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Wahrnehmungswelten – oder: Wie unser Bild von der Welt entsteht Wahrnehmungstäuschungen

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Unsere Welt ist eine Welt voller sinnlicher Reize. In ihr gibt es unzählige Gegenstände, Ereignisse und Ereignisfolgen mit sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften wie Größe, Form, Oberflächenbeschaffenheit, Farbe, Geruch, Geschmack und Klang. Diese Realität und die Veränderungen, die in ihr stattfinden, erfassen wir mit Hilfe unserer Sinnesorgane. Die Realität und ihre Veränderung wahrzunehmen hat für alle Lebewesen eine wichtige biologische Funktion, denn Veränderungen der Umwelt können Konsequenzen sowohl für die Selbst- als auch für die Arterhaltung haben. Darum müssen sie rechtzeitig und möglichst rasch erkannt werden. Bewegte Objekte beispielsweise können einerseits Nahrung sein, andererseits aber auch natürliche Feinde oder Gefahren.

Aber schon hier, auf der Ebene der sinnlichen Reize, kommt es zu einem Bruch zwischen uns und der Welt. Denn die von uns wahrgenommenen Eigenschaften wie Größe, Form oder Farbe entsprechen nicht notwendigerweise den physikalischen Eigenschaften der Gegenstände. Die Attribute und Qualitäten, die wir an einem Gegenstand wahrnehmen – oder besser: wahrzunehmen meinen –, unterliegen beträchtlichen Variationen und hängen von der Situation ab, in der uns der Reiz begegnet. Das heißt, was und wie wir etwas wahrnehmen, ist abhängig von der Umgebung, in die der betreffende Gegenstand oder das betreffende Ereignis eingegliedert ist. Belege hierfür liefern etwa die zahlreichen bekannten optischen Täuschungen. So erscheint zum Beispiel ein und derselbe Gegenstand, je nachdem in welcher Umgebung er dem Betrachter begegnet, bei gleicher Entfernung nicht immer gleich groß. Unterschiedliche Umgebungen können also dazu führen, dass objektiv gleich große Dinge uns verschieden groß erscheinen. In solchen Fällen kommt es zu Täuschungen, die sich in Abhängigkeit von der Reizkonfiguration als Verzerrungen, Kontrastierungen, Verdeckungen oder auch Ergänzungen bemerkbar machen.


Abb. 1: Müller-Lyer-Illusion


Abb. 2: Kreis-Größentäuschung


Abb. 3: Necker-Würfel


Abb. 4: Rubin’sche Täuschung: Vase oder Gesichter?

Die Wahrnehmungspsychologie2 belehrt uns darüber, dass es zu Wahrnehmungstäuschungen grundsätzlich unter drei verschiedenen Bedingungen kommt: bei widersprüchlicher Reizinformation, bei Überbelastung des Wahrnehmungssystems, aber auch bei dessen Unterbelastung, der sogenannten „sensorischen Deprivation“.

Widersprüchliche Informationen liegen bei den meisten der bekannten geometrisch-optischen Täuschungen vor. Diese Täuschungsmuster sind in der Regel so konstruiert, dass wir an dem dargestellten Objekt beispielsweise Tiefenerstreckung oder Neigung wahrzunehmen meinen, obwohl weder das eine noch das andere vorliegt. Widersprüchliche Informationen liefern uns auch die als „Kippfiguren“ bezeichneten Reizmuster wie etwa der Necker-Würfel, bei denen sich unser visueller Apparat zwischen einer von mehreren möglichen „Lesarten“ des Musters entscheiden muss. Einen weiteren Typ von widersprüchlichen Reizmustern stellen die „unmöglichen Objekte“ dar. Hierbei handelt es sich um zweidimensionale Projektionen von dreidimensionalen Gegenständen, die im dreidimensionalen Raum nicht existieren können. Bekannte Beispiele für solche „unmöglichen Objekte“ liefern die Zeichnungen des holländischen Graphikers M. C. Escher.

Zu Überbelastungen unseres Wahrnehmungsapparats kommt es immer dann, wenn die Reizkonfiguration, mit der wir konfrontiert werden, hochkomplex und gleichförmig ist, so dass es uns kaum gelingt, einzelne Formelemente visuell herauszugreifen und isoliert aufzufassen. Muster erscheinen unter solchen Bedingungen beispielsweise in dauernder Bewegung und lassen sich infolgedessen nur schwer oder gar nicht gliedern. Ein schönes Beispiel für eine solche Überbelastung unseres Wahrnehmungssystems liefert der sogenannte „Moiré-Effekt“: Läuft man an zwei hintereinander stehenden Lattenzäunen vorbei, so dass der hintere Lattenzaun durch den vorderen hindurch sichtbar wird, so scheinen (im Zuge der parallaktischen Verschiebung, wie uns der Wahrnehmungsphysiologe erklärt) schnelle Schatten über die Zäune hinwegzuhuschen. Die Überlastung unseres visuellen Verarbeitungsmechanismus führt hier offensichtlich zu einer Wahrnehmungstäuschung. Ähnlich verhält es sich im folgenden Fall: Lässt man im Dunklen ein Rad rollen (dreht es also nicht einfach nur), auf dessen Umfang leuchtende Punkte befestigt sind, dann beschreibt jeder dieser Punkte – objektiv – eine sogenannte Zykloide, eine Radkurve. Bei ein bis vier Punkten können wir diese Radkurven tatsächlich sehen. Bei mehr als vier Punkten ist das nicht mehr möglich; jetzt ist unser Wahrnehmungsapparat offenbar heillos überfordert: Man sieht einen rollenden Kreis.


Abb. 5a und b: Unmögliche Objekte: Penrose-Dreieck und Penrose-Treppe

Zu einer Unterbelastung des Wahrnehmungssystems kommt es, wenn die Situation, in der man sich befindet, sehr reizarm und uniform ist, wenn – anders gesagt – nur wenige Veränderungen in der Struktur des Reizmusters auftreten. Bei einer entsprechenden Verringerung von Reizen kommt es nicht nur im visuellen Bereich, also beim Sehen, zu Wahrnehmungstäuschungen, sondern auch im auditiven, also beim Hören. Menschen, die längere Zeit in der Wüste oder der Polarregion, in Gefängnissen oder psychiatrischen Anstalten leben oder leben müssen, berichten regelmäßig über Täuschungen sowohl visueller als auch auditiver Art. Dem durstigen Menschen in der Wüste erscheinen die Palmen einer Oase, der Gefängnisinsasse in seiner Abgeschlossenheit halluziniert einen Sexualpartner, ein Fleck an der Wand wird als Spinne oder Fliege gesehen, das Geräusch eines Ventilators wird für Stimmengemurmel gehalten, und aus dem reizarmen Hintergrundrauschen, dem sogenannten „weißen Rauschen“, werden nach und nach bestimmte akustische Signale isoliert.

Zudem haben zahlreiche wahrnehmungspsychologische Experimente gezeigt, dass Hunger und Durst, Gefühle und Persönlichkeitseigenschaften wie Aktivität und Passivität die Wahrnehmung nachhaltig beeinflussen können.

Was lehrt uns all das? Nun, zunächst wohl dies: Unsere Wahrnehmung unterliegt einer Fülle von Determinanten. Dazu gehören sowohl passive Komponenten, wie etwa die Weiterleitung des Netzhautbilds an das Gehirn, als auch aktive, wie etwa die Strukturierung des den Sinnen präsentierten Materials, ferner unbewusst ablaufende, also gleichsam automatische Verarbeitungsmechanismen sowie vom Bewusstsein gesteuerte und mit Bewusstsein begleitete Aktivitäten. Und: Sinnliche Wahrnehmung ist keine passive Wiedergabe oder bloße Spiegelung von Welt, sondern ein aktiver Prozess der Aneignung dessen, was uns als Realität gilt. In diesem Sinne formulieren Krech, Crutchfield und Ballachey: „Unter allen möglichen Eigenschaften eines Objekts werden nur bestimmte wahrgenommen. Und sogar diese Eigenschaften können verschmolzen und verändert werden, um den Bedürfnissen des Individuums angepasst zu werden. Die kognitive Karte eines Individuums ist daher keine fotografische Repräsentation der physikalischen Welt; es ist vielmehr eine partielle, persönliche Konstruktion, in der bestimmte Objekte, die von dem Individuum dazu bestimmt werden, eine größere Rolle zu spielen, auf individuelle Art wahrgenommen werden. Jeder Wahrnehmende ist deshalb bis zu einem gewissen Grad ein abstrakter Künstler, der ein Bild von der Welt malt, das seine individuelle Sichtweise ausdrückt.“3 Bei dem Bild von der Welt, das wir mittels des Wahrnehmungssystems in unserem Kopf erzeugen, handelt es sich folglich nicht um ein getreues Abbild oder eine Fotografie, sondern um ein Bild, das auf vielfältige Weise von unserem Wahrnehmungssystem und den Verarbeitungsmechanismen im Gehirn bearbeitet worden ist. Anders gesagt: Unser Wahrnehmungssystem verführt uns geradezu dazu, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise wahrzunehmen. Wir sind also – etwas überspitzt gesagt – bereits auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung verführte Wesen. Das springt noch deutlicher ins Auge, wenn wir uns der Perspektivität, Selektivität und Konstruktivität der Wahrnehmung zuwenden.

Die rosarote Brille

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