auch konnte er sich nicht vorstellen, dass dieser Nachbar, bösartig wie er ihn bisher mitbekommen hatte, freiwillig die Eier herausrücken würde. Und Geld, um Eier zu kaufen besaßen die beiden ebenfalls keines. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich Miranda und Sebastian auf dem Rücksitz mit allerlei Gestik und Geflüster unterhielten. Als ihre Mutter die beiden am Kindergarten herausließ, stieg Robert ebenfalls aus. Er wollte wissen, ob sie mal wieder etwas Lebensbedrohliches ausheckten.

„Wartet mal, ihr zwei Süßen!“, rief er ihnen hinterher, als sie versuchten ihm zu entwischen. „Würdet ihr mir bitte sagen, was ihr heute Mittag unternehmen wollt? Ihr geht zum Nachbarn, um bei ihm Eier abzuholen? Und wie wollt ihr das bewerkstelligen? Er hat doch klargemacht, dass er Kinder nicht ausstehen kann. Überhaupt gar keine Kinder.“

„Natürlich muss das ganz unbemerkt geschehen“, erklärte ihm Sebastian, als ob es die normalste Sache der Welt sei. Robert bemühte sich, seine Gedanken zu sortieren.

„Dass ich das jetzt richtig verstehe. Ihr wollt, um Nahrung für euren Glücksdrachen zu finden, beim Nachbarn heimlich über einen Zweimeterzaun klettern. Danach versucht ihr einer bissigen Bulldogge zu entkommen, um anschließend Eier von halb verhungerten Hühnern zu klauen? Wäre es nicht einfacher, in einen Laden zu gehen?“, schlug er seinen Geschwistern vor.

„Das geht nicht! Dort sind Videokameras installiert“, belehrte ihn Miranda.

„Ich meinte einkaufen, nicht stehlen!“ Robert erschrak über die offensichtliche kriminelle Energie der beiden. Als Kleinkriminelle liefen sie gerade zu Höchstform auf.

„Jetzt hört mir gut zu. Ich werde für euren Glücksdrachen etwas zu fressen finden. Das verspreche ich euch. Sagt mir bitte, wann der Kindergarten zumacht.“ Robert konnte es kaum verantworten, dass seine fünfjährigen Geschwister zu Dieben wurden.

„Um zwei Uhr“, lispelte Miranda.

„In Ordnung!“ Robert rang nach Fassung. „Ihr beide tut bitte nichts ohne mein vorheriges Einverständnis. Habt ihr mich verstanden? Wenn ihr zu Kriminellen werdet, muss ich alles Mami erzählen. Ihr geht also nirgendwohin klauen. Wo habt ihr das überhaupt her?“, wollte er wissen.

„Gomi hat uns erzählt, falls jemand am Verhungern ist, kann sich derjenige sehr wohl herrenloses Zeug einverleiben oder so ähnlich.“ Das hatte ihm gerade noch gefehlt, seine Großmutter fiel ihm in den Rücken. Er vermutete allerdings, dass Miranda und Sebastian das sicherlich aus irgendeinem Zusammenhang gerissen hatten.

„Die Eier beim Nachbarn sind kein herrenloses Zeug und ihr und euer Glücksdrache seid nicht am Verhungern. Wir sprechen später darüber. Und jetzt geht in euren Kindergarten“, befahl er ihnen. Er ging die paar Schritte zu seiner Schule, suchte das Klassenzimmer auf und setzte sich auf seinen Platz in der letzten Reihe. Merkwürdigerweise roch das Klassenzimmer genauso wie in Deutschland. Es roch nach Kreide, vermengt mit ein wenig Fußschweiß. Er schlug seine Chemiebücher auf. Neben den englischen durfte er noch seine deutschen Schulbücher als Hilfe benützen. Obwohl er sich wirklich bemühte etwas zu lernen, drehten sich seine Gedanken ausschließlich um den neuen Hauskameraden. Er hatte gelesen, er wusste jedoch nicht mehr genau wo, dass die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hinwiesen, dass T-Rex Aasfresser gewesen sein könnten. Auf seine jetzige Situation bezogen wusste er auch, dass nicht allzu viele zum Verzehr bestimmte tote Kühe oder Pferde, geschweige denn tote Menschen, in der Gegend herumliegen würden, damit sich klein T-Rex den Magen vollschlagen konnte. Selbst in den Vereinigten Staaten nicht, höchstens auf Friedhöfen. Ihm fuhr es schlagartig eiskalt den Rücken hinunter. Ganz in ihrer Nähe befand sich ein Friedhof. Kein großer, eher ein kleiner, aber immerhin ein Friedhof mit vielen Gräbern. Mit Grausen verdrängte er sofort diese erschütternde Vorstellung. Er überschlug im Kopf, was er über Freiheitsstrafen in den Vereinigten Staaten bisher wusste und für wie viele Jahre man in diesem Land für die Störung der Totenruhe ins Gefängnis gehen musste. So wie er die Amerikaner kannte, bestimmt Jahrzehnte. Er hoffte jedoch, dass bis es soweit war und bevor klein T-Rex Appetit auf Fleisch verspüren würde, er sich des Tieres würde entledigen können. Natürlich gab es auch eine andere Theorie, die genau das Gegenteil besagte, nämlich, dass Tyrannosaurier anderen Dinos das Fressen abgejagt haben sollen. Robert versuchte gedanklich zu rekonstruieren, wie sich dieses Abjagen in der heutigen Zeit abspielen würde. Es klang auch nicht viel sympathischer als ein T-Rex, der Grabstellen ausbuddelte. Vielleicht würde er zu Tode geängstigten Lastwagenfahrern, die fatalerweise Fleisch transportierten, hinterherjagen?

„Guten Morgen, Robert. Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest“, lachte Ruthy, als sie ins Klassenzimmer kam und Robert in der hinteren Reihe sitzen sah.

„Nun, in dem Haus, in dem er wohnt, gibt es bestimmt einige Gespenster“, antwortete Carl und beide schüttelten sich vor Lachen. Robert verzichtete darauf, auf den Spott seiner Klassenkameraden einzugehen, sondern schaute sie nachdenklich an. Eigentlich waren die beiden wirklich nett. Sie schienen sich von der alles beherrschenden Bobby-Clique fernzuhalten. Wie noch zwei, drei andere aus der Klasse. Der Rest unterstand einem Widerling namens Bobby, dem Sohn Sheriff Rimbauds.

„Du bist hoffentlich nicht sauer, es war nur ein Scherz. Im Ernst, wer in so einem Haus wohnt, muss auch ein bisschen Spott ertragen können. Ich heiße übrigens Carl“, stellte sein Klassenkamerad sich vor und reichte Robert die Hand, die er gerne annahm. Auch Ruthy begrüßte ihn mit einem erfreulich festen Handschlag.

„Kein Problem, ich weiß, unser Haus ist gruselig.“ Robert freute sich über die neue Aufmerksamkeit seiner Mitschüler. Vielleicht würde er doch ein paar Freunde finden, denn die letzte Woche war mehr als frustrierend gewesen, alle aus der Klasse hatten ihn gemieden.

„Schön, dass mich jemand begrüßt, es gibt offenbar doch ein paar nette Leute hier in der Klasse“, freute sich Robert.

„Nett sind wir eigentlich alle, allerdings ist die Bobby-Clique eine Ausnahme. Du musst aufpassen, dich nicht in ihren Einflussbereich zu begeben, ansonsten nehmen sie dich ins Visier und du wirst keine Ruhe vor ihnen haben. Dir ist sicherlich bekannt, wer Bobbys Vater ist? Dadurch, dass er Sheriff Rimbauds Sohn ist, genießt er hier praktisch Narrenfreiheit“, versuchte ihm Carl die Lage zu erklären.

„Das habe ich schon geahnt. Doch weshalb lässt Bobby dich und Ruthy in Ruhe?“, wollte Robert wissen.

„Mein Großvater war der Sheriff dieser Stadt und ich habe zwei größere Brüder“, grinste Carl.

„Nun ja, mein Vater ist Ranger, das ist eine Art Naturschutzpolizei“, antwortete ihm Ruthy. „Außerdem habe ich sogar drei ältere Brüder.“

„Ich verstehe. Ich müsste mir also ältere Brüder zulegen, damit mich die Bobby-Clique zukünftig in Ruhe lässt.“ Inzwischen hatte sich das Klassenzimmer gefüllt und als der Klassenlehrer hereinkam, forderte er sie auf sich zu setzen und ruhig zu sein. Robert freute sich, denn nun war ein Anfang gemacht, mit seinen Klassenkameraden ins Gespräch zu kommen oder vielleicht sogar Freundschaften zu schließen. Was die Bobby-Leute anging, konnte er zwar mit keinem älteren Bruder aufwarten, um sie sich vom Leib zu halten, doch immerhin hatte er eine Geheimwaffe. Obwohl er diese Geheimwaffe, wie es das Wort ‚geheim‘ bereits besagte, natürlich geheim halten musste. Es war nicht auszudenken was passieren würde, falls die Öffentlichkeit oder das FBI davon erfahren würden. Dennoch konnte die Existenz eines kleinen Haus-T-Rex bei einer etwaigen Bedrohung überaus beruhigend wirken. Das galt allerdings nur, solange klein T-Rex auch klein blieb. Während er sich noch gedanklich mit seinem Problem beschäftigte, hatte ihr Klassenlehrer Mr. Clifford mit dem Englischunterricht begonnen.

„Wie ihr wisst“, wandte er sich an seine Klasse, „habt ihr einen neuen Klassenkameraden. Da ich die erste Woche nach den Sommerferien krankheitsbedingt ausgefallen bin, holen wir daher die Vorstellung eures neuen Mitschülers heute nach. Robert, stehe bitte auf und stelle dich vor. Das Beste wäre, du erzählst uns ein wenig über dich. Danach darfst du die Fragen deiner Mitschüler beantworten. Aber bitte“, wandte sich Mr. Clifford drohend an seine Klasse, „keine sinnlosen oder unbeantwortbaren Fragen.“ Er lächelte Robert aufmunternd zu. „Dann schieß mal los, mein Junge.“ Robert wäre jetzt ein Spaziergang mit einem T-Rex weitaus lieber gewesen, als vor der Klasse zu stehen und sich vorzustellen, doch leider blieb ihm nichts anderes übrig.

„Mein Name ist Robert König und ich bin in Deutschland geboren worden. Ich bin 12 Jahre alt und habe noch zwei jüngere Geschwister, ein Zwillingspärchen im Alter von 5 Jahren. Wir, das heißt meine Mutter, meine zwei Geschwister und meine Großmutter, leben seit drei Monaten in den Vereinigten Staaten. Meine Mutter ist hier an der Schule Mathematiklehrerin. Mein Vater lebt leider nicht mehr, er und mein Großvater sind auf einer Expeditionsreise verschollen.“ Robert wollte so schnell wie möglich Platz nehmen, doch sein Lehrer bat ihn, stehen zu bleiben.

„Bitte nicht so schnell, Robert. Wir haben sicherlich noch ein paar Fragen an dich. Weiß jemand, wie das deutsche Wort König im Englischen heißt?“ Als keiner antwortete, klärte er die Klasse auf.

„König heißt King oder lateinisch Rex. Hat jemand weitere Fragen?“ Mr. Clifford schaute sich suchend im Klassenzimmer nach weiteren Meldungen um. Und ausgerechnet Bobby hob den Arm für eine Wortmeldung.

„Ja, Bobby? Hast du eine Frage an Robert?“, fragte Mr. Clifford.

„Ja, das habe ich tatsächlich. Ich würde gerne von unserem neuen Klassenkameraden erfahren, welchen Beruf sein verehrter Herr Papa ausgeübt hat.“ Robert hörte im Hintergrund unterdrücktes Kichern aus den Reihen der Bobby-Clique.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als darauf zu antworten. „Mein Vater war Wissenschaftler. Er hatte eine Professur an einer deutschen Universität inne und lehrte Geologie und Vulkanologie.“

Wieder meldete sich Bobby und die halbe Klasse kicherte.

„Bobby, ich erkenne dich nicht wieder. Du meldest dich doch sonst kaum. Eigentlich meldest du dich nie“, wunderte sich Mr. Clifford.

„Nun ja, ich bin eben heute besonders wissbegierig. Ich möchte Mr. Rex zuerst mein tiefes Beileid über das Ableben seines Vaters aussprechen. Dennoch würde ich gerne erfahren, ob sein Vater derjenige war, nach dem mein armer, überarbeiteter Vater tagein und tagaus unter teils lebensgefährlichen Bedingungen in der Wildnis des Mount Rainiers suchen musste?“

Mr. Clifford stutzte. „Bobby, was meinst du damit?“

„Ich würde einfach nur zu gerne wissen, ob sein Vater einer der zwei Trottel war, die irgendwo in unseren Vulkan gefallen sind.“ Inzwischen versuchte die Bobby-Clique nicht einmal mehr, das Lachen zu unterdrücken. Ihr Klassenlehrer schaute Robert irritiert an.

„Ist das wirklich dein Vater gewesen, der mit einem anderen Wissenschaftler am Mount Rainier verschollen ist?“

„Ja, und der andere Wissenschaftler war mein Großvater“, musste Robert zugeben.

„Und stimmt es auch“, fragte Bobby grinsend, „dass dein Vater und Großvater in unserem schönen Vulkan lebende Dinosaurier vermuteten und danach suchten?“ Nun brach im Klassenzimmer tosendes Gelächter aus und Mr. Clifford musste die Klasse zur Ruhe mahnen. Doch Robert liefen kalte Schauer den Rücken hinunter, als er das hörte, und eine Flut von Fragen strömte durch sein Gehirn. Wie kam dieser Bobby an Informationen über seinen Vater? Und weshalb sollte sein Vater Dinosaurier in einem Vulkan vermuten? Und wenn ja, nach welchen Dinosauriern hatte sein Vater gesucht? Doch wohl kaum nach hochgefährlichen Raubsauriern? Die qualvollste und wichtigste Frage war jedoch, weshalb seine Mutter nie mit ihm über die Suche seines Vaters nach lebenden Dinosauriern gesprochen hatte. Ihm fiel allerdings noch eine andere äußerst wichtige Frage in diesem Zusammenhang ein, nämlich, inwieweit sein Vater daran schuld war, dass seine kleinen Geschwister in den Besitz eines T-Rex gelangen konnten. Während diese und andere Fragen sein Gehirn marterten, war das Gelächter im Klassenzimmer abgeklungen und er durfte sich setzen.

„Nun Robert, ich hoffe, du nimmst deinen Klassenkameraden ihre Taktlosigkeit nicht übel. Mir tut es natürlich leid um deinen Vater und Großvater. Doch jetzt öffnet bitte euer Englischbuch auf Seite 34. Robert, fang bitte an zu lesen. Ich möchte herausfinden, wie gut dein Englisch ist.“ Er tat wie ihm befohlen, doch seine Gedanken waren ganz woanders. Er überlegte, wer ihm Auskunft geben könnte, was genau sein Vater und sein Großvater in dem Vulkan zu finden gehofft hatten, ohne Misstrauen zu wecken und auf einen lebenden T-Rex hinzudeuten. Besonders interessierte ihn, wer alles von dem geheimnisvollen Vorhaben seines Vaters und Großvaters gewusst haben könnte. Er nahm an, dass sein Großvater seinen Vater begleitet hatte, weil jener Tierarzt von Beruf war. Als erstes musste Robert herausfinden, ob sein Vater tatsächlich in einem Vulkan auf der Suche nach lebenden Dinosauriern gewesen war, denn dann würde sich auch das lebende Grauen, das zu Hause auf ihn wartete, erklären.

Sein Handy brummte in der Schultasche und als er es herauszog, las er entsetzt die Meldung seiner Großmutter: „Robert, kann Mutter nicht erreichen. Hier im Haus fürchterliche Geräusche. Es springt und hüpft ganz merkwürdig im ersten Stock. Bin in Küche eingeschlossen. Rufe Polizei! Gruß Gomi“, schrieb sie ihm.

„Nein, Gomi, bitte belästige die Polizei damit nicht. Komme sofort“, meldete er sich hektisch zurück. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass in seinem neuen Zuhause die Polizei herumschnüffeln würde. Glücklicherweise war die Unterrichtsstunde gerade vorbei. Er ging zu Mr. Clifford und fragte ihn, ob er wisse, wo seine Mutter sei.

„Soviel ich weiß, lässt sie gerade eine Mathematikklausur schreiben. Wieso? Ist etwas passiert?“, fragte ihn sein Klassenlehrer.

„Meine Großmutter hat sich in der Küche eingeschlossen. Ich muss nach Hause, um sie zu befreien. Sie wissen ja sicherlich, in welchen Verhältnissen wir wohnen. In diesem Haus funktioniert rein gar nichts.“ Er glaubte es sei besser, die Geräusche, die seine Großmutter hörte und deretwegen er eigentlich nach Hause wollte, unerwähnt zu lassen.

„Das ist in der Tat ein sehr merkwürdiges Haus, das deine Mutter gekauft hat. Ich hätte ihr davon abgeraten. Hat sie sich denn keine Gedanken darüber gemacht, weshalb das Haus über 20 Jahre lang leer stand? Aber geh nur und befreie deine Großmutter, und danach kommst du bitte wieder zurück“, erlaubte ihm sein Lehrer, den Unterricht zu unterbrechen. Robert lief so schnell er konnte, um seine Großmutter davon abzuhalten, etwas Unüberlegtes zu tun. Zwar wäre die Strecke mit dem Fahrrad in fünfzehn Minuten zu bewältigen gewesen, da er aber heute früh mit seiner Mutter im Auto zur Schule gefahren war, musste er nun zu Fuß die Strecke zurücklegen. Allerdings kam ihm das nächtliche Gassigehen mit dem Glücksdrachen zugute. Er hatte sich eine gewisse Kondition antrainiert und rannte ohne Mühe in weniger als 20 Minuten zu seinem neuen Heim. Unterwegs informierte er nochmals seine Großmutter per Textnachricht, dass er auf dem Weg war und es überhaupt keinen Grund gab, die Polizei zu rufen.

„Gomi, ich bin da“, rief er, als er in die Eingangshalle stürmte. „Ich laufe gleich nach oben, um nachzuschauen, was es sein könnte!“

„Nein, mein Junge, lass mich das tun!“ Seine Großmutter schloss die Tür zur Küche von innen auf und kam auf ihn zu, bewaffnet mit einem Küchenmesser, mit dem man bestimmt einen Büffel hätte zerteilen können. Als deine Großmutter gehe ich natürlich vor. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“

„Gomi, ich glaube wir benötigen kein Langmesser“, versuchte Robert seine Großmutter zu beruhigen. „Es wird sich bestimmt nur um einen Waschbären oder ein ähnliches Tierchen handeln, schlimmstenfalls um eine Ratte, die nach Nahrung sucht.“

„Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Glaubst du allen Ernstes, ich hätte Angst vor einer Ratte oder einem Waschbären? Ich weiß genau, was ich gehört habe und es war bestimmt kein kleines Tier.“ Verärgert lief sie an ihm vorbei und sprang, für ihre 65 Jahre erstaunlich schnell, die morsche Treppe zum ersten Stock hinauf. Dort angekommen besann sie sich jedoch und tastete sich vorsichtig an die Kinderzimmertüre heran, hinter der sie die unheimlichen Geräusche gehört zu haben glaubte. Tatsächlich vernahmen sie ein leichtes Kratzen hinter der Tür des Kinderzimmers.

„Gomi, komm, lass mich das besser machen.“ Er nahm seiner Großmutter vorsichtig das Küchenmesser aus der Hand. „Ich werde nachschauen.“ Er wunderte sich, dass klein T-Rex wach war. Er für seinen Teil hätte sofort einschlafen können, so müde fühlte er sich.

„Also, von unten hat es sich wie ein Einbrecher angehört“, entschuldigte sich seine sichtlich enttäuschte Großmutter.

„Ich glaube, du kannst dich wieder entspannen und nach unten gehen. Ich werde mit dem Tierchen bestimmt alleine fertig“, versuchte er seine Großmutter abzulenken.

Bedauerlicherweise dachte sie überhaupt nicht daran, von seiner Seite zu weichen.

„Falls das Tier dich angreift oder flüchtet, kann ich mich in den Weg stellen.“

„Aber das Tier könnte dennoch gefährlich sein“, sagte Robert und überlegte, wie er seine Großmutter loswerden konnte.

„Dann ist es immer noch besser, dass eine alte Frau Opfer wird und nicht ein Junge, der noch das ganze Leben vor sich hat“, erwiderte sie, machte unerschrocken einen Schritt nach vorne und riss todesmutig die Kinderzimmertür auf. Klein T-Rex sprang putzmunter aus dem Kinderzimmer und rannte zwischen ihren Beinen hindurch, von einem unbändigen Lauftrieb getrieben, die Treppe hinab.

„Huch! Was war das für ein merkwürdiges Tier“, rief seine Großmutter erschrocken. „Hast du gesehen, was es war?“

Robert versuchte sich auf die Schnelle etwas möglichst Überzeugendes auszudenken. „Vielleicht ein Waschbär?“ Er hoffte, seine Großmutter sei nicht in der Lage, das Tierchen genau zu identifizieren, wegen ihrer schlechten Augen und weil klein T-Rex zu schnell davon gehüpft war. Doch seine Großmutter hatte wohl wesentlich bessere Augen, als sie andere glauben ließ.

„Ein Waschbär? Bist du sicher? Mein Gott, das arme Tier. Es hat offensichtlich all seine Haare verloren. Es sah ganz schuppig aus. Also es ist bestimmt entsetzlich krank. Das sollte ich deiner Mutter erzählen. Hoffentlich ist es nichts Ansteckendes. Tierseuchen können sich rasend schnell verbreiten.“ Seine Großmutter schien zu allem entschlossen zu sein.

Robert versuchte sie zu beruhigen.

„Also ich finde, dass der Waschbär eigentlich ganz normal aussah. Ich werde das arme Tierchen einfangen und nach draußen setzen.“ Robert wollte seine Großmutter von dem T-Rex ablenken. Er lief die Treppe hinunter und jagte dem Tier hinterher.

„Aber sei so lieb und fass ihn nicht an. Oder zieh dir bitte Handschuhe an, um dich vor einer Ansteckung zu schützen“, rief ihm seine Großmutter hinterher. Robert hörte kaum noch, was seine Großmutter ihm mitteilen wollte. Er musste herausfinden, wo der Raubsaurier hingelaufen war. Als er in Richtung der Küche eilte, bemerkte er, dass die Kellertür offenstand. Vorsichtig stieß er sie auf und horchte. Er vernahm ein auffälliges Schnüffeln, das irgendwo aus der Dunkelheit zu ihm heraufdrang. Vorsichtig tastete er sich die Holzstufen hinunter. Er fand einen Lichtschalter und war erstaunt, dass tatsächlich eine Glühbirne, die allerdings nur spärliches Licht ausstrahlte und den großen Raum nur mühsam erhellte, auch funktionierte. In einer Ecke in der Nähe des Ofens konnte er den kleinen Dinosaurier erspähen. Er schien interessiert an etwas zu schnüffeln, das auf dem Boden lag. Als Robert näher kam, sah er zwei alte, durch die Jahre vergilbte, grüne Rucksäcke auf dem Boden liegen.

„Das sind bestimmt die Rucksäcke von Papa und Großvater.“ Traurig nahm er einen hoch. In seiner Erinnerung war der Tag noch sehr gegenwärtig, als sein Vater in seinem Arbeitszimmer stand und zu erklären versuchte, weshalb er auf eine lange Reise gehen musste. Vorsichtig schaute Robert in einen der Rucksäcke hinein. Es war der seines Großvaters, denn in ihm befand sich dessen Kulturbeutel, der aus einem anderen Jahrhundert stammte und nach Büffelleder roch. Ganz verloren in seinen Erinnerungen, hatte er die Anwesenheit seiner Großmutter gänzlich vergessen. Erschrocken fuhr er zusammen, als sie in den Keller hineinrief.

„Hast du den Waschbären gefunden, mein Junge?“ Er überlegte angestrengt, was er tun sollte, denn wenn er ihre Frage bejahte, wollte sie, neugierig wie sie war, das Tier bestimmt sehen.

„Nein, Gomi. Der Waschbär hat wahrscheinlich schon längst das Weite gesucht“, rief er laut, so dass sie ihn oben an der Treppe hören konnte. Er hoffte sie damit davon abzuhalten, herunterzukommen und untersuchte den Rucksack genauer. Vielleicht würde er einen Hinweis auf irgendwelche Dinosauriereier finden. Möglicherweise standen die Forschung seines Vaters und der zum Leben erweckte T-Rex in einer direkten Verbindung zueinander. Vielleicht hatten seine Geschwister hier unten gespielt und ihren Glücksdrachen gefunden. Während er darüber nachdachte, berührte ihn jemand plötzlich an der Schulter und er ließ vor Schreck den Rucksack zu Boden fallen. Seine Großmutter hatte sich an ihn heran geschlichen und stand hinter ihm.

„Gomi, das ist viel zu gefährlich, in diesen Keller zu steigen. Du hättest stürzen können“, ärgerte sich Robert. Seine Großmutter überhörte jedoch die Bedenken ihres Enkels, so sehr blickte sie gebannt auf das, was vor ihr auf dem Boden lag.

„Ist das der Rucksack deines Großvaters? Bitte gib ihn mir.“ Seine Großmutter hatte Tränen in den Augen, als Robert ihr das letzte Andenken an ihren Mann reichte. Indes schaute er sich hektisch um, wo wohl klein T-Rex geblieben war. Doch der Kleine half ihm unfreiwillig weiter. Er schien in den Rucksack des Vaters geschlüpft zu sein und wurschtelte darin herum. Robert hoffte inständig, seine Großmutter würde das nicht bemerken, doch leider irrte er sich.

„Robert, pass doch auf! Der Waschbär ist in den Rucksack deines Vaters gekrochen. Sieh doch!“ Sie vergaß ihre Trauer, ließ den Rucksack ihres Mannes fallen und schnappte sich dafür den anderen mit dem vermeintlichen Waschbären darin. Sie hielt ihn oben zu, damit das Tier nicht entkommen konnte, und stieg rasch die Kellerstufen hinauf.

„Gomi, gib mir bitte den Rucksack. Ich lass den Waschbären frei.“ Er stürmte ihr hinterher und versuchte ihren Tatendrang zu bremsen.

„Nein, mein Junge. Du musst erst noch lernen, wie man ein Tier einfängt.“

Völlig entsetzt musste Robert feststellen, dass sie genau auf die Haustüre zustrebte. Er sah auf die Uhr. Er war schon beinahe eine Stunde von der Schule fort. Sein Lehrer würde sich sicherlich fragen, weshalb es so lange dauerte, seine Großmutter aus der Küche zu befreien. Doch was ihm im Augenblick wirkliche Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass seine Großmutter gerade im Begriff war, bei wunderschönstem Sonnenschein einen T-Rex hinaus in die freie Natur und Zivilisation zu entlassen.

„Gomi, wir müssen den Waschbären weiter entfernt vom Haus aussetzen, sonst kommt er eventuell wieder zurück.“ Seine Großmutter hielt inne und musste ihm nach kurzem Überlegen Recht geben.

„Großartig, dann nehme ich ihn mit zur Schule und lass ihn dort irgendwo in der Nähe frei“, schlug Robert vor.

„Nein, mein Junge, das werde selbstverständlich ich übernehmen. Ich werde den Waschbären auf dem Friedhof laufen lassen. Dort stehen viele Bäume und das Tierchen wird sich dort bestimmt wohlfühlen.“

„Auf dem Friedhof?“, rief Robert fassungslos. „Du kannst so ein gefährliches Tier nicht einfach auf einem Friedhof aussetzen. Stell dir einmal vor, es kriegt Hunger? Das Viech fängt doch glatt an zu buddeln!“

„Meine Güte, Robert. Waschbären sind doch possierliche Tierchen. Seit wann graben sie Gräber auf. Das habe ich noch nie gehört.“ Natürlich wollte seine Großmutter auf jeden Fall vermeiden, dass durch ihre Schuld auf dem Friedhof ein Unglück geschah. Daher überreichte sie ihrem Enkel den Rucksack, allerdings nicht ohne vorher noch einen neugierigen Blick auf das gefangene Tier zu werfen. Als sie jedoch sah, welch schrecklich zugerichteter Waschbär sich darin befand, verschloss sie mit einem Aufschrei den Rucksack und warf ihn Robert erschrocken zu.

„Ja, du hast Recht. Dieser Waschbär sollte wirklich auf keinem Friedhof freigelassen werden.“ Damit drehte sie sich um und ging raschen Schrittes zurück ins Haus. Robert konnte den Raubsaurier unmöglich mit in die Schule nehmen. Denn wenn er über einen gefangenen und möglicherweise kranken Waschbären berichten würde, wollten bestimmt alle einen Blick darauf werfen. Er konnte sich den Aufruhr bildlich vorstellen und niemand würde beim Anblick des niedlichen Tierchens seine Waschbärenversion glauben.

„Gomi, ich habe etwas vergessen. Ich muss noch einmal kurz in mein Zimmer“, rief er ins Haus hinein. Er musste das Viech, bis er aus der Schule wieder zurückkam, in seinem Zimmer parken.

„Pass aber bitte auf, dass dieses bemitleidenswerte Tier nicht wieder ins Haus kommt. Lass den Rucksack besser draußen stehen“, rief ihm seine Großmutter aus der Küche zu.

„Wenn ich den Rucksack jetzt auf den Boden stelle, kann der Waschbär vielleicht entwischen. Es ist besser, ich behalte ihn bei mir und passe auf, dass er nicht ausbüxt“, rief er und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben in sein Zimmer. Er verschloss vorsichtshalber seine Türe und setzte sich zum Verschnaufen aufs Bett. Obwohl der Tag gerade erst angefangen hatte, es war gerade mal 11 Uhr früh, fühlte er sich bereits völlig erschöpft. Und ihm graute vor dem Rest des Tages. Als erstes musste er zurück in die Schule und danach, hoffentlich nicht zu spät, seine Geschwister daran hindern Diebe zu werden. Sein Sparschwein gab nur magere drei Dollar und 60 Cent her. Er steckte die paar Dollar in seine Hosentasche. Dann nahm er klein T-Rex, der nun erstaunlich schläfrig zu sein schien, aus dem Rucksack und stopfte ihn zwischen zwei Pullover in seinen Schrank. Er schloss die Schranktür ab und nahm den Schlüssel vorsichtshalber mit. Als er seine Zimmertür öffnete, stand plötzlich seine Großmutter vor ihm. Vor Schreck stolperte er einen Schritt rückwärts. „Gomi! Hast du mich jetzt erschreckt.“

„Was brauchst du denn so lange? Ich dachte schon dieser Waschbär, oder was immer das auch ist, könnte dir möglicherweise etwas angetan haben. Ich wollte dir nur sagen, dass ich gerade deinen Biologielehrer angerufen habe. Ich möchte, dass er sich das Tier einmal ansieht.“

„Großmutter! Wieso hast du das getan? Es handelt sich nur um einen kranken Waschbären!“, versuchte Robert die Diskussion zu beenden, doch seine Großmutter ließ nicht locker.

„Ich möchte, dass dieser Fachmann sich das Tier, oder was auch immer das ist, anschaut. Gerade er sollte doch wissen, ob es hier eine Waschbärenkrankheit gibt, die die Tierchen äußerlich so unglücklich verändert, dass sie zu Haarausfall und schuppiger Haut sowie zu einem vorstehenden Gebiss führt. Ich finde, wir sollten außerdem den Sheriff darüber informieren.“

„Du lieber Himmel Gomi, der Sheriff interessiert sich bestimmt nicht für einen kranken Waschbären. Der hat ganz andere Sorgen.“ Er überlegte verzweifelt, was der Mann sonst noch für Sorgen haben könnte, ihm fielen aber spontan keine ein.

„Gomi, ich habe jetzt keine Zeit, ich muss wirklich zurück in die Schule. Ich verspreche dir, falls ich den Biologielehrer finden sollte, werde ich ihn fragen, um was für eine Krankheit es sich handeln könnte.“ Er stürmte an seiner Großmutter vorbei die Treppe herunter und fragte sich, weshalb sie jedem sagte, dass sie ohne Brille nichts mehr sah, und dennoch so verdammt gut sehen konnte. Der Weg zurück zur Schule erschien ihm länger als vorher der Hinweg. Unterwegs entledigte er sich des Rucksacks an einer Stelle unter einem Strauch, die er später schnell wiederfinden würde. Als er die Schule endlich erreicht hatte, sah er seinen Biologielehrer an der Eingangstür stehen. Er ahnte Schlimmes.

„Und, Robert? Wo ist der Waschbär?“, fragte ihn Dr. Petri, als Robert außer Atem die Stufen heraufgerannt kam.

„Der Waschbär?“, fragte Robert möglichst ahnungslos.

„Ja, der Waschbär. Deine Großmutter rief mich an. Sie meinte, der Waschbär, den ihr in eurem, ähm, na ja, nennen wir es mal Haus, fangen konntet, sei möglicherweise eine Waschbär-Mutation. Verstehe mich bitte nicht falsch, aber alle Tiere, die es dort in diesem Gemäuer, gibt, könnten von einem unglaublichen wissenschaftlichen Interesse sein. Also, wo ist das Tier?“, verlangte er zu wissen.

„Verzeihen Sie bitte, daran habe ich wirklich nicht gedacht, Dr. Petri. Für mich sah er wie ein ganz normaler Waschbär aus. Leider ist mir das verängstigte Tierchen unterwegs entwischt“, log Robert.

“Entwischt? Da ist ja großartig! Und alle sagen, du seist intelligent. Du zeigst mir jetzt augenblicklich, wo er dir entlaufen ist. Deine Großmutter hat mir am Telefon glaubhaft versichert, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der Waschbär eine schuppenartige Haut hatte. Entweder ist es tatsächlich eine Mutation oder das Tier ist schwer krank und muss in Quarantäne. Das war ganz unverantwortlich von dir“, schimpfte sein Biologielehrer. Während er die Strafpredigt über sich ergehen ließ, zermarterte er sich das Gehirn, und dies leider nicht zum ersten Mal an diesem Tag, wie er aus dem Schlammassel wieder heraus kommen konnte. Seiner Einschätzung nach war der Biologielehrer, zumindest als Naturwissenschaftler, eine gescheiterte Existenz. Permanent sprach er im Unterricht davon, wie man ihm im Kollegenkreis, und zwar aus reinem Neid, die naturwissenschaftliche Anerkennung versagt hatte, obwohl seine Arbeit über die erstaunlichen Fortpflanzungsrituale von Kakerlaken bahnbrechend gewesen sei. Dass sich aus naheliegenden Gründen, wie beispielsweise Ekel, niemand auf diesem Planeten für die Fortpflanzungsrituale von Kakerlaken interessieren würde, sondern eher für deren möglichst schnelles und umfangreiches Ableben, hätte man dem armen Mann eher sagen sollen. Dennoch war er als fairer Lehrer ansonsten sehr beliebt. Sogar die Bobby-Clique ließ ihn in Ruhe.

„Robert, hörst du? Ich habe dir eine Frage gestellt. Wo genau ist dir das Tier entwischt?“ Robert überlegte verzweifelt, wo ihm der imaginäre Waschbär entkommen sein könnte.

„Unterwegs, zwischen unserem tollen neuen Heim und …“, ihm fiel einfach keine Antwort ein.

„Nun, zwischen eurem Heim und der Schule liegt eigentlich nur noch das Sheriff‘s Office“, beantwortete Dr. Petri sichtlich genervt selbst seine an Robert gestellte Frage. „Wenn dir

etwas dazu einfällt, melde dich bitte.“ Er drehte sich beleidigt um und während er zurück ins Schulgebäude ging, rief er etwas, dass sich wie „Ich muss den Sheriff informieren“ anhörte.

„Großartig!“, stöhnte Robert auf. „Jetzt habe ich auch noch den Sheriff am Hals.“ Die restlichen Schulstunden zogen sich endlos dahin und am Ende des Unterrichts wartete auf dem Schulhof wie befürchtet Sheriff Rimbaud auf ihn, mit einem breiten Grinsen und Kaugummi kauend. Hatte der Mann nichts Besseres zu tun, als ihm aufzulauern?

„Nun? Was muss ich hören? Du setzt ein Tier, das möglicherweise krank ist, einfach in unserer schönen Natur aus? Dein Biologielehrer und sogar deine Großmutter haben mich angerufen. Ich möchte nicht über irgendwelche Mutationen, die deine Großmutter noch erwähnte, sprechen, aber das Tier scheint krank gewesen zu sein. Immerhin war er bei euch im Haus und man weiß ja nicht, was er sich da eingefangen haben könnte.“ Der Sheriff schaute ihn spöttisch von oben herab an.

„Sheriff Rimbaud, meine Großmutter sieht leider sehr schlecht. Auf mich hat der Waschbär wohlgenährt und ganz proper gewirkt, deshalb habe ich das possierliche Tierchen, als es mir entwischt ist, nicht wieder einzufangen versucht.“

„Auf dich hat also ein grün-roter, mit Schuppen anstatt mit Fell bedeckter Waschbär, der ein auffälliges, hervorstehendes Gebiss hatte, nicht krank gewirkt?“ Der Sheriff zog ungehalten seine Stirn in Falten.

„Wie schon gesagt, Sheriff, meine Großmutter sieht sehr schlecht.“

„Und farbenblind scheint sie auch zu sein.“ Der Sheriff griff in seine Hosentasche, zog ein Bild hervor und hielt es ihm unter die Nase.

„Nun, mein Junge. Auf diesem Bild siehst du einen Nordamerikanischen Waschbären. Er ist schwarz-weiß gestreift, nicht grün-rot, und wie du sicherlich sehen kannst, hat er ein Fell und keine Schuppen. Deine Großmutter hat ganz eindeutig bezeugt, dass das von dir gefangene und wieder freigelassene Tier unmöglich ein Waschbär gewesen sein kann, und falls doch, dann ein todkranker. Wir werden die Andeutungen deiner Großmutter hinsichtlich verkrüppelter Vorderbeinchen und einem überproportional riesigen Maul einfach ignorieren. Zeig mir doch bitte, wo du das Tier verloren hast.“ Er schob Robert mit einer Hand in Richtung des Polizeiautos und hielt ihm die Beifahrertür auf. Roberts Gedanken überschlugen sich. Was sollte er dem Sheriff bloß erzählen? Nachdem dieser das Auto gestartet hatte, fragte er Robert nach dem Weg.

„Also Junge, führe mich bitte. Wo bist du langgegangen? Und wo ist dir der Waschbär oder was auch immer es gewesen sein soll, entwischt?“ Robert dirigierte den Sheriff den Weg entlang, den er zurückgelegt hatte. Als sie an einem riesigen Dornengestrüpp vorbeifuhren, zeigte Robert darauf. Es erschien ihm am günstigsten, denn bei diesem undurchdringlichen Buschwerk konnten sie tagelang nach einem entflohenen Waschbären suchen.

„Der Waschbär ist also in diesen Dornenbusch getürmt? Da schaffen es ja noch nicht einmal kleine Feldmäuse hindurch, ohne sich aufzuspießen.“ Der Sheriff zeigte Robert durch eine entsprechende Mimik, wie wenig er ihm glaubte.

„Na gut, dann lass uns einfach einmal zu dir nach Hause fahren“, beschloss der Sheriff mit betont gelangweilter Stimme, als ob ihm das alles allzu lästig wäre. Nur weshalb kümmerte er sich darum, wenn er glaubte, es ginge ihn nichts an, ärgerte sich Robert.

„Vielleicht ist deine Mutter schon da. Falls nicht, bin ich mir sicher, dass sie mich auch ohne Hausdurchsuchungsbefehl euer Heim inspizieren lässt.“

„Wie sie wissen, wohnen wir erst seit kurzem in dem Gemäuer. Die meisten Zimmer sind verschlossen. Daher können wir auch kaum Aussagen darüber machen, was sich darin befindet. Wenn es dort also etwas Verbotenes geben sollte, dann kann es auch den Vorbesitzern gehört haben.“ Robert versuchte sich dahingehend abzusichern, falls der Sheriff etwas Ungewöhnliches, wie beispielsweise einen Baby-T-Rex, finden sollte. Leider wäre seine Behauptung hinfällig, falls Sheriff Rimbaud das schlafende Tierchen ausgerechnet in Roberts Schrank finden würde. Ihm graute davor, dies erklären zu müssen. Und fatalerweise gab es noch die Aussage seiner Großmutter, denn klein T-Rex glich genau ihrer Beschreibung des merkwürdigen Waschbären. Robert befürchtete, sein gesamtes schauspielerisches Talent aufbringen zu müssen, um so ahnungslos wie möglich zu erscheinen, falls der Scheriff das Tierchen finden würde. Zuerst benötigten sie einen Anwalt, der glaubhaft vor Gericht versichern konnte, dass die Zwillinge, die durch ihr Alter noch strafunmündig waren und unmöglich wissen konnten, was sie taten, die Hauptschuldigen seien und Robert als Bruder nur versucht habe, sie zu beschützen. Tatsächlich fühlte er sich geradezu erleichtert, den Raubsaurier nicht selber töten zu müssen. Der Sheriff würde alles Notwendige erledigen und er konnte seinen Geschwistern mit reinem Gewissen gegenübertreten. Der Sheriff und er waren zwischenzeitlich an seinem fantastischen neuen Heim angekommen.

„Nur zu deiner Information. Ich habe, bevor ihr hier eingezogen seid, das gesamte Haus von oben bis unten durchsucht. Die Vorbesitzer haben nichts Unerlaubtes in diesem Haus zurückgelassen“, klärte ihn der Sheriff auf, während sie die brüchigen Stufen zur Eingangstür hinaufstiegen. Robert beschlich ein ungutes Gefühl. Ihm kam es so vor, als ob der Sheriff einen Vorwand suchte, um in ihr Haus zu kommen. Nur weshalb? Von der Existenz eines T-Rex konnte er unmöglich etwas ahnen. Die Großmutter musste sie gehört haben, denn sie öffnete freudestrahlend die überdimensionierte Eingangstür, deren ursprüngliches Massivholz nach und nach durch Spanplatten ersetzt worden war.

„Sehr verehrter Herr Sheriff, wie überaus freundlich von ihnen, so schnell vorbei zu kommen“, begrüßte sie ihn überschwänglich. Robert hingegen warf sie nur ein flüchtiges „So, du bist also auch da“ hin.

„Ja, liebe Gomi, ich bin auch da. Ich wohne nämlich bedauerlicherweise hier.“

„Sei nicht so frech zu deiner Großmutter“, tadelte ihn unfairerweise der Sheriff.

„Und wo, Sheriff Rimbaud, fangen wir nun an zu suchen?“, fragte seine Großmutter mit dem gütigsten Lächeln, zu dem sie fähig war.

„Nein, Madam, Sie brauchen mir nicht zu helfen. Das Haus werde ich alleine durchsuchen. Glauben Sie mir, das Letzte, was ich benötige, ist unprofessionelle Hilfe. Vielen Dank. Es wird bestimmt nicht lange dauern. Ich glaube, auf die Erlaubnis ihrer Tochter können wir verzichten.“ Er stieg die Treppen hinauf und verschwand in einem der unzähligen Gänge. Seine Großmutter blieb sprachlos zurück und schaute ihren Enkel etwas hilflos an.

„Übrigens, weiß Mama, dass der Sheriff eine Hausdurchsuchung bei uns durchführt?“, fragte Robert.

„Welche Hausdurchsuchung?“, frage seine Großmutter. „Er will lediglich nachschauen, ob es noch mehr kranke Waschbären in unserem Haus gibt.“

„Nein Großmutter, ich vermute, er verfolgt ganz andere Pläne. Bitte versuche Mama zu erreichen und sage ihr, dass der Sheriff in unserem Haus herumschnüffelt“, rief Robert, während er schon die Stufen hinauf jagte. Aus einem ihm unerfindlichen Grund war es ihm nun geradezu zuwider, dass der Sheriff den Glücksdrachen seiner Geschwister finden würde. Natürlich war die Vorstellung verlockend gewesen, diese ungeheure Verantwortung, die auf ihm lastete, loszuwerden. Doch misstraute er dem Kerl und weshalb sollte der Vater einen besseren Charakter haben als sein Sohn, denn der hatte erwiesenermaßen überhaupt keinen. Bobby gehörte zu der widerwärtigen Art von Menschen, die, um sich selber zu erhöhen, andere erniedrigen mussten. Und wie hieß es so schön? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!

„Ja, wohin denn so eilig?“, rief der Sheriff, als er plötzlich hinter Robert stand, gerade als dieser seine Zimmertüre öffnen wollte. Der Sheriff drängte ihn beiseite und ließ seinen prüfenden Blick über jeden Gegenstand in Roberts Zimmer gleiten.

„Da haben wir ja ein Corpus Delicti“, grinste der Kerl und schien sich sichtlich zu freuen, fündig geworden zu sein. Zu Roberts Erstaunen ging er schnurstracks auf das Weihnachtsgeschenk seiner Mutter zu.

„Das ist ein Teleskop“, antwortete Robert völlig irritiert. „Das hat, glaube ich, nichts mit einem kranken Waschbären zu tun.“ Der Sheriff schlenderte durch sein Zimmer und trat zum Fenster.

„Mir ist es nicht entgangen, dass du Erwachsenen gegenüber den nötigen Respekt fehlen lässt“, maßregelte ihn der Sheriff. Robert protestierte.

„Meine Mutter und ich sind übereingekommen, dass man von vorneherein jeden respektieren sollte, völlig unabhängig vom Alter.“ Er wunderte sich über sich selbst, dass er noch vor einigen Minuten bereit gewesen war, diesem Mann ihr gefährliches Haustier anzuvertrauen. Er hoffte, der Sheriff würde die Waschbärensuche beenden oder seine Mutter würde endlich auftauchen und den Scheriff rausschmeißen. Er musste nämlich befürchten, dass klein T-Rex bald aus seinem Mittagsschläfchen aufwachen würde. Stattdessen schlenderte Sheriff Rimbaud, alles genau untersuchend, umher. Er hob Roberts Bücher auf und studierte die Titel, ging zum Schreibtisch und schaute sich die darauf liegenden Hefte an. Er scheute sich nicht einmal, darin zu blättern.

„Gute Noten“, murmelte der Sheriff, mehr zu sich selbst. „Mein Bobby hat mir schon von deinen Leistungen im Unterricht berichtet. Du scheinst sehr schnell die ungeteilte Aufmerksamkeit der Lehrer erlangt zu haben. Alle Lehrer, so hört man, mögen dich. Du weißt aber, dass man sich dadurch auch unbeliebt machen kann?“ Der Sheriff grinste ihn spöttisch an, um sich dann wieder interessiert dem Ausblick aus Roberts Erkerfenster zu widmen.

„Wen beobachtest du eigentlich mit deinem Fernrohr? Nachbarn? Vögel? Irgendetwas Ungewöhnliches?“, fragte ihn der Sheriff.

„Wie ich bereits sagte, es handelt sich um ein Teleskop. Damit kann man Sterne beobachten und sogar Galaxien, jedoch keine Gegenstände auf der Erde, da alles verkehrtherum abgebildet wird.“ Robert versuchte den Eindruck zu vermeiden, den Sheriff belehren zu wollen. Doch der überhörte seine Erklärung und schraubte ungerührt das Teleskop vom Ständer.

„Nun, mein Junge, wir mögen hier einfach keine Spanner. Das Ding wird konfisziert!“ Der Sheriff klemmte sich das Teleskop unter den Arm und spazierte aus dem Zimmer. Robert sah sich gezwungen, dem Sheriff hinterher zu laufen.

„Verzeihen Sie bitte, Sheriff Rimbaud, es handelt sich um ein wissenschaftliches Instrument. Damit kann man keine Menschen beobachten“, versuchte er ihn umzustimmen. Doch schienen Roberts Argumente dem Sheriff vollkommen egal zu sein. Endlich hörte Robert in der Ferne ein herannahendes Auto. Es wurde auch langsam Zeit, dass seine Mutter kam. Doch anstatt ihm zu Hilfe zu eilen fragte sie, als sie zur Haustür eintrat und ihn sah, was er denn nun wieder angestellt hätte.

„Nichts, Mama. Der Sheriff hat ohne jeden Grund mein Teleskop konfisziert.“

Sie stutzte, als sie den Sheriff mit dem Teleskop unter dem Arm die Treppe herabkommen sah.

„Sheriff Rimbaud! Was für eine Freude Sie zu sehen. Ich hoffe, Robert hat sich nichts zu Schulden kommen lassen? Das wäre mir schrecklich peinlich.“

„Nun ja, Frau Doktor König, wie man es nimmt“, antwortete er und musterte Roberts Mutter mit sichtlichem Wohlgefallen ungeniert von Kopf bis Fuß, obwohl der Sohn daneben stand. Robert war sehr wohl bewusst, dass seine Mutter, obwohl bereits vierzig und zudem dreifache Mutter, immer noch, auch wegen ihrer vollen blonden Haaren, ihrem strahlenden Lachen und durchtrainierten Körper, auf Männer sehr attraktiv wirkte. Sogar einige ihrer Schüler an der alten Schule in Deutschland schwärmten von ihr. Zu seinem Verdruss hatte er das mehrmals mitbekommen.

„Zwar hat Ihr Sohn heute einiges falsch gemacht. Allerdings liegt keine Straftat vor, wenn man mal davon absieht, dass Ihr Sohn, so wie es aussieht, Gefallen daran findet, andere Menschen mit dem Fernrohr zu beobachten. Ich glaube, es gab bereits ein paar Hinweise. Ich darf natürlich nicht näher darauf eingehen. Deshalb werde ich das Fernrohr konfiszieren. Übrigens ist es verboten, wegen der brütenden Tölpel, an die Klippen zu gehen. Bitte tragen Sie unbedingt dafür Sorge, dass Ihre Kinder dieses Verbot beachten.“ Lässig tippte er zum Abschied mit zwei Fingern an seinen imposanten Sheriffshut und verließ mit Roberts Teleskop das Haus. Er ging zu seinem Auto und verstaute das Fernrohr in seinem Kofferraum. Er nickte noch einmal zum Abschied und fuhr davon.

„Wie ist es möglich, mit einem Teleskop Menschen zu beobachten und vor allem welche? Hier wohnt doch weit und breit niemand“, wunderte sich seine Mutter. Robert hätte eigentlich mehr Schutz von seiner Mutter vor dem Sheriff erwartet.

„Soll das etwa heißen, dass, wenn es hier Menschen zum Beobachten geben würde, du mir ohne weiteres zutraust, ich könnte ein Spanner sein? Wieso hast du dem Sheriff nicht gesagt, mein Sohn tut so etwas nicht‘?“

„Aber Robert, natürlich glaube ich ihm kein Wort. Ich bin von diesen Anschuldigungen völlig überrascht worden. Ich dachte, er wollte in unserem Haus nach kranken Waschbären suchen. Es tut mir wirklich sehr leid, mein Großer. Pass auf, ich habe eine Idee. Ich werde morgen zum alten Sheriff gehen und ihn bitten, mit Sheriff Rimbaud zu reden, damit er dir dein Teleskop zurückgibt. Jetzt habe ich es aber eilig. Die Zwillinge warten bestimmt schon vor dem Kindergarten auf mich.“ Seine Mutter lief eilig zum Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Während er seiner Mutter nachschaute, fiel ihm plötzlich sein wahres Problem wieder ein. Er rannte die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf in sein Zimmer. Von unten hörte er seine Großmutter rufen: „Junge, verzeih mir bitte!“

„Ja Gomi, ist schon gut“, rief er zurück, obwohl er in Wahrheit sehr böse auf sie war. Weshalb glaubte sie, sich in wirklich alles einmischen zu müssen? Er war durch diese dumme Waschbärengeschichte dermaßen aufgehalten worden, dass er keine Zeit mehr gefunden hatte, für klein T-Rex Futter zu besorgen. Er öffnete seine Schranktür und schaute vorsichtig hinein. Er schob behutsam seine Pullover auseinander und war erleichtert, denn der Raubsaurier schien tief und fest zu schlafen. Als er ihn mit dem Pullover vorsichtig wieder zudecken wollte, blinzelte klein T-Rex mit den Augen. Er streckte sich und setzte sich auf. Robert kraulte ihm den Hals und der Kleine hielt genüsslich seinen riesigen Schädel in die Höhe, damit Robert auch bestimmt an jede Stelle kam.

„Zuerst brauchst du etwas zu fressen.“ Es war ihm der Gedanke gekommen, als Nahrungsergänzung Fisch mit auf den Speiseplan zu nehmen. Der Pazifische Ozean bot sich an, denn er lag vor der Haustür. Damals, als sein Vater noch lebte, waren sie manchmal in Deutschland zusammen Angeln gegangen, daher glaubte er, noch einige Angelkenntnisse zu besitzen. Mit Fisch wären sie erst einmal die größten Ernährungsprobleme los. Außerdem hätten sie sich damit noch ein anderes, weitaus wichtigeres Problem vom Hals geschafft, nämlich das mögliche aufkeimende Interesse des T-Rex an Menschen oder deren Gefährten, wie beispielsweise Hunden. Kühe würde er sicherlich auch nicht verschmähen, die er mangels guter Fütterung ebenfalls als potenzielle Nahrungsquellen ansehen könnte.

In Roberts Zimmer gab es einen begehbaren Schrank. Dort hatte er, als er nach Amerika umziehen musste, zuerst einmal alle seine Sachen verstaut, die er nicht sofort benötigte.

„In welchem Karton ist wohl die Angel?“ Er wühlte sich durch etwa zwei Dutzend Kartons. Selbstverständlich lag die Angel mit Zubehör in einem der letzten Kartons. Er überlegte, ob er gleich jetzt zum Strand gehen sollte, um seine rudimentären Kenntnisse des Angelns wieder aufzufrischen, obwohl es noch hell war. Oder doch besser nachts, wenn ihn niemand sah und die Blamage weitaus geringer ausfiel. Von draußen drang das Geräusch von zuschlagenden Autotüren herein. Bald darauf hörte er die trippelnden Schritte der Zwillinge auf der Treppe und ihr unvermeidliches Rufen nach ihrem Glücksdrachen.

Robert beobachtete, inwieweit klein T-Rex, der immer noch zusammengekullert zwischen seinen Pullis döste, auf die Lockrufe der kleinen Geschwister reagierte. Zu Roberts Erstaunen zeigte der Saurier keinerlei Wiedererkennen, geschweige denn Freude, wie beispielsweise ein Hund sie erkennen ließ. Selbst als seine Geschwister vor Roberts Schrank standen und klein T-Rex begrüßten, nahm er kaum Notiz von ihnen. Erst als er von den Zwillingen angefasst wurde, schien er sie überhaupt wahrzunehmen. Robert wunderte sich, dass seine Geschwister das offensichtliche Desinteresse ihres Glücksdrachen ihnen gegenüber nicht bemerkten.

„Hast du unserem Glücksdrachen etwas zu essen besorgen können?“, fragte ihn Miranda, ganz die fürsorgliche Mama. Sie nahm den Dino auf und wiegte ihn auf ihren kleinen Ärmchen hin und her.

„Nein, ich habe leider noch keine Zeit gehabt. Aber ich wollte ihm gerade etwas Leckeres fangen“, sagte Robert und zeigte ihnen seine Angelutensilien.

„Seit wann kannst du angeln?“, wunderte sich Sebastian. Und als Robert die Angelrute auspackte und sich ziemlich ungeschickt dabei anstellte, sie zusammenzusetzen, kamen bei seinen kleinen Geschwistern erste Zweifel auf, ob Fische fangen auch wirklich die schnellste Art der Nahrungsbeschaffung sein würde. Robert fingerte nervös an der Angelrute herum.

„Also irgendwie müssen die Teile doch zusammengehören!“, schimpfte er.

Eigentlich war es so, dass jüngere Geschwister immer zu ihren älteren Geschwistern aufblickten, weil die älteren Geschwister den jüngeren Geschwistern gegenüber einen Wissensvorsprung besaßen. Und je größer der Altersunterschied, desto größer war der Wissensvorsprung. Bei Miranda und Sebastian schien dieses unumstößliche Geschwistergesetz, zumindest was das Angeln betraf, nicht zu gelten.

„Und du glaubst, das funktioniert?“, zweifelte Miranda.

„Und wie oft hast du schon mit Papa geangelt?“, wollte Sebastian wiederum wissen.

„Habt ihr eine bessere Idee?“, fragte Robert seine Geschwister gereizt. „Angeln wäre die harmloseste und unauffälligste Art, um für einen T-Rex Nahrung zu besorgen.“

„Wieso willst du denn Fressen für einen T-Rex besorgen und was ist das überhaupt für ein Tier?“, verlangte seine kleine Schwester zu erfahren.

„Das sind diese grausamen Dinosaurier mit den riesigen Hinterbeinen, die nur diese kleinen verkrüppelten Ärmchen haben. Erinnerst du dich an den Film, wo der T-Rex die Menschen fressen wollte und du vor lauter Angst geschrien hast?“

„Meinst du das Monster in Jurassic Park?“, fragte Miranda.

Sebastian bestätigte dies. „Ganz genau. Der riesige, schwarze Dinosaurier, der so fürchterlich schniefend hinter dem Auto her gelaufen ist.“ Beide schauten sich entsetzt an und das Grauen, das sie empfanden, war in ihren Gesichter abzulesen.

Robert biss sich auf die Zunge. „Verdammt!“, dachte er zerknirscht, „was für ein blöder Versprecher.“ Doch vielleicht würden sich nun die Zwillinge Gedanken über ihren Glücksdrachen machen. Es wäre langsam an der Zeit.

„Ich meinte natürlich, dass ich für euren bildhübschen Glücksdrachen, der nur so ein klitzekleines bisschen einem T-Rex ähnelt, Fressen besorgen muss“, korrigierte sich Robert schnell. „Also, er gleicht ihm wirklich kaum! Außer vielleicht die monströse Schnauze und wenn man genauer hinschaut, ähneln auch diese kümmerlichen Ärmchen diesem Tier. Und wenn wir schon dabei sind, die Hinterbeine sind auch recht stämmig.“ Robert wartete gespannt auf die Reaktion der Zwillinge. Doch anstatt ihren Glücksdrachen, der noch immer auf Roberts Pullovern friedlich schlummerte, genauer in Augenschein zu nehmen, straften sie Robert mit einem bitterbösen Blick.

„Das ist kein Dinosaurier, sondern ein Glücksdrache. Das ist etwas völlig anderes!“, empörten sich seine Geschwister.

„Und übrigens sind die Dinosaurier sowieso schon längst ausgestorben“, wurde er von seinen kleinen Geschwistern aufgeklärt.

„Glücksdrachen bringen Glück, sind treu und besonders verschmust“, meinte Sebastian.

„Außerdem kann man auf ihnen reiten, wenn sie ausgewachsen sind und sie fliegen gelernt haben“, vervollständigte Miranda noch die Liste der erforderlichen Eigenschaften eines Glücksdrachen. Robert gab es für den Moment auf. Offensichtlich konnte man Fünfjährigen nicht mit Logik kommen. Also musste er warten, bis das schnuckelige Tierchen irgendwann und unausweichlich den beiden gegenüber garstig werden würde, und er hoffte bald, denn er befürchtete, dass die Zähne demnächst durchbrechen würden. Ein T-Rex besaß schließlich keine Zähne, um Weichtiere, wie harmlose Schnecken oder Regenwürmer, zu fressen. Der Bauch des Raubsauriers machte ein gurgelndes Geräusch und erinnerte Robert daran, auf Fischfang zu gehen, obwohl seine Geschwister die Eierdiebestour beim Nachbarn bevorzugten.

„Ich schleiche mich mal in die Gruselküche und schaue im Kühlschrank nach. Vielleicht haben wir ein paar Eier. Und morgen kaufe ich einen billigen Kescher, um Krebse fangen zu können.“

„Ist das ein Ding, an dem an einem langen Stab ein Netz hängt?“, fragte Sebastian.

„Ja, genau, kleiner Bruder“, lobte ihn Robert.

„So etwas habe ich am Strand herumliegen gesehen. Du musst also keinen kaufen“, unterrichtete ihn Sebastian.

„Und an welchem Strand hast du einen Kescher liegen gesehen?“, fragte Robert.

„Hier, ganz in der Nähe. Ich kann ihn dir zeigen.“ Beide Brüder rannten los, während Miranda sich um ihren geliebten Glücksdrachen kümmerte. Sebastian führte Robert ausgerechnet an den Rand der Klippe, wohin sie nach Sheriff Rimbaud eigentlich gar nicht durften und klein T-Rex Robert während der nächtlichen Spaziergänge regelmäßig drängte.

„Du willst ganz sicherlich nicht die steilen Stufen herunter steigen, oder?“ Robert schaute seinen kleinen Bruder fassungslos an.

„Doch, hier geht es zum Kiesstrand. Miranda und ich gehen da ganz gerne zum Spielen hin.“

Robert war entsetzt, dass seine kleinen Geschwister allein diese gefährlichen Stufen benutzten. Sebastian tastete sich vorsichtig die Stufen hinab, bis sie zu der verborgenen Höhle kamen. Robert folgte ihm grimmig. Wieso hatten seine kleinen Geschwister einen Weg gefunden, hinunter an den Kiesstrand zu gelangen, und er nicht? Sebastian verschwand in der kleinen Höhle und zeigte Robert, wie man sich durch die Felsenöffnung, durch die er nachts die blinkenden Boote beobachtet hatte, hindurch zwängen konnte. Von dort führten bequeme Stufen hinab zu einer winzigen Bucht.

„Wie habt ihr denn die Stufen gefunden?“ Robert kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Nun, da ist unser kleiner Glücksdrache einfach entlang gelaufen, als er uns einmal entwischte.“

„Euer Glücksdrache ist euch ausgebüxt?“ Robert zuckte zusammen. „Wann war das?“, fragte er und tat so desinteressiert wie möglich, damit sein kleiner Bruder keine unnötige Angst bekam.

„Am Freitag, als du in der Schule warst. Wir sind ein bisschen spazieren gefahren mit dem Süßen. Miranda wollte unbedingt Mama und Papa spielen, schließlich besitzt sie noch diesen dummen Puppenwagen. Also, sie hat ihn dort hineingesetzt und eigentlich wollten wir dich überraschen und von der Schule abholen, denn Miranda meinte, die frische Luft würde ihm bestimmt guttun. Aber leider ist er uns auf dem Weg zur Schule aus dem Wagen gesprungen und hier an diesen Strand gelaufen.“ Sie waren inzwischen zu der kleinen, verborgenen Bucht hinuntergestiegen. Robert graute es bei dem Gedanken daran, von seinen Geschwistern, die einen Puppenwagen mit einem T-Rex in der Gegend herumschoben, von der Schule abgeholt zu werden. Er würde sicherheitshalber ein oder zwei Räder von dem blöden Ding abschrauben und wegwerfen. Das würde seine Geschwister zukünftig daran hindern, mit einem T-Rex im Puppenwagen in der Gegend herumzugurken.

„Hier ist er.“ Sebastian zeigte ihm den Kescher. Der Holzgriff war ungefähr drei Meter lang und in dem Netz, das daran befestigt war, konnte man mindestens einen Thunfisch fangen. Robert versuchte das Teil hochzuheben und es gelang ihm gerade mal so eben, doch darin zusätzlich noch einen Fisch mit hoch zu stemmen, dazu reichten weder seine Kraft noch seine Größe aus. Letztendlich war er erst zwölf Jahre alt.

„Der ist wohl zu schwer für dich“, stellte Sebastian überflüssigerweise fest.

„Mit so einem Kescher kann man bestimmt eine ganze Kolonie Krebse auf einmal fangen, wenn man sich auf einem Schiff befindet, aber hier an Land sind andere Fangmethoden viel besser. Schau dir einmal die Krebse im Wasser an. Es gibt viele Möglichkeiten, sie zu fangen. Man bindet beispielsweise gekochtes Fleisch an das eine Ende der Schnur und wirft es ins Wasser. Dann zieht man langsam die Schnur mit dem Fleisch zu sich an den Strand. Die Krebse folgen dem Fleisch. So lockt man sie an Land und kann sie fangen.“

„Und darf ich dir dabei behilflich sein?“, fragte Sebastian freudestrahlend.

„Natürlich. Du ziehst die Krebse an Land und ich fange sie. Und später darfst du mir helfen sie zu kochen, wenn du das möchtest.“

„Aber wenn du sie totmachst, will ich das lieber nicht anschauen.“ Robert konnte das bei einem Fünfjährigen gut nachvollziehen. Es fiel ihm jedoch ein, dass man diese Tiere lebend ins kochende Wasser legte und dabei die Gliedmaßen zusammenband. Daher konnte er Sebastian und Miranda unmöglich zuschauen lassen, eher würden sie im Supermarkt Haferflocken klauen und dafür auch ins Gefängnis gehen. Nun musste er schnell eine Ausrede finden, weshalb Sebastian beim Kochen der Krebse doch nicht mithelfen durfte. Während er überlegte, wie man einen Raubsaurier ansonsten noch satt bekommen konnte, schaute er sich die kleine Bucht genauer an. Hinter ihm war die circa 50 Meter hohe Steilküste. Rechts von ihm verschwand der Kieselstrand langsam, da das Kliff einen Bogen beschrieb und die Wellen sich am Felsen brechen konnten. Doch links von ihm schien sich die Bucht, allerdings durch einen hohen Felsen versperrt, weiter fortzusetzen. Früh morgens setzte die Flut ein. Also würde man die nebenan liegende Bucht nur nachts betreten können, wenn die Ebbe das Umrunden des Felsens erlaubte.

„Nehmen wir trotzdem den Kescher mit?“, fragte Sebastian, während er versuchte das Ding hochzuheben und es ihm nur ein Stück weit gelang.

„Nein, wir lassen ihn hier liegen. Wenn ich ihn brauchen sollte, dann hier am Meer und nicht im Haus, Kleiner.“ Er nahm seinem Bruder das schon geschulterte riesige Teil wieder ab und legte es auf den Boden. Sebastian schien enttäuscht zu sein, weil Robert für seinen großartigen Fund keine Verwendung fand.

„Toll, dass du den Kescher gefunden hast, Kleiner. Ich kann ihn bestimmt noch gut gebrauchen“, lobte er ihn und strich ihm anerkennend über den Kopf. Er machte eine Kopfbewegung Richtung Haus.

„Wir werden bald zu Abend essen und ich muss noch nachschauen, ob wir für euren Glücksdrachen im Kühlschrank etwas zu fressen finden. Das geht natürlich nur, wenn Mami und Gomi das nicht merken.“ Sie liefen um die Wette die Stufen hinauf. Natürlich ließ Robert den kleinen Bruder gewinnen, um anschließend seinen Spott ertragen zu dürfen, weil ein Fünfjähriger offensichtlich schneller rannte als sein zwölfjähriger Bruder.

„Hör mal“, Robert hielt Sebastian am Arm fest. „Sheriff Rimbaud hat uns heute besucht. Er verbot uns ausdrücklich, an die Steilküste zu gehen, weil niemand die Tölpel beim Brüten stören darf.“

„Aber jetzt zum Ende des Sommers brüten hier keine Vögel mehr“, wunderte sich Sebastian.

„Das weiß ich. Aber der Sheriff befahl es nun einmal. Und mein Teleskop wurde von ihm auch konfisziert. Also, wenn dich jemand fragt, wir sind am Strand Richtung Friedhof gelaufen.“

„Und was heißt konfisziert?“, wollte Sebastian wissen.

„Wenn die Polizei einem Sachen wegnimmt, von denen sie glaubt, sie stellen eine Gefahr dar“, erklärte Robert dieses tatsächlich schwierige Fremdwort.

„Dein Teleskop stellt eine Gefahr dar? Für wen denn? Für den Sheriff?“, löcherte Sebastian seinen großen Bruder weiter mit Fragen.

„Keine Ahnung. Auf jeden Fall will Mami morgen zum alten Sheriff gehen, obwohl der eigentlich schon in Rente ist, und ihn um Hilfe bitten. Vielleicht bekomme ich durch seine Fürsprache bei Sheriff Rimbaud mein Teleskop wieder zurück. Ich würde auch gerne wissen, weshalb mein Teleskop eine Gefahr darstellt. Schließlich will ich niemanden damit erschlagen.“ Als sie am Haus ankamen wartete seine Mutter auf ihn.

„Könntest du bitte auf die Zwillinge aufpassen? Gomi und ich müssen noch schnell zum Einkaufen fahren.“

Sie warteten, bis das Auto in die Hauptstraße eingebogen war und liefen dann in die Gruselküche, um nach Essbarem zu suchen. Sebastian wollte Robert helfen und riss die Kühlschranktür auf. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser hineinschauen zu können.

„Hier ist nur gähnende Leere“, informierte er Robert. Der öffnete unterdessen die Tür zur Speisekammer, soweit man einen fensterlosen langen Gang, der ins Nirgendwo zu führen schien, so nennen konnte. Die Speisekammer war durch einen ehemals roten, verschlissenen Plüschvorhang von dem dahinterliegenden schwarzen Nichts getrennt. In weiser Voraussicht schien seine Mutter, wegen der im Haus vorkommenden Ratten, Kakerlaken und sonstigem Wurmzeugs, in der Speisekammer nur Getränke und festverschlossene Nahrungsmittel aufzubewahren. In einem regalartigen Gebilde standen Unmengen an Büchsen mit Obst und Wurst. Und zu Roberts Überraschung stand auf dem Boden palettenweise haltbar gemachte Milch. Nach seiner Schätzung bestimmt mehr als 48 Packungen.

„Glaubst du, Mama hat die abgezählt?“, fragte Robert seine Schwester, die heruntergekommen und ihm in die Gruselspeisekammer gefolgt war. Miranda nickte: „Natürlich, Mama ist Mathematiklehrerin. Die zählt alles ab. Aber wenn sie fragt, wo die Sachen geblieben sind, sagen wir ihr einfach, sie hätte sich bestimmt verzählt“, schlug Miranda vor. Robert nahm einen Karton mit sechs Packungen H-Milch und stellte ihn auf den Küchentisch.

„Das ist für Drachilein ein wahres Schlaraffenland“, freute er sich. Für die nächsten Wochen mussten sie keine kriminellen Aktivitäten mehr entwickeln, um den Kleinen satt zu bekommen, wenn man von dem Diebstahl aus der eigenen Speisekammer einmal absah.

Er entnahm die Dosen aus den hinteren Reihen, damit seiner Mutter der Diebstahl nicht so schnell auffiel. Er schnappte sich wahllos alles, ohne auf die Etiketten zu achten. Die Dosen, in denen sich möglicherweise Fleisch befand, würde er später aussortieren.

„Pfirsiche mag er bestimmt gerne“, meinte Miranda und stellte die Dosen, die Robert ihr reichte, schön aufgereiht auf dem Küchentisch ab. Sebastian hatte unterdessen den Part des Spitzels übernommen und horchte nach draußen.

„Robert? Ich glaube, Mama kommt zurück“, warnte er sie. Robert raffte so schnell er konnte alles zusammen und rannte mit den zusammengeklauten Essensvorräten die Treppe hinauf. Er erreichte gerade noch rechtzeitig sein Zimmer und warf mit letzter Kraft die Nahrungsmittel auf sein Bett.

„Mann, war das schwer!“ Er überschlug im Kopf das Gewicht der Milchkartons und der Dosen und kam auf knappe 15 Kilo. Aber nun hatte ihr Hausdino zumindest genug zu essen. Er hoffte inständig, dass seine Mutter den Diebstahl nicht allzu bald bemerken würde. Die Milchkartons und die Dosen stellte er in seinen begehbaren Schrank und schloss ihn ab.

Sebastian steckte den Kopf in sein Zimmer. „Miranda fragt, wann Petit Pouf endlich etwas zu essen bekommt?“

Robert schaute seinen Bruder fragend an. „Wer ist denn Petit Pouf und was heißt das überhaupt?“ Er hatte keine Zeit, sich mit einem weiteren Schmusetier seiner Geschwister abzugeben.

„Das ist der Name unseres Glücksdrachen. Miranda und ich haben ihn soeben getauft“, erklärte ihm Sebastian stolz. „Schließlich wurde es Zeit, ihm einen eigenen Namen zu geben. Petit Pouf heißt übrigens auf Französisch ‚kleiner Knall‘“, informierte ihn Sebastian.

„Natürlich wollen wir Petit Pouf richtig taufen lassen. Mit Wasser und so. Wir wollen dich als Taufpaten haben“, unterbreitete ihm Sebastian ihre Pläne. Roberts Begeisterung kannte keine Grenzen mehr.

„Das ist unbeschreiblich lieb von euch, an mich zu denken. Ich wollte schon immer Patenonkel eines T-Rex, ähm, eines Glücksdrachen werden.“

„Miranda! Robert freut sich, Petit Poufs Taufpate zu werden“, brüllte Sebastian so laut, dass das halbe Haus darüber unterrichtet wurde. Miranda kam freudestrahlend in Roberts Zimmer gelaufen und wiegte Petit Pouf wie ein Baby auf dem Arm. Dabei summte sie eine entsetzlich laute und ziemlich schiefe Melodie. Wahrscheinlich ahmte sie eine Mutter in einem Film nach, den sie gesehen hatte, wobei die Mama, um das Baby zu beruhigen, summen musste.

„Du weißt sicherlich, welche Ehre es für dich ist, der Pate unseres Glücksdrachen zu werden. Würdest du dich daher bitte um einen Termin beim Pfarrer bemühen?“, forderte ihn Miranda auf und schüttelte klein T-Rex dermaßen heftig, dass jedem echten Baby speiübel geworden wäre, aber der Kleine hatte ja noch nichts zu essen bekommen.

„Welchem Pfarrer möchtest du diese wichtige Aufgabe anvertrauen? Und wer ist vor allem verschwiegen? Es gibt Pfarrer, die laufen schnurstracks zu Mami und erzählen ihr, welch lustiges Haustier ihr habt.“ So lebensbedrohlich die Situation zu einem späteren Zeitpunkt auch werden konnte, hatte sie für Robert manchmal auch durchaus heitere Seiten.

„Von welchem lustigen Haustier sprichst du denn?“ Miranda schaute Robert fragend an.

„Nun, von dem auf deinem Arm.“

„Wenn du dich lustig machst über unseren Petit Pouf, dann nehmen wir eben einen anderen Taufpaten“, rief Miranda beleidigt.

„Wen denn?“, fragte Robert, erpicht, den Namen des anderen Taufpaten zu erfahren.

Man sah Mirandas Gesicht an, dass sie angestrengt überlegte, aber so auf die Schnelle fiel ihr wohl niemand anderes ein.

„Ich würde sagen, wir geben eurem Glücksdrachen erst einmal etwas zu fressen“, lenkte Robert die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema, damit sich die beiden später selbst Gedanken machen konnten über ihr unsinniges Vorhaben. Da er keinen Dosenöffner auf seinem Zimmer hatte, nahm er ein großes Messer zur Hilfe. Es war ein Erbstück seines Vaters.

„Schauen wir mal, wie eurem Glücksdrachen Thunfisch schmeckt.“ Er puhlte mit dem Messer den Fisch aus der Dose in den Fressnapf und stellte ihn dem Dinosaurier unter die Nase. Petit Pouf schnüffelte daran und machte keine Anzeichen, trotz des bestimmt vorhandenen Hungers, den Thunfisch zu fressen.

„So ein Mist!“, fluchte Robert. „Fisch hätte wirklich einen Teil des Problems gelöst. Doch ihm kam eine Idee. „Dann probieren wir etwas anderes aus, denn Milch mag er.“ Er machte eine Tüte H-Milch auf und schüttete etwas davon über den Thunfisch.

„Komm, brav. Leckeres Fressen“, lockte Miranda, und auch Sebastian half mit und schob den Glücksdrachen in Richtung des Fressnapfes.

„Jetzt iss endlich“, drängte Robert übelgelaunt das Tier. Was sollte man einem T-Rex sonst noch zu fressen geben, außer rohem, blutigen Fleisch, das möglichst noch zuckte. Miranda tunkte ihren Finger in das Futter und benetzte damit das Maul von Petit Pouf. Zuerst erfolgte keine sichtbare Reaktion. Doch vorsichtig schob sich eine rosa Zunge aus dem Maul und leckte mit einem Wisch, von rechts nach links, den Milchthunfisch von der Schnauze ab.

Robert und seine Geschwister erwarteten gespannt, was als Nächstes geschehen würde. Langsam und für ein Tier, das hungrig war, sehr langsam, streckte Petit Pouf seine Schnauze in die Schüssel. Zunächst war nur leises Schniefen zu hören, das sich zu einem Schnauben steigerte. Und dann kam endlich das genüssliche Schmatzen des Kleinen. Erleichtert atmeten alle drei auf. Robert fiel ein ganzes Bergmassiv vom Herzen. Denn welcher einigermaßen anständige ältere Bruder wollte schließlich seine kleinen Geschwister im Gefängnis sehen, weil sie für ihren Glücksdrachen Lebensmittel stehlen mussten? Natürlich waren die beiden selbst in den USA noch nicht strafmündig, aber immerhin konnten sie ihrer Mutter weggenommen und in ein Heim gesteckt werden.

„Jetzt schling nicht so. Das gibt Bauchweh!“, schimpfte Miranda mit dem Raubsaurier und ahmte damit ihre Großmutter nach, die sie öfters bei Tisch ermahnte, langsamer zu essen.

Während sie dem Tier beim Fressen zuschauten, bemerkte Robert, wie ihr Urzeithaustier, ganz ähnlich wie beim Haferschleim, das Futter zu erlegen schien, obwohl es ja eindeutig schon tot war. Die Terrorechse stieß das geöffnete Maul in die Schüssel und schnappte zu.

„Kinder, kommt ihr runter? Das Abendessen ist fertig“, rief ihre Mutter aus der Eingangshalle. Sie ließen das Tierchen in Roberts Zimmer allein zurück und verschlossen die Tür, so dass er nicht ausversehe bei ihnen in der Küche auftauchte.

„Du siehst so ernst aus, mein Großer.“ Seine Mutter schaute Robert nachdenklich an und strich ihm eine Strähne aus der Stirn.

„Ach, ist schon gut Mama, mir geht es gut.“

„Ich habe übrigens heute im Supermarkt Estelle, die Gattin vom alten Sheriff getroffen. Ich habe sie gefragt, weshalb man im Staat Washington, vor allem bei diesem fantastischen Sternenhimmel, kein Teleskop besitzen darf“, erzählte ihm seine Mutter, während sie Rühreier auf dem monströsen Herd zubereitete, neben dem sie alle wie kleine Kinder wirkten.

„Und? Was hat die alte Dame gesagt, weshalb in dieser Gegend Teleskope verboten sind?“, fragte Robert gespannt.

„Sie hat sich das auch nicht erklären können. Sie meinte, sie würde den alten Sheriff fragen. Übrigens nennt sie in nicht mit seinem Vornamen, wie es für eine Ehefrau normal wäre, sondern sie nennt ihn Sheriff Schulz, wie alle anderen auch.“ Seine Mutter nahm die Pfanne vom Herd und balancierte sie zum Küchentisch, der ganz verloren in der weitläufigen Küche stand. Robert war der festen Überzeugung, dass ihre Essgeräusche in der Küche ein Echo hervorriefen. Er lauschte angestrengt. Auf jeden Fall hallte oder, besser gesagt, knallte jedes Geräusch mehrfach wider. Seine Mutter schien Roberts Gedanken zu erahnen.

„Nebenan gibt es einen hübschen Raum. Den könnten wir zukünftig als Esszimmer benutzen“, erklärte sie ihm. „Die Tapeten müssten runter und das Zimmer neu tapeziert werden. Die Fenster sind merkwürdigerweise zugemauert oder mit Spanplatten verrammelt. Aber das sollte kein Problem sein für einen Handwerker. Wenn du dir ein wenig Taschengeld verdienen möchtest? Wir können uns den Raum gleich einmal anschauen, wenn dir das recht ist“, dabei legte sie ihre Hand liebevoll auf Roberts Arm. Seine Begeisterung, eine neue Aufgabe aufgebürdet zu bekommen, auch wenn er dadurch sein Taschengeld aufbessern konnte, hielt sich in Grenzen. Durch sein momentanes Arbeitspensum mit der Schule, den Hausaufgaben, der Glücksdrachenbetreuung und vielem anderen mehr, wusste er mittlerweile kaum noch, wie er alles bewältigen sollte. Jetzt erwartete man von ihm zudem noch, in seiner kargen Freizeit ein abgewracktes Esszimmer zu tapezieren.

„Natürlich werde ich dir helfen, Mama. Es ist überhaupt kein Problem. Wann willst du, dass ich mit der Renovierung beginne?“

„An einem der nächsten Wochenenden, Schatz. Es eilt nicht“, versicherte ihm seine Mutter.

„Und hinter welcher der vielen Türen befindet sich unser zukünftiges Esszimmer?“ Er schaute sich um. Von der Küche gingen sieben Türen ab, wobei eine davon erst über eine eiserne Wendeltreppe, die ohne weiteres als Vorbild für Gruselfilme gedient haben könnte, zu erreichen war. Ganz am Anfang, kurz nachdem sie in den Kasten eingezogen waren, hatte er versucht die Treppe und das, was sich hinter der Türe befand, zu erkunden, doch leider klemmte die schwere Eichentür. Vermutlich war es jedoch besser, nicht zu wissen, was sich dahinter verbarg. Er konnte sich gut ein Verlies mit Foltergeräten vorstellen.

„Die Tür neben dem Kühlschrank. Dahinter befindet sich ein bezauberndes kleines Zimmerchen mit einem Kamin“, antwortete ihm seine Mutter. Robert drehte seinen Kopf in Richtung des Kühlschranks. „Bezauberndes kleines Zimmerchen“ klang sehr verdächtig. Es war ihm noch lebhaft in Erinnerung, als seine Mutter ihnen, einen Tag vor ihrer Abreise in die USA, überaus glücklich ihr neues schnuckeliges Zuhause schilderte. Und nun wohnten sie in einem Gemäuer, in dem es selbst Frankenstein gruseln würde. Er stand auf, um sich das zukünftige Esszimmer genauer anzuschauen. Als er die Tür öffnete, sah er erst einmal nichts. Die Schilderung seine Mutter konnte er somit nicht bestätigen. Das Zimmer schien zwar klein und überschaubar zu sein, nur diese unnatürliche Dunkelheit störte. Robert versuchte seine Augen an die ihn umgebende Schwärze zu gewöhnen.

„Mami? Weshalb sind die Fenster zugemauert?“, rief er laut, damit seine Mutter ihn in der Küche hören konnte.

„Das wundert mich auch ein wenig“, antwortete ihm seine Mutter und trat in den Türrahmen. „Ich werde das morgen mit dem Immobilienmakler besprechen. Es sind ja einige Dinge, was das Haus betrifft, zu klären.“

„Mami, wir sollten uns einen Rechtsanwalt nehmen. Das Haus, soweit man es überhaupt so bezeichnen kann, ist in einem katastrophalen Zustand. Der Immobilienmakler müsste uns, wenn er ein Gewissen besitzen würde, ein anderes Objekt anbieten.“ Insgeheim hoffte Robert, durch einen Umzug das Problemhaustier ohne eigenes Zutun, wie es von der Klippe zu schubsen oder ähnliche Grausamkeiten, loszuwerden. Sie würden es eben einfach vergessen und somit jemand anderem unterschieben. Klein T-Rex würde einfach im Haus vergessen werden. Und demjenigen, dem man das unterschieben konnte, war der Immobilienmakler. So einfach war das. Wieso sollte man mit so einem unangenehmen Kerl Mitleid haben, der ohne Skrupel einer armen Witwe mit drei Kindern ein solches Haus andrehte?

„Aber Robert, der Immobilienmakler hat mir davon abgeraten, dieses Haus zu kaufen. Selbst auf die Maklercourtage hat er verzichtet. Außerdem hat er mit eigenen Mitteln die Stromleitung repariert und eure Kinderzimmer hergerichtet.“

„Du hast ein Haus gekauft, von dessen Erwerb dir der Immobilienmakler höchstpersönlich abgeraten hat?“ Robert schaute seine Mutter fassungslos an. In dem Moment hörten sie Großmutter aus der Küche rufen und sie klang, als ob sie in einer riesigen unterirdischen Höhle stehen würde. „Christhild, dein Handy klingelt!“

Robert wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem zukünftigen Esszimmer zu. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Der Lichtschalter funktionierte nicht, also tastete er sich ans Fenster und versuchte es zu öffnen. Erstaunlicherweise ließ es sich öffnen, obwohl die Erfahrungswerte, die er in diesem Haus gesammelt hatte, ihn eigentlich etwas anderes lehrten. Das Fenster war von außen mit Steinen zugemauert worden, doch wie Robert feststellen konnte, waren die Steine, die die Fensteröffnung füllten, lose aufeinander gestapelt. Von außen war noch eine Spanplatte dagegen genagelt, sonst hätte ein einfacher Tritt genügt, um zumindest ein paar der Steine zu entfernen. Er ging zurück in die Küche und wartete, bis seine Mutter das Telefonat beendet hatte.

„Mami? Wann kommt der Immobilienmakler? Ich wäre gerne dabei, denn ich habe auch ein paar Fragen an ihn.“

„Er kommt morgen Nachmittag gegen fünf Uhr. Sicherlich bist du da bereits aus der Schule zurück. Und jetzt rate mal, wer eben angerufen hat. Der alte Sheriff. Er will Sheriff Rimbaud fragen, weshalb er dein Teleskop konfisziert hat. Ihm sei kein Gesetz bekannt, welches einem 12-jährigen Jungen ein so interessantes wissenschaftliches Instrument verbiete. Er will sich die Tage wieder melden“, unterrichtete ihn seine Mutter.

„Gut, dann weiß wenigstens der alte Sheriff, wie ein Teleskop funktioniert und dass man damit keine Menschen beobachten kann, schließlich sieht man alles spiegelverkehrt.“ Robert gähnte herzhaft und verabschiedete sich. Heute Nacht durfte er schließlich wieder mit dem Glücksdrachen Gassi gehen. Er gab seiner Großmutter einen Gutenachtkuss, obwohl sie ihn heute in große Schwierigkeiten gebracht hatte. Doch fairerweise musste er zugeben, dass er sie hinsichtlich der Art des Tieres übel angelogen hatte. Als er zurück in sein Zimmer kam, machte klein T-Rex – oder neuerdings Petit Pouf – einen ausgeruhten Eindruck. Das Tierchen, die genauere wissenschaftliche Bezeichnung wäre sicherlich Reptil, hüpfte voller Energie auf Roberts Bett herum. Robert schubste klein T-Rex aus dem Zimmer und ließ ihn in das Kinderzimmer der Zwillinge. Sollten Mama und Papa sich selbst um ihren Glücksdrachen kümmern.

Versteckspiel mit T-Rex

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