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Ankunft im Bau-Camp

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Er hatte diesen Sonnenschein mit dem unmöglichen Namen, vor einigen Wochen, auf der Landstraße von Pacasmayo nach Cajamarca, aufgegabelt. Durch die Hitze trabend, eine ausgediente Sandale in der Hand, die andere am Fuß, mit einen Rucksack voller Süßkartoffeln auf den zarten Schultern.

Er hatte zumindest angenommen, es seien Kartoffeln darin. Was sonst schleppten diese Menschen immerzu von einem Dorf zum anderen und zurück, wenn keine Kartoffeln, Reis oder andere erbeutete Fressalien. Wie die Eichhörnchen erschienen sie ihm, immer waren sie vollbeladen, und Säuglinge hingen festgebunden oben auf den Säcken. Dieses Mädchen hatte keinen Säugling dabei, weder auf dem Rücken noch im Bauch, was sehr selten anzutreffen war, bei einer Frau im gebärfähigen Alter.

Sie war gertenschlank und um ihre Waden schwappten keine fünf oder sieben übereinander getragene Faltenröcke. Sie trug Jeans. Markenjeans, wie Karl sogleich bemerkt hatte. Wie war dieses Wüstenmädchen an den amerikanischen Markenartikel geraten?

Sie war dankbar auf die Ladefläche seines Pickup gestiegen. Ladeflächen für Vieh oder Ware bestimmt, als Plattform der Menschenbeförderung zweckentfremdet, waren immer willkommen. Sie kosteten den Passagier nichts und brachten ihn vorzeitig an sein Ziel. Das Angebot der Mitfahrgelegenheit im Inneren des Wagens, an seiner Seite, hatte sie mit einem betörenden Lächeln und einem kurzen Kopfschütteln abgelehnt.

Er hatte den Rückspiegel beinahe im Sekundentakt fokussiert, um ab und zu einen Blick auf seine süße Fracht zu erhaschen. Als sie mit der flachen Hand hörbar gegen das Rückfenster schlug, hatte er angehalten. Sie war nicht unbeholfen herunter geklettert, wie seine gelegentliche Menschenfracht es üblicherweise tat, sie sprang graziös vom Wagen, als sei es ein Teil einer gelungenen Choreographie. Sie bedankte sich in Spanisch bei ihm, sah ihn an und der Blitz schlug ein.

Er handelte schnell, ungewöhnlich schnell für seine Art zu handeln. Die Chance, ihr sonst je wieder zu begegnen, war bedrohlich gering. Normalerweise musste jeder Schritt von ihm geplant werden, ausnahmslos jeder! Er musste alles vorher durchdenken und die verschiedenen Möglichkeiten sorgsam abwägen. Doch hier hatte sich keine weitere Möglichkeit blicken lassen. Er, Karl, bot ihr an, seine Hausgehilfin zu werden. In seinem Haus im Bau-Camp.

Luz del Mar war eine Augenweide, außerdem war sie neunzehneinhalb, eine Begebenheit, die ihr seiner Meinung nach, ungeheuer zu der Lieblichkeit verhalf, die sie ausstrahlte, obwohl sie etwa einen Kopf kürzer war als er. Diese Kürze wäre normalerweise Grund genug gewesen, dieses Geschöpf Gottes nicht in Betracht zu ziehen. Nicht für seinen Bedarf!

Das Aufkommen seines Lustempfindens, mit verlässlicher Potenz gekoppelt, richtete sich nach strengen Regeln seiner Auffassung der Ästhetik. Er hatte gelernt, das Interesse für eine Frau in der Wurzel ersticken zu lassen, wenn nur ein einziger Punkt mit dieser Regelliste nicht harmonierte. Das konnte Karl, er hatte es lange genug geübt und sich dabei geschworen, nie wieder in die Falle zu tappen. Das hieß, beim Liebesakt zu versagen, nur weil ihm ein Hintern nicht gefiel oder die Beine zu kurz waren. Eine Falte an ungünstiger Stelle, kränkliches Zahnfleisch, schlappe Pobacken oder etwa nur ein Pickel im Mundwinkel ließen ihn erschlaffen. Diese Unmutserzeuger erschienen ihm ärgerlicherweise immer erst in den ausschlaggebenden Momenten vor Augen, sie machten sich als übergreifende Reaktionen erst dann bemerkbar, wenn er schon aus den Startlöchern heraus war, wenn diese Bremse von ihm zu spät erkannt worden war. Selbst wenn er seine Lider dann entschlossen zukniff, war es ihm unmöglich, das Bild des kleinsten Anstoßes aus seinem Sinn zu vertreiben. Er umarmte, küsste, streichelte, während sich ein angewachsenes Ohrläppchen elefantenhaft vor seinem inneren Blick aufblähte und seine Erektion vertrieb.

Als junger Mann hatte es dieses Problem nicht gegeben, erst in den letzten Jahren stießen ihn solche Läppchen und ähnliche Unebenheiten an einem weiblichen Körper so einschneidend ab. Alles endete, bevor es begann. Das war ihm schmählich oft widerfahren. Er traute dem Braten nicht mehr. Selbst wenn seine Lust ihm helle Aufruhr zuzwinkerte, ließ er sich von dieser unzuverlässigen Lust schon längst nicht mehr in die Irre leiten.

Folglich bemühte sich Karl, bevor er seine Hose abstreifte, der Anspruchsliste strengste Beachtung zu schenken, das war sein sicherer Weg für das Gelingen einer Paarung. Falls ihm also die kleinste Kleinigkeit am Äußeren einer Frau nicht gefiel, ließ er nun die Finger davon und begab sich lieber auf erneute Brautschau.

Er pflegte sich bei diesen menschlichen Zusammentreffen wie ein Zoobesucher zu verhalten, er saugte Erleben auf und gab nichts zurück. Vergleichsweise, vielleicht, ab und zu eine Erdnuss oder eine halbe Banane, doch diese hatte er nicht eigenhändig gepflanzt, gezogen, gepflegt und geerntet. Nicht einmal abgeschält. Er war ein Konsument durch und durch, er wusste die Quelle eines Genusses nicht selbst zu kreieren. Das alleine schon, wies ihn als Langweiler aus.

In Luz del Mars Anwesenheit allerdings, drohte diese Verhaltensweise ins Wanken zu geraten. Ebenso das strenge Konzept seiner Ansprüche an eine Frau. Es war in diesem Fall ja nur ihre etwas zu kleine Größe, die Proportionen sagten ihm zu, und von den befürchteten Unebenheiten konnte bei Luz keine Rede sein. Durfte er da nicht doch eine Ausnahme riskieren und diese geforderte Größe in seiner Wunschskala übersehen?

Ihre Stimme war so sanft, und wenn sie lachte, klopfte sein dürrer Freund gegen die Hosennaht. Die reine Wonne. Er wollte sie in seinen Armen vor Lust stöhnen hören. Und sie war so angenehm bescheiden, freute sich augenscheinlich über jede noch so kleine Aufmerksamkeit, die er sich für sie einfallen ließ. Das hatte Karl bei sämtlichen seiner vorherigen Eroberungen vermisst.

Fünf Dollar zusätzlich monatlich, zu dem üblichen Gehalt von fünfundvierzig, hatte er ihr großzügig angeboten. Sie hatte mit Tränen in den hellen Augen, so erschien ihm dieses Glitzern, mit einem sehr kurzen Gracias zu ihm aufgesehen und den Vorschlag angenommen. Karl liebte es, wenn man zu ihm aufsah.

Er verdiente sechstausendfünfhundert Dollar im Monat, davon bekam er zehn Prozent in der Landeswährung ausbezahlt, der Rest wurde in deutschen Landen auf sein Konto überwiesen, steuerfrei gehortet. Es erwies sich als schwierig für ihn, diese zehn Prozent in Soles auszugeben, er müsste ab und zu nach Lima fliegen und auf den Putz hauen.

Doch sein Gehalt tat hier nichts zur Sache, fünfzig Dollar Monatsgehalt, und dann noch für eine Frau, das war für hiesige Verhältnisse eine ganze Menge. Wenn man sich mit Kartoffeln, Reis und Bohnen zufrieden gab, was diese Menschen hier ja schließlich gewohnt waren. Was spielte es da für eine Rolle, wie viel er verdiente. Das waren zwei Paar Schuhe. Außerdem hatte sie den ganzen lieben langen Sonntag frei, und er bemerkte, dass er diese Sonntage zu hassen begann, unruhig war und das Mädchen vermisste. Sollte er weitere zwei oder drei Dollar drauflegen, damit sie an diesen gottesfürchtigen Tagen ebenfalls in seinem Haus erschien? Sein Nachbar, ein feister Oberpolier in den Fünfzigern, der die Arbeiter des Tunnelbaus für die Schlitzwand beaufsichtigte, eine notwendige Einrichtung für den Kern des Staudamms, dieser Nachbar zahlte an seine Maria Eugénia nur vierzig Dollar. Allerdings durfte man nicht übersehen, dieses Mädel war schon Ende zwanzig.

Luz del Mar lernte schnell, und ebenso schnell hatte sie sich eingelebt. Auch anfangs sah man sie nicht, wie die anderen Dorfmädchen, die hier in den Häusern arbeiteten, mit der Geschirrspülbürste die Toilette säubern oder beim Staubwischen auf den Tisch spucken, um anschließend mit einem der zahlreichen Rockzipfel darüber zu wischen. Was allerdings nicht an ihren fehlenden Röcken lag. Doch ebenso wie ihre Dorfgenossinnen war auch sie, in den ersten Tagen ihrer Tätigkeit im Camp, vor der Waschmaschine in die Knie gesunken. Sie hatte, in der Hocke verharrend, fasziniert und begeistert durch das runde Glas gestarrt und die Bewegung der Trommel, die ihr die Arbeit aus der Hand nahm, beobachtet. Sie hielt Karls geräumige Baracke in Ordnung, putzte, ließ die Maschine waschen, bügelte alles, auch seine Socken und hatte niemals zuvor mit einem elektrischen Dampfbügeleisen geplättet. Sie kochte nach seinen Wünschen und bediente ihn bei Tisch musterhaft, schweigsam stehend, mit gesenktem Blick, bis Karl das Mahl beendet hatte. Das sagte ihm zu, so in etwa hatte es zu sein.

Doch sie brachte mit Eleganz die Unmöglichkeit fertig, mit gesenktem Blick vor ihm zu stehen, ohne auch nur im Entferntesten den Eindruck von Unterwürfigkeit zu vermitteln. Weder Demut noch hinterhältige Schwäche ließen auf ihre Haltung schließen. Karl fühlte sich zwar nicht beschämt aber nach wenigen Tagen schon, ein wenig bestraft. Aus ihrer Haltung, die ihm anfangs so gefallen hatte, wuchs nun in ihm das sachte Empfinden, als würdigte sie ihn keines Blickes.

Sie stand aufrecht und sah scheinbar über ihre Nasenspitze hinunter in eine andere, vielleicht eigene Welt. Oder sah sie hinauf in diese Vielleichtwelt? Karl genoss den gesenkten Blick, und dass sie auf seine Order wartete, mit jedem Tag weniger. Man konnte nicht behaupten, dass er sich unwohl fühlte, wenn er einem anderen Menschen Befehle erteilte oder ihm gebot, sich unterzuordnen. Trotzdem, schon nach zwei Wochen des Bedientwerdens im Stehen, bat er sie, sich zu setzen und ein Gläschen Tacama mit ihm zu trinken. Sie trank keinen Wein, setzte sich aber zu ihm, hob den Blick von ihrer Nasenspitze, lächelte ihn an, und in seiner Hose pochte es wieder.

Sein letzter Schluck Wein, er zog ihn in die Länge, dann wusch sie das Geschirr und machte sich auf den Heimweg. Eine Stunde Schotterpiste, zu Fuß durch die beginnende Nacht. Nach ihrem allabendlichen, freundlichen Buenas Noches, Señor Ingeniero, klebte er handlungsunfähig, wie verwurzelt auf seinem Stuhl und forderte nachdenklich mit der Zungenspitze die Reste aus den Zwischenräumen seiner Zähne. Er musste sie haben, unbedingt. Er wollte sie vögeln. Aber vorsichtig, denn diese jungen, zivilisationsfremden Dinger aus den Dörfern, die nichts haben und nichts sind, ließen sich mit Absicht von den ausländischen Männern schwängern. Dann hatte man das Theater, monatliche Zahlungen und den Clan am Hals.

Nein, er würde das zu verhindern wissen und äußerste Vorsicht walten lassen. Aber zuerst einmal war eine Menge Vorarbeit zu leisten, denn dieses Geschöpf hier, das seiner Libido so ungewohnt auf die Sprünge half, trug ein goldenes Kreuz um den Hals, bekreuzigte sich wahrscheinlich vor jeder Tür, bevor sie eine öffnete und ließ ihn auch nicht den kleinsten lohnenden Blick in ihren Ausschnitt gewähren. Sie zeigte sich zugeknöpft bis zum Kinn, auch wenn er ein Gespräch beginnen wollte, um sich wenigstens verbal zu nähern.

Minimale und korrekte Antworten. No Señor, si Señor. Einen besonders langen Satz konnte er mit einer blöden Frage herausfordern, die für ihn gar keiner Frage bedurfte.

Dieses Paar Schuhe, nachdem Sie suchen, Señor Ingeniero, steht im Schuhschrank unten rechts, das dritte Paar von links, antwortete sie. Er genoss ihre Stimme. Ja, Luz del Mar war besonders zurückhaltend, vielleicht ein Trick? Und sie bewegte sich mit dem Wischmob und ihrem wohlgeformten Hintern so anmutig durch seine Hütte. Außerdem sang sie bei der Arbeit, dass ihm der Speichel wegblieb. Aber leider nur, wenn sie glaubte, er sei noch nicht im Haus. Dann lauschte Karl heimlich ihrem Gesang, er ließ die zauberhaft traurige und doch so starke, unvergessliche Stimme auf sich wirken und machte sich möglichst lange nicht bemerkbar.

Melodien und Lieder, die ihm genauso unbekannt waren wie die Sprache der Texte, hielten ihn gefesselt. Er hatte in Deutschland einen Intensivkurs in Spanisch absolviert und nun zweimal wöchentlich einen Privatlehrer engagiert, aber das, was sie sang, war kein Spanisch. Sicherlich war es Quechua, oder Guarani? Alte, fast vergessene Sprachen der Inka? Er musste sich unbedingt informieren, am liebsten mit ihrer Hilfe. Vielleicht bot sich dadurch endlich die Möglichkeit eines intensiven Gesprächs. Die Mädchen hatten allerdings, nach allem was er hier im Bau-Camp darüber vernommen hatte, durchweg einen beschränkten Horizont, er durfte sie also nicht überfordern und mit zu anspruchsvoller Fragerei bloßstellen. Sein Spanisch war noch etwas kümmerlich, aber für eine erste, wenig anspruchsvolle Verständigung mit dieser appetitlichen Eingeborenen, reichte es auf jeden Fall. Außerdem machte er absichtlich einiges falsch, weil sie dann lächelte, ihn ansah und neuerdings zaghaft verbesserte. Er hatte darum gebeten. Das war für ihn keine Erniedrigung, auch dann, so glaubte Karl, war und blieb er der Überlegene.

Karl wusste, dass die meisten alleinstehenden Männer im Camp verheiratete Familienväter waren, die ihre Lieben wohlbehalten in Europa auf Eis liegen hatten, und dass diese vorübergehenden Junggesellen gerne die Mädchen fürs Haus untereinander austauschten. Dort ging es nicht ums Detail, man probierte mal Diese und mal Jene, zur Aufheiterung, um der Eintönigkeit des Camplebens zu entkommen. Dem wollte Karl, nachdem man ihn dazu aufgefordert hatte, auf keinen Fall zustimmen. Abgesehen davon, dass er nicht bereit war, erheiternden Gesprächsstoff zu liefern, da sich das gesamte Camp über seine gelegentlichen Anlaufschwierigkeiten mit Sicherheit das Maul zerreißen würde, wollte er Luz del Mar für sich haben, sie ganz allein einweisen und genießen. Er würde sie nicht anlernen, damit andere die Früchte genossen. Seine Früchte.

Zusätzlich, zu der Abneigung des Teilens, gesellte sich starker Ekel. Allein die Vorstellung, seine Geliebte, die das erst noch werden musste, mit irgendeinem dieser geilen Kerle, vor oder nach ihm vereint zu wissen, ließ ihn schrumpfen. Er hatte seine Ablehnung zu diesem Komplott ziemlich deutlich wissen lassen, und die liebeshungrigen Kollegen aus der Mittel- und Unterschicht nannten ihn einen spießigen Spielverderber. Man tuschelte, er hätte sich sogar in diese hellhäutige Schönheit verliebt. Das galt als unpassend, nicht standesgemäß, eine lächerliche Schwäche.

Die Schöne, mit den unheimlich hellen Augen, nannte man sie, wer konnte oder wollte sich schon ihren eigenartigen Namen merken. Ihre Augen fielen sogar im Camp auf, dort wo es genügend helle Augen gab.

Kein Mädchen aus den Dörfern hatte ähnliche Augen vorzuweisen. Man traf auf hellbraune, kastanienbraune, haselnussbraune, gelbbraune bis rabenschwarz umspannte Pupillen. Millionenfach. Luz del Mars Augenpaar schien einmalig. Es wies einen silbernen Ton in seinem sehr hellen Blau auf, ähnlich dem oberen Seitenbereich einer Bachforelle, umrandet von einem feinen, erst beim zweiten Blick erkennbaren Ring, in einem zarten und doch trotzig wirkenden Grün, das die Patina von Kupfer mit sich trug. Dieser etwas dunklere, grünliche Ring vertiefte die Sensation ihres Blickes, den sie so oft senkte, um dem eindringlichen, erstaunten oder auch erschrockenen Glotzen ihrer Mitmenschen zu entgehen. Selten hatte jemand die Gelegenheit gehabt, diesen zweiten Blick zu tätigen, um dem Geheimnis dieser Farbzusammenstellung, der Intensität ihres Blickes, auf die Spur zu kommen.

Ihr Blick sei wie ein wolkenverhangener Frühlingsmorgen an einem Bergsee, das sagten zärtlich die wenigen Menschen, die ihr nahe standen. Im Dorf nannte man ihn, den bösen Glasblick. Vielleicht weil er so offen war, so direkt und unergründlich tief, man schwappte hinein und lief Gefahr, sich darin zu verlieren. Tief und auf eine Weise gütig, gütiger als es die einfältigen Dorfbewohner ertragen konnten. Oder sie wollten Güte in ihrer Welt nicht wahrhaben. Nicht wenige behaupteten, sie seien durch diesen Blick hypnotisiert und dadurch zu unsittlichen Gedanken und bösem Tun aufgefordert worden. Ganz ohne Worte!

Luz wurde von den Einheimischen gemieden, die Kinder verspotteten sie auf der Straße, Staub aufwirbelnd, in sicherem Abstand hinter ihr her laufend. Immer noch, seit sie ein Kind war. Asphalt war noch nicht bis in ihr Dorf vorgedrungen.

Luz del Mar kannte ihren Vater nicht. Der Erzählung ihrer Mutter nach, war er bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Ihre Mutter stammte aus dem Süden des Landes, tausende Kilometer entfernt, aus der hohen, kalten Region. Sie war damals mit der kleinen Luz auf dem Rücken und einer Ziege am Strick, einfach losgezogen, weg vom Elend der Trauer, Richtung Norden, wie sie erzählt hatte. Den größten Teil davon zu Fuß. Ihre Mutter schwor immer noch auf Ziegenmilch, kein Kind sollte ohne diese Nahrungsquelle aufwachsen. Als sie die Panamericana endlich erreicht hatte und ihre Ziege in einen der Überlandbusse hieven wollte, verweigerte man ihr die Mitreise, falls sie die Ziege nicht zurückließe. Als sich wenig später die Gelegenheit bot als Hausangestellte im Pfarrhaus zu arbeiten und zu wohnen, hatte sie die Wanderung aufgegeben und sich dort niedergelassen. In ihrer Heimat war sie Lehrerin gewesen.

Luz del Mar hatte oft von ihrer Mutter gehört, dass sie die Augen und die helle Haut ihres Vaters geerbt hätte, und dass er ein schöner Mann gewesen sei. Doch niemals hatte sie ihre Mutter um den Geliebten weinen sehen. Es gab auch keine Fotos von ihm. Damit erschöpften sich die Informationen über Luz´ früheste Kindheit, über ihre Herkunft, über ihren Vater. Alles Mögliche, nach dem Luz del Mar später fragte, war auf der mysteriösen Reise verloren gegangen, ihre ganze Identität schien auf diesem Marsch verschluckt worden zu sein, von den Vorfahren bis zur Geburtsurkunde. Die einzige Erinnerung, die Luz aus dem dunklen Sack ihrer frühen Kindheitserinnerungen hervorziehen konnte, waren Schmetterlinge. Sie waren auf dieser abenteuerlichen Reise auch durch unzählige Täler Perus gezogen und in einem dieser Täler war sie tausenden von schillernden Schmetterlingen begegnet. Flatternde, leuchtende, glitzernde, große, kleine verschiedene Farbtupfer hatten sich auf sie gesetzt, ganze Wolken dieser bunten Falter hatten sie eine Weile begleitet. Sie hatte auf einem Karren gesessen und war durch ein Meer von Schmetterlingen gezogen worden. Das war alles, was sie mit Bestimmtheit von sich wusste.

Warum taten sich die Deutschen so schwer mit dem Namen Luz? Drei Buchstaben nur, El-U-Zet, Luz! Wenn jemand das endlich behalten hatte, sprach er den Namen falsch aus, er sagte „Lutz“, statt Luz. Das Ende ihres Namens sprach man aus, wie bei Kuss oder Schluss. Für dieses Ende schob man die Zungenspitze zwischen die Vorderzähne, ähnlich dem englischen TH. Sie machte es Karl deutlich, wenigstens er sollte sie richtig ansprechen. Sie schob ihre rosa leuchtende Zunge vor seinen Blick und sagte, Luuusss! Er zappelte.

Luz del Mar, Licht des Meeres? Zugegeben, wenn er diesen Namen exakt übersetzte, war er ja hübsch und klang poetisch, aber um sie so anzusprechen oder zu rufen, das fand Karl unpassend. Diese enge Zusammenstellung von L und Z, ein Zungenbrecher. Nichts für dieses sanfte Wesen. Am liebsten würde er ihr einen neuen, einen passenderen Namen geben. Da er es nicht mochte, ihren Namen richtig zu benutzen, murmelte er, hallo chica, oder, komm mal her. Wenn er sie dann erst einmal gehabt haben würde, ja dann! Er würde sie vielleicht, meine kleine Nixe nennen?

Kleine Nixe, ein Wunschwesen, exotisch glitzernd anzusehen und weglaufen konnte es auch nicht. Obwohl, so klein erschien sie ihm eigentlich doch nicht mehr, und „seine“ Kleine? Das musste sich erst noch herausstellen.

Der Überlieferung nach, verbreiteten Nixen einen Fischgeruch und flappten mit ihrem feuchten Unterleib hilflos in der Gegend herum, so konnten sie schwerlich einen Haushalt führen, putzen, kochen und Socken bügeln. Sie waren nur reine, märchenhafte Vergnügungswesen. War es das was er wollte?

Also, welcher Name, zum Kuckuck. Lucy? Nein, er hatte eine kurzfristige Geliebte mit diesem Namen in Erinnerung, hübsch, alles stimmte, aber sobald sie den Mund aufgemacht hatte, war sie laut und abstoßend aufdringlich gewesen. Niemals könnte er diese zauberhaft zurückhaltende Gestalt hier, ebenfalls Lucy nennen. Und nur Mar? Das war kurz und hart, es blieb ihm im Halse stecken. LuMa?

„Luma, Luma“, sagte er zweimal halblaut hintereinander, was man ja beim Rufen zu tun pflegt. So klang es, als riefe er nach einem Hummer. Es blieben nur noch das Lu. Lulu, Luma oder doch der Hummer! Und Luzma? Das war es, Luzma! Es war nicht ideal, aber fürs erste würde er diesen Namen benutzen, um den Abstand zu ihr zu verringern. Er konnte sie nicht ewig Hallo oder Chica nennen. Vielleicht würde sie sein Bemühen, mehr Zärtlichkeit in ihren Namen zu bringen, begrüßen und zu schätzen wissen. Also rief er, Luzma, bring mir bitte den Kaffee! Er fügte „bitte“ hinzu, nicht wie in den ersten Tagen, als er in die Hände geklatscht hatte und „Hallo Kaffee“, gerufen hatte.

Und zum zweiten Mal in ihrem Leben hatte jemand beschlossen, ihren Namen zu ändern, aber an das erste Mal hatte Luz keine Erinnerung. Sie erschien ohne Kaffee.

Wer ist Luzma, hat der Gringo laut geträumt? Auch sie, nannte ihn nicht bei seinem Namen.

So kam er nicht von der Stelle, sie blieb auf Abstand, und je mehr sich dieser Abstand zu manifestieren drohte, umso mehr lechzte seine Libido nach ihr. Die alten Probleme schienen vergessen, wenn Luz del Mar in seiner Nähe war.

Karls Hütte bestand aus einem der etwa sechzig Eternit- Wellblech-Flachdach-Fertigteilhäusern. Seine Edelbaracke hatte drei Zimmer, Küche, Bad, maß etwa neunzig Quadratmeter, war mittelmäßig möbliert, mit Kühlschrank und Tiefkühltruhe, Einbauschränken und einem kleinen Geräteschuppen ausgestattet. Das Privileg der Klimaanlage gab es nur ab Mittelstand aufwärts, Karl besaß dieses Privileg.

Die Häuser lagen fremd zwischen den Geröllriesen, wie hingewürfelt, weit oberhalb des Flussbettes auf einer breiten, befestigten Trasse. Die starken Erosionen ließen keine Krume Mutterboden mehr erahnen. Es gab bei Baubeginn keine direkt sichtbare Flora. Kein Baum, kein Strauch, kein Grün.

Die Hierarchie allerdings fand den geeigneten Nährboden oben im Camp. Es gab einen Oberkönig als Oberbauleiter, einen König als Bauleiter, einen Vizekönig, zwei Untervizekönige und den Rest bildeten unerkannte, selbsternannte kleine Könige, die Poliere. Danach reihten sich die peruanischen Büroangestellten ein, die in Gemeinschaftshütten, ohne Isolation gegen die Wüstenhitze, in großen Schlafsälen untergebracht waren. Diese Hütten lagen am äußersten Rand des Camps, direkt neben dem drei Meter hohen Zaun und dem Generatorhaus, an der hinteren Einfahrt. Damit endete zunächst einmal der Gesellschaftsaufbau des Camps.

Außerhalb dieser Hierarchie, nach einem zur Selbstverständlichkeit zählenden breiten Leerraum, waren die peruanischen Hilfsarbeiter eingereiht, die Trabajadores. Zum größten Teil handelte es sich um junge Bauern, die durch den Dammbau von ihren Feldern vertrieben worden waren. Ihnen war es untersagt das Camp zu betreten. Die Haupteinfahrt und zwei weitere Ein- und Ausfahrten hatten Sperrschranken und wurden Tag und Nacht von bewaffneten Kontrollposten bewacht. Nachts wurde das gesamte Camp von hoch angebrachten Scheinwerfern erhellt. Die Bewohner, etwa achtzig Prozent Europäer, zum überwiegenden Teil Deutsche, erfuhren ihren Status unweigerlich durch die Größe und Beschaffenheit ihrer Hütte. Nach außen sichtbar. Sie erfuhren es am Mobiliar, am Parkett oder nur PVC-Fußboden, an vorhandenen oder nicht vorhandenen Gardinen, an der Größe und Qualität der Handtücher, am Geschirrbestand und diversen anderen kleinen, doch schmerzhaften Unterschieden.

Besonders unter den Ehefrauen der Oberkönige wurden diese Unterschiede so oft wie möglich klargestellt. Die Ehefrauen der Poliere verfügten nur über Biergläser in ihren Küchenschränken. Verständlich, denn Poliere, welche die selbsternannten Könige waren, saufen gewöhnlich und zwar nur Bier. Das wusste jeder. Das bestimmte ihre Gewöhnlichkeit.

Die Mittelschicht bekam Wasser- Bier- und Weingläser. Die Oberschicht erfreute sich zusätzlich an Likör- und Sektgläsern. Nun war es schwierig, den Obersten der Oberen am Bestand der Gläser auszuweisen, also hatte man zu den Sektgläsern auch Champagnerschalen gestapelt. Es gab „super king size beds“, „king size beds“ und ganz normale Betten. Karl gehörte in die höhere Kategorie, etwas über der mittleren, längst nicht in die höchste. Peruanische Bürohilfskräfte hatten klappbare Bettgestelle zur Verfügung, die in einer Gemeinschaftshütte aufgestellt wurden. Die Trabajadores, schliefen im Straßengraben in ihren handgewebten Decken, deren Wolle vom Alpaka stammte, jenen Lamas, die man in freier Wildbahn nur in Peru und Bolivien antreffen konnte.

Luz del Mar hatte die Reinigungsriten, der deutschen Señora des Nachbarhauses, vorsichtig erkundet und übernommen. Dazu gehörte auch, der stets feuchte Putzlappen vor der Eingangstür. Dieser nicht wegzudenkende Türhüter vor jeder Hütte, wurde sorgsam um die Fußmatte geschlungen, mit der Absicht, das Innere des Hauses vor Sand zu bewahren. Was nicht möglich war.

Das Camp war einem ständig anhaltenden Wind ausgesetzt, und die Fugen der Fertigbauteile boten der feinen Sandkörnung bereitwillig Einlass in die Häuser. Ein Sandfilm legte sich über die gebohnerten Fußböden, jeden Tag aufs Neue. Wenn der Wind von Westen kam und noch stärker wehte, konnte man mit bloßem Finger seinen Namen oder kleine Kritzeleien auf den Esstisch in den Sandteppich zeichnen. Dann residierte der Sand auch in den Betten, ob super king size oder nicht.

Luz del Mar war die Notwendigkeit des Putzlappens nicht ersichtlich, er war ihr lästig. Sobald dieses Stoffteil trocknete, schob der starke Wind Falten hinein, man stolperte. Außerdem verlangte es der gute Ruf, ihn dauernd angefeuchtet, glattgezogen und sauber zu halten. Trotzdem, auch sie wickelte diesen zweifelhaften Helfer um die Fußmatte vor Karls Häuschen und zog ihn glatt. Als die Regenzeit einsetzte, lag der Lappen jeden Morgen irgendwo im Schlamm versteckt. Nun benötigte man den halben Tag, um die Baracken trocken zu legen. Luz del Mar hatte weitaus stärkere Regenfälle erlebt, erheblich verheerendere.

Draußen herrschte schon eine beachtliche Schlammwüste, der Regen hatte an diesem Tag aufgehört. Die Mädchen aus den Dörfern warnten und meinten, das sei erst der Anfang! Sie sprachen von dem zu erwartenden Chaos des „Niño Jahres“.

Die Kinder der Ehepaare, die noch fest entschlossen waren gemeinsam auszuharren und sich durch eine Auslandbaustelle nicht trennen zu lassen, drückten sehnsüchtig ihre Gesichter an die beschlagenen Scheiben. Nur wenigen Kindern war es erlaubt in dem „Schmutz“ zu spielen.

Am Nachmittag waren alle Wäscheleinen besetzt. Teppiche, Decken, Kleidung, sogar Tierfelle aus Safarizeiten hingen zum Trocknen. Auch die Begrenzungszäune der kleinen Vorgärten waren mit diesem Gut gesäumt. Schaumgetränkt, vom aus Deutschland eingeflogenen Tuba.

Diese Schweinerei! Alles schlammig, nass und muffig. Und das, zwei Wochen vor Weihnachten! Die ganzen Vorbereitungen für die Festtage, und jetzt dieser Schmutz! Die Plätzchen waren auch noch nicht gebacken. Wo sollte man, um Himmels Willen, neues Geschenkpapier auftreiben!

Am nächsten Tag, als alles sauber geschrubbt, gefegt und gerieben war, begann es wirklich. Keine Überraschung für die Bauern. Etwa alle zehn Jahre erwarteten die Einheimischen die Zerstörungen des Niño Jahres. Diese zehn Jahre waren längst überfällig. Sintflutartige Regenfälle stürzten auf durstige Wüstengebiete, noch mehr Elend für die Ärmsten. Todbringende Überschwemmungen und Erdrutsche, von den Göttern befohlen.

Die Gringos wähnten sich, oben auf den befestigten Trassen der Berghänge, in ihren PVC-Hütten in Sicherheit. Weit weg vom Flussbett. Die Unkenrufe der Bauern überhörten sie getrost. Es herrschte die Überzeugung, dass sogar ein Erdbeben einen großen Bogen um das Bau-Camp machen würde.

Gesammelte Flut wälzte sich unbeeindruckt, ohne den Bogen zu berücksichtigen, den Berg hinunter. Enorme Erdmengen, aus belebter oberer Verwitterungsschicht der Erdkruste, wurde aus dem vermeintlich erdlosen Gebirge der Geröllriesen gerissen und mitgeschleppt. Dieser Schlamm quoll in jedes Haus durch die blitzblanken Stuben und hinterließ ein Schlachtfeld. Die aufgeschütteten Erdterrassen, auf welche die Papphäuschen gebaut worden waren, erwiesen sich als nicht genügend verdichtet. Die Hütten schlingerten aus ihren Fundamenten und ließen die Fugen der Fertigbauteile auseinander driften. Ein Teil der Baracken rutschte einfach davon oder sackte in sich zusammen und erlag einem Schlammkollaps. Die deutschen Ingenieure hatten keine hintere Abflussmöglichkeit bedacht, als natürlichen Ausweg einer eventuell anfallenden übermäßigen Oberflächenwassermenge. Das Schlammwasser in den Hütten, die stehengeblieben waren, staute sich, der Druck war erheblich und ganze Rückwände brachen aus den Häusern. Niemand war ernstlich verletzt worden, nur ein paar Knochenbrüche, Quetschungen und großes Gezeter und Wehklagen der Señoras, um ihre verschlammten Schätze.

Luz del Mar saß mit angezogenen Beinen auf dem Bett, auf Karls Bett. Sie knabberte versunken an gesalzenen Sonnenblumkernen, den “Pipas“, und ließ das Wasser durchs Haus eilen. An der hintersten Wand der Küche, im untersten Bereich des Hauses, strömte es wieder hinaus. Dort hatte sie, mit einem im Geräteschuppen gefundenen Vorschlaghammer, ein großes Loch geschlagen. Ein für sie zufriedenstellendes Plätschern belebte das Haus, das die Götter offensichtlich verschont hatten.

Unermüdlich drang das Geschrei und Gejammer, wie aus weiter Ferne von draußen, bis in Karls Schlafzimmer. Luz del Mar hatte keine Angst, sie vertraute ihrem Schicksal und schlief erschöpft und beruhigt ein.

Karl war vor zwei Tagen mit dem Oberkönig nach Lima gefahren, zu einem wichtigen Meeting der peruanischen Consulting Firma. Es gab Probleme mit der Finanzierung für den nächsten Bauabschnitt. Karl würde vor Ende der Woche nicht zurück sein, er hatte Luz angeboten, während seiner Abwesenheit in seinem Haus zu übernachten, um sich den nächtlichen Heimweg zu ersparen. Dieses Angebot hatte sie abgelehnt.

Plötzlich stand er knöcheltief im Schlamm vor seinem Bett, vor ihr. Er war mit einem Helikopter des Katastropheneinsatzes frühzeitig zurückgekommen.

Luz del Mar hatte sich des größten Teils ihrer völlig durchnässten Kleidung entledigt und war lässig in das aufgeknöpfte Oberteil seines Schlafanzugs gehüllt. Er erhaschte einen Blick auf einen Teil ihrer Brüste und ihren Bauchnabel. Dass ihn dieser Bauchnabel so sehr in den Bann zog, ihn praktisch paralysiert hatte, ärgerte ihn später ungeheuer. Dieser Anblick machte ihn für lange Sekunden wort- und handlungsunfähig. Er stand da wie verwurzelt und starrte auf ihren von unerwartet heller Haut umschmeichelten Nabel. Dort steckte ein ungewöhnlich großer Diamant, der ihn frech anblinkte.

Karl war Geologe, kein Edelsteinexperte, doch er glaubte zu erkennen, dass dieses vielfältige, beinahe farbige, in feines Gold gefasste Glitzern, das ihm aus diesem Nabel durch wolkenverhangenes Nachmittagslicht entgegenstrahlte, von einem echten Diamanten stammte. Er schlich sich vorsichtig aus dem Zimmer.

Draußen vor der Haustür polterte er laut herum, schimpfte auf den Schlamm- und Regensturz und rief nach ihr, ohne ihren Namen auszusprechen. Hallo, komm her, wo steckst du denn, bist du da?

Wenige Minuten später kam sie ihm in einem Paar hochgerollter Jeans, seiner Jeans, und seiner zugeknöpften Schlafanzugjacke entgegen. Sie war nicht erschrocken, nicht eilig, nicht verwirrt, sie lächelte und sprach ihn mit verschlafener Stimme an. Schon zurück, Señor Ingeniero?

Er sah zum ersten Mal ihre geöffnete kupferrote Haarpracht, die sie, noch während sie das knöcheltiefe Wasser im Wohnbereich durchwatete, mit einem nassen Socken zu bändigen suchte. Hier also steckte das Kupfer zu dem Patinagrün des feinen Rings in ihren Augen.

Sie band alles schnell und geschickt zu einem Knoten zusammen, und ehe Karl seinen Speichelfluss bewältigt hatte, war das Haar unter einem Kopftuch verstaut. So wie immer. Manchmal trug sie eine Mütze oder einen Hut, auch im Haus. Niemals zuvor hatte er ihr Haar gesehen. Ihre verschlafene Stimme wirkte wie ein Aphrodisiakum auf ihn. Er machte einen hastigen Schritt auf sie zu, wollte dieses Wesen, das Ideal seiner Fantasie, an sich pressen und abküssen. Freude und Begierde ließen ihn den schlammigen Grund vergessen.

Ein Schritt, nur ein etwas zu großer, zu eiliger Vorwärtsschritt. Er rutschte aus und fiel unglücklich auf die Betoneingangsstufe, die den Rand des Fundaments der Hütte bildete. Es gab nur diese eine Stufe im ganzen Haus, mit einem übel scharfkantigen seitlichen Vorsprung versehen.

Da lag er nun, mit schmerzverzerrtem Gesicht im Schlamm, zu Füssen seines fünfzig Dollar Dienstmädchens. Sie half ihm auf die Beine, was sich als sehr schwierig erwies. Sie berührte ihn vorsichtig, griff seinen Arm. Er zuckte zurück, schrie vor Schmerz, den seine plötzliche Bewegung erhöht hatte und sackte zurück, nieder in die schlierige Pfütze. Sie versuchte es erneut, half ihm auf das feuchte, sich von unten auflösende king size Sofa. Sie zog mit ungeheurer Vorsicht sein Hemd in die Höhe und betastete seine linke Leibseite. Karl lag da und stöhnte vor Schmerz, er atmete flach und kurz. Sie legte ihr Ohr auf seinen nackten Bauch und schloss die Augen. Er glaubte ohnmächtig zu werden vor Schmerz und Lust.

Die Bauch-Horch-Aktion dauerte etwa eine Minute, dann balancierte sie durch das Wasser zum Telefon und rief den Notarzt des Camps an, dessen Nummer auf einem kleinen Zettel an der Wand befestigt war. Karl riss sich ungläubig aus seiner Benommenheit, als er vernahm, dass sie in perfektem Englisch dem Aushilfsarzt, der unverständlicherweise kein Spanisch sprach, die Verletzungen erklärte. Zwei Rippenbrüche und wahrscheinlich ein Milzriss. Und ja, sofortige ärztliche Hilfe sei schon erforderlich, da innere Blutungen möglich seien, auch wenn er, der Señor Medico, im Moment sehr viel zu tun hätte.

Sie beendete das Gespräch mit Karls vollem Namen, Titel, Stellung, Hausnummer und legte den Hörer auf. Dann verlor Karl das Bewusstsein. So kam es, dass er zum zweiten Mal an diesem Tag in dem Rettungshubschrauber mitflog. Er hing am Tropf und wurde mit einem Schwerverletzten der Baustelle in eine Privatklinik nach Chiclayo geflogen. Nach vierzehn Tagen gelang es ihm wieder, unter relativ geringen Schmerzen, normal zu atmen, und er konnte sich, wenn auch nur mit Mühe, alleine ankleiden.

Der Milzriss hatte sich bestätigt, ebenfalls die Rippenbrüche, innere Blutungen hatte der Sturz nicht mit sich gebracht. Ihm war für die nächsten zwei Monate jede kleinste körperliche Anstrengung strengstens untersagt. Die Heilung der Milz brauche Zeit und Ruhe, hieß es. Zur Stabilisierung des Torsos trug er ein Korsett. Den Rückflug nach Europa, der ihm von der Firmenleitung angeboten worden war, um sich deutschen Ärzten und einer deutschen Rekonvaleszenz zukommen zu lassen, hatte Karl abgelehnt. Was sollte er in Deutschland, da wartete niemand auf ihn, weder seine geschiedene Frau, noch sonst jemand. Diese Exfrau war außerdem der letzte Mensch, dem er jetzt nahe zu sein wünschte, jeder Kilometer mehr Distanz zu ihr, erfreute ihn. Einer der Gründe, warum er sich um diesen Auslandsjob in Peru beworben hatte. Er rief sich das letzte Jahr seiner Ehe in Erinnerung.

Während er tagsüber, im Büro und auf den Baustellen, seinen Job in Deutschland gewissenhaft und mit echtem Interesse ausgeführt hatte und nachts in seinem Arbeitszimmer, im Kellergeschoss seines noch hoch verschuldeten Einfamilienhauses, an der Schlussformulierung seiner Dissertation herumgedoktert und an den Wochenenden Wände gestrichen und das Fertigparkett montiert hatte, zog sich seine unzufriedene Ehefrau eine hartnäckige Magenschleimhautentzündung zu. Sie aß ausschließlich basisch, nach Tabelle, rauchte aber heimlich und schlich grün um die Nase, sich den Bauch haltend durchs Haus, auf der Suche nach seiner Aufmerksamkeit.

Er durchwühlte ihre Verstecke, fand das Gesuchte und krümelte mit zorniger Miene, Packung für Packung, die Tabakstangen in die Kloschüssel. Karl war fanatischer Nichtraucher. Der gemeinsame Tangounterricht fiel immer öfter aus, bis er ganz im Sande verlief.

Eines Abends schob seine Frau das Neutralisierungsmittel der Magensäure in ihre Handtasche, stellte die nagelneue Spülmaschine auf den höchsten Waschgang und verließ in ihrem gewagten Tangodress, geschlitzt bis zum Bund, den ehelichen Kriegsschauplatz. Zweimal wöchentlich tänzelte sie zum Tangokurs. Kerzengerade, von nun an ohne Karl. Ihr neuer Tanzpartner praktizierte die Varianten eleganter als Karl, und er zeigte sich sensibler ihrer Klagen gegenüber. Nicht lange, und der gemeinsame Tanz fand seinen Höhepunkt im fremden Bett.

Karl bemerkte die regelmäßige, stundenlange Abwesenheit seiner unzufriedenen Ehefrau nicht, sie wusste ihren Ausgang immer kurz vor Mitternacht zu beenden. Das grünlich graue Gelb ihrer Wangen hatte sich in ein sanftes Rosa verwandelt, auch das bemerkte Karl nicht. Ebenso entging es seiner Wahrnehmung, dass sie nicht mehr gekrümmt durchs Haus schlich.

Karl hatte nichts an sich zu bemängeln. Schließlich hatte er dreimal einen Landesbezirkssieg im Tennis-Einzel errungen und einmal ein Doppel. Eine begehrte Medaille in Leichtathletik, aus jüngeren Zeiten, gab es auch. Der Flip-Flap gelang ihm immer noch. Er war fit und einsvierundneunzig groß, und er hatte den Doktortitel so gut wie in der Tasche. Was gab es da noch an ihm auszusetzen?

Er mochte schlanke, große Frauen, hatte aber eine geheiratet, die mit den Jahren etwas birnenförmig geraten war. Das Motiv, warum er sie einst geehelicht hatte, war von den Geschehnissen der Vergangenheit geschluckt worden. Als er sie in einer heftigen Auseinandersetzung auf ihren zu kräftigen Sitzbereich und stämmige Beine aufmerksam gemacht hatte, Beine, die seines Erachtens lächerlich wirkten beim Tango, ließ sie ihrer Frustration freien Lauf. Besser kräftige Beine als einen langweiligen Stängel zwischen den Beinen, der gerade zum Pinkeln reicht, konterte sie giftig.

Der eheliche Beischlaf war kein Vergnügen, beidseitig nicht, er war mühevoll und zur Pflicht verkommen. Seit seine Frau ohne ihn den Tango genoss, hatte sie erfahren, dass es auch lustvoller zugehen konnte.

Die unerschütterliche Kraft der Gewohnheit unterstützte Karls Eheleben. Es hatte sich kein Gefühl der Blamage mehr in ihm geregt. Keine Schmach, keine Panik, schon lange nicht mehr. Nicht bei dieser Frau, nicht mit ihr!

Weil sein Penis gelegentlich beim Beischlaf nicht auf die Schnelle in die Gänge kam, nicht so, wie der Anspruch es verlangte, hatte seine Exfrau ihn Klüngelmännchen getauft, wie primitiv sie doch war!

Sie benutzte dieses Wort mit forciert zärtlichem Ton. Wenn sein Glied ihm dann letztlich doch zur Seite stand, verflog seine spärliche Lust auf sie, beim Ton ihrer Stimme. Seine Erektion brach ab, sein Penis verkroch sich. Er bat sie, beim Liebesakt den Mund zu halten, außerdem sei sie frigide. Nun sollte es ihre Schuld sein, dass er schlupfte?

Dieser Angriff vertrieb ihren früheren Impuls, ihn zu trösten, vollends. Sie wurde bissig und nörgelte nur noch.

So verstrickte sich einstige Zuneigung in gegenseitige Vorwürfe und Beleidigungen, man eilte dem Ende der Ehe entgegen, einem viel zu lange hinausgezögerten Entschluss, sich dieser jahrelangen Qual zu entziehen.

Karl verließ das gemeinsame Heim, er sah seine Frau erst vor dem Scheidungsrichter wieder. Die Trennung der Güter dauerte etwas länger als die Trennung der Gemüter. Die Schulden wurden nicht geteilt, die hatte Karl zu übernehmen. Sozusagen ihr Schmerzensgeld, da ihm seelische Grausamkeit vorgeworfen worden war. Von der Richterin beschlossen. Denn Karl wollte keine Kinder, er hatte versäumt es seiner Frau vor der Hochzeit mitzuteilen und es auch ahnungslos ihrem Anwalt bestätigt. Er hatte ein verdammtes Recht darauf, kinderlos bleiben zu wollen. Warum sollte er das nicht zugeben, wenn man ihn danach fragte? Den Arbeitsvertrag für Peru, mit dem doppelten Gehaltsangebot, unterschrieb er erst einige Monate nach der Scheidung. Von nun an überrollte ihn der Geiz. Nicht mit sich selbst, sondern mit den Frauen, die sich um ihn scharten, an ihm picken wollten, wie die Elstern. Doch er würde sich nicht mehr ausnehmen und bestehlen lassen. Damit sie ihn zum Dank verspotteten? Langweilig also, er und sein Ding da?!

Langweilig, das hatte auch eine bildhübsche Tippse aus dem Büro behauptet, nach seiner Weigerung, sie zu ehelichen. Mit ihr hatte es wunderbar geklappt, er wollte keine Ehefrau mehr.

Karl hatte sich einen Ratgeber für den betrogenen Mann besorgt. „Lernen Sie, nein zu sagen, genau dann, wenn ein Weib von Ihnen fordert“, stand dort geschrieben. Fettgedruckt. „Lernen Sie zurückhaltend, besser noch, geizig zu sein mit der Äußerung Ihres Verlangens und besonders mit dem Zücken ihrer Geldbörse. Und Sie werden erleben, wie gut es Ihnen wieder geht.“

Er bezahlte fortan nur die Hälfte der Hotel Rechnung, wenn er sich mit einer Frau eingelassen hatte, die Hälfte des Abendessens oder sogar der Spritkosten, wenn er etwas unternahm mit einer jeweiligen Errungenschaft. Er teilte bewusst bis auf zwei Stellen nach dem Komma, und wenn er zusätzlich eine Flasche Wasser bestellt hatte, konnte er großzügig mit verhaltenem Genuss verlauten lassen, mit knappen freundlichen Worten darauf hinweisen, dass dieses Getränk auf seine Kosten ginge.

Nun war sein größter Makel, nach Meinung der Frauen, nicht mehr das Klüngelmännchen, sondern der Geiz. Das vergnügte ihn, außerdem sortierte dieses erlesene Verhalten, schon nach dem ersten gemeinsamen Abendessen, die Schmarotzerinnen aus. Man wusste gleich, bei ihm war nichts zu holen. Die Schar der Elstern schmolz dahin.

Karl hatte den Zweijahresvertrag unterschrieben, ohne genau zu wissen, auf was er sich dabei einließ. Er wollte einfach nur raus aus dem ganzen Weibergetue, den Schmeicheleien und anschließenden Vorwürfen und Beleidigungen. Er wollte seine Ruhe haben, einen interessanten Job und die Welt kennenlernen. Zunächst einmal Peru. Er fühlte sich ausgezeichnet ohne seine Exfrau und ohne das lästige Gespenst der Verantwortung. Zu seinem Ärger musste er sich aber nach kurzer Zeit eingestehen, dass ihm das Dasein, so ganz ohne die brüchigen Bestätigungen einer Frau, nicht den nötigen Spaß verschaffte. Beruflicher Erfolg allein, brachte nicht das, wonach er trachtete, er benötigte zusätzlich eine Sie, die ihn dafür bewunderte. Die ihn für alles bewunderte, rundherum, das ganze Karl-Paket.

Sein Verhaltensmuster war fest verankert, auf Bestätigungsgier programmiert. Er würde einige Zeit benötigen sich umzupolen, wenn überhaupt. Zumindest wollte er diese Begierde in den Griff bekommen und sich nicht mehr blauäugig einer Frau, die ihm gefiel, ausliefern.

Sich-Ausliefern, so nannte Karl seine frühere Bereitschaft zum Sex. Das beabsichtigte er zu ändern. Die Frauen sollten sich keine Vorwürfe, Demütigungen oder Kritiken mehr erlauben dürfen. Das würde er nicht mehr dulden, nicht an seiner Person noch an seiner Art, körperliche Liebe zu praktizieren. Verdammt noch mal, er wollte seinen Pimmel nicht zum Gespött herabgemindert wissen. Er würde sich mit ihm holen, was er oder dieser brauchte, aber sie könnten sich allesamt ein Bein ausreißen, geben würde er nichts mehr. Das sind sie nicht wert, keine Frau ist das wert, dachte er, denn keine wusste je, ihn zu schätzen.

Das war Karls Einschätzung zur Liebe. Selbstlos lieben? Unsinn! Wenn man dumm genug war! Liebe hieß, gut oder besser, schlecht oder gar nicht das Verständnis im Bett miteinander zu erleben. Der Rest war Verantwortung. Nie wieder würde er sich ausnehmen lassen, und nie wieder würde er heiraten, das stand für ihn fest wie sein Geburtstag. Doch dann war ihm Luz del Mar begegnet.

„Jeque de Peque“ hieß der kleine Fluss. In der Trockenzeit ein Rinnsal, das sich, aus den nördlichen Ausläufern der Anden gespeist, durch zahlreiche Schluchten, flache Wüstenstreifen und kleine Ebenen bis zum Pazifik hinunter schlängelte. Das Einsetzen der Regenzeit verzauberte ihn über Nacht in einen tosenden, unberechenbaren Strom, der schwere Erosionen verursachte, Holzbrücken, Menschen, Schweine und Lehmhütten mit sich riss und erst nach seinem Abebben, den nahrhaften Schlamm auf den verwüsteten Feldern hinterließ. Man lebte von diesem düngenden Schlamm.

Millionen Kubikmeter grauer Pampe, die noch in den ersten Tagen, nach Ende des Regens, still vor sich hinblubberte, bekleidete das Land wie ein riesiges graues Leichentuch. Doch schon nach wenigen Tagen platzte diese Schicht auf, Risse schnitten durch dieses Tuch, zogen über die Flächen und teilten alles in kleine Mosaike auf. Die ersten zarten Spitzen der wilden Gräser und Kräuter pressten sich mit erstaunlicher Kraft durch die schon erhärteten, ineinander verzahnten Lehmplatten und besiegten, ohne Verletzung ihrer Schwäche, die Härte des zu Durchdringenden. Sie hatten Eile zu keimen, zu sprießen, zu blühen und schnellstens den Samen zu bilden. Für das Fortbestehen ihrer Art zu sorgen. Bis zur nächsten Trockenperiode war nicht allzu viel Zeit gegeben. Die Feuchtigkeit an der Oberfläche würde nicht lange anhalten, auch würden stärkere, tiefwurzelnde Pflanzen diese Vorboten der Wachstumsperiode schnell verdrängen. Die Menschen hatten sich darauf eingestellt, sich seit allen erdenklichen Generationen an diesen Rhythmus gewöhnt. An Verlust und Gewinn. An Totenfeste und Erntezeit.

Nach jedem heftigen Niederschlag, gewöhnlich fiel der nur zweimal im Jahr, wurden die schmalen Bewässerungsgräben wieder erneuert, von Hand freigeschaufelt. In der folgenden Trockenzeit konnten dann aus den unzähligen Rinnsalen die Felder trotzdem bewässert werden. Im sanften Zick-Zack, wie hundert Arme, verliefen diese kleinen Seitenkanäle des „Jeque de Peque“ durch die wenige Kilometer breiten, fruchtbaren Täler. Je näher die Felder am Flusslauf lagen, umso wohlhabender war der Bauer. Ein wohlhabender Campesino konnte seiner meist zahlreichen Kinderschar zwei Mahlzeiten am Tag auftischen und den Söhnen sogar eine Schulausbildung bieten. Es bestand zwar eine Schulpflicht, aber in dieser Gegend hatte es noch nie eine staatliche Kontrolle zur Einhaltung dieses absurden Gesetzes gegeben. Wer konnte es sich schon leisten seine Kinder von der Arbeit zu befreien und ihnen zusätzlich die nötige Schuluniform kaufen oder schneidern lassen. Besonders jene Eltern nicht, die weit entfernt von den Bewässerungsgräben ihre Felder bestellten.

Die Entfernung zur künstlichen Bewässerung bestimmte ausschlaggebender den Armutsgrad als die Quadratmeterzahl des Besitzes. Ganz unten am Ende des Tales, dem Rand des Wüstenstreifens, wurde an die Ärmsten verpachtet. Niemand dort konnte es sich leisten, beim Busfahrer, der täglich zweimal vorbeifuhr, Medikamente zu bestellen, die er dann aus dem nächsten größeren Ort, der über eine spärlich eingerichtete Apotheke verfügte, mitbrachte. Gegen Vorauszahlung und einen kleinen Aufpreis für den Transport. Nicht selten starb hier ein Kleinkind an einer Erkältung.

Karl hockte im Nachmittagsschatten auf einem Felsvor-sprung des östlichen Berghanges, weit oberhalb des Flusstales. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, sie eilten einer Lösung entgegen. Eilen, beinhaltet nicht das Ankommen, zuerst einmal musste er wieder ganz gesund werden. Mit Luz del Mar war er keinen Schritt von der Stelle gekommen, ganz zu schweigen von einem Liebesakt. Das konnte er vorerst sowieso vergessen, ganz gleich mit wem, zumindest nicht, wenn er sich aktiv mit den üblichen Bewegungen daran hätte beteiligen müssen.

Er wollte sich dem ärztlichen Rat widersetzen und früher als empfohlen wieder zurück an seine Arbeit gehen. Man brauchte ihn jetzt auf der Baustelle, schließlich war er verantwortlich für die Schüttung und fachgerechte Verdichtung des Staudamms, die dringend von ihm beaufsichtigt werden mussten. Ein nächster Bauabschnitt und die Hauptumleitung des Flusses sollten morgen beginnen. Er war während seines Aufenthaltes im Hospital, unzählige Male am Tag, per Telefon um Rat gebeten worden. Er musste sich unbedingt wieder ein eigenes Bild von der Lage verschaffen. Vielleicht wäre es auch besser, er würde nicht den ganzen Tag in ihrer Nähe herumschleichen, nach ihr und jedem ihrer Worte schmachten.

Nach seinem neugierigen Drängen, woher sie medizinische Fachkenntnisse habe, hatte er von ihr erfahren, dass sie von Milzrissen, Rippenbrüchen oder ähnlichen Diagnosen keine Ahnung hatte, nicht einen Funken Ahnung.

Vor einigen Jahren sei ihr Onkel, beim Aufhängen einer Lampe in der Kirche, von einer Leiter gefallen. Dass es sich dabei um den Pfarrer ihres Dorfes handelte, hatte sie nicht erwähnt. Dieser Mann, den sie Onkel nannte, hatte stöhnend auf dem Boden gelegen und konnte kaum atmen. Luz del Mar war noch ein Kind gewesen, sie hatte Angst um ihn gehabt und um Hilfe geschrien. Kurz darauf kam ihre Mutter angerannt, die Menschen sammelten sich vor der Kirche und trauten sich nicht in die Nähe des Kindes, da sie sicher waren, dass dieses Unglück ihr zuzuschreiben war. Ihre Mutter hatte per Telefon einen Arzt verständigt. Viele Stunden hatte der Verunglückte dort auf dem kalten Boden gelegen, bis der Arzt schließlich eintraf, sein Stereoskop herausholte und die schwerfälligen, kurzen Atemzüge des Pfarrers prüfte, er tastete besorgt seinen Leib ab und war flugs ins Pfarrhaus zum Telefon geeilt, eines der wenigen Telefone des Dorfes. Die kleine Luz war dem Arzt hinterher geschlichen und hatte gehört, wie er einen Rettungswagen anforderte und dazu in den Hörer brüllte: Zwei Rippenbrüche und wie es aussähe auch ein Milzriss, sie sollten sich beeilen, innere Blutungen seien nicht auszuschließen.

Das sei bisher ihre einzige Begegnung mit einer ärztlichen Diagnose, hatte sie ihm lachend gestanden. Er war glücklich gewesen, dass sich danach ein richtiges Gespräch ergeben hatte.

Während Karl seinen Blick über die sanften Terrassen der Reispflanzungen wehen ließ, wurde ihm bewusst, dass er diesen Ort und die Landschaft zu mögen begann. Vor seinem Unfall war ihm die Schönheit gar nicht aufgefallen, und erst seit er jeden Tag hier im Schneckentempo spazieren ging, nahm er auch den Reiz der Stille wahr. Weite Farbfelder in ihren leuchtenden Grüntönen, malten eine zuvor unbemerkte Lieblichkeit zwischen die angrenzende, dunkelgraue Gerölllandschaft. Die Reisfelder und Mangohaine wurden von den Geröllausläufen, des fast schwarzen Gesteins der Berge, kontrastreich gesäumt.

Mit Hilfe von trägen Wasserbüffeln und Pfluggerät aus der Steinzeit wurden mühsam die Furchen in die noch feuchte Erde der Felder gezogen. Weiße, schlanke Reiher stelzten hinter dem Pflug her, flogen auf, flatterten schwerfällig um dieses Gespann oder zankten sich um Wurm- und Echsengetier. Hier sollte auch in dieser Saison, wie alle erdenklichen Jahre zuvor, der Reis gedeihen und etwas weiter oberhalb, auch Yucca, Mais und Hirse.

Karl blinzelte den silbernen Flussfaden entlang und wusste, dieses mühselige Pflugergebnis dort unten, dieses Idyll zwischen Mensch und Landschaft, würde am Montagabend nächster Woche verschluckt sein. Es würde überrollt, planiert, verschoben, aufgehoben sein, unwiederbringlich, wenn die Arbeit eines einzigen Tages zahlreicher Sprengungen, Lastwagen, Caterpillars und Bagger beendet sein würde. Warum war dieser Bauer nicht benachrichtigt worden?

Karl ärgerte sich, dass ihn das störte. Warum sorgte er sich um die verlorene Mühe eines ihm unbekannten Kleinbauern? Hier am Ende der Welt, im Norden Perus, wenige Stunden Fahrt zur Grenze nach Ecuador. Wieso bedauerte er den Untergang einer Landschaft, die ihn nichts anging?

Er war leitender Angestellter einer deutschen Baufirma, die hier ihren Auftrag ausführte. Das alleine ging ihn etwas an, schließlich war ja dieses Projekt ins Leben gerufen worden, um den Wasserhaushalt dieser Gegend zu regulieren. Was gab es da zu bedauern. Und doch, er bedauerte es.

Er hätte gerne mit Luz del Mar darüber gesprochen. Was hielt sie davon, ihre Heimat erst einmal für viele Jahre, vielleicht mehr als ein Jahrzehnt, verunstaltet und verändert zu wissen. Er wusste, dass Abgesandte der Regierung durch die Dörfer gezogen waren, als Aufklärer und Boten des Fortschritts. Der Staudamm brächte nur Gutes, wurde behauptet. Die nötige Berechenbarkeit und Eindämmung der Niederschläge, dann gäbe es auch keine unkontrollierbaren Zerstörungen mehr. Genug Wasser würde trotzdem zur Verfügung stehen, das ganze Jahr über, es gäbe dann keine Dürrezeiten für die Anbaugebiete mehr. Dafür allerdings, musste man erst einmal Einiges zerstören, doch das erwähnten sie nicht. Die meisten Bauern waren skeptisch. Einige, die lesen und schreiben konnten, hatten andere Informationen. Hunderte von Häusern, ganze Dörfer, hieß es, die oberhalb in der Nähe des Damms lagen, würden für immer in dem Stausee verschwinden. Ausradiert, die Kirche unten im See, der Dorfplatz und das Heim.

Das war für die meisten Dörfler unvorstellbar, man munkelte von Zwangsenteignungen und Umsiedlungen, die bei anderen Dammbauten getätigt worden waren. Die Familien kämen in Notunterkünfte. Die Entschädigungen wären zu gering, um damit neues Land zu erwerben. Der Löwenanteil der genehmigten Soles für die Umsiedler, verschwand in korrupten Händen, das war bekannt. Preise stiegen in die Höhe, und einige Wenige bereicherten sich an der Armut.

Trotzdem, der Widerstand war gering, man glaubte nicht so recht an die Propaganda der Staudammgegner. Es war alles so unvorstellbar. Wohin mit dem Büffel in einer Notunterkunft in der Stadt? Am besten, man wartete ab. Wie immer.

Das neue Flussbett des „Jeque de Peque“ war schon geschoben worden, man setzte zur letzten Blockade des alten Flusslaufes an. Dieser natürliche Lauf versiegte wie geplant, das Wasser schob sich Kilometer, weit entfernt von den Feldern, durch nicht kultiviertes Gebiet. Die künstlichen Kanäle wurden nicht mehr gespeist, sie versiegten und die Felder vertrockneten. Die erste Ernte war hinüber. Die erste von vielen.

Diese Umleitung entzündete unter den Einheimischen große Empörung und erste ernstzunehmende Unruhen gegen das Camp. Man verstand den langfristigen Werdegang nicht. Natürlich war eine Umleitung nötig. Es mussten Bohrungen für die Schlitzwand des Dammes im relativ Trocknen vorgenommen werden, um viele Millionen Kubikmeter Erde zu einem Damm aufschütten und mit Dampfwalzen verdichten und befahren zu können, ohne das störende Flusswasser. Später, in etwa zehn, vielleicht erst fünfzehn Jahren, würde man diese Umleitung wieder aufheben. Der „Jeque de Peque“ bekäme dann seinen alten Lauf zurück, und das Flusstal unterhalb des Dammes sollte wieder mit Subventionen aus Lima rekultiviert werden. Daran glaubte Karl allerdings nicht.

Inzwischen hatte man einen Teil der Bauern als Hilfskräfte auf den Baustellen eingesetzt. Das gehörte mit ins Programm. Die Poliere murrten, die Verständigung war mangelhaft. Man beleidigte die dunkelhäutigen Männer in deutscher Sprache, sie wurden ständig als faul und undiszipliniert beschimpft. Sie wurden Kulis und ihre Felder zu Steinwüsten, ihre Töchter und Schwestern zu willigen Putzfrauen oder Huren der Camp-Bewohner. Oder sie wurden beides. Doch sie verdienten Geld, welches sie vorher nicht besaßen, es war wenig, aber mehr als jemals zuvor. Jene, die keine Anstellung bekamen, mussten entweder betteln, verhungern oder ihre Heimat verlassen und in die Slums der Städte ziehen, in eine andere Welt.

Es wäre kein großer Aufwand gewesen, mit den zahlreich zur Verfügung stehenden Maschinen, den neuen Flusslauf so zu legen, dass die Felder mit neuen Kanälen versorgt, trotzdem an ihre Bewässerung gelangt wären. Doch das hatten die Planer nicht in Betracht gezogen. Ein Kostenpunkt mehr, wo er nicht unbedingt nötig war?

Man richtete sich nach den Plänen, die in den Stadtbüros angefertigt worden waren, meist ohne Ortsbesichtigung, aus der Vogelperspektive am Zeichenbrett. Gerade Striche, kurz und bündig, die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht bedacht, der Ärmsten schon gar nicht. Also trocknete die ganze Gegend aus und versank im Getriebe des Dammbaus.

Wo gehobelt wird, und so weiter, dachte Karl, und versuchte sich zu beruhigen. Doch dieses Baugetöse, das immerhin seine Anwesenheit an diesem Platz der Erde rechtfertigte, übernahm von nun an die Geräuschkulisse des ganzen Tals, erstickte mit seinem Lärm, des Tag und Nacht in vollem Einsatz stehenden enormen Fuhrparks, die Empfindlichkeit der Stille und überflutete die Reisterrassen anstatt des Wassers. Vielfach gab sich das Echo die Hand und hallte gegen die Bergwände im Zick-Zack das Flusstal hinunter. Karl war in den letzten Wochen viele Male auf den Berg geschlichen und hatte das Gefühl gehabt, hier oben die nötige Kraft und einen Überblick für sein Leben zu bekommen, zu gesunden. Dem war nun ein Ende gesetzt. Zumindest von diesem Platz aus. Obwohl das Camp einige Kilometer von der Quelle des Getöses entfernt lag, hörte man dort das ununterbrochene Geräusch der Motoren und bei Westwind auch das Fiepen der Maschinen, die in den Rückwärtsgang schalteten.

Für Luz war anfangs im Bau-Camp alles neu gewesen, doch eigenartigerweise erschienen ihr die Menschen hier weniger fremd als die ihres Dorfes. Hier traf sie in dem kleinen, von der Camp-Leitung errichteten Kaufladen, der hauptsächlich aus Europa eingeflogene Bestände anbot, auf Frauen mit hellen Augen. Nicht wie ihre Augen, doch sie waren hell, und sie fühlte eine nie gekannte Verbundenheit mit diesen deutschen Frauen, obwohl sie deren Passion zum Putzen lächerlich fand. Nun war es Luz, die gierig den Menschen in die Augen sah. Blaue, grüne, graue. Sie blieb oft stehen, lächelte die Frauen an und fühlte sich nicht mehr ausgeschlossen. All das, nur wegen der Augenfarbe? War das nicht kindisch?

Im Süden Perus, mehr als tausend Kilometer entfernt, in der „Codillera Vilcanota“ in dreitausend Metern Höhe, nahe dem Quellgebiet des Urubamba, fünfzehn Tagesmärsche nordöstlich von Cuzco, hätten fast alle Menschen ihre hellen Augen.

Mit diesen Worten hatte ihre Mutter sie getröstet, wenn sie sich als Kind nach dem Grund ihrer andersartigen Augenfarbe erkundigt hatte. Sie hatte sich nach diesem Ort, an dem die Großeltern und viele Verwandte lebten und auch die Gräber der Ahnen waren, gesehnt. Dort würde man sie nicht wie eine Außerirdische behandeln. Sie irrte sich gewaltig.

Warum lebe ich hier, hatte die kleine Luz oft gefragt, da sie doch hier nicht geboren war und ihre Wurzeln in weiter Ferne hätte. Aber schon wenig später wollte sie gar nicht mehr weg vom „Jeque de Peque Tal“, denn das hätte bedeutet, den Pfarrer zu verlassen. Der Pfarrer hatte sie immer zu beruhigen versucht, man sei dort zu Hause, wo man aufgewachsen ist. Und natürlich bei Gott. Er erwähnte als Beispiel die Tatsache, dass zahllose Menschen auf Reisen, oder auf Schiffen mitten auf dem Ozean geboren würden. Sei dann etwa das Meer ihr zu Hause? Nein, dort wo sie aufwüchsen und erzogen würden, dort sei ihre Heimat, und in ihrem Herzen. Aber das sei eine andere Sache, die er ihr einige Jahre später erklären würde.

Trotzdem, Luz fühlte sich immer noch schmerzhaft fremd in ihrem Dorf, das konnte nicht nur an ihrem Haar und der Augenfarbe liegen. Ihre Mutter hatte sie schon frühzeitig dazu angehalten ihr rotes Haar sorgsam zu bedecken, zu verstecken und den Blick zu senken, um zusätzliches Gespött zu vermeiden. Rotes Haar, Jesus María, das arme Kind!

Luz del Mar begann sich im Bau-Camp wohlzufühlen. Es war etwas Neues, etwas Wohltuendes, nicht mehr auffallend anders auszusehen, denn auch ihre Hautfarbe glich nicht der einer Peruanerin aus den Pueblos. Es half ihr, bei der Kontaktsuche mit den Señoras, dass sie Englisch sprach, denn die meisten Frauen verstanden kein Wort spanisch. Sie vermied Gespräche mit Männern, und wenn sie in dem kleinen Laden wartete, lauschte sie den Wortgefechten der deutschen Frauen untereinander. Die Worte klangen wenig fremd, beinahe vertraut, und einige Sätze verstand sie nach kurzer Zeit sogar.

Sie beschloss Deutsch zu lernen, aber der Ingeniero hätte bestimmt zu wenig Zeit, um den Lehrer zu spielen. Sie würde ihn trotzdem fragen. Leider musste sie sehr bald feststellen, dass die Damen sich mit dem Hauspersonal nur über das Nötigste unterhielten und wenn, dann nur von oben herab. Trotzdem war sie glücklicher, hier ihren Tag zu verbringen als sie es jemals in ihrem Dorf erlebt hatte. Am liebsten aber, war sie allein. Sie unternahm oft nächtliche Wanderungen durch die menschenleere Landschaft, besonders in der Woche des zunehmenden Mondes. Sie stellte sich vor, dass es schon immer so gewesen sein könnte, seit Beginn aller Zeiten. Sie es, mit dem Schon-Immer-So zu empfinden. Sie hatte keine Angst vor oder in der Einsamkeit, sie vergaß sich einfach und liebte es, in dieser Abwesenheit von sich selbst zu verharren. Sie blieb stehen, horchte und fühlte. Luz konnte stundenlang in der Höhle der Wurzel eines umgestürzten Baumes sitzen und mit ihm in Kontakt treten. Oder sie schlief in dieser Kuhle ein, mit dem Finger auf dem Nabel, bis „el rocío“, der Morgentau, sie weckte. Sie nippte dieses Nass von den harten Blättern, bewegte sich in gleichmäßigen, lautlosen Lauf zurück ins Pfarrhaus, zog sich um und marschierte in die entgegengesetzte Richtung ins Camp, an ihren Arbeitsplatz.

Diese nächtlichen Ausflüge blieben lange Zeit vor der Dorfbevölkerung verborgen, doch eines Nachts wurde sie von Wilderern, die versteckt auf der Lauer gelegen hatten, beinahe erschossen. Ein willkommener Gesprächsstoff, der bis ins Bodenlose ausgeschmückt wurde. Man hatte sie sogar mit den Schwefel-Elfen tanzen sehen, bevor man sie beinahe für ein Wildschwein hielt.

Von nun an, war sie den Einheimischen noch unheimlicher. Es gab Stimmen, die der Meinung waren, es wäre nicht schlecht gewesen, sie wie einen tollen Wolf „aus Versehen“ abgeknallt zu haben. Dann hätte der Spuk endlich ein Ende gehabt. Diese Meinung drang jedoch nicht bis an die Ohren des Pfarrers. Was machte ein junges Mädchen nachts, weit vom nächsten Dorf entfernt, allein in den Bergen? Da wurde doch ohne Zweifel etwas Teuflisches ausgeheckt. Selbst die Männer strolchten nicht nach dem Dunkelwerden dort allein herum. Sie jagten immer gemeinsam, mindestens zu dritt, dann konnten zwei, den eventuell Verletzten tragen.

Luz del Mar bekümmerten diese Vorwürfe, die ihre Mutter ihr zugetragen hatte, schon lange nicht mehr. Jeden Morgen erschien sie gut gelaunt und pünktlich im Bau-Camp, die Hausarbeit erledigte sie schnell und ordentlich und wusste zu schätzen, dass sie niemand dabei beaufsichtigte. Dieses Glück hatten ihre Kolleginnen nicht, diese putzten unter ständigem Gezeter der zuständigen Hausfrau.

Sie hatte einen winzigen Duschraum mit eigenem WC zur Verfügung, draußen, direkt neben dem Geräteschuppen. Wenn sie ihre Aufgaben im Haus erledigt hatte, meistens war sie schon am frühen Vormittag damit fertig, zog sie sich zurück in den fast leeren Geräteschuppen, den sie sich neuerdings wohnlich gemacht hatte. Eine bequeme Sitzmöglichkeit, eine Lampe, ein Wandbehang und ein kleiner Teppich. Hier konnte sie lesen und lernen. Der untere Teil eines leeren Regals wurde nun von einem tausend Jahre alten Gefäß geziert. Sie legte täglich eine frische Blume daneben und schmückte diesen dürftigen Ort mit guten Gedanken. Manchmal entzündete sie eine Kerze vor der Blume. Sie betete ohne Worte und dankte für ihr Leben, einfach so, in die Blume hinein, ohne sich an Jemanden oder etwas Bestimmtes zu wenden. Sie war dem Club gesammelter Götter, zu dem ihre Mutter betete, nicht beigetreten, doch sie verachtete diese Art von Glauben auch nicht.

Nichts kann dir die Gewissheit des Glaubens nehmen, deine innerste Idee von ihm, das bist du. Das hatte ihr der Pfarrer mehr als einmal anvertraut. Es sei eine Jahrtausend alte, fernöstliche Weisheit, die sie nie vergessen dürfe, egal was das Leben für sie bereit hielte.

Luz del Mar war tolerant und klug, voller Demut und Neugierde auf das Leben. Besonders aber, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die weit zurückliegende Vergangenheit einer Zeit, lange bevor die Menschheit Stempel und Unterschriften benötigte, um ihr Sein zu dokumentieren. Sie besaß das feine Gespür und Interesse des Anthropologen und versank dabei mit Leidenschaft in den Falten der Archäologie und grub am liebsten in der Zeit vor der Zeitrechnung. Sie fühlte ihre Berufung mit verstärktem Herzschlag und schrankenloser Fantasie, bei jeder kleinen Tonscherbe, die ihr aus dem Sand in die Finger glitt. Es war, als fühle sie, wo der Rest dieses Gefäßes verschüttet lag, zu was es gedient hatte, wo sich der Raum befand und der Vorsprung, auf dem es vielleicht gestanden hatte. Sie sah die Männer vor sich, die vor mehr als zweitausend Jahren aus diesem Krug getrunken hatten. Sie hörte ihr dröhnendes Lachen, und sie roch die verschwitzte Kleidung, die lange zu Staub zerfallen war. Luz spürte unter ihren Füssen, wo die Dinge lagen, die sie gar nicht gesucht hatte. Im Gegensatz zu den ambitionierten Suchern und Grabschändern, denn diese suchten wirklich, wenn auch nicht immer gezielt. Sie buddelten verbissen nach den begehrten Schätzen aus der Vergangenheit, um sie an Unterhändler der Händler zu verkaufen. Das war natürlich verboten, jeder noch so kleine archäologische Fund musste offiziell gemeldet werden, durfte das Land nicht verlassen. Die Kontrollen an den Flughäfen wurden immer strenger, eine hohe Strafe drohte, und das vom Ausländer teuer erworbene Stück wurde konfisziert. Selten gelangte es in ein Museum, was allerdings offiziell propagiert wurde. Dabei hatte sich ein kleiner Berufszweig entwickelt und ein eifriger Kreislauf. Oft passierten dieselben Stücke jahrelang den Zoll und dieselben Beamten konfiszierten. Die illegale Ware wurde eingezogen und landete dann wieder auf dem inoffiziellen Markt. Meist fand der Verkauf in einem Hotel statt, wo sich leicht der nächste Kunde fand. Dabei war der Vermittler in der Lage, den korrupten Zollbeamten Angaben zur Person zu machen und manchmal sogar das Abreisedatum. Der Tourist zahlte hastig das Strafgeld, um einer Anzeige zu entgehen und seinen Flug nicht zu verpassen.

Luz del Mar fand nicht, um zu verkaufen, sie kannte auch keine Schwierigkeiten zu finden. Sie balancierte oft über den heißen Sand ohne sich die Füße zu verbrennen, bückte sich plötzlich und grub mit bloßen Händen archäologische Köstlichkeit aus. Man hatte sie dabei beobachtet, doch niemand wagte es, ihr die Funde zu entwenden. Man dachte auch nicht im Traum daran, sie bei den dafür zuständigen Behörden zu denunzieren. Erstens wagte man nicht, sich ihrem eventuellen Fluch auszusetzen und außerdem, man hätte ja seinen eigenen Namen angeben müssen, das hieße sich selbst in die behördliche Kontrolle zu begeben.

Seit Luz etwas älter geworden war und die Bespitzlung bemerkt hatte, war sie vorsichtiger beim Heben der begehrten Keramik, Schmuck oder Ähnlichem geworden. Sie hatte einen kleinen Schatz zusammengetragen und freute sich, diese Dinge einfach nur anzusehen und sich dabei in die Zeit ihrer Entstehung zu versetzen, zu träumen. Einer ihrer ersten Funde, der ihr als Kind in die Finger geraten war, verkörperte einen kleinen Wolf aus Keramik. Sie hatte ihn an seiner Öse mit einer feinen Baumwollkordel versehen und sich damals um den Hals gehängt, dort hing er immer noch. Einst, vielleicht der Beschützer eines Verstorbenen, versprach er ihr nun Halt und Kraft. Sie liebte diesen keine drei Zentimeter kleinen, graubraunen, primitiv geformten Tierkörper wie ein Haustier. Er lebte auf ihrer Brust, da schlief er und wachte neben dem feinen, goldenen Kreuz, das ihr der Pfarrer kurz nach diesem Fund, zur Kommunion umgehängt hatte. Er ließ ihr den Wolf und erzählte von den vielen Jahren, die dieser schon alt wäre.

Luz hatte auch eine beachtliche Sammlung von „vacos“ in ihrem Versteck, Gefäße für Öl oder Lebensmittel der Verstorbenen, aus längst vergessenen, vorzeitlichen Gräbern. Sie blies eigenartige Melodien in kleine Luftinstrumente aus Ton, die sie aus dem Sand gehoben hatte. Einst in Erdöfen gebrannte Gaben für erdachte Musiktöne, gegen eventuelle Langeweile im Reich der Toten.

Luz del Mar erfand ihre eigenen Melodien, sie waren ihre ständigen Begleiter, ebenso wie ihre endlosen Fantasien über die weite, menschliche Vergangenheit. Seit sie die Fachzeitschriften der Archäologie las, die der Pfarrer, als sie etwas älter geworden war, für sie abonniert hatte, fühlte sie sich darin bestätigt. Sie hatte diese Bestätigung nicht gesucht, aber zu erfahren, dass es über die ganze Welt verstreut Menschen gab, die ihr Interesse teilten, war für sie ein zusätzliches Geschenk. Sie wusste nun, dass es Wissenschaftler gab, die mit Leidenschaft und Forschersinn ganze Regionen von Erdschichten abtrugen, um vermutete Heilige Tempel, Gräber, Städte oder andere Schätze verlorener Kulturen wieder freizulegen. Sie war bald sehr bewandert in diesem Fach, wusste von der Wiege der Menschheit, hatte unzählige Aufsätze studiert und archäologische Hypothesen der Forscher durchdacht. Über die verstaubten Spuren des alten Mesopotamien, Ägypten oder Peru, wandelte sie genauso neugierig, wie sie mit Bewunderung die tausend und mehr Tempel-Reliefs des alten Angkor auf sich wirken lies oder mit den Wikingern über Norwegens Küsten hinaus schipperte. Runen, Hieroglyphen oder Inka-Kalender waren Luz vertrauter als ein Märchenbuch. Über die Maya, Azteken und besonders über die Vergangenheit der Inka, hatte sie inzwischen beachtenswerte Kenntnisse, weit über ein Hobbyinteresse hinaus. Sie kannte zwar die meisten nennenswerten Funde der Welt, aber zu ihrem Bedauern, nur aus Büchern, Katalogen oder Fachzeitschriften. Jedoch glaubte sie längst nicht alles, was sie las. Sie informierte sich vielseitig und blieb kritisch. Die widersprüchlichen, sensationsgierigen Storys über „Machu Pichu“, berührten sie nicht. Sie interessierte sich auch nicht für die Theorien oder Prophezeiungen zahlreicher Esoteriker über diesen Ort, die behaupteten, deren frühe Bewohner und Erbauer stammen aus Welten vor der Zeit dieser Menschheit. Nein, Ufos und Überirdische gehörten nicht zu Luz del Mars Fantasien. Schon die kleinsten Funde konnten wichtig sein, als Indizien für den Zusammenhalt der Dinge, aber sie durften nicht mit sensationslüsternen Spekulationen entehrt werden. Ein romantischer Gedanke, den sie sich erlaubte.

Sie hatte sich öfter in „Chan-Chan“ aufgehalten, dem berühmten Ausgrabungsort bei Trujillo, nur etwa drei Stunden Autofahrt entfernt, sozusagen vor ihrer Haustür. Man hatte lange Zeit behauptet, es sei die älteste Siedlung der Menschheit, diese Annahme war inzwischen widerlegt worden. An eine der Antithesen war sie durch einen Artikel in einer Fachzeitschrift geraten, von einem Archäologen verfasst, der eigentlich als Maya Experte Berühmtheit erlangt hatte. Man hatte in der Fachpresse über ihn gescherzt und behauptet, er kenne sich im Dschungel und der Caracol-Dynastie besser aus als in seinem Kleiderschrank. Die Fratze des Sonnengottes, auf einem zerbrochenem Keramikdeckel aus dem fünften Jahrhundert nach Christus, fasziniere ihn überaus mehr als die schönste Frau im Land.

Es überraschte Luz, dass er ebenso kompetent aus der mesoamerikanischen Blütezeit am Pazifik zu berichten wusste, wie aus der Zeit der alten Inka. Er hatte vor Ort recherchiert und mehrere interessante Abhandlungen über Chan-Chan publiziert, während er einige Jahre ein Ausgrabungsprojekt im Süden Perus geleitet hatte. Sie stieß relativ oft auf seinen Namen, Professor Dr. Leonard Bruckner, sie war begeistert von seinen Büchern und Artikeln. Ihr großer Traum war es, eines Tages als Archäologin im Team dieses Fachmannes arbeiten zu dürfen, und sie hatte keine Scheu, das auch kundzutun. Also schrieb sie an seine Universität in Deutschland und bat um persönliche Aushändigung ihres Briefes an Bruckner. Etwa zwei Monate später bekam sie eine Antwort von ihm, mit dem Rat, sich nicht weiterhin als Grabräuberin zu betätigen, erst einmal erwachsen zu werden, sich um ein Universitätsstudium zu bemühen und sich danach, erst danach, wieder bei ihm um eine Praktikantenstelle zu bewerben. Bis dahin sei ihr Hobbyinteresse möglicherweise in der Aufzucht von Kindern erstickt.

Ein arroganter Mensch. Luz war enttäuscht, er hatte ihre Begeisterung nicht ernst genommen, nicht zwischen den Zeilen gelesen. Sie hätte nicht von ihren persönlichen Funden schreiben dürfen. Außerdem, sie betrieb doch längst eine Art Studium, wenn auch ohne gestempelte Leistungsscheine, das hatte sie erwähnt. Zweimal schrieb sie ihm noch, ohne eine weitere Antwort zu bekommen.

Ihr Wissensdurst war nicht einseitig. In Karls Bücherstapeln hatte sie ein in Englisch verfasstes Buch entdeckt, in dem ein Thema behandelt wurde, von dem sie noch nie gehört hatte. Die sogenannte Hohlraumtheorie. Damit wusste sie wenig anzufangen, trotzdem, das Wort hatte sich festgehakt und sie neugierig gemacht. Dann las sie, dass einige Polarforscher, unter ihnen auch Berühmtheiten wie Fridtjof Nansen, von einer weißen Sonne an den Polen berichtet hatten. Einer angeblich zweiten Sonne, die sie deutlich gesehen hätten.

Luz blätterte zurück, sie las die Seiten mit den Aufzeichnungen und Behauptungen dieser Forscher zweimal. Diese Leute gingen wahrhaftig davon aus, die Erde müsse hohl sein, man könne an den Polen hinein, sie beherberge sogar Lebewesen. Menschenartige? Eine verrückte Theorie!

Luz fand es indiskutabel in Erwägung zu ziehen, dass unter den tiefen Bereichen der Erdkruste, außer der ungeheuren Menge an glühend flüssigem Gestein und unmessbaren Temperaturen, Leben bestehen könne. Nichts als Magma, das hatte sie so zu sehen gelernt. So wie man vor nicht allzu langer Zeit, Stein und Bein schwor, dass die Erde eine Scheibe sei?

Nun, diese Forscher behaupteten, und das nicht nur in jüngster Zeit, dass es Eintrittslöcher an den Polen gäbe. Weite, mehr als tausend Kilometer messende Pforten, dort könne man in ein Paradies des Erdinnern gelangen, dort stecke das Paradies! Darin waren sich alle, die diese Sache vertraten, einig.

Kinderkram, dachte Luz. Gab es überhaupt ein Paradies? Außerdem, nach dieser Theorie müssten alle Planeten hohl sein, lächerlich! Sie las das nächste Kapitel, nicht weil sie daran glaubte oder glauben wollte, sondern weil es sie faszinierte, auf welch ausgefallene Ideen andere Menschen kamen und was, wenn man sich der Fantasie und dem Glauben ganz hingab, daraus gesponnen werden konnte. Was passierte, wenn sich die ganze Bandbreite, die sich daraus entwickelte, potenzierte und in alle Richtungen galoppierte. Aus einer einzigen Idee oder Vision heraus. Mit einem verrückten Funken konnte die gesamte Entwicklung plötzlich einen gewaltigen Sprung nach vorne machen. Ein Entwicklungsschritt aus einem Zweitsonnensichterlebnis am Polgebiet? Alles war möglich, man musste nur die Antennen dazu ausfahren und schon verfingen sich die Inspirationen in dem Geflecht der Erwartung. Es war einfach interessant, in das Geflecht anderer Menschen hineinzusehen. Vielleicht gab es nur ein einziges Netz dieser Ideen, die Empfängnisbereitschaft! Nur, dass jeder an einem anderen Faden zog, in eine andere Richtung zerrte, stolperte fiel oder wirklich etwas schuf, etwas Brauchbares, für andere Menschen Erkennbares, Anerkennenswertes und letztlich sogar Verwertbares.

Aus diesem Grund las sie mehr Informationen darüber, Annahmen von Wissenschaftlern, ebenso wie von Spinnern. Sie war erstaunt über die Weite der Halluzinationen in dieser Richtung. Vielleicht stellte das Nordlicht, so nahe an den Polen, den Verstand auf den Kopf? Die Unmöglichkeit des Hohlraums wegen des Magmas wurde mit der Theorie zerschlagen, dass es diese glühende Pampe nur in der etwa einige Tausend Kilometer dicken Erdkruste gäbe, auf deren Rand wir uns bewegten.

Polarlöcher? Wo blieb dann das Meereswasser, unsere Erdkugel müsste sich demnach mit Wasser füllen? Und wo käme das nötige Licht für ein Leben im Inneren der Erde her?

Da sprach man eben von dieser mysteriösen zweiten Sonne, einem gleißenden Licht aus dem Inneren, das angeblich dort gesehen worden war, wo nach fachmännischer Navigation in diesem Moment unmöglich unsere bekannte Sonne hätte stehen können, ebenso wenig eine Reflexion von ihr. Das Wasserproblem rechtfertigte man mit der Gravitation, durch die das Magma beim Entstehen der Welt an den Rand geschleudert worden sei und die auch dafür sorgte, die Öffnungen der beiden Pole vom Wasser freizuhalten. Dazu las sie, dass das simple Beispiel einer Waschmaschinentrommel im Schleudergang, das eindrucksvoll veranschaulichen würde.

Nun wusste Luz ja inzwischen, was solch ein Schleudergang mit der Wäsche anstellte. Alles wurde an den Rand geschleudert und klebte dort fest, bis es nicht mehr schleuderte. Aber die Welt drehte sich schließlich noch, und warum sollte es dieser Welt bei ihrem Entstehen im ungeheuren Schleudergang anders ergangen sein. Alles Große steckt im Kleinen, und alles Kleine enthielt das Große, dachte Luz belustigt.

Sie las und lernte mit Hingabe, Pfarrer Nestor befürwortete und unterstützte weiterhin ihren Eifer darin. Wenn sie sich über ihre Leidenschaft oder ihre Korrespondenz unterhielten, fand das ausschließlich in seinem Arbeitszimmer statt. Luz´ Mutter Begoña werkelte unterdessen versunken in der Küche, sie interessierte sich weder für diese Gespräche, noch schenkte sie den Posteingängen des Pfarrhauses Aufmerksamkeit. Da sie sich oft über den Lerneifer ihrer Tochter aufregte und seine Richtung schroff ablehnte, hielt Luz es nicht für angebracht ihrer Mutter weiterhin von den Studien zu erzählen.

Begoña vertrat die Meinung, ihre Tochter müsse selbstverständlich lesen und schreiben können, etwas rechnen und ein wenig über das Geschehen in ihrem Land orientiert sein. Sie solle auch etwas lernen, um Menschen in Not behilflich sein zu können, etwas Nützliches anstreben. Dieses ehrfurchtslose Graben in der Vergangenheit, wozu sollte das gut sein! Entehrung der Toten? Davon hielt Luz´ Mutter gar nichts, es war etwas wenig Anstrebenswertes für ein junges Mädchen. Sie solle besser ihren Wissensdurst auf die Koch- und Nähkunst richten, vielleicht den Beruf der Krankenschwester anstreben oder Schneiderin werden. Erste kleine Unebenheiten schlenderten in die Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

Zwischenzeitlich beantwortete der Pfarrer die Fragen seines Schützlings gewissenhaft, auch wenn sie nicht ganz in sein Programm passten. Was er von diesem mysteriösen Hohlraum hielt, wollte sie wissen und fügte spöttisch hinzu, theoretisch müsste es auch Archäologen dort geben. Wieso waren die noch nicht auf uns gestoßen? Das sind sie vielleicht, antwortete der Pfarrer, aber wir wissen es nicht!“

Luz del Mar war glücklich, viel mehr forderte sie nicht vom Leben. Der Pfarrer, den sie liebte und ungehemmt verehrte, stand ihr als Ersatzvater zur Seite. Die Wüste war ihr Paradies, und neuerdings erquickte sie die Arbeit im Camp, mit der sie einen Bruchteil dessen finanzierte, von dem was sie verbrauchte.

Ihre Mutter musste in dieser Liste nicht extra erwähnt werden, diese gehörte so selbstverständlich zu ihr, wie der tägliche Sonnenuntergang. Luz wünschte sich nur noch ein Studium an der Universität, nicht um des Wissens Willen, sondern um in diesem Beruf anerkannt zu werden und bei archäologischen Ausgrabungen dabei sein zu dürfen.

Den Grundstock intellektuellen Wissens in Luz, hatte Pfarrer Nestor gelegt, ohne sie dabei in die Kirche oder die Gesetze seines Glaubens gedrängt zu haben. Ganz gegen die Aufgabe, oder besser das übliche Vorgehen eines Pfarrers. Es war ihm ein lebenswichtiges Bedürfnis, dieses wissensdurstige Menschenkind zu beschützen, es zu fördern und nicht mit Glaubensgesetzen zu verkleistern. Vom ersten Augenblick an, seit sie als kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter vor seinem bescheidenen Pfarrhaus gestanden hatte. Er selbst hatte dieses Haus, das auch ihr Heim werden sollte, erst kurze Zeit zuvor bezogen. Sie hatte ihn mit diesem besonderen Blick angesehen, stumm, fragend und sehr wach. In diesem damaligen Moment war es ihm erschienen, als sei ihm diese Aufgabe von Gott vor die Tür geschoben worden, um seine Buße zu vervollkommnen. Ohne Erwartung zu helfen, zu geben ohne zu nehmen. Dieses Mädchen an seiner Seite aufwachsen und lernen zu sehen, erwies sich jedoch bald als die größte Freude in seinem selbstauferlegten Provinzdasein, in seinem Leben.

Nach jahrelangen Bemühungen musste der Pfarrer es aufgeben Hass und Furcht der einfältigen Dörfler, Luz gegenüber, zu bekämpfen. Er agierte mit viel Geduld und List, es half nichts, sie hatten nun einmal beschlossen, dass in diesem zarten Wesen der Teufel hocke. Kläglich versagten hier des Pfarrers Bibelsprüche über die Nächstenliebe. Man kreuzte den Weg des Mädchens nicht, nicht einmal ihren Schatten, und man hielt sich außer Spuckweite. Wäre sie als Junge geboren worden, hätte man diesen später zum Magier, zum Zauberer oder Medizinmann ernannt. Als Mädchen, mit einem Merkmal, hatte man schlechte Karten. Ihr Merkmal waren die Augen, und dass sie Dinge, Probleme oder Begebenheiten schon als Kind klug und voraussehend beurteilen konnte. Sie hatte sich, seit sie selbstständig denken konnte, an diesen Blick ihrer Mitmenschen gewöhnen müssen. An den Blick, der sie nicht traf. Man sah sie an, zuckte zusammen und blickte hastig in eine andere Richtung.

Das sogenannte Magische wurde hier normalerweise von der Hebamme entdeckt und bestimmt. Ein Ah, bei einem neugeborenen Jungen, ein Oh, bei einem Mädchen. Bei Luz del Mar hatte man mit Sicherheit zu dieser Diagnose keine Hebamme benötigt, sofort muss jeder bemerkt haben, dass sie mit dem Teufel im Bunde stand. Darüber waren sich die Bewohner im Pueblo einig. Zu allem Übel kam sie von der anderen Seite der Kordillere, aus dem äußersten Süden der Anden, wo sich in der dünnsten Luft der Welt die Gottlosen versteckt hielten.

Man hörte diese Ahs oder Ohs nicht oft, manchmal konnten zwei oder sogar drei Generationen verstreichen, bis es aus einem Dorf wieder ertönte. Es war immer etwas besonders Gutes oder besonders Fürchtenswertes. Diese übernatürlichen Kräfte, die Luz del Mar von frühester Kindheit an aufgetürmt worden waren, hatten sie mit jedem Jahr empfänglicher für genau dieses Phänomen werden lassen. Für sie bestand die Wüste nicht nur aus Staub und Sand, und der Fluss war weit mehr als ein wasser tragender Einschnitt in die Landschaft. Der Sand lebte, und er verbarg kristallene Wärme und Schätze aus weit vergangenen Zeiten. Antike Utensilien der Toten, für die unvorstellbare Reise in das Land der Ahnen. Sie war berührt von diesen Gegenständen, als seien es lebendige Wesen. Und sie hatte deutliche Visionen von Orten, die sie nicht kannte.

Seit ihrer Kindheit, oft im Traum aber auch im halben Wachzustand, vernahm sie ferne Stimmen in einer ihr unbekannten Sprache. Bisher hatte sie nur dem Pfarrer davon berichtet, da sie befürchtete, ihre Mutter damit in Unruhe zu versetzen. Als sie zum ersten Mal die Stimmen der Señoras im Camp gehört hatte, lüftete sich ein Teil dieses Mysteriums, von welchem der Pfarrer behauptete, es sei keins. Die fremden, geheimnisvoll vernommenen Stimmen, die sie aber niemals wirklich beunruhigt hatten, die sie sogar vermisste, wenn sie einige Tage nicht zu hören waren, offenbarten sich in der deutschen Sprache. Diese Erkenntnis war ausschlaggebend für ihren brennenden Wunsch, Deutsch zu lernen. Vielleicht würde sie dann endlich verstehen, was ihr in dieser Art von Wachträumen gesagt wurde.

Wenn Luz del Mar im Haus des Ingeniero ein heißes Getränk zu sich nahm, pflegte sie es nur aus „der Tasse“ zu trinken, einer Tasse, die im Geschirrschrank etwas abseits stand. Sie hatte das dünnwandige Gefäß selbst mitgebracht. Karl hatte seinen Spaß daran, diese Tasse manchmal ein wenig zu verschieben. Ein, zwei Zentimeter nur, etwas näher an die anderen gewöhnlichen Tassen heran. Oder er drehte sie so, dass der kobaltblaue Henkel zur anderen Seite wies. Sie bemerkte das sofort, wusch die Tasse augenblicklich ab und wies ihn mit ernstem Gesicht darauf hin, die Finger von ihrer Tasse zu lassen.

Bitte, Señor Ingeniero, benützen Sie meine Tasse nicht, niemals. Dann lächelte sie wieder. Sie hatte ihn bereits zuvor darum gebeten, ganz zu Beginn, als sie die Tasse mitgebracht hatte.

Dieses Mädchen kommt aus dem letzten Drecksloch und empfindet meine Finger oder meinen Mund etwa als schmutzig? Karl war beleidigt. Sie hielt mitten in der Säuberung inne und unterbrach seine überheblichen Gedanken mit einem vernichtenden Blick. Dieser traf ihn wie ein Geschoss. Ein Blick, den er an ihr nicht kannte. Stark, eigenwillig und beinahe hart. Er war überrascht. Bei all ihrer scheinbaren Ergebenheit, die ihm ungeheuer gefiel, wollte er plötzlich auch diesen Blick von ihr und das, was dahinter zu stecken schien. Er roch ein Geheimnis, das ihm Lust und einen reizvollen Kampf versprach.

Die Blicke seiner Eroberungen hatten Karl nie sonderlich interessiert, deren Varianten zu spezifizieren, noch weniger. Doch an Luz del Mar interessierte ihn alles. Das bedeutete in seinem kleinen Ego-Kosmos in etwa, als käme das Gesetz der Gravitation ins Stolpern. Normalerweise interessierte ihn eine Frau einzig und nur, nach dem Grad seines eventuellen Lustempfindens und der Möglichkeit, es an den Mann zu bringen. Dabei waren ihm bisher keine Blicke zur Hilfe oder in die Quere gekommen. Seine Orientierung bezog sich gewöhnlich auf andere Stellen des weiblichen Körpers. Er hatte dabei seinen eigenen Vorausblick im Griff und auf die Hoffnung gerichtet, dass es mit der Jeweiligen klappen könnte. Luz del Mars neuer Blick erstaunte, reizte und belustigte ihn. Das waren ganz neue Begleiter seines Interessen Vorspiels.

Natürlich benutzte er ihre Tasse nicht, zumindest nicht um daraus zu trinken. Doch nach der energischen letzten Säuberung und dem ebenso energischen Hinweis, dieses Relikt nicht anzurühren, bekam er eine ungeheure Lust auf diese Tasse. An den Sonntagen, den öden Luz del Mar-Abwesend-Tagen, leuchtete der blaue Henkel wie ein Komet. Er konnte nicht widerstehen, er holte von Zeit zu Zeit die Tasse aus ihrer Spezialecke aus dem Schrank. Nicht nur, um sie zu drehen oder zu verrücken, nein, Karl ergriff sie fast ehrfurchtsvoll und nippte an dem Rand des leeren Trinkgefäßes. Er leckte ein wenig daran. Die Lust stieg. Er hatte beobachten können, dass sie beim Ergreifen der Tasse ihre linke Hand benutzte. Sie schob ihren Zeigefinger langsam in den Henkel. Die Erinnerung an diese Geste allein, erregte ihn sehr. Dann pflegte sie sanft den Daumen über das blaue Tassenohr und den Mittelfinger darunter zu pressen. Sie tat das in einer Weise, als spräche sie mit ihren Fingern, es so zu tun und nicht anders. Nicht automatisch. Sie trank bedächtig mit geschlossenen Augen und schlürfte nie. Auch das fiel ihm auf. Warum schlürfte sie nicht? Alle Mädchen, alle Menschen aus den Pueblos schlürften ihre heißen und ebenso kalten Getränke. Auch die Suppen mit ihren spärlichen Einlagen wurden geräuschvoll über die Lippen in den Schlund gesogen. Karl erkannte bei diesem geräuschlosen Trinkritual, dass sie Linkshänderin war.

An den Sonntagen also, nippte und lutschte er genussvoll an dem Rand ihrer Tasse herum. Ebenfalls mit geschlossenen Augen. Die Vorstellung, dass ihr Mund täglich, einige Male, genau diese Stelle des Keramikrandes berührt hatte und wieder berühren würde, nachdem seine Lippen sich wie tintenlose Stempel dort betätigt hatten, dort wo er seine Zunge walten ließ, um ihr näher zu sein, erregte ihn derart, dass er ins Badezimmer eilen musste. Er bräuchte unbedingt ein Foto von ihr. Für die Sonntage. Karl dachte an ihren Mund auf dieser Tasse, bei der Arbeit, in der Nacht und am Morgen bevor sie im Camp erschien.

Neue Arbeitsschichten waren eingerichtet worden, Wochenendschichten, auch Karl musste sich dieser Änderung unterordnen. Seine so geschätzten Samstage mit Luz, wenn sie zum entfernten Wochenmarkt zu fahren pflegten, um frischen Fisch und Gemüse zu besorgen, fielen nun oft aus. Längst wieder gesund und voll einsatzfähig, wurde er auf der Baustelle außergewöhnlich stark gefordert und arbeitete viele Stunden mehr als es vertraglich festgelegt war. Er war keine Ausnahme, die anderen Angestellten hatten ebenfalls mehr zu leisten. Außerdem wies das Leistungsverzeichnis des Bauvorhabens erhebliche Mängel auf. Es gab Posten in seinem Sektor zu erstellen, die im Verzeichnis nicht erwähnt waren. Wenn er nicht rechtzeitig darauf hinwies und sich bei der selbstgefälligen Oberbauleitung ausreichend Gehör verschaffte, gäbe es eine Menge Ärger. Das hieß zunächst, er musste zusätzlich, spät abends noch an seinem Schreibtisch hocken.

Eines Sonntags, in einem unvorhergesehenen Augenblick, schnellte sein Penis über den schimmernd kobaltblauen Tassenhenkel hinweg. Karl hatte geträumt, nicht schnell genug reagiert, er schaffte es nicht mehr bis ins Bad und hatte in ihr Trinkgefäß ejakuliert. Ein Rest tröpfelte auf das elegante Firmenlogo seines Herrenslips, auf das vorne sichtbar angebrachte Etikett, das in seinen Kniekehlen hing. Unterhalb des Logos war London-Paris-New York noch verschwommen zu erkennen. Tokio war komplett im Sperma erstickt.

Am Sonntag darauf fehlte die Tasse. Sie stand nicht an ihrer gewohnten Stelle. Ein schlimmer Sonntag. Karl suchte überall, auch in ihrem Geräteschuppen. Dann streifte er mutlos durch die Hütte, auf der Suche nach einem Ersatz-Fetisch und beendete diesen trüben Tag mit ihrem Hausschuh an sich gepresst, auf dem neuen Sofa. Auf den Gebrauch dieser leichten Schuhe mit weicher Ledersohle, es waren eher Mokassins als Hausschuhe, hatte er bestanden, und er hatte sie extra etwas zu groß gekauft. Er wollte dieses Wesen nicht mehr barfuß durch die Räume schleichen wissen, denn ihr Straßenschuhwerk ließ sie immer vor der Haustür stehen, bevor sie das Haus betrat. Karl wollte, wenn er zu Hause war, unbedingt Luz´ Schritte hören.

Da diese Schuhe beabsichtigt sehr locker saßen, schlurfte sie ein bisschen. Karl liebte dieses Schlurfen. Sein kleiner, kläglicher Ersatz für die verschwundene Tasse. Er konnte dieses Geräusch nur etwa eine Stunde täglich genießen, mittags während des Essens und am Abend nach seiner Arbeit, dann verstummte es. Sie verließ ihn. Und er fühlte dieses allabendliche Verlassen bis in sein Knochenmark hinein, als knabberte ein ekliger Virus darin. Er fand nicht den Moment, um sie zur Nacht in seine Arme zu bitten. Die Furcht vor der Ablehnung würgte ihn, er bekam kein Wort heraus. Und husch, war sie wieder hinaus und in der Nacht verschwunden.

Eines Tages fragte er nach der Tasse. Luz sah ihn mit einem feurigen Blick an. „Ich habe die Tasse beerdigt“, sagte sie. Dann presste sie die nächste Zitrone aus.

Zitronensaft, aus zwei Kilo Zitronen, die sie gemeinsam auf dem Markt gekauft hatten. Zitronensaft für das „ceviche“, ein Gericht, das sie nun öfter für ihn zubereitete. Ein Kilo roher Katzenhai, ein Kilo rohe Zwiebeln, feingeschnitten und in Salz gewaschen und viele kleine scharfe Chilischoten, alles verschwand bis zum Kragen bedeckt im Zitronensaft. Dazu kochte sie ihm die Yucca, eine Art längliche Süßkartoffel. Karl hatte sich schon längst an ihren peruanischen Speiseplan, den sie ihm vorgeschlagen hatte, gewöhnt. Er fragte sie sogar nach dem ceviche und naschte dann während der Zubereitung. Ein Stückchen roher Fisch, kurz in den sauren Saft gedippt, mit etwas Salz darüber und schwupps, steckte er sich schon mal diesen Bissen in den Mund, bevor alles fertig vor ihm stand. Karl fühlte sich verwegen dabei. Er kaute genüsslich, stand neben ihr und sah sie gierig an. Sie sah nicht hin.

Heute war er etwas früher von der Baustelle zurückgekommen und konnte dem abendlichen Küchengeschehen fast vollständig beiwohnen. Beerdigt?, wiederholte Karl dämlich fragend dieses Wort, mit vollem Mund.

Noch niemals zuvor in seinem Leben hätte er eine Frau so brennend gerne „genommen“, wie dieses Geschöpf, das vor ihm in aller Ruhe die Zitronen so sorgsam ausdrückte, als seien es Edelsteine, die sie polierte. Er hätte sie zur Not auch vorerst nur inniglich umarmt, falls das weiterhalf. Und noch nie in seinem Leben ließ er so viel Scheu und Vorsicht walten, sich zu nähern. Er hatte Verlustangst, bevor er besaß. Diese Art von Sehnsucht und Furcht war ihm bisher unbekannt gewesen. Frauen existierten schließlich zum Flachlegen. Und um sich und diesen Wesen, in deren Welt es einzudringen hieß, zu beweisen, dass er, der große Karl, das im Griff hatte. Welches hieß, dass er konnte, wenn alles stimmte, und er es auch wollte.

Luz del Mar hatte ihn aus der Bahn geschleudert, er schien sich im Neuland einer psychischen Landschaft zu bewegen, wie in einem Niemandsland. Welche Richtung schlug er ein, blieb er an der Kreuzung ohne Wegweiser ewig stehen, gab es überhaupt verschiedene Richtungen? Er war unfähig zu handeln und kasperte vor, hinter und neben Luz del Mar herum, wie ein pubertierender Jüngling. War die Tasse denn kaputt?, fragte Karl plötzlich, wie beiläufig, immer noch kauend.

No Señor, sie war entweiht.

„Entweiht? Sein Gesichtsausdruck war noch dämlicher geworden, wusste sie etwa?

Sie war mein Trinkgefäß, seit dem Tage, als ich eine Frau wurde. Als meine Monatsblutung begann, fügte sie hinzu, als sie seinen fragenden Blick sah. Sie quetschte die nächste Zitrone. Also, seit meinem zwölften Lebensjahr ein täglicher Begleiter.

Bei der bildlichen Vorstellung ihrer periodischen Blutungen verschluckte sich Karl, er stolperte und setzte sich mit offenem Mund hastig an den Küchentisch. Der Katzenhai hatte sich verhakt, gesteuert vom Schreck dieses intimen Gedankens war er steckengeblieben und blockierte die Atemwege. Karl lief blau an und keuchte rauh, zum Husten fehlte ihm die Luft.

Luz del Mar schob die Zitronenpresse zur Seite, bewegte sich langsam in seine Richtung und war mit einem Satz auf dem Küchentisch hinter ihm. Er rang vergeblich nach Luft. Sie riss seine Arme hoch und trat ihm kraftvoll in den oberen Bereich des Rückens. Die Milz hielt stand, das Stück Katzenhai glitschte aus ihm heraus und hüpfte über den sauberen Küchenboden.

Karl schnappte mit Tränen in den Augen gierig nach Luft. Er hatte in seiner Atemnot nicht bemerkt, dass sie vom Tisch aus agiert hatte, doch die Berührung ihrer Hände an seiner Haut hatte er wahrgenommen. Waren es auch nur seine Handgelenke, er fühlte es immer noch. Dafür würde er sich am liebsten noch einmal verschlucken. Sie glitt von dem Tisch hinunter, wie ein Reptil ins Wasser.

Also, Señor Ingeniero, ich werde es Ihnen erklären. Sie widmete sich wieder der manuell betreibbaren Zitronenpresse und begann dabei zu reden, diesmal in Englisch, vielleicht um sicher zu gehen, dass er alles verstand.

Ein weiser Mann, ein Bekannter meiner Mutter, hatte an einem speziellen Ort den Ton ausgewählt und diese Tasse für mich geformt, gebrannt, glasiert und noch einmal gebrannt, um sie dann zu weihen. Sie sollte mich beschützen, meinen Bauch wärmen und mich empfänglich halten bis ins hohe Alter. Ein Brauch, dem ich mich nicht fanatisch unterworfen habe, von welchem ich mich aber gerne beschützen ließ.

Da du mir nun das Leben gerettet hast, solltest du mich endlich Carlos nennen, murmelte Karl. Er hasste dieses Señor, es schuf einen Abstand, den er von Anfang an nicht empfunden hatte. Ich schlage vor, wir fahren am Sonntag gemeinsam zu diesem mysteriösen Alten und bitten ihn, dir eine neue Tasse zu kneten. Ich komme selbstverständlich für die Kosten auf, als Dank sozusagen, für deinen lebensrettenden Einsatz. Mein Schutzengel scheint Gestalt angenommen zu haben. Allerdings verstehe ich nicht, wenn dir die Tasse so wichtig war, warum du sie dann vergraben hast, sie war doch nicht kaputt, du hättest sie aufbewahren können, als Dekoration. Der Alte wird sicherlich ärgerlich sein. Luz del Mar sah ihn mitleidig an.

Dieser weise Mann ist schon vor Jahren zu den Ahnen gerufen worden.

Zu den Ahnen gerufen? Eine nette Idee, besser als die Vorstellung, eines Tages in der Erde verrotten zu müssen.

Seine Seele, Señor Ingeniero, seine Seele ist bei den Ahnen, nicht sein Körper. Außerdem verbietet der Brauch die Wiederholung des Rituals. Die Weihung und Übergabe an das Mädchen ist nur zu dieser besagten Zeit erlaubt. Es hat etwas mit der zu erbetenen Fruchtbarkeit zu tun, doch man kann, wenn die Tasse verloren geht oder jemand anderes sie benutzt und damit entweiht hat, auf verschiedene andere Weise die Götter um Schwangerschaft bitten. Aber das ist mir wirklich noch nicht so wichtig. Diese Tasse gab mir eher ein Gefühl der Geborgenheit, einen Moment des Angekommen-Seins, wenn ich die Augen schloss und aus ihr trank. Eine liebgewonnene Gewohnheit also. Sie schwieg einen Moment und fügte noch etwas hinzu.

Eigentlich mag ich es gar nicht, blind den Gewohnheiten zu folgen, das bringt Schläfrigkeit mit sich, die sich mit der Freude und Neugier auf das Leben nicht vereinen lässt. Vielleicht war es an der Zeit sich von der Tasse zu trennen, es geschah aus einem inneren Befehl heraus, und ich musste ihn befolgen.“

Karl erschrak, als sie „trennen“ sagte. Mit der Beseitigung der Tasse hatte sie seine heimlich schwer erkämpfte Verbindung zu ihr abgeschnitten. So peinlich diese Geschichte auch war, diese Tasse war ihm wichtig geworden. Und noch peinlicher wäre es, wenn sie sich nur diplomatisch ausgedrückt hätte und alles wusste. Wie sonst könnte man ein Entweihen interpretieren. Dieser Gedanke, sich möglicherweise mehr als lächerlich gemacht zu haben, passte ganz und gar nicht in das Imagekonzept, das er von sich für sie auf Lager hatte. Karl erwachte ein wenig aus seinem Liebeswahn. Er fragte kleinlaut, was hat eine Tasse denn mit dem Kindersegen zu tun?

Eine Tasse besteht aus einem Hohlraum, der existiert um gefüllt zu werden, in diesem Fall ein Symbol für den Uterus, antwortete Luz.

Noch nie hatte sie so lange das Wort an ihn gerichtet. Seine, im holperigen Spanisch gehaltenen Bemühungen um sie, meist alberne Monologe, bestritten normalerweise die Unterhaltung. Den Einblick in ihre persönlichen Ansichten oder sogar Gefühle, den sie mit dieser kleinen Erklärung abgegeben hatte, war etwas sensationell Neues für Karl. Er war außerdem sehr erstaunt über ihre Wortwahl, das Bild des naiven, hoffentlich auch willigen Mädchens verflog wie ein Häuflein Asche im Abendwind. Das schreckte ihn nicht ab, es war sogar, gegen seine Gewohnheit, ein Grund mehr, sich für sie zu interessieren. Er begehrte also neuerdings eine Frau, die kompliziert zu sein versprach. Die ihm sogar, so wie es schien, intellektuell das Wasser reichen konnte? Na ja, vielleicht, aber natürlich nicht ganz. Würde das nicht viel zu anstrengend?

Von nun an nannte sie ihn, Señor Karl. Nicht wie die meisten im Camp, außer seinem obersten Vorgesetzten, Carlos oder Doktor Carlos. Niemand sagte Karl. Er mochte dieses Carlos, damit transportierte man etwas Abenteuerliches in seinen Namen, assoziierte etwas vermeintlich Feurigeres als das, was nur der Name Karl versprach. Ein deutscher, sauberer, zuverlässiger Karl. Kurz und bündig und vor allem überschaubar. Wie die Buchstaben dieses Namens.

Nun sagte sie, guten Morgen, Señor Karl, wenn sie erschien. Und, Gute Nacht, Señor Karl, bevor sie abends sein Haus verließ. Eines Tages hörte er aus der Küche, wie sie langsam, laut und deutlich, beinahe akzentfrei das Etikett einer deutschen Würstchendose las. Aufschrift, Zutaten, Fettgehalt und das Nettogewicht. Er war überwältigt, aus dieser Frau rollten ihm jeden Tag neue Rätsel entgegen. Er musste unbedingt erkunden, wer sie wirklich war, ihre Familie kennenlernen und wissen wo sie hauste. Dass sie primitiv wohnte, lag fernab jeden Zweifels. Eine Selbstverständlichkeit, auf der er thronte.

Luz del Mars Mutter, Begoña, die damals ohne große Nachfrage die Haushälterin des Pfarrers geworden war, wurde von den Dorfbewohnern inzwischen anerkannt. Das war höchst erstaunlich, da sie von der „anderen Seite“ stammte. Allein diese Herkunft war üblicherweise unentschuldbar und verachtenswert genug, jemanden im Dorf nicht zu dulden. Von der anderen Seite zu stammen, verlangte zumindest den gesellschaftlichen Abstand. Diese Seite zeichnete sich dadurch aus, dass sie die Ostseite der Cordillere de los Andés war, deren Bewohner mit Neid, Hass und Empörung zu strafen waren, falls sie sich über die Gebirge in den Westen wagten. Vergleichbar, mit der tiefverwurzelten Haltung des Armen, dem Superreichen gegenüber. Sie hatten viel mehr Wasser dort drüben, und Wasser war Gold. Es war ärgerlich, dass der Urubamba und seine Nebenflüsse, die sich im großen Rio Ucayali trafen und gemeinsam den noch größeren Amazonas speisten, als hätte der nicht schon genug von dem begehrten Nass, sich seit dem Erwachen der Zeit, dem Lauf in die andere Seite des Landes fügten. Die Götter hatten entschieden, die enormen Wassermengen brachen nicht durch drei Gebirgszüge hindurch, um gen Westen zu fließen, hinunter in die gute Seite, zu den guten Menschen, in das gute Meer, den Pazifik, sondern in die andere Richtung, dorthin, wo die Gottlosen hausten. Das war ungerecht.

Luz del Mar hatte keine äußerlichen Anzeichen indianischer Vorfahren, so wie ihre Mutter. Weder die Statur, noch die breite Nase. Kein blauschwarzes Haar und kein leicht geschlitztes Auge. Sie war der Anstoß des Schreckens. Darum hatte sie es schon als Kind aufgegeben, um die Gunst ihrer Mitmenschen zu buhlen. Man fügte sich schließlich in sein Schicksal?

Nein, Luz del Mar fügte sich nicht, zur großen Sorge ihrer Mutter. Diese Mutter hatte, auf Luz´ unermüdliche Fragen hin, ebenso unermüdlich bestätigt, dass im kalten Süden Perus, hoch oben über der Welt, viele Menschen helle Augen hätten. Dass sie in ihrer Heimat Lehrerin gewesen sei, hatte sie auch dem Pfarrer mitgeteilt, bisher aber verschwiegen, warum sie nicht mehr im Schuldienst stand. Er wartete immer noch auf eine Erklärung. Wie er vermutete, war hier eine Beichte nötig, denn sie vermittelte ihm die Haltung einer Verfolgten oder sogar Schuldigen. Mit diesem Gefühl kannte er sich aus. Sie trug einen Ehering, er mutmaßte sogar, sie hätte ihren Mann umgebracht und sei aus ihrem Heimatdorf geflohen. Das wäre keine erstaunliche Ausnahme gewesen. Dadurch, dass sie in ihrer Freizeit Erwachsene unterrichtete, hatte sie die Ablehnung der einfältigen Dörfler gemildert und sich sogar ein Ansehen verschafft. Überaus geduldig half sie den Bauern, eine vermeintlich unüberwindbare Hürde zu bezwingen, das Geheimnis der Buchstaben.

Der Bezirkspfarrer war ein weiser Mann, er drängte nie. Das war die eine Seite, die andere, erstaunlichere für einen Diener der katholischen Kirche war, dass er sich aus seinem hohen Amt hatte zurückversetzen lassen, was offiziell gar nicht möglich war. Er hatte seine Gemeinde, von etwa einem Dutzend Dörfer samt ihrer Außenbezirke, zur Hälfte aus Analphabeten bestehend, einem Bischofssitz in der Großstadt vorgezogen. Vorübergehend. Warum? Das wusste nur er allein. Er hatte, weiß Gott wie sehr, darum gekämpft es übergangsweise so einrichten zu dürfen. Seit über vierzehn Jahren hielt er nun diese Übergangsstellung zwischen diesen einfältigen und fleißigen Menschen, die alle Götter und Heiligen gleichzeitig anbetenden. Wobei der Fleiß hauptsächlich unter den Frauen verbreitet war. Er kümmerte sich direkt, als ganz normaler Seelsorger der untersten Liga der Kirchenhierarchie, um eine Bande Bauern und ihre Familien, deren Glaube auf Jahrtausende alten Regeln und Riten basierten, zu denen sich Jesus Christus eingereiht hatte. Man begegnete dem Pfarrer mit Respekt und Unterwürfigkeit, doch er war und blieb ebenfalls ein Fremder. Somit gab es schon drei Menschen in der Gemeinde, die nicht dort waren, wo sie hingehörten. Die Kirche und ihre Feste wurden vorsichtshalber streng beachtet. Die Jungfrau Maria und der arme Jesus hatten eigentlich nichts zu tun mit dem fremden Mann aus Lima, der in der Messe dazu aufrief, dieses Mädchen mit dem bösen Blick in ihrer Gemeinschaft nicht nur zu dulden, sondern herzlich aufzunehmen. Sie waren sich sicher, sie hatte den Priester in ihrem Bann. Schon als Kind hatte sie ihn angelächelt. Sie lächelte sonst niemanden an, richtete den Blick stets schuldbewusst zu Boden.

Luz del Mar hatte vom Pfarrer und ihrer Mutter genug gelernt, um sofort zwei der vier Schulklassen zu überspringen. Das galt ebenfalls als verdächtig. Man hatte ihr leider erlauben müssen, das kleine Schulgebäude zu betreten. Die Eltern der anderen Schüler hatten aber darauf bestanden, dass Luz in der hintersten Ecke der Schulbaracke ihren Platz zugewiesen bekam. Separat, weit von einer möglichen Berührung zu den anderen Kindern. Sie lernte spielend. Luz konnte dem Pfarrer, der sie weiterhin privat unterrichtet hatte, später aus dem Wirtschaftsteil einer amerikanischen Zeitung vorlesen. Das blieb ein Geheimnis, da der Neid zusätzlich als treibender Motor gegen das junge Mädchen schwelte. Der Pfarrer hatte letztlich nur zu diesem langweiligen und erniedrigenden Schulbesuch geraten, um ihr einen offiziell gültigen Schulabschluss, als Basis zu weiterführenden Studien zu sichern. Er versicherte ihr immer wieder, dass sie etwas ganz Besonderes sei, etwas ganz besonders Positives, und dass es den Teufel nicht gäbe. Schon gar nicht in einer reinen Seele, wie der ihren.

So war das Erstaunliche geschehen, Luz del Mar kannte keine gedanklichen Schranken, keine Angst, und sie hatte sogar ein normales Selbstbewusstsein entwickelt. Das zeugte, unter diesem negativ auf sie programmierten Umfeld, von besonderer Charakterstärke. Der Pfarrer hatte die Festigkeit, die sie aus sich selbst heraus ausstrahlte, sehr schnell erkannt, er war niemals um ihr Seelenheil besorgt gewesen. Die Mutter hätte ihre Tochter gerne ein wenig abgebremst. Es sei nicht nötig so viel zu lernen, es schickte sich nicht für eine Frau so wissbegierig zu sein. Wo sollte denn, um der Jungfrau Maria Willen, ein Mann gefunden werden, der das tolerierte?

Pfarrer Nestor kam aus einer sehr wohlhabenden Familie. Das war hier niemandem bekannt. Sein Erbe war nicht in den hungrigen Schlund der Kirche gerutscht, denn er hatte dieses Erbe rechtzeitig abgelehnt, und nun verfügte seine Schwester darüber. Wann immer er zusätzlich Geld benötigte, übergab sie es ihm. Seine eigenen Bedürfnisse waren verschwindend gering, er verbrauchte diese Summen niemals für sich privat, sondern setzte sie im Namen der Kirche für soziale Zwecke ein. Er zahlte die Arztrechnungen der Ärmsten, überwies Beträge an Waisenheime, half Witwen mit Kindern, oder er ließ eingestürzte Dächer reparieren. Auch das Schulgebäude verfügte nun über Fensterscheiben. Er wurde nicht als goldenes Kalb mit Ansprüchen überrannt, denn er bekräftigte immer überzeugend, wie schwierig es sei, einen Hilfsfont zu bekommen. Was natürlich nicht zutraf.

Er hatte vor einigen Jahren ein Grundstück weit außerhalb des Dorfes erworben und ein Zweizimmerhaus darauf errichten lassen. Dorthin hatte er sich zur Meditation zurückgezogen, und dort konnte er sich besonders gut konzentrieren. Damals wollte er dieses Grundstück, auf dem sogar einige Bäume standen, in Luz del Mars Namen erwerben. Da sie jedoch noch keine achtzehn Jahre alt gewesen war, ließ er sich im Privatvertrag als Vormund und Verwalter eingetragen. Dieser Wisch war nicht offiziell, doch für alle gültig. In letzter Zeit fuhr der Pfarrer nicht mehr so häufig dorthin, und er hatte seinen Augenstern, la „niña de mis ojos“, wie er Luz manchmal nannte, gebeten, sich um diesen kleinen Besitz zu kümmern. Das tat sie sehr gern, der Sonntag und manche Abende waren der Pflege dieses Ortes gewidmet. Seit Pfarrer Nestor dort kaum noch auftauchte, kam es immer öfter vor, dass Luz del Mar abends nicht bis in ihr Dorf zurückging, sondern das kleine Anwesen zur Nachtruhe aufsuchte. Sie hatte ein King-Size-Bett ergattert und es dorthin geschafft. Eine Camp-Señora hatte das Möbelstück empört abgelehnt, da eine winzige Ecke vom Holzbein abgebrochen war.

Von einem Händler, der die Familien in den Bergen regelmäßig abgraste, ihre handgewebten Decken und Wandbehänge billig erwarb, um sie im Camp für den zehnfachen Preis wieder zu verkaufen, hatte Luz zwei Teppiche und eine Alpakadecke erworben. Unter dieser Decke schlief sie in den selten kühlen Nächten.

So hatte Pfarrer Nestor sich das vorgestellt, sie sollte ihren eigenen Platz haben. Niemals würde sich eine Entfernung zwischen ihnen bilden können. Er zweifelte nicht daran, dass sich irgendwann der passende Mann einfinden würde. Bevor er aus diesem Leben schied, hätte er seine Luz gerne noch getraut und sie diesem Passenden anvertraut.

Nestor drängte Luz, eine „escritura“ zu beantragen, sie sei nun alt genug und berechtigt dazu. Sie winkte lächelnd ab, das sei unwichtig, sie wüsste ja, das Haus gehöre ihr.

Eigentumspapiere gab es selten in dieser Gegend, es wurde von Generation zu Generation vererbt oder allenfalls ein Privatvertrag gemacht, ohne Notar und die Behörden einzuschalten. Nestor blieb hartnäckig, er wollte die Einschreibung ins Grundbuch. Eine leidliche Tatsache bremste jedoch das behördliche Vorhaben im allerersten Anlauf ab. Sein Augenstern besaß keinen Identitätsnachweis. Nicht einmal eine Geburtsurkunde.

Alle Papiere, versicherte ihre Mutter immer wieder, seien damals auf der Reise verloren gegangen. Sie hatte sich nie bemüht das zu regeln. Pfarrer Nestor glaubte zu ahnen, warum es keine Papiere gab. Sicherlich kannte er Begoña nicht unter ihrem richtigen Namen, sicherlich wurde sie von der Polizei gesucht, und sicherlich hatte sie noch die Furcht, wenn ihr oder Luz´Name bei den Behörden auftauchte, nach so vielen Jahren trotzdem gefunden zu werden. Er wartete immer noch, dass sie sich ihm anvertraute. Hatte er dieses Vertrauen etwa nicht verdient?

Er rief sich zur Ordnung, diesen selbstbezogenen Gedanken durfte er nicht zulassen, er wollte sich nicht loben, nie wieder, das war Verrat an seiner Buße.

Luz del Mar besaß einzig und allein, als schriftlichen Beweis ihrer weltlichen Existenz, den Impfpass für Polio, Diphtherie und Tetanus. Außerdem gab es da noch das Zeugnis der Grundschule, mit dem Vermerk, dass sie die ersten vier Klassen mit Bravour absolviert hätte. Die Impfungen hatte der Pfarrer damals durchgesetzt, gegen den Willen der Mutter. Er war mit der Kleinen regelmäßig zu der mobilen Impfstation nach Chilete gefahren. Er besaß die nötige Autorität, seine Angaben wurden nicht bezweifelt. So kam er in den Besitz eines Impfpasses für das Kind, mit Angaben über Name, Geburtsdatum und sogar dem Ort und der Provinz versehen, wo sie das Licht der Welt erblickt haben soll. Diesen Namen hatte ihre Mutter einmal erwähnt, sollte er der Wahrheit entsprechen? Stempel und ihre Unterschriften galten sehr viel, sobald man sich nach draußen in die große Welt wagte. Das bedurfte keiner großen Reise, dazu zählte schon die nächste Küstenstadt. Man benötigte dringend einen gültigen Ausweis für Luz.

Sie hatte diesen Umstand nie wahrgenommen und war jetzt ebenfalls erstaunt, warum hatte ihre Mutter den Verlust der Papiere damals nicht direkt gemeldet? Diese Mutter schwieg zu dem Vorwurf der Tochter. Dann weinte sie.

Pfarrer Nestor wusste Rat. Es wurden Passfotos von Luz angefertigt, und er ließ sie ein paar Formulare unterschreiben, die er sich vorher hatte zuschicken lassen. Er fuhr nach Trujillo und flog von dort aus nach Lima. Er bekam sofort eine Audienz bei seinem einzigen Vorgesetzten des Landes, mit dem er auch befreundet war. Er trug den „Fall Luz del Mar“ vor, bis in alle ihm bekannten Einzelheiten und bat um Unterstützung. Diese wurde ihm zugesagt, mit der Aufforderung, sich um eine Beichte dieser Mutter zu bemühen und bei der Polizei nachzuforschen. Auch dieser hohe Kirchendiener glaubte an ein verschwiegenes Verbrechen. Dazu bat er Nestor eindringlich, doch endlich sein Amt wieder normal anzutreten. Beinahe fünfzehn Jahre tiefste Provinz seien wahrlich genug der Buße. Sein zweiter provisorischer Amtsvertreter, der erste war verstorben, hatte sich gleich darum bemüht, den Umstand nach Rom zu tragen. Er, der Kardinal, würde sich für diesen Saulus sicher nicht einsetzen. Kommen Sie zurück, meinte der Kardinal drängend. Sie sind einer unserer Fähigsten, ich fühle mich zu alt für Rom, eines Tages wird das ihr Feld sein, prophezeite er Nestor. Es ist nicht ausreichend, dass Sie sich zweimal im Monat hier zeigen oder auf Bischofskonferenzen anwesend sind und per Post und Telefon ihre Order und Entscheidungen überbringen, Sie müssen wieder vor Ort residieren. Dreimal fünf Jahre, das ist das Höchste, was ich verantworten kann, das dritte fünfte Jahr ist demnächst um.“

Dazu war Nestor noch nicht bereit, er bat um einen kleinen Aufschub. Wenn die Schuld gesühnt und besiegt ist, ich mir selbst verzeihen und mich endlich um den Schmerz kümmern kann, komme ich zurück, obwohl ich mich eines so hohen Amtes, nach Allem was ich zugelassen habe, trotz Buße, für unwürdig halte, antwortete er.

Der Kardinal entließ ihn kopfschüttelnd. Er war der Einzige, der einen winzigen Teil, nur den ersten Schritt von Nestors „Sünde“ kannte. Bei Weitem nicht die ganze Wahrheit. Und dieser kleine Teil des Wissens darüber, bewog ihn dazu, es als verzeihbaren menschlichen Fehltritt abzutun. Er nannte es sogar einen jugendlichen Fehltritt, obwohl Nestor damals, als ihn das Unheil ergriff, schon leicht ergraute Schläfen vorzuweisen hatte. Er sei wahrlich nicht der Erste und auch nicht der Letzte in diesen Reihen, behauptete der Kardinal, dem solches Versagen, der Bruch des Zölibats, unterlaufen sei.

Zwei Monate später hielt Luz del Mar ihren gültigen Ausweis in Händen und wurde vom Pfarrer zum Fernstudium für die Hochschulreife angemeldet. Sie umarmte den Pfarrer dankbar.

Alles ist zu bewältigen, wenn du am richtigen Hebel sitzt, aber für dein geistiges Gut und dein Gewissen sind alle Hebel der Welt machtlos. Ich wollte Buße tun und leiden. Und was kam dabei auf mich zu? Ich bin königlich beschenkt worden.

Ein Kuss auf ihre Stirn, und er schob sie aus seinem Arbeitszimmer. Zögernd blieb sie im Türrahmen stehen und fragte etwas, was sie sich schon sehr oft selbst gefragt und aus Respekt vor ihm, nie laut ausgesprochen hatte. Warum leitet ein weltgewandter, überqualifizierter Priester deines Alters, mit hohen Beziehungen zum Kardinal, noch immer die Seelensorge einer Horde Wilder in der hintersten Provinz des Landes?

Sie hatte niemals, seit sie ein kleines Mädchen war, Usted oder Hochwürden zu ihm gesagt, wie ihre Mutter es tat, sie duzte ihn und nannte ihn “mi tio Nestor“, mein Onkel.

Hochmut und Stolz fällt auf dich zurück, mein Kind, sie trennen dich von der Wahrheit, vom Sinn des Seins, und, niemand ist überqualifiziert, wenn es um den Dienst an der Menschheit geht. Er betonte langsam, ausdrücklich und in zwei Silben ausgesprochen, das Niemand.

Er fügte hinzu, ich wollte büßen und leiden, bis ich mir selbst verzeihen kann. Dann wurde ich mit einer Tochter beschenkt, mit dir, als hätte Gott mir schon verziehen. Wenn ich manchmal dachte, ich könnte meine Schuld nicht mehr tragen, kamst du angelaufen, fasstest mich an der Hand und zeigtest mir einen Schmetterling, einen besonderen Stein, den du gefunden hattest oder einen Baum, der dein Freund geworden war, dem du einen Namen gegeben hattest. Du fragtest, ob mir der Name gefiele, ob er passend sei für dieses Wesen. Wesen, sagtest du zu einem Baum, und du warst noch keine acht Jahre alt. Du fragtest mich immerzu, alles erweckte deine Aufmerksamkeit und Freude. Als du kleiner warst, hatte der Mond es dir besonders angetan. Kann er wirklich alles sehen, fragtest du, wo ist das zweite Auge und warum zwinkert er niemals? Kann er singen, hat er Verwandte, sind die Sterne seine Kinder? Du hattest stundenlang still da gesessen und nach dem zweiten Auge Ausschau gehalten. Einige Jahre warst du mondsüchtig, sprachst im Schlaf unverständliche Worte und irrtest in der Nacht schlafend in Haus und Garten herum. Ich lernte von dir so viel Wissenswertes, mehr als jemals auf dem Priesterseminar. Ich fühlte mich nicht nur verantwortlich, ich genoss besonders die Nähe deiner kindlichen Weisheit. Ich ließ durch sie eine Art Heilung des Gemüts zu. Auch wenn andere Aufgaben, wie man irrtümlicherweise meint, Wichtigeres, an weit entfernt gelegenen Orten auf mich gewartet haben und immer noch warten, ich hätte dich niemals verlassen können. Mit diesem Gedanken wehte ein Lächeln über Nestors traurigen Gesichtszüge.

Ihrer Meinung nach war er der hilfsbereiteste, selbstloseste Mensch, dem man begegnen konnte. Warum verlangte es ihn nach einer Buße? Von dieser Einrichtung hielt sie nichts, ganz besonders nicht, wenn man sie sich selbst auferlegte.

Buße konnte kein ungerechtes Geschehen in ein gerechtes verwandeln. Sich dadurch Schmerz oder Verzicht zuzuführen war ein Betrug am eigenen Herzen. Luz hielt diese Art von Buße für ein Trostpflaster, unter dem es nur faulen und schwelen konnte. Man musste seinem Fehlverhalten tapfer ins Auge sehen, dazu stehen, sich nicht mit Büßen und selbst auferlegter Strafe herauswinden. Nur dann konnte es einen Fortschritt des eigenen Verständnisses geben, eine Entwicklung, eine Erkenntnis. Denn Erkenntnis beginnt mit Empfindung, das hatte sie durch eigenes Erleben so zu sehen gelernt, und pure Empfindung konnte man somit nur haben, wenn man sie nicht durch Buße fehlleitete, in eine andere Richtung zerrte. Nur, um sich eine unwahre Erleichterung zu erkaufen, eine Erleichterung, die keine wirkliche war, die letzten Endes nur durch Erziehung und die Kirche propagiert wurde. Buße bedeutete für Luz del Mar, Sich-Hingeben ohne sich dem verdienten Kampf zu stellen. Sie nannte die Buße eine weitere Schwäche und sprach von Feigheit.

Pfarrer Nestor war erschüttert von dem, was dieses Kind von sich gab. Woher hatte Luz dieses Wissen, das sie so bestimmt und ohne den Anflug von Überheblichkeit auszusprechen verstand. Er spürte, dass sie Recht hatte, spürte, dass er sich mit dieser Buße selbst belog. Sie ergriff schnell seine Hand, drückte den Handrücken an ihre Wange und sah ihn liebevoll an.

Wie du weißt, neige ich nicht zur Neugier. Ich wünsche mir nur sehnlichst, dass du dich mir eines Tages anvertraust und bitte dich, damit nicht bis zum Sterbebett zu warten. Auch ich möchte dir zur Seite stehen und zwar während du lebst. Vielleicht kann ich dir sogar helfen. Sie bekräftigte ihre Worte mit einem aufmunternden Lächeln und huschte davon.

Das waren unglaubliche, geradezu unerhörte Worte eines jungen Mädchens an einen Priester. Er erlaubte ihr diese Worte, niemand stand ihm so nahe. Er liebte zwar seine Schwester, mit der er ein- oder zweimal im Jahr, zu Weihnachten und in der „Semana Santa“, für wenige Tage zusammentraf, aber diese tiefe Vertrautheit und Verantwortung, die er seiner Pflegetochter gegenüber empfand, war aus einem anderen Stoff gewebt. Eine Seelenverwandtschaft, in der er sich weit unterlegen fühlte. Erholsam weit unterlegen! Er empfand die innere Nähe zu diesem Menschenkind, wie eine lebensspendende Pause. Es war, als ruhe er in ihrer Seele. Eine Insel, auf der sein schmerzhaftes Dasein verblasste. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er sich auf unerlaubten Pfaden bewegte. In seinem Leben, in seiner Stellung, vor allem aber mit seinem Vorhaben, dem Wunsch Gott zu empfinden, durfte er keinen Menschen bevorzugt lieben. Es sei denn, er hätte sich von seiner Berufung entfernt und der Selbstsucht nachgegeben. Personifizierte Liebe hatte unweigerlich mit Selbstsucht zu tun. Darin hatte er sich vor vielen Jahren schon einmal meisterlich verrannt.

Einige Wochen nach diesem Gespräch erkrankte Nestor, er hatte hohes Fieber und starke Atembeschwerden. Sein Facharzt, der extra angereist war, erklärte zuversichtlich, mit Medikamenten und der nötigen Bettruhe könne man das noch einmal in den Griff bekommen. Es war nicht die erste schwere Lungenentzündung, die er bei diesem Patienten diagnostizierte. Er war der Ansicht, dass der Kranke sich diese Lebensumstände und das Klima hier, nicht mehr länger zumuten dürfe. Er riet ihm, sobald er wieder reisefähig sei, sich einige Wochen nach Cajamarca zu begeben, die alten Inkabäder aufzusuchen und sich täglich einige Minuten den Dämpfen der heißen Quellen zu nähern. Weiter unterhalb der Quellen, dort, wo das kochend heiße Wasser in den dafür eingerichteten Innenanlagen der zahlreichen kleinen Hotels aufgefangen wurde und abkühlte, solle er baden, solange es ihm beliebe, das brächte Erleichterung in die Atemwege.

Nach etwa zwei Wochen, als es Nestor erheblich besser ging, fragte er Luz eines Morgens, ob sie immer noch wissen wolle, was sein Herz so belaste. Sie schloss die Tür und setzte sich neben sein Bett. Dann erfuhr sie seine bedenkliche Geschichte:

Nestor hatte vor langer Zeit jemanden kennengelernt, dem er sich verwerflich nahe fühlte. Dieser Jemand war ein Mann, ein Angestellter der einflussreichen Familie seines Schwagers. Es war nicht die Libido, die ihn drängte, er erlag dem verheißungsvollen Ruf der weltlichen Liebe. Schon während des ersten Gesprächs machte sich eine verwirrende Anziehungskraft zwischen den beiden Männern bemerkbar, erst viel später ergab sich eine Liebesbeziehung. Niemand erfuhr von diesem Verhältnis. Darauf hatte Nestor, Kandidat der Bischofswürden, peinlich genau geachtet, mit dem geschärften Sinn und auszuschaltenden Eventualitäten eines Kriminellen, der seine Tat plant.

Sein Geliebter war in bedrohend finanzielle Schwierigkeiten geraten, die Existenz stand auf dem Spiel, und Nestor konnte aushelfen. Der Mann war bedeutend jünger, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Nestor war Mitte vierzig, hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben verliebt und dem Drang, menschliche Liebe zu erfahren, nicht widerstanden. Er fand das schändlich, in jeder Hinsicht, besonders auch wegen der Kinder seines Freundes. Er belud sich mit Schuldgefühlen und folgte trotzdem seinem Verlangen.

Diese heimliche Verbindung dauerte beinahe drei Jahre und wurde niemals entdeckt. Sie liebten sich unter unwürdigen Verhältnissen, an Orten wo niemand sie kannte. In Hotels fremder Städte, in Autos und sogar Parks. Sie machten Schiffsreisen unter falschen Namen, mit getrennten Kabinen, von denen sie nur eine belegten. Nestor hatte Mittel und Wege, die Liste der Mitreisenden vorher zu studieren. Es wäre eine Ironie des Schicksals gewesen, wenn er Bekannte, ebenfalls unter falschen Namen, dort getroffen hätte. Doch niemals trafen sie gemeinsam auf bekannte Gesichter, aber sie waren stets vom Gesetz und der geltenden Moral bedroht.

Die größte Furcht hatte Nestor aber, vor dem Verlust seiner in Gefahr befindlichen, blendenden Karriere. Er war, beinahe seit er denken konnte, ein Diener der Kirche und sollte für die höchsten Ränge vorgeschlagen werden. Er war verzweifelt. Es hatte sich außer der Liebe, ein außergewöhnliches Verständnis zwischen den beiden Männern entwickelt. Eine Trennung war ebenso undenkbar, wie ein Aufrechterhalten der Situation. Die emotionale Verwirrung torpedierte seinen gepriesenen Gleichmut. Er lebte zwischen zwei Stühlen, wie auf zwei Stühlen stehend, mit je einem Bein. Herz oder Verstand. Dazwischen drohte ein unüberschaubarer Abgrund, er fürchtete sich und glaubte sich fern jeder Entscheidungsfreiheit. Außerdem war er nicht allein, es ging nicht nur um ihn, um seine Gefühle oder seine gefährdeten Karriereaussichten. Es gab noch die Familien, die des Geliebten und die seine. Ein Skandal hätte einige Menschen beschädigt und zwar nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht. Aber wäre er allein gewesen, hätte er sich dann anders verhalten als die Katastrophe über ihn polterte? Anders, als er es bedauerlicher Weise getan hatte? Er hatte sich im Reflex taub gestellt, taub wie ein Käfer, der reglos vor Furcht um seinen eigenen Verlust, auf den Rücken gerollt, wie tot liegenbleibt.

Nestors Verlust wäre nicht einmal sein Leben gewesen, wie bei einem Käfer. Kein gieriger spitzer Schnabel hätte ihm die Augen ausgehackt und ihn verschlungen. Nein, ein von Selbstsucht gemästeter Gedanke blitzte hervor und entschied im Reflex die Situation. Eine spontane Entscheidung, aus der er nicht mehr herausfand. Oder herausfinden wollte, weil sie Charakterstärke forderte?

Die unheilbare Wunde wurde damals dadurch eingeläutet, dass Nestor schwer erkrankte. Er hatte sich auf einer gemeinsamen, dreitägigen Schiffsreise eine Bronchitis zugezogen, die sich zu einer schweren Lungenentzündung ausgebreitet hatte, sein ewig schwacher Punkt. Sämtliche Abwehrkräfte waren im Keller, auch die psychischen. Er glaubte damals noch an die direkte Strafe Gottes und dachte sterben zu müssen.

Durch einen Dienstboten, aus dem Haus des Schwagers, erfuhr der junge Mann, auf Grund vorsichtiger, wie beiläufig geführter Nachfragen, dass sein Geliebter im Sterben läge. Er hätte mit seinem Anliegen, Nestor besuchen zu wollen, keinen Einlass in die Gemächer des Schwerkranken erwirkt. Außerdem bestand die Gefahr, ihn dadurch zu kompromittieren. Also verfiel der Mann in seiner Panik, ausgelöst durch den Gedanken eines drohenden Todes, auf keine bessere Idee als die unsinnige, sich als Klempner auszugeben.

Er gelangte in das Haus, das er ein wenig durch Nestors Beschreibungen kannte und fand auf abenteuerliche Weise ins obere Stockwerk ins Schlafgemach. Der Kranke war bei Besinnung. Freude erhellte seine müden Augen. Doch dann zog sich sehr schnell die Besorgnis darüber, die Furcht vor dem Entdecken der Wahrheit. Obwohl ihm der nahe Tod bewusst war, fegte die Wichtigkeit seiner kirchlichen Würde mit der gefährdeten Stellung durch die Freude. Als seien er und sein Versagen unsterblich, und er müsse den Imageverlust und das befürchtete Verlassen der greifbaren, glänzenden Spitze mit in die Hölle nehmen. Dieser Gedanke war schlimmer als die Hölle.

Der gefährliche, geliebte Besuch erregte ihn so sehr, dass er einen Hustenanfall mit blutigem Auswurf nicht zu verhindern vermochte. Lautes Getöse. Der Geliebte nahm ein Kissen zur Hand, beugte sich über Nestor, um ihm zur Erleichterung das Kissen in den Rücken zu schieben und küsste ihm vorher liebevoll die Stirn. Dieser letzte Kuss sollte Nestor lange in Erinnerung bleiben.

Als seine Schlafzimmertür eilig aufgestoßen wurde, eine Krankenschwester, der Arzt und ein Hausangestellter in den Raum gestürmt kamen, schwebte das geliebte Gesicht immer noch über ihm, mit dem Kissen in der Hand. Man überwältigte den erschrockenen Kissen-Mann sofort. Zu dritt stürzten sie sich auf ihn und schafften ihn mit Tritten und Schüben schnellstens aus dem Raum. Andere Hausangestellte kamen zur Hilfe. Nestor erhaschte noch einen letzten flehentlichen Blick seines Liebsten. Der Arzt blieb und gab ihm eine Spritze.

Da sich in diesem Raum ein Tresor befand, der mit Dingen, von erheblichem Wert gefüllt war, allen Menschen im Haus war das bekannt, und da der Mann verdächtiges Werkzeug bei sich getragen hatte, wurde er unter Verdacht des geplanten Mordes und Raubes von der Polizei abgeführt. Man unterstellte ihm, er hätte sein Opfer mit dem Kissen zu ersticken vorgehabt, als gerade die Helfer, welche wenig später als vertrauenswürdige Zeugen willkommen geheißen wurden, hereinstürmten. Niemanden wäre je etwas anderes in den Sinn gekommen. Nestor war über jeden Verdacht erhaben. Er schwieg. Sein Liebster schwieg ebenfalls und wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Nestor verfolgte den Prozess und erfuhr die Verurteilung nicht nur aus der Zeitung. Alle gratulierten ihm. Er wurde gesund, und er schwieg weiterhin. Dann nahm er seine Arbeit wieder auf, die ihm allem Anschein nach, was ihm Tag und Nacht Übelkeit verursachte, mehr bedeutete als das Leben eines geliebten Menschen. Er stand kurz vor den Toren des Bischofsamtes. Das Judasmal rumorte in ihm, fraß an seinen Seelenwänden. Nach drei endlos lang erscheinenden Monaten entschloss er sich zu einem Besuch im Gefängnis. Dort teilte man ihm mit, der Bösewicht hätte sich in der vergangenen Nacht in seiner Zelle erhängt und übergab ihm einen von der Zensur geöffneten Brief, an ihn adressiert.

„Am Ende zählt nur die Liebe“ stand dort. Niemand von der Zensur hatte mit diesen Worten eines verrückten Kriminellen etwas anfangen können. Nestor litt höllisch. Doch die Tragik fand kein Ende, der tote, schweigsame Freund hatte nicht vollends geschwiegen, sondern seiner Frau, die ihn regelmäßig besucht hatte, in einem zweiten Brief ein Geständnis hinterlassen. Und zwar, seine Liebe zu einem Mann und das seit Jahren bestehende homosexuelle Verhältnis. Den Namen dieses Mannes hatte er nicht erwähnt.

Diese Wahrheit bin ich dir schuldig, hatte er geschrieben, ich wollte dir niemals Schmerz zufügen, obwohl ich weiß, dass ich es nun tue. Mit diesem Geständnis, das mir leider nicht eher gelungen ist, hoffe ich wenigstens zu erreichen, dass du dich leichter emotionell von mir lösen kannst, mich vielleicht hassen kannst, um eine neue Liebe zu finden. Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, ich habe dich, so unglaubwürdig es jetzt für dich klingen mag, immer geliebt und geachtet, aber du hast mehr verdient als das, was ich dir geben konnte.

Er sei lebensunfähig und es bliebe ihm nur noch dieser einzige letzte Weg. Mit einigen Zeilen für die Kinder und dem Bedauern ihnen wehtun zu müssen, hatte er den Brief beendet. Er hatte seine Frau allerdings nicht von dem Schuldspruch der Welt und des Richters befreit. Zu der Annahme, dass er ein Dieb war und sein Opfer töten wollte, war nun noch die Homosexualität beigefügt. Das war mehr als diese Frau zu tragen bereit war.

Nestor erfuhr von diesem Brief erst, als man ihm berichtete, dass die Frau eine Woche nach dem Tod ihres Mannes, tot aufgefunden worden war. Der Brief war von der Polizei entdeckt worden. Warum hatte sie diesen unnötigen Brief nicht einfach vernichtet, war Nestors erster Gedanke gewesen, und es war der letzte unpassende Gedanke in seinem Leben.

Die frische Witwe hatte sich und ihre beiden Kinder, in ihrem Schmerz und Wahn, vergiftet. Sie hatte ihre Ehre und die der Familie somit wieder herzustellen geglaubt. Ehre und Schande, zwei Begriffe, die sich in ihren Kreisen in beängstigender Nähe, untrennbar gegenüberstanden, sie hatten ihr als Spitze der Orientierung gedient. Es galt, das Eine nach Außen ersichtlich zu verteidigen und das Andere, für dasselbe Außen, nicht sichtbar werden zu lassen. Dafür war es, im Fall der verzweifelten Frau, zu spät gewesen. Sie fürchtete für sich und ihre Kinder den gesellschaftlichen Untergang mehr als ihren weltlichen.

Für das Mädchen und die Mutter kam jede Hilfe zu spät, der Junge hatte überlebt, er hatte sich mehrmals erbrochen und war rechtzeitig aufgefunden worden. Natürlich kümmerte Nestor sich im Namen der Kirche um diesen Jungen, den er nie zu Gesicht bekommen hatte. Zumindest nicht bis heute. Es waren großzügige Überweisungen an die Großeltern des Jungen getätigt worden. Spätere Gelder, für ein Studium der Rechte, wurden ebenfalls über einige Schleichwege von privaten Konten der Nestor-Familie abgebucht. Den Frieden konnte Nestor sich damit nicht erkaufen. Er hatte sich für die Buße entschieden.

Nun verstehst du es, mein Kind, flüsterte Nestor müde, egal was ich noch versuche zu bereinigen auf dieser Welt, es wird niemals genug sein. Es gibt keine Sühne für mein Vergehen, wer sollte mir auch verzeihen, wenn ich es selber nicht kann. Ich habe die mir gestellte Probe Gottes, du nennst es Schicksal, nicht bestanden.

Luz del Mar hatte schweigend zugehört. Sie hätte sich hierzu niemals ein Urteil erlaubt und hatte auch nicht das Verlangen zu urteilen. Da gab es nichts hinzuzufügen, sie dankte ihm für das Vertrauen in sie.

Es gibt einen Menschen, den du um Verzeihung bitten solltest, sagte sie, und du weißt es. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, das zu tun? Dieser Jemand ist längst alt genug, um dich anzuhören. Ich hoffe es hilft dir, etwas ausgesprochen zu haben, was schwer in Worte zu fassen ist und das wie Blei auf deiner Seele lastet. Als empfindsamer Mensch kannst du nicht endlos nur den ganzen Müll der Anderen tragen. Auch deine eigene Schmutzecke musste mal gelüftet werden. Sie lächelte kaum merklich und richtete seine Kissen.

Luz del Mar war glücklich, sie lebte voller Wissensdrang, arbeitete, sang und lernte, und jeden Tag freute sie sich über hundert kleine und einige große Gefühle. Das war ungerecht, es gab so unendlich viele Menschen, die immerzu im Unglück lebten. Warum ging es ihr so gut, womit hatte sie das verdient? Hatte es mit der Entfernung zu den meisten ihrer Mitmenschen zu tun, mit dem Abstand, den sie zu ihnen hatte? Abstand zu deren Meinungen, Gefühle und Sorgen. Barg das Unglück der Anderen etwa eine Ansteckungsgefahr?

Obwohl, in Nestor nistete ja auch noch das Unglück, auch wenn es uralt war, es lebte. Sie fühlte echte Anteilnahme, es bekümmerte sie, aber es verdunkelte nicht ihr Gemüt, es machte sie nicht unglücklich. Wenn sie sah, wie ein Kind gestolpert war und sich das Knie verletzt hatte, konnte sie es liebevoll in den Arm nehmen und die Schotterkrümel vom Knie pusten. Das war eine neue Erfahrung für Luz, denn die ausländischen Camp-Kinder ließen sich von ihr anfassen, sie schreckten nicht vor ihr zurück oder liefen panisch davon.

Sie hoffte bald wieder ins Camp gehen zu können, trotz der Sorge um Nestor, vermisste sie den Tagesablauf dort. Sogar der Ingeniero fehlte ihr und seine ungeschickte Art, mit der er sich bemühte seine Zuneigung zu verbergen. Irgendwie hatte die Sache ihren Reiz, sie barg etwas Amüsantes, auch Rührendes. Sie war bisher in ihrem Leben selten auf Sympathien gestoßen, eigentlich war sie dankbar für diese Zuneigung, aber darüber konnte sie nicht den Verstand verlieren. Der Ingeniero begegnete ihr immer noch mit zurückhaltender Begierde. Dieses Anliegen war durchschaubar, es hatte nichts Verlogenes an sich, es störte Luz nicht, denn er blieb entgegenkommend und freundlich, niemals war er aufdringlich. Sie fand ihn nett, er gefiel ihr, kein Vergleich mit den staubigen Männern jeglichen Alters ihres Dorfes, die mit gieriger Dumpfheit nach ihrem Hintern schielten, und wenn sie sich umdrehte, eilig die Blickrichtung änderten. Señor Karl änderte nie die Blickrichtung.

Da Luz oft von Karl berichtete, hatte Nestor sich interessiert bei ihr erkundigt, ob sie ein Liebesverhältnis mit diesem Gringo aus dem Camp wünsche. Das hatte sie energisch abgelehnt. Sie könne sich mit niemanden ein Liebesverhältnis vorstellen, das verlange eine enge Körperlichkeit und ein Öffnen des Herzens zu einem vorerst fremden Menschen. Für sie, undenkbar! Sie glaube auch, dass ein körperliches Hingeben und das zwangsläufig damit verbundene Gebären von Kindern, nach ihrem Verlangen und Verständnis des Seins, ein großes Hindernis sei. Sich entwickeln und mit aller Umsicht diese schrittweise Entwicklung auch leben zu können, bedürfe einer großen Freiheit, die man sicher nicht habe, wenn man sich verliebe und sein Leben dem Hormonhaushalt in die Hand spiele und einem Stall voller Kinder.

Luz del Mar zog es vor, sich an die große universelle Liebe heranzutasten anstatt an einen Mann. Wenn sie selbstvergessen in einem ausgehöhlten Baumstamm hockte, glaubte sie, der Sache nahe zu sein. Dieser Einstieg in das Glücksgefühl reichte ihr, mehr brauchte sie nicht, mehr wollte sie nicht. Sich in einen Menschen verkriechen, in seinen Gefühlen stöbern, in sein Leben eindringen, um sich in ihm zu verlieren, das fand sie abscheulich, danach sehnte sie sich kein bisschen. Alle Mädchen ihres Alters ersehnten nur das. Und den materiellen Wohlstand.

Karl hätte mit Diamanten beladen, auf wunden Knien, täglich um sie herumrutschen können, ein Liebesgefühl für ihn, wäre damit nicht ins leben gerufen worden.

Diese beiden weltbewegenden Sehnsüchte, Geld und Liebe, hatten Luz del Mar noch nicht berührt. Sie fühlte nach all diesen Monaten, beinahe einem Jahr, eine Art Zärtlichkeit Karl gegenüber, ähnlich einer liebgewordenen Verantwortung für ein Stallkaninchen. Sein Wohlergehen lag in ihrem Aufgabenbereich. Er wirkte verloren, überladen mit Wichtigkeit, die sie nicht wichtig fand. Zwanghaft, sein Bedürfnis nach gebügelter Kleidung, penible Ansprüche der Tischordnung, punktuelle Essenszeiten, alles in Menschenzeit gefesselt. Für sie war er ein einsamer Mann, ein netter Mann, aber er tat ihr leid. Vielleicht auch, weil er sie eine Spur zu verlangend ansah.

So konnte man ihr Empfinden für Señor Karl beschreiben, und allein daraus erwuchs ihre freundliche Zuwendung für ihn.

Im Galopp durchs Nadelöhr

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