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Das Lehrer Ehepaar

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Luz del Mar war zurück im Camp. Sie hatte ihren Abstand zu Karl deutlich verringert, vielleicht wegen seiner Besuche im Pfarrhaus, vielleicht wegen ihrer langen Abwesenheit? Vielleicht hatte auch sie ihn vermisst? Karl wusste es nicht, das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Mit atemberaubendem Glücksgefühl saß er an ihrer Seite am Steuer seines Pickup und sprühte zusätzlich vor Unternehmungslust und Hoffnung auf ein Erleben mit ihr. Er wollte ihr ein unvergesslich schönes Wochenende bieten. Schon alleine, dass sie zugestimmt hatte, mit ihm ans Meer zu fahren, bedeutete, dass sie seine Anwesenheit nicht mehr fürchtete. Hatte sie ihn denn je gefürchtet? Nein, das war es eigentlich nicht, aber seine Geilheit hatte die Nähe zu ihr verhindert. Er hatte sich vorgenommen, sich damit in Zukunft besser im Zaum zu halten. Zumindest bis Luz sich ihm von selbst offenbarte und den Wunsch der körperlichen Nähe zu ihm, klar und deutlich äußern würde.

Er würde nicht mehr um sie herumschleichen und nach möglichen Andeutungen lungern oder aus einem Lächeln eine Bereitschaft zum Sex deuten. Die Vorstellung seiner geplanten Zurückhaltung verringerte um keinen Grad sein Glücksgefühl, er fuhr nicht, er schwebte über die holperige Landstraße Richtung Pazifik. Sein Glück resultierte nicht allein aus ihrer Anwesenheit, es wurde zusätzlich durch das starke Empfinden genährt, dass sie ihm endlich vertraute.

Er wollte sie zum Singen animieren, ihren geheimnisvollen Liedern lauschen, auch wenn das Rauschen des Zugwindes störend wirken würde. Alle Fenster waren geöffnet. Karl kannte wenige Lieder, Musik war nicht sein Ding. So sang er plötzlich ein Kinderlied. Er sang nicht schön, aber wenigstens gelangen ihm die richtigen Tonlagen. Luz del Mar sah ihn mit großen Augen von der Seite an und stimmte in sein Lied ein. Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein… sangen sie gemeinsam. Sie sang das Lied fehlerfrei, nicht nur die Melodie, sondern auch den deutschen Text. Luz del Mar verstummte erstaunt nach Ende des Liedes.

Karl war ebenfalls erstaunt. Woher kennst du den deutschen Text? Warst du schon mal in der Camp-Schule und hast dort die Kleinsten dieses Lied singen hören? Trotzdem, unglaublich, dass du den ganzen Text behalten hast.

Sie wusste nichts von einer Camp-Schule. Es war in mir drin, sagte sie, ich habe es nie zuvor gehört.

Sie bewältigten wie im Flug die lange Fahrt durch die Hitze, gelangten an den berühmten Highway, die Panamericana, und bogen wenige Kilometer südlich hinter Pacasmayo in einen kleinen Seitenweg und erreichten den weiten, staubigen Sandstrand. Leergefegt. Kein Touristen-Babel, keine gemütliche Bar, kein Restaurant, nicht einmal ein Baum als Schattenspender. Karl war enttäuscht, er stand zum ersten Mal am Pazifik und wollte das Strandleben genießen. Mit eisgekühlten Longdrinks, leckeren gegrillten Meeresfrüchten, mit Luz del Mar. Und wenn sie leicht betrunken wäre, würde er sie in seinen Armen halten, sie beschützen. Die Wasserperlen auf ihrer Haut, er würde sie einzeln herunterküssen, schlucken und für ewig ihren Geschmack auf der Zunge spüren. Und all das, im sanften Licht des herannahenden Sonnenuntergangs. Karl war durstig.

Am wolkenlosen Himmel hatten sich kleine Windhosen gebildet, eine nach der anderen fegte über den menschenleeren staubigen Strand. Mit ihnen, eine ungeheure Menge an raschelndem und klapperndem Müll, der gegen das Auto polterte. Leere Cola- und Bierdosen waren die Eroberer dieses Strandes, in ihrem Flug begleitet, von unzähligen Plastiktüten. Wo kam dieser, von Menschen produzierte Unrat her, ohne eine Menschenseele zu erblicken.

Luz del Mar zeigte sich weniger geschockt, sie holte eine große Flasche Wasser aus ihrer Tasche und reichte sie Karl, der immer noch staunend hinter seinem Steuerrad klemmte. Er trank einige Schlucke des lauwarmen Wassers und machte seine Tür auf, der Wind riss sie ihm aus der Hand. Das Berg- und Wüstenmädchen hatte sogar einen Badeanzug, den trug sie unter ihren Jeans. Hatte er geglaubt, dass sie im Baströckchen schwimmen ging? Er bemerkte nicht die kleinste Spur von Sonnenbräune auf ihrer hellen Haut. Sie zog sich ein langärmeliges, weites T-Shirt über den Badeanzug, nun war alles wieder verdeckt. Hatte er sie zu auffällig angestarrt?

Sie erklärte ihm, dass sie schon nach wenigen Minuten dieser starken Strahlung einen Sonnenbrand bekäme. Deshalb das Shirt. Ein rotes Tuch hatte sie wie einen Turban um ihren Kopf geschlungen und das Haar verdeckt. Dann warf sie sich in die salzig trüben Fluten.

Schade, dachte Karl, er hätte sie so gerne mit nassem Haar aus dem Meer steigen sehen. Karl entblößte seine stolze Brust, befreite sich von einigen Plastiklappen, die sich im Wasser an ihn geheftet hatten und schwamm verkrampft neben ihr her. Jetzt erst überrumpelte ihn die Idee an Haie, er fragte sie danach. Sie lachte, ja, Katzenhaie, klein und mager und weniger gefährlich, außerdem seien sie normalerweise nur weit draußen anzutreffen. Karl schwamm mit Furcht unter seinem Bauch, parallel zum Ufer, nicht weit hinaus ins Meer. Dieses Schwimmvergnügen war ihm nicht geheuer, er fürchtete die Begegnung mit unbekannten Meeresbewohnern.

Das war ungewöhnlich für Karl, normalerweise scheute er die Herausforderungen nicht, er liebte Taten, mit denen er sich als Held vor einer Frau brüsten konnte. Und wenn sie noch so unbedeutend waren, die Taten. Nein, das war nicht Karl. Doch dann rutschte der Turban von ihrem Haar, schwappte über das unruhige niedrige Wellenspiel und entfernte sich schnell.

Karl besiegte seine Bedenken und hechtete weiter hinaus als ihm lieb war. Mit wilden Kraulschlägen, von Gischt umwogt, stob er dem Tuch, das weit hinaus geflattert war und nun im Begriff war zu versinken, hinterher. Es war verschwunden bevor er es erreicht hatte. Er tauchte nach dem Tuch, mit offenen Augen, griff nach dem roten Lappen und sah im selben Moment ein riesiges schwarzes Etwas auf sich zuschwimmen. Karl schnellte an die Wasseroberfläche und schrie. Er ließ das Tuch los und schwamm so schnell es ihm in der Panik möglich war zurück.

Luz del Mar stand schon, nur noch bis zum Nabel im Wasser und winkte ihm fröhlich zu. Er packte sie und rannte durch das wild aufspritzende Nass zurück, Richtung Strand.

Ein Hai, schrie er atemlos, als er wieder festen Grund unter den Füssen hatte, ein riesiger Hai! Karl stotterte und war erblasst vor Schreck, er bemerkte, dass er mehr Angst um sie gehabt hatte als um sich selbst. Das bemerkte er nur dadurch, weil er froh war, dass ihm zuerst dieses Ungeheuer vor die Augen gekommen war und nicht ihr. Mein Gott, was hätte da passieren können, sie war bestimmt keine gute Schwimmerin. Karl hielt immer noch ihre Hand und zitterte im heißen Wind, in der gnadenlosen Hitze.

Das schwarze Etwas war ihnen gefolgt, es hatte riesige Flossen, mit denen es an den Strand watschelte, eine Harpune in der einen Hand und in der anderen das rote Tuch. Dann zog es seine Taucherbrille ab, schüttelte sein kinnlanges Haar und entschuldigte sich, da sein plötzliches Auftauchen offensichtlich der Auslöser für die Panik des Mannes gewesen sei. Luz del Mar lachte. Ein entzückendes Lachen. Der Taucher überreichte ihr das Tuch mit einer übertriebenen Verbeugung.

Karl war sauer. Es gab tausende Kilometer Strand an dieser Küste, wahrlich genug Platz, wo dieser Mann aus dem Wasser hätte steigen können. Musste es unbedingt vor seiner Nase sein. Dazu stand ihm das Bild eines Traummannes gegenüber. Ein Adonis, Herkules und Odysseus in einer Person. Eine fesche Strähne fiel in sein schönes, ausdrucksvolles Gesicht. Braungebrannt und voller Abenteuerlust und Stärke, furchtlos aus dem Hai verseuchten Meer entstiegen.

Karl fühlte sich wie ein leer geschüttelter Mehlsack. Diese Muskeln von dem Kerl, das musste nicht sein und diese lange Mähne. Ein Spät-Hippie, versuchte Karl abfällig zu denken. Adonis stellte sich vor, er hieß Marlon Krüger und war Deutscher. Auch das noch, dachte Karl schlechtgelaunt und bemerkte, dass Luz del Mar und dieser Marlon eine sekundenschnelle Augenverbindung miteinander aufgenommen hatten. Das missfiel ihm gewaltig. Sie gaben sich die Hand und eine Freundschaft schien besiegelt. Karl sah seine Felle davonschwimmen.

Natürlich sprach Marlon spanisch, natürlich sprach er besser spanisch als Karl, und natürlich ging er neben Luz vor ihm her, als seien diese beiden gemeinsam an den Strand gefahren, und Karl, der Fremde, trottete hinterher. Karl hatte sich, seit er in den Strudel des Selbstbetrachtungskultes geraten war, das Recht erteilt, zu den attraktiven Männern dieser Welt zu gehören. Schon alleine durch seine Körpergröße. Attraktiv und gutaussehend, fand er sich. Auch wenn er sich genauer besehen, nur knapp der mittleren Kerbe dieser unzuverlässigen Skala näherte. In Gegenwart dieses Tauchers schrumpfte die Selbsteinschätzung seines Äußeren in die Kategorie einer Kellerassel. Klein, grau und flüchtend.

Dieser Mann sah umwerfend aus, er bewegte sich umwerfend, lachte umwerfend, sprach mit einer umwerfend schönen Stimme. Ekelerregend umwerfend, fand Karl, und hinter seinem mit Intelligenz gepaartem Charme, lauerte eine Einzigartigkeit, die jede Frau zu Fall bringen musste. Luz del Mars Lächeln flatterte ihm ohne Zögern entgegen. Weit hinaus aus Karls Reichweite. Er lauschte unwillig dem Gespräch der Beiden. Dieser Mann schwappte wie eine gewaltige, sanft und gewinnend auftretende Übermacht in Karls Träume. Karl kapitulierte, bevor er auch nur einen einzigen Satz mit Marlon gewechselt hatte. Der hatte die Führung übergangslos übernommen. Luz schien ohne Zweifel gewillt zu sein, ihm zu folgen, egal wie lange er noch über den glutheißen Sand gegen die Heißluftböen anschreiten würde. Ja, er schritt, während sie ihn anmutig tänzelnd begleitete.

Karl hüpfte dagegen wie eine Bachstelze hinter den beiden her, seine Fußsohlen brannten, er fühlte sich klebrig und ausgetrocknet. Es sammelten sich nur wenige Tropfen Spucke unter seiner Zunge und die waren salzig. Salzig und verdorrt, wie ein Stockfisch an einem Haken auf dem Marktstand, aufgespießt. So fühlte sich Karl, während ihr bezauberndes Lachen vor ihm her gluckste. Hinter einem struppigen Buschwerk hatte dieser aufgeblasene Taucher seinen Rucksack liegen, dort hielt er endlich an. Wie kann man nur so einfältig sein, hier zu tauchen, keine Felsen, alles flach und langweilig. Karl versuchte verzweifelt diesen Mann abzuwerten.

Neben dem Rucksack lagen einige Aluminiumstangen und eine eingerollte Plane mit Schlaufen, als Schattenspender und Windschutz zugeschnitten. Während dieser Marlon mit Luz del Mar plauderte, sah er sie beinahe ununterbrochen an. Er baute den Schattenspender sozusagen blind auf, mit links. Er rammte die Metallstangen sehr tief in den Sand, als seien es Stricknadeln und hatte in wenigen Minuten, in der dem Wind abgewandten Seite, einen schattigen Ruheplatz gebastelt.

Luz del Mar zog ihr noch feuchtes T-Shirt aus und setzte sich zu dem wildfremden Mann in den Schatten. Sie lächelte zu Karl, der noch stand, hinauf und schlug leicht mit der flachen Hand neben sich. Karl plumpste wie ein gehorsamer Köter neben sie und schwieg. Dann rauschte aus der Ferne seine Rettung heran.

Zuerst sah man nur eine ungeheure Staubwolke und wenige Minuten später ihren Verursacher. Ein schnell fahrendes Auto zog dieses breite Staubband hinter sich her und stoppte oberhalb des Schattenplatzes auf dem Weg. Eine junge, sehr attraktive Frau stieg aus, winkte, lachte, kam mit einem Kleinkind auf dem Arm durch den heißen Sand balanciert und schlüpfte unter das Schattendach. Der Deutsche stellte seine Familie vor, Helen seine Frau und Regina das Kind. Karl atmete auf und begann sich am Gespräch zu beteiligen. Luz del Mar hatte sich inzwischen beide Fußrücken verbrannt, was alle Anwesenden, bei einer Peruanerin, für sehr ungewöhnlich hielten.

Deine Melanin Produktion stimmt nicht, sagte die Frau in gebrochenem Spanisch und reichte ihr eine Creme, die man bei Sonnenschäden auftragen sollte. Karl riss ihr eilig die Tube aus der Hand und salbte hingebungsvoll und vorsichtig die geröteten Fußrücken seiner Angebeteten ein. So kam er in etwa auf seine Kosten. Sie ließ ihn gewähren. Karl war ihr vertraut und sie wollte ihn, mit der Abweisung ihre Füße zu berühren, vor den Anderen nicht bloßstellen. Marlon holte einen Korb, gefüllt mit Schlemmereien, die seine Frau, nachdem sie ihn hier vor etwa zwei Stunden abgesetzt hatte, in der Stadt besorgt hatte. Er schaffte einen mit der Autobatterie betriebenen Kühlkasten heran und zauberte kalte Getränke hervor, Früchte, Snacks und eine Flasche mit kaltem Kakao gefüllt. Keine gegrillten Meeresfrüchte. Niemand sehnte sich nach einem Grillfeuer. Auch Karl nicht mehr.

Er hatte gehofft ein Hotel zu benötigen, vielleicht mit Luz del Mar in den Sonntag hinein zu feiern, um das Wiedersehen zu zelebrieren. Ein kurzer Traumgedanke. Seine Kraft und Wünsche gingen unter, sie versanken unter dem Charme dieser beiden Menschen, mit denen Luz del Mar, seine schüchterne kleine Luz, sich so offen und unkompliziert unterhielt.

Eine halbe Stunde nach dem Kennenlernen des Tauchers stellte sich heraus, dass er kein Filmschauspieler war, sondern Lehrer. Im Auftrag einer deutschen Firma leitete er eine Schule für Kinder in einem Bau-Camp. Ein Staudamm-Projekt, knapp zwei Stunden von hier entfernt, am Jeque de Peque, sagte der Lehrer fröhlich.

Nach dem ersten Erstaunen wurde die Frage laut, warum man sich nicht schon früher begegnet war. Karl meinte, dass kinderlose Junggesellen die Lehrer einer örtlichen Schule meist nicht zu Gesicht bekommen. Das hatte er in Spanisch gesagt.

Damit lade ich Sie herzlich ein, an meinem Spanisch Kurs für Erwachsene teilzunehmen, nach langem Hin und Her von der Camp-Leitung, genehmigt, meinte Marlon an Karl gewandt. Ich hoffe, Sie bringen die Zeit dafür auf.

Warum wurde Luz del Mar von dem Kerl geduzt und ihn, Karl, sprach er mit Sie an. In Deutsch. Außerdem missfiel Karl der plumpe Hinweis auf seine mangelhafte Grammatik im Spanischen, das war unsensibel, äußerst unpassend. Karl tat sich schwer mit den verschiedenen Vergangenheiten, aber das war sein eigenes Problem und nicht das eines Wildfremden. Besonders mit dem Subjunktiv lag er im Streit.

Marlon meldete sich zu Wort. Man hat gestern nicht, keine Kartoffeln gegessen, sondern man aß sie gestern nicht. Heute hat man keine gegessen und morgen würde man sie nicht, nicht gegessen haben, sondern, dass man sie nicht äße, sei gewiss. Was fiel dem Taucher ein, hier den Boss zu spielen.

Karl überhörte lächelnd das Angebot der Sprachhilfe und antwortete, den Lehrer nicht eher kennengelernt zu haben, würde er verkraften, aber dass er diese bezaubernde Frau nicht früher zu Gesicht bekommen habe, das bedaure er zutiefst. Er wies schmunzelnd auf die Gattin des Lehrers.

Seine Tochter sei erst sechzehn Monate alt, überging der Ehemann das Kompliment an seine Frau und berichtete stolz, dass sein Kind ungewöhnlich aufmerksam sei für dieses Alter.

Und natürlich beherrschte dein Sprössling Altgriechisch und Latein in Wort und Schrift, bevor der erste Zahn durchbrach, sagte Karl mit ernster Miene. Er hatte die Kapitulation zurückgezogen. Instinktiv bediente er sich der zweiten Person Singular. Um nicht ins Abseits geschoben zu werden, um den gleichen Abstand wie Luz zu ihm zu haben?

Alle verstummten, dann brach ein allgemeines Gelächter los. Die Platzhirsche hatten sich beruhigt. Sie fuhren am frühen Nachmittag gemeinsam zurück und Luz bereitete später in Karls Haus ein peruanisches Abendessen für alle.

In der Nacht fuhr Karl seine Luz zum ersten Mal nach Hause, nicht ins Pfarrhaus, sondern in ihr kleines Reich, außerhalb des Dorfes.

Es war ein wunderschöner Tag, danke, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Buenas noches, Karl.

Von dieser ersten Begegnung an trafen sich die beiden Frauen täglich. Marlons Frau Helen und ihre neue peruanische Freundin Luz del Mar wurden eine Einheit. Luz folgte schon lange nicht mehr dem wohlgemeinten, kurzsichtigen Rat ihrer Mutter. Dem Rat, den Blick zu senken, wenn ihr jemand begegnete, gehörte der Vergangenheit an. Karl war irritiert über ihre plötzliche Aufgeschlossenheit, um die er so lange gebuhlt hatte.

Luz del Mar ließ ein ihr bisher unbekanntes Gefühl keimen, das Gefühl der Freundschaft. Ein Liebesempfinden zu Helen gesellte sich dazu, diese Mischung ließ sie fliegen. Ein neuer Lebensabschnitt wurde eingeläutet. Das Camp hatte ihr bisher nur Positives beschert. Obwohl, eigentlich war es ja das Meer gewesen, das ihr speziell dieses Geschenk an den Strand gespült hatte. Sie dachte auch an Marlon.

Der Pfarrer hatte sich damals der Option, sein Juwel in einem der Camp-Häuser zu wissen, ablehnend gegenüber geäußert. Wollte sie sich erniedrigen, als Putzfrau? Außerdem hatte sie es finanziell nicht nötig. Ihr Ersatzvater versorgte sie mit einem großzügigen Taschengeld.

Nun war das Camp zum wichtigsten Teil ihres Lebens avanciert, und seit sie dem Lehrerehepaar nahestand und von Marlon jeden Nachmittag Deutschunterricht erhielt, war Karl erheblich ins Abseits geraten. So fühlte er sich zumindest. Luz war total besetzt, und wie er nun auch zu erkennen glaubte, besessen von dieser neuen Freundschaft. Allerdings wog das für ihn nicht so schwer, als dass es seine Gefühle für sie hätte erschüttern können. Was Luz selbst erstaunt bemerkte, war kein Nachteil, keine Veränderung ihrer selbst, sondern die Erkenntnis, wie schnell und tief Freundschaft in ein Herz rutschen konnte. Eingenistet, einen enormen Platz beanspruchend, als hätte diese Freundschaft schon ewig bestanden. War ihr Herz denn vorher leer gewesen?

Nein, nicht leer, sie hatte doch Bäume geliebt, Gerüche, den Regen, den Himmel. Aber es war ein anderes Glück, nicht jenes, das sie erfüllte, seit sie zusätzlich diese beiden Menschen liebte, auch so ganz anders als die Zuneigung zum Pfarrer, zu Karl oder ihrer Mutter. Karl wurde automatisch, bei diesen Überlegungen über Freundschaft, Liebe und Pflicht in die Nähe des Pfarrers platziert.

Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie wirklich für dieses deutsche Ehepaar empfand. War das vielleicht die wahre, die einzige Liebe, das, worüber sie so viel gelesen hatte. Nicht nur aus Romanen wusste sie davon, auch von Philosophen, Psychologen und sogar von Denkern, die der Liebe auf spirituellem Weg zu Leibe rückten. Letztlich hatte sie nicht nur der Pfarrer in seine Liebe zu Gott eingeweiht. Aber sie hatte das alles nur gelesen oder erzählt bekommen. Die personenbezogene Liebe in Eigenregie, war bisher ein unbeschriebenes Kapitel in ihrem Leben gewesen. So glaubte sie nun, Marlon und Helen zu lieben, ohne sagen zu können, wen von beiden sie bevorzugte. Sie bevorzugte gar nichts, wollte nichts haben, nichts wegnehmen oder zerstören, sie wollte nur lieben.

Vielleicht war es das, was Karl als Besessenheit diagnostizierte und was neu an ihr war. Sie hatte auch erkannt, dass eine kleine Portion Autismus nicht schaden kann, sogar nötig sei, wenn man bemüht ist, in seinem Leben den Inspirationen den Weg freizuhalten. Daraus konnte eine ungeheure Stärke erwachsen, das wusste Luz zu schätzen, damit war sie aufgewachsen. Doch ein von außen erzwungenes Einsiedlertum, empfand sie jetzt erst, im Nachhinein, als schmerzhaft. Eigentlich schädlich für einen jungen Menschen. Für jeden Menschen.

Ihre überhebliche Einbildung, ohne die Anderen auskommen zu können, empfand sie plötzlich als Unfreiheit. War diese Überheblichkeit einer Trotzreaktion erwachsen, ein Schutz gegen die frühere Ablehnung der Menschen ihr gegenüber? Oder aus dem Bedürfnis heraus, frei sein zu wollen? Freiheit bedeutete ihr alles. Wobei sie der Freiheit die primitive Definition untergeschoben hatte, nur daraus zu bestehen, tun und lassen zu können, was einem gerade in den Sinn kam und wann man es wollte. Doch nun spürte Luz ganz deutlich, dass es eher umgekehrt sein musste, dass die Freiheit vielleicht in der Erkenntnis bestand, ohne die oder den Anderen nicht vollständig zu sein, es nicht sein zu können, ohne ein Gegenüber. Ein Sein, das man Glücklich-Sein nannte.

Die kleine Regina war kein Krabbelkind mehr, sie hatte schon zu laufen begonnen und stolperte ihr begeistert entgegen, wenn sie nachmittags für einige Stunden im Lehrerhaus auftauchte. Auch abends, nachdem sie ihre Pflichten bei Karl erledigt hatte, zog es Luz oft dorthin, sie blieb dann dort, bis der Lehrer sie nach Hause fuhr. Etwas, was Karl ebenfalls missbilligte. Er hatte ewig dazu benötigt, nicht gewagt sie nach Hause zu fahren, und dieser Kerl tat es vom ersten Tag an, als hätte er das Recht dazu. Das war sein, Karls Recht und sein Verlangen, das ihm da aus der Hand zu rutschen drohte. Er hatte zu viel auf der Baustelle zu tun, und dieser Marlon verfügte über lange freie Nachmittage ohne Schüler, hatte Zeit für Luz. Leider weit mehr als Karl für sie aufbringen konnte.

Luz begann auch das Kind lieb zu gewinnen, obwohl sie sich weit entfernt von einem eigenen Kinderwunsch wähnte. Manchmal nach dem Abendessen bot Karl an, sie ins Lehrerhaus zu begleiten. Er heuchelte echtes Interesse an einer gemütlichen Zusammenkunft, dabei drehte er geduldige Runden in der Warteschleife. Seine Überlegungen machten ihn nicht nervös, er hatte nur die von ihm empfundenen Tatsachen abgesteckt und wollte sie im Blick behalten, sich zur Ruhe mahnen. Sein Gesicht bewahren?

War ihm sein Gesicht in dieser Sache nicht schon längst verloren gegangen? Er pfiff darauf. Seine Ansprüche an ihre Liebe lebten unausgesprochen in ihm, erfüllten ihn, stolperten aber in eine neue Realität hinein, die er nicht akzeptieren wollte, aber auch keinen Gegenzug wagte. Er war nicht kampfbereit, er liebte zu sehr, um an Luz zerren zu wollen, damit riskierte er, einem weiteren Abstand entgegenzusteuern. Karl wusste, was er wollte, und er hatte das sichere Gefühl, dass Luz das von sich selbst nicht wusste. Er würde sie unbemerkt, liebevoll leiten müssen und für sich gewinnen. Eifersucht auf den Lehrer? Lächerlich! Er versuchte dieses lästige Empfinden zu verbannen. Ein Schutzbedürfnis hatte sich in ihm breitgemacht, etwas ganz Neues für Karl.

Er und Marlon spielten sogar Tennis zusammen, auf einem notdürftig errichteten Tennisplatz mit einer Betonoberfläche. Dort zog sich Karl später, in seinem Eifer dabei zu sein, einen kleinen Meniskusschaden zu. Er hatte nie zuvor auf Beton gespielt und niemals zuvor, so erschien es ihm, mit solchem Einsatz, als ginge es um sein Leben. Er war vorerst tadellos in Form, denn die beiden ausschlaggebenden Frauen waren oft zugegen, und Karl gefiel es, dass sie seine Überlegenheit bemerkten und ihm Applaus spendeten. Es war wie ein kleiner Zuckerguss in dem Wermutsnapf, den er vor sich zu haben glaubte.

Karl verlor sich allerdings nicht mehr in der Gefallsucht, so wie früher, als diese Sucht ihn wie sein Lebensinhalt erfüllt und beherrscht hatte. Wie ein Insekt im Spinnennetz hatte er sich verhalten, festgezurrt, fern der Freiheit und jeglichem Ausweg. Er hatte sich aus dieser Falle befreit, hatte das Netz der Gefallsucht verletzt und war ihm entschlüpft. Und er hatte ihren hartnäckigen Begleiter, die Ignoranz, weitgehend abgeschüttelt. Karl hatte sich auch fest vorgenommen, sein gewohnheitsmäßiges Konkurrenzgehabe loszuwerden, den Ehrgeiz, mit der zwanghaften Neigung, kompetenter sein zu wollen als sein Gegenüber, zu drosseln. Er hatte bemerkt, dass er sich durch diese hartnäckige Unart, den Zugang zu den Genüssen der Gegenwart versperrte. Soweit seine beachtenswerte Erkenntnis.

Meine Frau, dachte Karl irrigerweise, wenn er Luz dort an der kleinen Bar mit Helen sitzen sah und sie das Tennismatch verfolgte. Ganz in seiner Nähe, neben dem dürftig eingerichteten Swimmingpool für die Camp-Bewohner.

Und wenn ein ganzes Lehrerseminar sich über Luz stülpen würde, Wellenreiter, Taucher oder Tangotänzer, er würde an ihrer Seite ausharren.

Tangotänzer waren die Allerletzten, vor denen er sich fürchtete. Diese Gockel und ihr albernes Schreiten, steif, abgehackt und geöltes Haar. Er fürchtete sich ja gar nicht, er würde sie allesamt vorbeiziehen lassen, die Ruhe bewahren, die Stürme überstehen und mit seiner Wärme im Herzen, wie ein unbeschädigtes, rettendes Floß an ihrer Seite nebenher schlingern. Sie würde ihn irgendwann bemerken. Bemerken, dass ihn eine unsterbliche Liebe ergriffen hat und dass dieser Schatz ihr gehörte.

Es hatten sich schon Situationen ergeben, bei denen Luz die Annahme eines Außenstehenden, er sei ihr Ehemann, hätte dementieren können. Das hatte sie nicht getan, war das ein unausgesprochenes Einverständnis?

Gefällt Ihrer Frau die Jacke, die sie für sie gekauft haben? Das wurde er einmal in ihrem Beisein gefragt. Sie rief nicht, halt stopp, ich bin nicht seine Frau. Sie lächelte nur. Beim Juwelier ließ sie ihre Armbanduhr reparieren und hörte, wie die Verkäuferin mit Karl sprach, als sei er ein guter Kunde.

Gefällt Ihrer Frau die Kette, mit dem wunderschönen Opal Arrangement, das Sie letzte Woche gekauft haben?

Luz del Mar sagte nichts, als hätte sie es nicht gehört, trotzdem war sie ein wenig erstaunt. Welche Kette, welche Jacke, welche Frau? Hat Karl etwa eine heimliche Geliebte, und ich weiß nichts davon, dachte sie schmunzelnd.

Karl hatte sich angewöhnt, jedesmal wenn er in der Stadt war, ein Geschenk für Luz zu besorgen. Es machte ihm Spaß, und er liebte den Gedanken, sie tragen zu sehen, was er sich für sie ausgedacht hatte. Meist handelte es sich um Schmuck oder Kleidungsstücke, auch um Sandalen, Kopfbedeckung oder um einige Bücher, von denen er glaubte, es könnte sie interessieren. Er kaufte leidenschaftlich gern für sie ein. Nichts davon war preiswert, somit hatte er doch ein kleines Unwesen aus der Vergangenheit in seine neue Welt hinein gerettet. Karl hatte ihr noch nicht ein einziges dieser Geschenke überreicht. Sie ruhten versteckt im abgeschlossenen Teil seines Kleiderschranks und begannen sich zu türmen, der Schlüssel dazu lag im Pickup.

Seit der Begegnung am Strand, die eine deutliche Doppelspur in Luz del Mars Leben gezogen hatte, waren Monate vergangen. Sie hatte sich immer eine Familie nur vorstellen können, war niemals einem wirklichen Familienleben näher gerückt, da sie keinen Zugang zu einer Familie gehabt hatte. Nun erlebte sie, dass es etwas Wünschenswertes war, etwas, was ihre Vorstellung überbot. Eine Zusammengehörigkeit, zu der man sich selbst entschlossen hatte. Eine Verbindung, die aus Liebe erwuchs, nicht aus verpflichtender Blutverbindung. Eine Liebe, die Kinder produzierte.

Sie nahm nun zwar hautnah an einem glücklichen Familienleben teil, hätte sie aber Zutritt zu den Familien der Dörfler gehabt, wäre ihr Eindruck anders gewesen. Die weitverbreitete, üblichere Art, eine Familie zu haben, hätte sie auf die Gegenseite ihrer Meinung geschleudert und den frischen Glauben an die Liebesbasis in einer Familie zerstört. Meist durch existenzielle Nöte verursachter Zank und Streit, Alkoholmissbrauch und ewige Schwangerschaften, begleitet von bitterstem Verzicht auf das Minimum an Glück. Daraus bestand der größte Teil jener Familien, die der Pfarrer betreute. Luz glaubte an das ausschließliche Honigschlecken eines Familienlebens. Sie sprach sogar mit Karl darüber, der hüstelte überrascht.

Wir können es gerne miteinander versuchen, meinte er auffordernd lächelnd. Sie eilte schon weiter, schwärmte vom Lehrer. Wie geduldig und klug er sei, wie charmant und naturverbunden, gebildet, und wie gut er außerdem aussähe, und dass er fünf Sprachen beherrsche. Die Schulkinder seien alle verrückt nach ihm, er sei ein fabelhafter Pädagoge, genoss große Sympathien, auch bei den Müttern.

Es nahm kein Ende, Karl konnte es nicht mehr hören. Marlon, dieser Protz und Tennisstümper. Einst hatte ihn ihre Stimme verzaubert, jetzt litt er, da sie nur noch von diesem Lehrer oder seiner Frau sprach. Karl fragte, ob sie Interesse hätte mit ihm auf die Baustelle zu fahren, ihn einmal zu begleiten, er hätte heute Abend Nachtdienst, leider eine Neureglung, um dem Bauverzug entgegen zu wirken. Er würde sie gerne mitnehmen und alles zeigen, sie in seine Arbeit einweihen.

Diese neuerdings geforderten Nachtschichten brachten Karls Konzept durcheinander, er war kaum zu Hause, und sie hockte seiner Meinung nach, viel zu oft bei den Lehrers, wie er seine beiden Camp-Nachbarn in leicht spöttischem Ton nannte.

Nein, sie wollte nicht mit ihm auf die Baustelle fahren, nicht heute Abend. Da Helen am nächsten Tag nach Lima reisen würde, müsse sie noch einige Anweisungen entgegen nehmen, um das Kind während ihrer Abwesenheit zu versorgen. Helen wollte ihre Mutter am Flughafen abholen und für zwei Tage und Nächte abwesend sein. Und nun hörte Karl das Unglaubliche, Luz del Mar sollte dann im Lehrerhaus übernachten, um für das Kind besser sorgen zu können.

Und für den Lehrer, brummte Karl finster vor sich hin. Er war empört, dass sie schon zugesagt hatte, ohne mit ihm vorher darüber zu reden. Oder nein, eigentlich war er mehr enttäuscht als empört.

Ich erledige natürlich beides, dein Haus und das Baby. Hatte sie schnell gesagt. Neuerdings sprach sie Deutsch mit ihm. Er mochte ihre Art sich seiner Muttersprache zu bedienen, einer ihr fremden Sprache, die sie sich so schnell und mit täglichem Eifer einverleibt hatte. Hatte dieser Eifer vielleicht doch mit ihm zu tun, wollte sie sich ihm auf diese Weise nähern? Das war sein kurzer, von letzter Illusion gespeister Gedanke.

Ihm widerstrebte die Tatsache, dass diese rapiden Fortschritte unbestritten dem Lehrer zu verdanken waren. Sie las dem Kind die Kinderbücher vor, und neuerdings wagte sie sich auch an die deutschen Zeitschriften, die veraltet im Camp eintrafen. Das Verstehen des journalistischen Stils, die stets kompliziertere Version der sensationellen Berichterstattung, der oft versteckte Sarkasmus, all das konnte sie nicht recht entziffern, obwohl sie das Vokabular schon zum großen Teil beherrschte. Oft las sie das Gegenteil von dem heraus, was der Artikel vermitteln sollte. Denn sie sprach mit Helen oder Marlon immer über das Gelesene, um sicher zu sein, dass sie es richtig übersetzt hatte. Sie konnte die Texte perfekt lesen, ihre Aussprache war beeindruckend, als hätte ihre Zunge ein Leben lang dieser Sprache gedient.

Am Anfang hatte sie auch Karl deutsche Texte vorgelesen, das hatte sie leider aufgegeben. Sie spurtete nach getaner Arbeit stets hinüber in das Lehrerhaus. Wo war ihr Stolz geblieben, fragte sich Karl. Sie konnte sich doch nicht ständig dort aufdrängen, sich hinein klemmen in die kleine Familie.

Aber das tat Luz del Mar nicht. Beide, Helen und Marlon, hatten sie liebend gerne um sich, sie forderten sie sogar auf, bei ihnen zu wohnen. Das war betörend für Luz, sie war dort kein bisschen überflüssig, sie gehörte dazu und wurde geliebt. Diese Verbindung, ihre Anwesenheit und die des Ehepaares, empfand sie nach diesen wenigen Monaten schon als Einheit. Wo war ihr Freiheitsdrang geblieben! Luz del Mar wurde von der berühmten Blindheit gestreift, blind vor Liebe und betört von dem Geruch einer intakten Familie. Sie befürchtete keine Komplikationen. Dann flog Helen nach Lima.

Sie war mit Marlon zum ersten Mal allein. Das Kind schlief und sie saßen auf der Terrasse. Ein Windlicht flackerte seine unruhigen Muster gegen den mit Bambus verkleideten Sichtschutz der Außenterrasse. Sie tranken Wodka mit viel Zitronensaft auf Eis.

Luz del Mar trank zögernd, sie hatte selten Alkohol zu sich genommen. Die Stimmung, in Verbindung mit dem Drink, machte sie komplett transparent. Er warb um sie. Er umarmte sie. Er küsste sie. Ihr erster Kuss, sie sank dahin. Doch nur bis zur Gürtellinie, dann sprang Luz auf, eilte ins Kinderzimmer und verriegelte die Tür.

Sei nicht albern, komm da raus, du kannst mir vertrauen, niemals würde ich dich zu etwas überreden, ich mache nichts, was du nicht auch möchtest. Seine Stirn war gegen die Kinderzimmertür seiner kleinen Tochter gepresst, er pochte behutsam gegen die Barriere zwischen ihnen. Sie antwortete nicht.

Marlon sandte steinerweichende Wortschübe durch das Schlüsselloch, seine erheblich gedämpfte schöne Stimme zog ihre Hand, wie an einer unsichtbaren Leine zum Türriegel. Doch dann blitzte plötzlich ein weniger zauberhafter Gedanke auf und dämpfte die Hormonausschüttung. Ein Riegel, von innen an einer Kinderzimmertür? Wer hatte diesen idiotischen Riegel hier angebracht. Sie würde ihn morgen sofort abschrauben. Dieser ernüchternde Gedanke verhalf ihr zu einer Antwort, die sie, dem immer noch vor der Tür kauernden Marlon, durch das dünne Furnierholz presste.

Wir sind doch keine Tiere, Marlon, flüsterte sie, wir sind in der glücklichen Lage unseren Verstand benutzen zu können, wir müssen nicht blind unserem körperlichen Verlangen folgen. Ich hoffe du bist da meiner Meinung. Mehr ist es doch nicht, selbst wenn es mehr sein sollte, worüber ich mir nicht klar bin, würde ich mich trotzdem nicht auf diese Weise mit dir verbinden können und wollen, es würde Helen schaden, deine Familie erschüttern. Das ist mir die Sache nicht wert, ich liebe Helen und will sie nicht betrügen oder ein Drama hervorrufen, nur um meinem hungrigen Körper Befriedigung zu verschaffen.

Sie sprach sanft und deutlich und mit erheblich gedämpfter Erregung. Einige Brocken Spanisch hatten sich dazwischen gedrängt. Luz del Mar hatte diese wenig jungfräuliche kurze Rede gehalten, obwohl sie noch Jungfrau war.

Der ernüchterte Marlon brummelte, Bullshit, komm raus und schlafe im Gästezimmer. Er entfernte sich von der Tür, schlich Richtung Terrasse. Lange saß er noch dort draußen, lauschte den letzten Geräuschen dieses Tages im Camp, sie waren in ihrem allnächtlichen Abebben schwach genug geworden, um von außen die Töne der Wildnis zu ihm herein zu lassen. Er lächelte plötzlich und murmelte, dieses Mädchen ist großartig. Er war in Gedanken mit seiner Frau im Gespräch.

Luz del Mar indessen, lag in Embryostellung, mit dem kleinen Kinderkörper vor ihren Bauch gerollt, in dem mittelgroßen Gitterbett. Sie hatte sich niemals, seit sie denken konnte einem Wesen so nah gefühlt, wie in diesen Momenten dem Kind Regina, das, wie zu ihrem Leib gehörend, mit dem Rücken an sie geschmiegt an ihren Bauch gekuschelt neben ihr schlief. Wie ein Zwillingspaar im Mutterleib, sie fühlte sich als Zwilling. Ein großer und ein kleiner Zwilling, dachte Luz erstaunt.

Diese Momente, kurz vor dem Einschlafen, rutschten in den Traum hinein, in dem sie ein wirkliches Zwillingskind war und von ihrem Zwillingsbruder ein zu großes Stück Schokolade in ihren kleinen Mund geschoben bekam. Sie waren beide in diesem Wachtraum etwa drei Jahre alt, und ihr Sabbel der Begeisterung tropfte auf ein hellblaues Spitzenkleid. Sie hob beide Händchen hoch, ebenfalls mit Schokolade verkleistert, reckte sie in die Höhe einem Mann entgegen, der ihr sehr vertraut war. Dieser lachte sie zärtlich an und zog ihr eine Haarsträhne aus dem mit Schokolade gefüllten Mäulchen. Nun kam leider ihre Mutter Begoña herangeeilt, wischte ihr den Mund sauber, putzte ihr die Nase, und während Luz feste schnauben sollte, wachte sie auf und hatte den Rotz neben sich kleben, auf dem äußersten Zipfel des Kopfkissens in Reginas Gitterbettchen.

Leider, dachte Luz, leider, leider, leider! Sie hätte so gerne noch etwas mehr von der Zärtlichkeit dieses Mannes gespürt. Sie war überzeugt, es muss ihr Vater gewesen sein. Hatte sie eine Erinnerung im Traum, war es nur ein Traum oder ein wertvollstes Nur ihre Erinnerung, das sich ihr offenbart hatte? Sein Gesicht, je wacher sie wurde, verschwamm in ihrer Vorstellung, schneller als sie es halten konnte. Sie versuchte den Mann und seine Gesichtszüge im Wachzustand wiederzufinden. Es gelang ihr nicht. Sie suchte und zerrte an ihrer Erinnerung, schloss die Augen und atmete tief, liebend gern hätte sie dieses Glücksgefühl, den Vater und den Jungen bei sich zu haben, zurückgeholt. Hatte sie etwa einen Bruder? Es hatte sich so richtig angefühlt, dieses Kuscheln an das Kind hier in dem Bettchen, das kannte sie doch?

Sie weinte, ohne dabei traurig zu sein, es war mehr ein Weinen der Erleichterung mit gleichzeitigem Verzicht gemischt. Ein Verzicht, der sie ihr Leben lang schon begleitete, sie war an ihn gewöhnt. Kein Schmerz, den sie benennen konnte.

In dieser Nacht war sie fest entschlossen, ihre Mutter zu genaueren Angaben über ihren Vater zu zwingen. Sie hatte sogar das Bedürfnis, ihrer Mutter zu drohen, etwas sehr ungewöhnliches für Luz. Hatte sie nicht ein Recht darauf, zu wissen, wer sie war und ob sie vielleicht sogar einen Bruder gehabt hatte, der wahrscheinlich auch ums Leben gekommen ist? Sie fühlte plötzlich so stark diesen Bruder in sich.

War sie nicht mehr ganz bei Sinnen, sich an einem Traum zu orientieren? Sie musste schnellstens wissen, was wirklich passiert war, bevor diese Unwissenheit ihr Leben in den Griff bekam und es verdüstern würde.

Wenn du mir nicht erzählst, wer mein Vater war und was euch wirklich auseinander gerissen hat, dann…. ja dann…! Womit konnte sie ihrer Mutter drohen? Sie wusste es, und sie würde diese Drohung aussprechen.

Noch konnte Luz nicht ahnen, dass ihre Mutter, auf Grund dieser Drohung, erkranken und sie außerdem nur mit einem Teil der Wahrheit konfrontieren würde, verwoben mit einer großen Unwahrheit. Und, dass sie wenig später, wegen dieser Aussagen, bei der Entschlüsselung ihrer Vergangenheit, lange Zeit in die falsche Richtung galoppieren würde. Ein Riss in ihrem Dasein.

Doch vorerst wurde Luz von diesen Ereignissen noch verschont, sie genoss den Beginn einer Liebe, die mit Marlons Werbung in ihre Startlöcher gehuscht war.

Das war ihre erste Nacht im Haus des Lehrers, am zweiten Abend kam Karl dazu. Er kam angehechtet und ohrfeigte den Lehrer noch im Lauf. Jemand hatte, wie es sich für ein echtes Camp-Mitglied gehört, am Abend zuvor des Pädagogen Liebeserklärung und Annäherungen an Luz belauscht und dieses Gut am nächsten Tag, Karl zugetragen. Mit Schadenfreude gewürzt.

Karl nahm, nachdem er für ein rot geschwollenes Lehrerohr gesorgt hatte, seine Luz del Mar bei der Hand, er riss sie einfach aus dieser Situation heraus und befahl ihr ins Auto zu steigen. Sie protestierte nicht, und er brachte seine Herzallerliebste wohlbehalten nach Hause, nicht in ihr einsam gelegenes Häuschen außerhalb des Dorfes, sondern ins Pfarrhaus. Dorthin würde dieser Wüstling ihr nicht folgen. Karl sprach unterwegs kein Wort. Sie sagte ebenfalls nichts, war aber weit weniger bedrückt als er. Sie wirkte fast fröhlich.

Am nächsten Tag war Helen zurück, mit ihrer Mutter im Schlepptau. Sobald sich die erste Gelegenheit dazu bot, zog Luz del Mar ihre Freundin zur Seite und beichtete Küsse und heftige Umarmungen.

Ich weiß, Marlon hat mir davon berichtet, auch dass der prüde Karl ihn geohrfeigt hätte. Helen lachte. Ich kann es Marlon nicht übelnehmen, dich zu lieben, Luz, sagte sie mit glänzenden Augen, ich liebe dich ja auch.

Damit nahm sie Luz del Mar in den Arm und küsste sie leidenschaftlich. Bis Marlon ins Zimmer trat und gespielt hüstelte. Nun waren sie wirklich zu Dritt, wobei sich allerdings sehr bald herausstellte, dass die Leidenschaft immer nur paarweise gelebt werden konnte. Ihre sexuellen Zuneigungen versiegten in Lachsalven, sobald sich alle Drei gleichzeitig zu diesem Spiel trafen. Zu dritt genossen sie alles Erdenkliche was ein Tagesablauf bereithielt, nur nicht das Liebesspiel. Das spielte sich innig und aufregend nur zwischen jeweils zwei Partnern ab und ebenfalls niemals mit Luz im Elternschlafzimmer, sondern ausschließlich im Gästezimmer, in dem Luz nun auch teilweise nächtigte. Manchmal unterlag dies der Kombination, Luz und Helen und manchmal, Luz und Marlon. Der Lehrer und seine Frau vereinigten sich, wenn es sie danach verlangte, ohne Luz im king size bed des ehelichen Schlafzimmers. Diese Version ergab sich, in den Anfängen des Luz del Mar Eintritts in das Liebesleben der Krügers, eher selten. Luz war der Joker und meist am Einsatz beteiligt. Dann saßen währenddessen, jeweils der Lehrer oder seine Gattin auf der Terrasse und blickten geduldig in den klaren Sternenhimmel. Doch diese abwechselnden Lustgewinne wurden erst ins Haus des Lehrers gehoben, als die Schwiegermutter wieder abgereist war. Zunächst einmal war sie gerade erst angekommen und Marlon musste sich vorübergehend mit hektisch gestohlenen Küssen begnügen. Diese übergestülpte Zurückhaltung galt nur für Marlon, Helen hatte mehr Gelegenheit für die Bekanntmachung der Zungen auf ihren Körpern. Sie konnte tagsüber, ohne Verdacht zu erregen, in Karls Haus schlüpfen und ihre Freundin besuchen.

Pfarrer Nestor hatte die unwiderrufliche Order erhalten, noch vor Ablauf des Jahres, wieder von der Bischofsresidenz aus zur Verfügung zu stehen. Dieser Order konnte er sich nicht entziehen, ohne sich die größten Probleme einzuhandeln. Eigentlich sah er seine Mission als fast beendet an, wenn sie ihm auch nicht auf jedem Gebiet gelungen war.

Luz war jahrelang erfolgreich von ihm unterrichtet worden, später mit begleitenden Fernkursen und den anschließend staatlichen Prüfungen, die sie alle mit gutem Abschluss bestanden hatte. Nun sollte sie ihrem größten Wunsch, Archäologin zu werden, noch näher rücken. Nestor wollte bei der Wahl der Universität beratend wirken, wobei ihm Lima vorschwebte. Das war nicht ganz ohne Eigennutz, denn dadurch würde sie vorerst noch in seiner Nähe bleiben. Sie sollte seiner Ansicht nach auch viel reisen und eventuell einige Semester im Ausland verbringen. Nestor hatte keine Zweifel, ihre innige Verbindung zueinander würde niemals verblassen. Was mit Begoña geschehen sollte, war noch nicht entschieden, doch auch das würde sich ergeben. Seine Mission, in der hintersten Provinz, eilte also ihrem Ende entgegen.

Nun sollte Luz die Patin dieses deutschen Kindes werden. Sie hatte Nestor von der wenig konventionellen Freundschaft zu dem Elternpaar erzählt. Sogar, dass sie verwirrt sei, da sie beide gleich liebe. Ihm stand kein Urteil über gleichgeschlechtliche Liebe zu, er hatte auch kein Bedürfnis darüber zu urteilen.

Und was geschieht nun mit Señor Karl, hatte er nur gefragt. Den liebe ich auch, irgendwie, meinte Luz unsicher, aber das ist etwas anders.

Sie liebte anscheinend das ganze Camp, besonders die Menschen mit hellen Augen. Es wurde allerhöchste Zeit, dass sie mit diesem Unsinn aufhörte und auch nicht mehr die Häuser anderer Leute putzte, sondern an die Universität kam und sich wieder ihren eigentlichen Talenten widmete. Dieses Camp hatte sie lange genug davon abgehalten.

Der Zustand ihrer Mutter verschlechterte sich dramatisch. Sie war seit Luz´ Drohung von der Angst besessen, ihre Tochter könne sie verlassen, sie zurücklassen, um dem Pfarrer in die Großstadt zu folgen, was ja auch dem Plan entsprach. Doch nicht so bald, versuchte man sie zu beruhigen, erst im nächsten Oktober, und natürlich ließe man sie niemals allein zurück.

Es war nur eine Drohung gewesen, aus der Not heraus, Luz hatte sich damit einige Angaben zu ihrem verstorbenen Vater erhofft, und sie nicht bekommen. Sobald sie dieses Thema nun anschlug, und wenn es noch so vorsichtig geschah, kam Panik auf. Der Zustand ihrer Mutter verschlechterte sich bedrohlich, sie faselte von Blut, Feuer und Toten und von einem toten Baby. Ihre Worte ergaben für Luz keinen Sinn, sie musste einen lichten Moment abwarten. Nach dem letzten Gespräch mit ihrer Mutter, verirrte sich die Erkrankte für mehrere Tage in beängstigenden Erinnerungen, sie versank darin so tief, dass sie nicht mehr ansprechbar war. Der Pfarrer schlug vor, sie in ein privates Sanatorium für Geisteskranke zu bringen, da wäre wenigstens ständig ärztliche Versorgung gewährleistet. Doch davon hielt Luz del Mar zunächst gar nichts, sie fühlte sich schuldig und glaubte, durch ihre Fragen diese Ängste ausgelöst zu haben. Schließlich musste man die Verwirrte doch für einige Tage zur Untersuchung in ein Sanatorium bringen. Der Facharzt sprach von einem schweren Trauma, das sie in dem aktuellen Zustand nicht in den Griff bekommen könnten. Man könne sie im Moment nur mit Medikamenten beruhigen. Es ginge um außergewöhnlich heftige Verlustängste, die vermutlich durch einen Schock an die Oberfläche gekommen seien, es hätte mit der Tochter zu tun. Genaueres könne er noch nicht beurteilen, das alles sei nur eine Vermutung, auf Grund der Fantastereien, die sie in geistiger Umnachtung deutlich zum Ausdruck brächte. Sie blieb weitere zwei Wochen dort und kam dann zurück ins Pfarrhaus, ihr Zustand hatte sich nicht verbessert. Man riet zu einer permanenten Einweisung.

Die kleine Regina wurde getauft, mit Pomp und weißen Spitzen, einem Festmahl und wenigen aber netten Gästen. Luz liebte auch das Kind. Sie war nun Tante, zweifache Geliebte und begehrte verwehrte Geliebte Karls. Drei Menschen liebten sie also, heiß und innig. Dazu der Pfarrer väterlich und ihre Mutter, die sich mit beiden Händen an Luz festkrallte, wann immer sie ihre Tochter zu sehen bekam.

Luz war beinahe glücklich. Die Sorge um ihre Mutter und deren krankhafte Blockade die Vergangenheit zu lüften, um von ihrem verstorbenen Ehemann zu erzählen, war der Schatten in diesem jugendlich unbeschwerten Glück. Die Unwissenheit begann sich aufzublähen, an manchen Tagen rumorte sie beinahe schmerzhaft in Luz.

Im Galopp durchs Nadelöhr

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