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2 BERGE

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Als vor rund 4,3 Milliarden Jahren der wabernde Brei aus geschmolzenem Gestein, der die junge Erde bildete, an der Oberfläche zu einer Kruste aushärtete, erhielt unser Planet seine erste Landdecke. Während diese Kruste über der brodelnden Lava wie die Haut auf einem Pudding abkühlte, zog sie sich zusammen und schob sich übereinander, sodass einige Teile höher und dicker wurden als andere – so entstanden die ersten Berge.

Doch die Erde kommt niemals zur Ruhe. Dieser feste Grund, dieses scheinbar beständige Land verschiebt sich unmerklich. Im Lauf der Milliarden Jahre hat der blubbernde Pudding im Innern des Planeten mit seinen Verwirbelungen die Erdkruste zerrissen oder ihre vielen Inseln aneinanderprallen lassen, sodass sich riesige Kontinente bildeten. Mehrere dieser Superkontinente haben sich verbunden und wieder getrennt, wobei jedes Mal ein völlig neu gestalteter Planet entstand. Der jüngste und bekannteste von ihnen ist Pangaea („All-Erde“), der sich vor 300 Millionen Jahren bildete, bevor er wieder auseinanderbrach. Jedes Mal, wenn die wandernden Platten der Erdkruste gegeneinanderprallen, schiebt sich eine Kante über die andere und ein Berg entsteht. Driften die Platten wieder auseinander, glätten sich die Falten und die Berge sinken tiefer. Demzufolge streben einige Gebirge des Planeten, zum Beispiel der immer noch wachsende Himalaja, in die Höhe, während andere auf dem Abstieg sind.

Berge können auch plötzlich entstehen. Schuld daran ist der Vulkanismus, der Prozess, der die ursprünglichen Landmassen hervorgebracht hat. Von Zeit zu Zeit schießt eine Salve geschmolzenen Gesteins aus einem Riss zwischen den Platten, türmt sich an Land oder am Meeresgrund auf und wird zu einem neuen Berg. Auf diese Weise sind der Kilimandscharo in Tansania und der Kinabalu auf Borneo entstanden.

Junge Gebirge sind zunächst scharfkantig und zackig wie der Himalaja, doch wenn die Oberflächen mit der Zeit erodieren, runden sie sich ab. Gletscherschmelze und Flüsse lassen sie allmählich zerbröckeln, oder es kommt zu plötzlichen Erdrutschen. Auch unter dem Einfluss von Luft, Wind, Sonne, nagenden Mikroorganismen und Regen „verwittert“ das Gebirgsgestein. Bei diesem Prozess wird Kohlendioxid aus der Luft gebunden, das mit gelösten Mineralen im Gestein reagiert.

Berge sind ungewöhnlich, weil sie jeweils mehrere Klimazonen aufweisen. Um unterschiedliche Temperaturen oder Wettersysteme zu erleben, muss man normalerweise Hunderte von Kilometern nach Norden oder Süden reisen, aber am Berg können bereits hundert Meter aufwärts oder abwärts einen ähnlichen Effekt haben. Die Luftmoleküle in unserer Atmosphäre sind nicht gleichmäßig verteilt – in der Schicht nahe über dem Erdboden sind sie sehr viel dichter gepackt. Je höher man steigt, desto dünner wird die Luft und desto weniger Moleküle sind in der Luft, die die Sonnenwärme reflektieren. Darum wird es mit zunehmender Höhe kälter. Aus diesem Grunde sind Berggipfel – selbst am Äquator, wie der des Mount Kenya – mit Schnee und Eis bedeckt. Erstrecken sich hohe Berge über eine weite Fläche, wie in der Antarktis, kann der gesamte Gebirgszug unter einer dicken Schnee- und Eisschicht verborgen sein.

Diese klimatischen Unterschiede führen zu interessanten inselgleichen Ökosystemen; so finden sich manche Arten nur in einer spezifischen Höhe auf bestimmten Bergen, wo sie seit Jahrtausenden isoliert von ihren Verwandten existieren.

Aus der relativen Kälte auf einem Berg speist sich zudem die weltweit größte Quelle an Süßwasser. Mit Feuchtigkeit gesättigte Luft kondensiert am Gipfel und lädt ihre Last als Regen oder Schnee ab. Und eine Menge davon bleibt, wo sie sich ansammelt, versteckt im Berg. Um sich die Relationen zu vergegenwärtigen: 97,5 Prozent des irdischen Wassers sind Meeroder salziges Grundwasser; vom Rest stecken nur 0,01 Prozent in Wolken und Regen, 0,08 Prozent in sämtlichen Seen, Flüssen und Auen sowie 0,75 Prozent im Grundwasser, während 1,66 Prozent in Gletschern und Schneedecken gebunden sind. Das bedeutet, dass Gletscher als Reservoir für gut die Hälfte des irdischen Süßwassers dienen.

So zumindest war es im Holozän. Doch weil die Menschen im Anthropozän den Planeten aufheizen, erleben die Berge einen dramatischen Wandel. Wegen der Erderwärmung klettern Arten auf der Suche nach ihrer gewohnten Umgebungstemperatur um durchschnittlich 12 Meter in 10 Jahren die Berghänge hinauf. Pro 0,5 °C Temperaturanstieg müssen sie schätzungsweise um 100 Meter bergauf wandern.1 Für Tiere ist das natürlich einfacher als für Pflanzen, aber auch diese bewegen sich – so sind europäische Gefäßpflanzen in den letzten 7 Jahren um durchschnittlich 2,7 Meter nach oben gewandert.2 Andere Arten sind auf Berggipfeln gestrandet, weil ihre früheren Lebensräume besiedelt oder in Ackerland umgewandelt wurden. Ganz oben angelangt, geht es jedoch nicht mehr weiter, und Tausende Arten – insbesondere auf tropischen Bergen – sind vom Aussterben bedroht. Umweltschützer betreiben mittlerweile gezielte Umsiedlungsmaßnahmen von Spezies an Orte mit geeigneterem Klima, um sie möglicherweise zu retten. In einigen Fällen haben sich die Klimaverschiebungen auch positiv ausgewirkt, weil man nun Obst und Gemüse in höheren Lagen anbauen kann. Andernorts hingegen gibt es in größerer Höhe nun auch Mücken, die Krankheiten übertragen, und Menschen, die dagegen nicht immun sind, infizieren sich unter Umständen mit tödlichen Folgen.

Am besorgniserregendsten ist der Schwund an Eis. Im Durchschnitt sind Gletscher seit 1970 um 14 Meter dünner geworden.3 Fast jeder Gletscher, den der Welt-Gletscher-Beobachtungsdienst seit 2000 begutachtet hat, ist geschrumpft, einschließlich aller europäischen, der meisten tropischen vom Himalaja über Afrika bis zu den Anden und im Süden bis zu den Bergen von Neuseeland.

Zu allen Zeiten haben Menschen Bergen als Gottheiten oder der Heimstatt von Göttern gehuldigt, sie haben Tempel hoch oben an ihren Hängen errichtet und Pilgerwanderungen zu ihren Gipfeln unternommen. Im Anthropozän unterjochen wir diese geologischen Wunderwerke, machen sie dunkler, trockener und homogener, berauben sie ihrer einzigartigen Flora und Fauna und kappen sie sogar, um an die Minerale in ihrem Innern zu gelangen. Wir verändern das Gesicht der Berge unserer Erde – sobald sie den schützenden Schnee verlieren, sind die bloß liegenden Teile der Erosion preisgegeben. Berge wie das Matterhorn in der Schweiz lösen sich auf.

Die Menschen stehen nach wie vor im Bann der höchsten Gipfel, aber ihre Pfade hinauf zu diesen himmlischen Gefilden werden heute eher von Müll als von Gebetsstöcken gesäumt. Doch auch wenn wir die Berge entweihen, sind wir wegen ihrer Süßwasservorräte mehr denn je abhängig von ihnen.

In diesem Kapitel betrachte ich, wie die von uns bewirkten Veränderungen der Bergwelt die dort lebenden Menschen beeinflussen und wie Menschen im Anthropozän versuchen, die Lebensbedingungen in den Gebirgen des Holozäns wiederaufleben zu lassen.

Tempel erheben sich über Häusern und Schlössern aus Lehmziegeln. Gebetsflaggen flattern von jedem Dach, Männer in wollenen Gewändern und Frauen mit leuchtend bunten Schärpen stehen schwatzend auf der Straße. Ich befinde mich im abgelegenen Transhimalaja Nordindiens, in Ladakh, dem Königreich vergangener Zeiten. Diese am höchsten gelegene bewohnte Region der Erde besteht nur aus Bergen; die Bevölkerung ist zu 80 Prozent tantrisch-buddhistisch. Dort trifft man auf Pilger und Händler, die die uralte Seidenstraße zwischen Tibet und Indien oder Iran bereisen.

In dem Dorf Stakmo bereiten sich Bauern auf die Ernte vor. Zwei Männer sitzen vor einer Trockenmauer. Sie unterhalten sich im Singsang und schärfen dabei ihre Sicheln an einer Klinge, die sie zwischen die Knie gepresst haben. Eine alte Frau mit langen Zöpfen, in die Bänder geflochten sind, führt einen Esel und ein Kalb hinüber zu ihrem weiß getünchten Lehmziegelhaus. Auf dem Feld dahinter frisst ein Yak Luzerne und wedelt mit dem pferdeschweifartigen Schwanz. Eifrig nickende leuchtende Ringelblumen wachsen im Kreis um einen einzelnen Aprikosenbaum, und ganz schwach ist das Klingeln von Windspielen zu hören. Es ist, als sei die Zeit stehen geblieben.

Und doch hat sich vieles verändert, wie mir die Dorfbewohner erzählen. „Mitte September erwachten wir immer mit gefrorenen Schnurrbärten“, sagt Tashi, ein 76-jähriger Bauer mit Wollhut und einer großen rosa gefärbten Sonnenbrille. Um den Hals trägt er buddhistische Gebetsperlen, und der Bart auf seinen dunklen, von der Sonne gegerbten Wangen ist sorgfältig gestutzt. Obwohl wir uns in über 4000 Metern Höhe befinden, ist es nicht kalt genug, um Schnurrbärte gefrieren zu lassen – die Sonne scheint grell vom klaren, wolkenlosen Himmel, so wie an über 300 Tagen im Jahr, und verbrennt mein europäisches Gesicht. Das Dach der Welt heizt sich auf.

Eingekeilt zwischen Pakistan, Afghanistan und China (oder, genauer, Tibet), wurde Ladakh erst spät zu einem Teil des indischen Bundesstaats Jammu und Kashmir und ist nach wie vor umkämpftes Territorium. Des Nachts tragen indische und pakistanische Grenzpatrouillen kleine Scharmützel aus; die Chinesen kommen und bestreichen indische Felsen mit roter Farbe, und die Inder antworten, indem sie chinesische Felsbrocken grün anmalen. In Stakmo scheint dieses nationalistische Gebaren jedoch sehr weit entfernt zu sein. Die Dorfbewohner plagen sich eher mit der uralten und lebenswichtigen Aufgabe, dem senffarbenen Wüstenboden der Berge Nahrung abzuringen. Hier schlägt die globale Erwärmung zu und bringt das Leben der Ladakhi stärker aus dem Gleichgewicht als irgendwelche internationalen Streitigkeiten um Land. Die Menschheit heizt die Region so schnell auf, dass man gleichsam zusehen kann, wie sich die Berge aufgrund des Gletscherschwunds von weiß zu tabakbraun verfärben. Und mit den Gletschern versiegt auch Ladakhs einzige verlässliche Wasserquelle.

In seinem Leben hat Tashi allein in diesem Tal zwei große Gletscher verschwinden sehen – er deutet auf die Stellen, wo sie sich befunden haben, und ich sehe nichts als die überall gleichen trockenen, sandigen und rosafarbenen Felsen, die den Raum zwischen Tal und Himmel ausfüllen. Nur die allerhöchsten Gipfel sind weiß, und die einzigen Gletscher, die ich ausmachen kann, befinden sich in mindestens 5500 Metern Höhe. Dennoch ist das wärmere Klima nicht die größte Sorge der Dorfbewohner. Im Grunde sind sie froh, nicht schon so früh im Jahr in ihre Häuser verbannt zu werden. Die schmerzlichste Veränderung ist die nun herrschende Unvorhersagbarkeit von Niederschlägen. Es zeichnet sich ein katastrophales Muster ab, das ihnen zur falschen Jahreszeit Feuchtigkeit beschert.

Dieser hinter dem Rohtang-Pass gelegene Teil des Transhimalaja liegt in einem Niederschlagsschatten. Er ist trockener als die Sahara, monatelang fällt kein Regen. Die westlichen Winde gelangen nicht bis hierher und der Monsun aus dem Osten kann den hohen Pass nicht überwinden. Früher setzte der Schneefall nach Oktober ein und hielt den Winter über an. Im März begann die Schneedecke dann zu schmelzen und sorgte für die lebensspendende und rechtzeitige Bewässerung der in der Region ausgebrachten Gerstensaat. In den letzten zehn Jahren ist die Schneemenge jedoch immer weiter zurückgegangen – die Winter von 2012 und 2013 waren besonders trocken, was ernste Konsequenzen hatte. Die Ernten sind schlecht, Trinkwasser wird von der Regierung in Tankwagen hertransportiert, traditionelle sich selbst ernährende Gemeinschaften zerfallen, weil die jungen Leute auf Arbeitssuche in die großen Städte oder die Ebene ziehen. Und was noch schlimmer ist: Wenn der Niederschlag endlich kommt, fällt er als Regen während der Erntesaison und zerstört die geringen Erträge auf den Feldern, bevor er in tiefer gelegene Regionen abzieht.

Der Wandel hat auch die spärliche natürliche Vegetation dezimiert. Wie mir Thupstan, ein weiterer Bauer, erzählt, trieb er sein Vieh immer in die Berge, wo es wilde Gräser fraß. Nun aber muss er einen Teil seines wertvollen Ackerlandes dem Anbau von Luzerne für die Yaks und Ziegen opfern. Und auch Wildtiere geraten in Bedrängnis. In der Woche zuvor entdeckte Thupstan 50 Steinböcke auf seinem Feld, die sein Gemüse fraßen. Die Steinböcke locken Wölfe an, die seine Ziegen reißen. Außerdem zerstören die Steinböcke und wilden Yaks seine Steinmauern, stoßen sie um und verstopfen die Bewässerungskanäle mit Felsbrocken.

In Ladakhs nahe gelegener Hauptstadt Leh verursacht der Regen ebenfalls Probleme. In dieser Region war ein Jahrzehnt lang kein Regen mehr gefallen. Die Häuser sind aus ungebrannten Lehmziegeln erbaut, und die Dächer bestehen aus Stöcken, die von Lehm und Yakdung zusammengehalten werden, mit einem Loch als Rauchabzug. Diese Häuser sind für Schneefall konzipiert, der sie im Winter bedeckt und isoliert. Der nun fallende Regen spült sie buchstäblich fort. Die reicheren Leute verwenden für den Hausbau nun zunehmend Beton.

Ein bisschen Regen zum Ende des Sommers ist kein Ersatz für Schneefall, der den Winter über anhält. Er wird schnell von den Flüssen fortgetragen und füllt den Vorrat an Grundwasser nur geringfügig auf. Die Quellen von Leh sind nun schon seit Monaten versiegt, da immer mehr Menschen Grundwasser pumpen. Brunnen sind trocken und ungenutzt. Teilweise ist dies dem Tourismusboom geschuldet. Neue Hotels und Gasthäuser werden mit Toilettenspülung, rund um die Uhr nutzbaren Duschen und Waschmaschinen ausgestattet. Von Nachhaltigkeit keine Spur. Das Gasthaus, in dem ich wohne, hat eine in Ladakh gebräuchliche Kompost-Toilette, aber das ist die Ausnahme. Dennoch besitzt meine Wirtin eine mit einem Generator betriebene elektrische Pumpe, mit der sie das gesamte Wasser, das wir verbrauchen, aus 30 Metern Tiefe heraufholt.

Auch wenn die explosionsartige Ausbreitung des Tourismus und eine ruinöse Subventionspolitik eine Mitschuld an der aktuellen Wasserknappheit tragen, ist das Problem großenteils auf den Klimawandel zurückzuführen, eine Folge zunehmender globaler Treibhausgasemissionen und der über Teilen von Asien auftretenden atmosphärischen braunen Wolke. Daten sind äußerst schwierig zu bekommen – militärischer Argwohn hält solche Informationen unter Verschluss –, doch die Ortsansässigen sind sich einig: Die Gletscher schwinden, und zwar rasant.

Die Menschen hier sind besonders gefährdet, weil der Sommer so kurz ist. Können die Bauern ihre Monokulturen aus Gerste, Erbsen oder Weizen nicht im März aussäen, haben diese nicht genügend Zeit, bis zur Ernte im September zu reifen, bevor der harte Winter einsetzt, der Temperaturen bis unter –30 °C mit sich bringt. Fatalerweise liegen die verbleibenden Gletscher mit über 5000 Metern zu hoch, um die Bewässerungskanäle bis Juni zu füllen – zu spät für die Aussaat.

Zugleich wächst die Beanspruchung der Wasserreservoirs der Region. Im Anthropozän dringen die Menschen in großer Zahl in die entlegensten Rückzugsbereiche des Planeten vor. Selbst Orte, die früher nur wenige Familien ernährt haben, sind nun das Ziel regelrechter Fluchten aus reichen Großstädten – Schwärme temporärer Migranten, die erwarten, ihren Lebensstil hier aufrechterhalten zu können. Wie an so vielen Orten in den Entwicklungsländern hat der Tourismus den Menschen von Leh neuen Wohlstand und Möglichkeiten beschert, doch ohne Wasser wird dieses in einer Gebirgswüste gelegene fruchtbare Fleckchen wieder zu Staub werden.

Der Himalaja ist neben den Polargebieten der größte von Gletschern und Permafrost bedeckte Bereich, mit einer Gletscherfläche von 35.000 Quadratkilometern und einem Eisreservoir von 3700 Kubikkilometern. Die Gletscherschmelze nimmt mit jedem Jahr zu; derzeit beträgt die jährliche Rückzugsrate bei einigen Gletschern 70 Meter. Die Berge verändern sich dramatisch und so schnell, dass man an neueren Bildern von Google Earth sehen kann, wie die weißen Flecken schwinden. Die Schmelzraten haben bereits die vom Weltklimarat (IPCC) vorhergesagten Zahlen übertroffen – die Wissenschaftler gehen davon aus, dass zum Ende des Jahrhunderts 70 Prozent der Gletscher in der Region genauso verschwunden sein werden wie die von Stakmo. Allein das Schmelzwasser aus kleinen Berggletschern macht 40 Prozent des derzeitigen weltweiten Meeresanstiegs aus; laut Vorhersagen wird es den Meeresspiegel bis 2100 um mindestens weitere 12 Zentimeter ansteigen lassen.4

Wenn Berggletscher schrumpfen, bildet das Schmelzwasser Seen. Diese werden durch die Moränen aus Felsbrocken und Geröll aufgestaut, die das zurückweichende Eis hinterlässt. Wie bei Dämmen aus Erdrutschen können Dammbrüche an Gletscherseen mit den Millionen Tonnen hervorstürzendem Wasser verheerende Überschwemmungen anrichten. Auf Satellitenbildern sind in der Region rund 9000 Gletscherseen auszumachen, von denen über 200 als potenziell gefährlich eingestuft werden, weil jederzeit ein Gletscherseeausbruch (glacial lake outburst flood – GLOF) erfolgen kann. Viele haben sich erst in den letzten 60 Jahren gebildet, und seitdem hat ihre Zahl kontinuierlich zugenommen.

Menschen haben schon immer in Gefahrenzonen gelebt, etwa an Vulkanhängen oder am Ufer hochwassergefährdeter Flüsse, oft, um die fruchtbaren Böden zu nutzen, doch dann war das Risiko auf „höhere Gewalt“ zurückzuführen, auf ein Naturereignis. Im Anthropozän schaffen wir immer häufiger unsere eigenen Gefahrenzonen und setzen diesen Gefahren Gemeinschaften aus, die nicht gelernt haben, auf solche Ereignisse zu reagieren. Der Imja Tsho beispielsweise ist ein Gletschersee in Nepal, der mittlerweile 2 Kilometer lang und fast 100 Meter tief ist. Bei einem Dammbruch könnte die Wasserflut noch ein 60 Kilometer entferntes Gebiet erreichen und dabei Häuser und Felder mit bis zu 15 Meter hohen Geröllmassen überziehen. Das würde den Verlust von Land für eine ganze Generation bedeuten. In Peru bauen Hydrologen Tunnel, um einen Gletschersee in den Anden abfließen zu lassen, nachdem beim Ausbruch eines anderen Sees 10.000 Menschen ums Leben kamen. Kontrollierte Abflüsse aus diesen Seen könnten der heimischen Bevölkerung dringend benötigte Bewässerung und die Nutzung von Wasserkraft sichern.

Im gesamten Holozän veränderte sich das weltweite Gletschervolumen wiederholt aufgrund von Temperatur- und Niederschlagsschwankungen, doch in den letzten Jahrzehnten hat sich die Gletscherschmelze rasant beschleunigt und ist zu einem globalen Problem geworden. Im Anthropozän steuern die Menschen natürliche Prozesse und Zyklen. Wir haben den natürlichen Zustand des Planeten aus dem Gleichgewicht gebracht und ihn seiner Fähigkeit beraubt, sich selbst zu regulieren oder die durch uns geschmolzenen Gletscher zu erneuern. Und wenn Gletscher zu Seen zerschmelzen, verringert sich der gesamte kostbare Wasservorrat der Menschheit umso rasanter, weil Wasser schneller verdunstet als Eis. Der Schnee und die Gletscherschmelze im Himalaja liefern bis zu 50 Prozent des Wassers von 10 der größten Flüsse Asiens, darunter Ganges, Brahmaputra, Indus, Gelber Fluss, Mekong und Irrawaddy. Hier befinden sich die bevölkerungsreichsten Flussgebiete der Erde; sie bilden die Lebensgrundlage für über 1,3 Milliarden Menschen – sei es in der Landwirtschaft oder beim Fischen.

Im Anthropozän müssen wir entweder Wege finden, ohne das Süßwasser aus den Berggletschern zu leben, oder das größte Süßwasservorkommen der Erde durch gewaltige Betonreservoirs ersetzen. Die erste Option würde zweifellos die Existenz von Millionen Menschen aufs Spiel setzen, ganz zu schweigen von der Zerstörung von Feuchtgebieten und anderen Ökosystemen. Die zweite Option verlangt schnelles Handeln – weltweit haben Gletscher in den letzten 60 Jahren durchschnittlich fast ein Viertel ihrer Masse eingebüßt. Auf der ganzen Welt haben Regierungen den Bau von Reservoirs bereits in Angriff genommen, doch noch ist dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein. China errichtet 59 Reservoirs, um Schmelzwasser von seinen schrumpfenden Gletschern in der Provinz Xinjiang, einer hoch gelegenen Wüstenregion, aufzufangen und zu speichern. Es ist jedoch unglaublich teuer und logistisch unmöglich, überall die riesigen Eismassen durch Wasserwannen aus Beton zu ersetzen. Idealerweise sollte man die Reservoirs unterirdisch anlegen, um die Verdunstung einzuschränken, aber das würde die Kosten noch mehr in die Höhe treiben. Dennoch wird im Anthropozän wohl eine ungeheure Menge von Reservoirs errichtet werden.

Es gibt allerdings noch eine dritte Möglichkeit. In Ladakh bin ich mit einem bemerkenswerten Mann zusammengetroffen, der die Herausforderung der globalen Erwärmung angenommen hat – und den Sieg davonträgt. Der Mann, den sie den Gletschermann nennen, trägt Kleidung, die ein wenig an Clark Kent erinnert – einen beigen Sweater und seriöse Schnürschuhe. Doch anders als dieser Comic-Superheld ist er 74 Jahre alt. Er lädt mich in das schöne Heim seiner Familie in dem Dörfchen Skarra bei Leh ein. Dort präsentiert er sich als „ganz normaler Typ“, der mir seine charmante Frau und Tochter vorstellt. Dann trinken wir Butter-Chai, eine regionale Spezialität, und knabbern Mandeln und Aprikosen.

Chewang Norphel ist kein gewöhnlicher Dorfbewohner. Er stellt Gletscher her.

Norphel nimmt eine karge, hoch gelegene Wüste und verwandelt sie in ein Eisfeld, das einigen Bauern, die zu den ärmsten der Welt gehören, eine zeitlich perfekt abgestimmte Bewässerung liefert. Bis 1995 war Norphel als Ingenieur für die Regierung tätig; seitdem er sich im Ruhestand befindet, hat er zehn künstliche Gletscher geschaffen, deren Wasser 10.000 Menschen ihren Lebensunterhalt sichert. Wie außerordentlich diese Leistung ist, lässt sich kaum in Worte fassen. In einer Region, die extrem unter dem Klimawandel leidet, hat Norphel als Geoingenieur im Alleingang Wasser hervorgezaubert und dabei die landwirtschaftlichen Erträge mit einer solchen Selbstverständlichkeit verdoppelt, als sei er mit einem Cape um die Schultern plötzlich herabgestoßen und habe die Erderwärmung zum Stillstand gebracht.

Voller Energie und Enthusiasmus, sodass man schon beim Zusehen aus der Puste gerät, hüpft Norphel durch die mit Felsbrocken übersäte Landschaft oberhalb von Tashis Dorf. Er will mir seine jüngste künstliche Gletscheranlage zeigen, aber mir fällt es schon schwer, in der dünnen Luft in 4000 Metern Höhe zu atmen. Er trägt einen kleinen Rucksack, denn in der kommenden Nacht will er in einem Zelt weitere 1000 Meter oberhalb schlafen, bei Temperaturen bis zu –10 °C, damit er am Morgen mit seiner Arbeit fortfahren kann. „Wenn es extrem kalt ist und die Arbeitsbedingungen sehr schwierig sind, muss ich fokussiert bleiben. Dann kann ich nur daran denken, wie ich den besten Gletscher mache“, sagt er.

Als Ingenieur, Hydrologe, Glaziologe und begeisterter Bastler hat Norphel sich sein ganz persönliches Fachgebiet geschaffen, indem er sich auf wissenschaftliche Prinzipien und Ausbildung stützt, aber mit den Werkzeugen eines ungebildeten Bauern arbeitet. „Was er unter den gegebenen Umständen, in den entlegenen Gebieten dieser Gebirgswüste, erreicht hat, ist bemerkenswert“, sagt Pankaj Chandon, Koordinator des Indian High Altitude Wetlands Conservation Programme vom WWF mit Basis in Leh, der Norphels Fortschritte über die vergangenen 10 Jahre hinweg verfolgt hat. „Es bezeugt seine schiere Willenskraft. Doch darüber hinaus hat er eine einzigartige, innovative Idee entwickelt, die bei Bedarf Wasser liefert. Dies ist eine fantastische Anpassungstechnologie für die klimatischen Veränderungen, die wir in dieser Gegend erleben.“

Norphel war schon immer sehr zielstrebig. Als Kind einer Bauernfamilie aus Leh nutzte er beim Hüten der Herde jede Gelegenheit, mit einem Stock das Einmaleins und algebraische Gleichungen auf den staubigen Boden zu malen. „Ich bettelte meinen Vater an, zur Schule gehen zu dürfen, und er erlaubte es, unter der Voraussetzung, dass ich meine Pflichten in der Landwirtschaft nicht vernachlässigte. Also stand ich immer um 4 Uhr auf und ließ die Kühe und Ziegen weiden, bevor ich zur Schule ging. Nach der Schule beeilte ich mich nach Hause zu kommen, um auf dem Feld zu helfen.“

In den 1940er-Jahren, als Norphel aufwuchs, gab es in Leh nur eine Schule. Dort wurde der Unterricht nicht auf Ladakhi, sondern auf Urdu erteilt und ging nicht über Grundschulniveau hinaus. Als jüngster von drei Brüdern wäre Norphel normalerweise in ein buddhistisches Kloster geschickt worden – unter anderem, um der Familie Kosten zu ersparen, denn Norphels Vater hätte den Besuch einer weiterführenden Schule nicht bezahlen können. Darum riss Norphel mit 10 Jahren einfach von zu Hause aus. Er reiste über 400 Kilometer weit, um in Srinagar, Kashmir, zur Schule zu gehen. Als einziger mittelloser Junge an seiner Schule verdiente er sich das Schulgeld, indem er für seine Lehrer kochte und bei ihnen saubermachte.

Als Norphel am College in Srinagar seinen ersten Abschluss in Naturwissenschaften machte, waren ihm zwei Dinge klar: Er liebte Mathematik und Naturwissenschaften, und er wollte den Bauern helfen, deren Mühen und Plagen ihm seit früher Kindheit vertraut waren. Einer seiner Helden jener Zeit war der Cousin seines Vaters, der in London gewesen war und als Ladakhs erster Ingenieur nach Leh zurückkehrte, den Flughafen der Stadt baute und die Straße von Leh nach Srinagar.

Da der Bundesstaat damals keine Universität besaß, reiste Norphel in den Süden nach Lucknow, um dort – dieses Mal auf Hindi – einen Abschluss als Bauingenieur zu machen. Er liebte die strenge Präzision seines Fachs sowie die praktische Anwendung von Physik und Materialforschung. „Als Ingenieur kann man wirklich etwas bewirken. Man kann die Probleme der Leute rasch und auf eine Weise lösen, dass sie die Erfolge sehen“, meint er. „Einfache Projekte, wie eine geschickt platzierte und gut konstruierte Brücke, können das Leben für Menschen, die sonst einen Umweg von einem Tagesmarsch oder mehr auf sich nehmen müssen, so sehr erleichtern.“

Im Mittelpunkt seiner Ausbildung stand für Norphel immer das Ziel, sein Wissen zum Wohle seiner Landsleute in Ladakh einzusetzen. Als Ingenieur zu arbeiten, ist für ihn ebenso eine Berufung, wie es die Medizin für einen Arzt sein kann. Wie bei Mahabir verändert seine Entschlossenheit und Effizienz das Leben anderer.

Unmittelbar nach seinem Examen kehrte Norphel nach Leh zurück, wo er als Bauingenieur mit dem Cousin seines Vaters in der Regierungsabteilung für ländliche Entwicklung zusammenarbeitete. Die Arbeit war aufregend, aber auch eine sehr große Herausforderung. Zu Beginn, im Jahr 1960, gab es kaum Straßen oder Brücken, und alles musste mit den Händen erbaut werden. „Wir hatten nicht einmal Geld für Spitzhacken und Schaufeln – mancherorts gruben die Leute mit Tierhörnern –, aber der Bau von Straßen hatte oberste Priorität“, erklärt Norphel. „Zur Fortbewegung war man auf Ponys angewiesen, und dort, wo die Wege in sehr schlechtem Zustand waren, musste man von allen Ponys das Gepäck abladen, damit sie das unwegsame Gelände überqueren konnten, und es ihnen danach wieder aufladen. Reisen, die damals Wochen dauerten, benötigen jetzt nur noch Stunden.“

Im Lauf der folgenden 35 Jahre wurde der Ingenieur mit den rabenschwarzen Haaren in den Dörfern von Ladakh ein vertrauter Gast. Im Gegensatz zu anderen Regierungsexperten, die von irgendwo aus Indien abgeordnet wurden, war Norphel für sein aufrichtiges Interesse an den Problemen der Dorfbewohner bekannt und gewann so ihr Vertrauen. Über 90 Prozent der Bevölkerung waren Subsistenzbauern; sie lebten und arbeiteten in eng verwobenen Gemeinschaften. Es war kein Geld im Umlauf – alles funktionierte über Tausch und Kooperation, und wenn Norphel für seine Projekte Arbeitskräfte brauchte, stellten sich die Menschen bereitwillig zur Verfügung. „In Ladakh gibt es kaum ein Dorf, wo ich nicht eine Straße, einen Wasserdurchlass, eine Brücke, ein Schulgebäude, ein Bewässerungssystem oder einen kleinen Tank für Gletscherschmelzwasser gebaut habe“, sagt er.

Er ging jedes Problem wissenschaftlich an, experimentierte, indem er die Variablen abänderte, bis er eine zufriedenstellende Lösung gefunden hatte – und vergaß nie, dass seine Konstruktionen nachhaltig sein und aus regional verfügbaren Materialien bestehen mussten. So baute er eine Reihe von Kanälen nicht mit einer teuren Zementauskleidung, die im Winter aufgebrochen wäre, sondern ließ Unkraut wachsen, dessen Wurzeln den Kanal auf natürliche Weise versiegelten.

Als Norphel 1995 in Ruhestand ging, verschoben sich die Prioritäten. Der Straßenbau war nach wie vor wichtig, doch den Ladakhis wurde ein weitaus ernsteres Problem bewusst – eines, das ihre Lebensgrundlage gefährdete. „In jedem Dorf, das ich aufsuchte, ging es um das Gleiche: Wasserknappheit. Gletscher verschwanden und Flüsse versiegten“, erzählt Norphel. „Die Menschen baten mich, ihnen Wasser zu bringen. Ihre Bewässerungssysteme trockneten aus und es gab Missernten. Die Regierung begann mit der Lieferung von Getreiderationen.“ Norphel war entschlossen, etwas zu unternehmen. „Wasser ist hier das kostbarste Gut. Die Menschen bekämpfen sich darum; in der Bewässerungssaison kämpfen sogar Bruder und Schwester oder Vater und Sohn um Wasser. Das verstößt gegen unsere Tradition und unsere buddhistischen Lehren, aber die Menschen sind verzweifelt. Frieden ist vom Wasser abhängig.“

Die Erleuchtung kam ihm nur hundert Meter von seinem Haus entfernt, an einem schneidend kalten Wintermorgen. „Ich sah Wasser aus einer Leitung strömen und dachte, was für eine Schande es sei, dass im Winter so viel überschüssiges Wasser verschwendet wird – die Wasserhähne bleiben aufgedreht, damit das Wasser nicht in den Leitungen gefriert und die Rohre platzen“, sagt er. „Dann fiel mir auf, dass das Wasser auf seinem Weg zum Fluss ein kleines bewaldetes Feld durchquerte, wo es sich in Lachen sammelte. Dort, wo die Bäume Schatten spendeten, gefror es zu kleinen Eisflächen. Anfang März schmolzen diese Eisflächen dann.“

Norphel erkannte: Wenn er dies in sehr viel größerem Maßstab nachahmen könnte, gäbe es eine Möglichkeit, das Winterwasser in einem künstlichen Gletscher zu speichern, der dann genau zum richtigen Zeitpunkt schmelzen würde, um die Aussaaten zu bewässern. Der Plan war wunderbar einfach, aber ihn umzusetzen, würde zahllose Probleme mit sich bringen. „Die Leute lachten, als ich ihnen die Idee vortrug und um finanzielle Unterstützung bat“, erinnert sich Norphel. „Beamte und Dorfbewohner waren skeptisch. ‚Du bist ja verrückt. Wie soll jemand einen Gletscher anlegen können?‘, bekam ich zu hören.“ Doch Norphel blieb unbeirrbar. Er hielt Zusammenkünfte mit den Dorfältesten ab und erläuterte ihnen das Konzept. Und allmählich trug sein unerschütterlicher Enthusiasmus Früchte.

Er verfügte über keinerlei Ausrüstung – keinen Höhenmesser, kein GPS-Gerät, nicht einmal einen Bulldozer. Und eine ebenso große Herausforderung bedeutete vielleicht der gesellschaftliche Wandel, der in den vergangenen 10 Jahren erfolgt war. Als die Wasserknappheit zunahm und über die Straßen Lastwagen mit staatlich subventioniertem Getreide heranrollten, hatten viele Dorfbewohner ihre Äcker im Stich gelassen, um in der neuen Tourismusindustrie in Leh oder anderswo in Indien Arbeit zu finden. Das alte Tausch- und Kooperationssystem wurde durch eine neue, auf Geld basierende Wirtschaft ersetzt. „Die Einstellung der Menschen änderte sich völlig: Wenn ich nun wünschte, dass Dorfbewohner einen Kanal reparierten oder beim Bau eines neuen Gletschers halfen, musste ich sie dafür bezahlen. Niemand macht mehr irgendetwas umsonst“, sagt Norphel.

Norphels geniale Idee war, das verschwendete Winterwasser auf seinem Lauf bergabwärts umzuleiten, an steinernen Dämmen entlang, die in regelmäßigen Abständen errichtet wurden. Diese sollten die Fließgeschwindigkeit bremsen, damit sich das Wasser über eine ausgedehnte Senke ausbreiten konnte, die einige hundert Meter vom Dorf entfernt lag. Hier würde das Wasser aufgrund der verlangsamten Strömung gefrieren und einen Gletscher bilden.

Norphel zeigt mir die betreffende Stelle und erklärt mir den Weg, den das Wasser nimmt, bis sich das felsige Tal vor meinem geistigen Auge verwandelt und allmählich ein Gletscher entsteht. Die richtige Standortwahl ist entscheidend. Das Gletschergebiet wird während der Wintermonate, wenn die Sonne tief steht und an Kraft verliert, von einer Gebirgswand beschattet. Sobald die Sonne im März wieder hoch genug steht, beginnt die dicke Eisschicht zu schmelzen, fließt in einen Wassertank und durch ein Schleusentor und erreicht so die Bewässerungskanäle der Bauern. Außerdem trägt das Schmelzwasser zur Erhöhung des Grundwasserspiegels bei. Dieses Wasser ist so kostbar, dass in der Bewässerungssaison ein Mann bei dem Schleusentor übernachten muss, um Wasserdiebstahl zu verhindern.

Die Felsen unter der Eisschicht kanalisieren Bergwinde, die das Eis noch stärker abkühlen lassen. Und Norphel zeigt mir noch zwei weitere, jeweils höher gelegene Stellen für künstliche Gletscher. „Wenn dieser am niedrigsten gelegene Gletscher geschmolzen ist, beginnt die Schmelze beim mittleren“, erläutert er. „Danach ist der oberste an der Reihe und zum Schluss der natürliche Gletscher auf dem Gipfel des Berges.“ Jetzt grinst er breit und ich muss einfach mitlachen – was für eine großartige Erfindung!

Seinen ersten künstlichen Gletscher hat Norphel oberhalb des Dorfes Phuktse fast im Alleingang errichtet. Der Erfolg stellte sich prompt ein: Die Bewässerungskanäle waren 30 Tage länger als sonst gefüllt. „Als die Leute sahen, welche Vorteile der künstliche Gletscher mit sich brachte, waren sie bereit, mir zu helfen, und wir verlängerten den Gletscher bis auf 2 Kilometer“, erzählt Norphel.

„Es war wie ein Wunder, die Leute fingen bald an, mehr Land zu bebauen, und pflanzten Weiden und Pappeln zwischen ihre Felder“, sagt Skarma Dawa, ein Bauer aus Phuktse. „Die Technik ist ausgezeichnet, weil sie funktioniert und unkompliziert ist und sehr wenig Wartung erfordert.“ Die Gletscher entstehen mit der Hilfe von ansässigen Arbeitern und Materialien, was einen Bruchteil der Kosten für ein Wasserreservoir aus Zement verursacht.

Seitdem hat Norphel neun Gletscher angelegt, die im Durchschnitt 250 Meter lang und 100 Meter breit sind. Er schätzt, dass sie jeweils rund 23.000 Kubikmeter Wasser liefern, obwohl es bisher keine präzisen Berechnungen gibt und der wellige Boden die Schätzung der Eismengen erschwert.

Norphels Arbeit hat ihm die Anerkennung der Menschen, denen er geholfen hat, eingebracht. „Ich habe ein Regal voll mit selbstgebrautem Bier und eine Truhe voller Khatas [seidene Schals, die Buddhisten zu festlichen Anlässen verschenken]“, sagt er. Die Wissenschaft hat jedoch bislang wenig Interesse gezeigt. „Ich versuche, Daten darüber zu sammeln, wie und wo sich ein Gletscher am besten bildet, welche Teile als Erstes schmelzen und warum, sodass ich sie kontinuierlich verbessern kann und die Technik auch andernorts von anderen Personen nutzbar ist. Mir fehlt eine wissenschaftliche Ausrüstung. Ich kann mich nur auf meine eigenen Beobachtungen stützen.“

Wie Norphel sagt, haben schon einige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus Afghanistan und Turkmenistan Interesse an seinen Gletschern bekundet. „In manchen Gebieten sind Reservoirs eine weitaus praktikablere Lösung. Doch was das Speichern von Wasser und das Ablassen zur Bewässerungssaison betrifft, sind künstliche Gletscher unschlagbar.“

Einen Gletscher aus dem Nichts zu erschaffen, ist zwar ziemlich ehrfurchtgebietend, aber durchaus nichts Neues. Es ist möglich, dass so etwas bereits im 12. Jahrhundert gängige Praxis war. Als Dschingis Khan und seine Mongolenkrieger sich anschickten, das heutige Nordpakistan zu erobern, stoppten die ortsansässigen Dorfbewohner ihren Vormarsch der Legende nach, indem sie Gletscher erzeugten, die die Gebirgspässe blockierten. Man weiß, dass die Praxis der Erzeugung künstlicher Gletscher seit Jahrhunderten in Baltistan gepflegt wird, einer von Pakistan verwalteten Region am Karakorum-Gebirge, deren Bewohner tibetischer Abstammung sind. Dort verwenden die Menschen zur Bewässerung ausschließlich Gletscherschmelzwasser. Bei dem Verfahren, das eine wichtige zeremonielle Komponente besitzt, werden Eisbrocken von einem sogenannten „weiblichen“ Gletscher (wogend und sich schnell bewegend) und einem „männlichen“ Gletscher (der viele Steine enthält und sich langsam bewegt) an einen besonderen Ort geschafft – üblicherweise in einer Höhe von über 4500 Metern an der Nordwand eines Berges. Man platziert das Eis auf Felsbrocken und legt mit Wasser gefüllte Kalebassen dazwischen, die aufplatzen, wenn sie gefroren sind. Danach wird das „sich paarende“ Eis mit einer Isolierschicht aus Lumpen und Sägemehl bedeckt. Ähnliche Techniken wendet man auch in Argentinien an. Dort platziert man das Eis über Felsbrocken, die Luftkanäle bilden, häufig in beschatteten Bereichen wie Höhlen. Sogenannte „Blockgletscher“, bei denen sich die Eisschicht aus gefrorenem Schneefall bildet, liefern ein klareres Schmelzwasser, das oft dem von „echten Gletschern“ vorgezogen wird, welche verschiedenartiges Material mit sich führen und beim Schmelzen eine milchige Flüssigkeit abgeben.

Durch die menschengemachte Erderwärmung verlorene Gletscher wieder neu zu erschaffen, ist eine kreative Lösung für die sehr realen Probleme, mit denen Hochgebirgsbewohner konfrontiert sind. Dieses spezielle Verfahren des Geoengineering ist vielleicht deshalb unstrittig, weil seine Wirkung lokal und konkret ist. In reicheren Ländern wie der Schweiz bezahlen Manager von Skiresorts bereits Tausende Franken für die Erzeugung von künstlichem Schnee und Eis oder für die Erhaltung der weißen Pracht, wo sie noch existiert, indem man riesige reflektierende Decken verwendet. 2008 konstruierte ein deutscher Professor einen Windfang von 15 Metern Höhe und 3 Metern Breite, um die kühlen Fallwinde, die bergabwärts auf den Schweizer Rhône-Gletscher sinken, einzufangen und zu stauen. Falls dies langfristig funktioniert, will er die Technik auch an anderen Gletschern anwenden.

Norphel hat keinen Zugang zu technisch hoch entwickelten Decken oder Windfängen – er kann nicht einmal die Effektivität seiner Gletscher präzise messen. Doch noch während meines Aufenthalts bei ihm empfängt er seinen ersten wissenschaftlichen Gast, Adina Racoviteanu, eine Geografie-Doktorandin am INSTAAR an der University of Colorado in Boulder, die auf dem Weg zu ihren Gletscherfeldstationen weiter im Osten bei Norphel vorbeikommt. Sie bietet ihm an, mit dem GPS-Gerät ihres Palmtops eine topografische Karte vom Standort des künstlichen Gletschers zu erstellen. Norphels Augen strahlen wie bei einem kleinen Jungen. „Das wäre wunderbar“, sagt er, und die beiden verbringen ein paar glückliche Stunden, indem sie den Bereich vermessen und in kurzer Zeit schaffen, wofür Norphel mit seinem Maßband und Lot wohl Wochen brauchen würde. Das Gerät, das sie als Leihgabe von Racoviteanus Institut verwenden, kostet 3000 Dollar, doch bevor Adina zu ihrem „echten“ Gletscher aufbricht, teilt sie Norphel mit, dass es auch Modelle für nur 300 Dollar gibt. „Wenn ich so einen bekommen könnte, wäre alles so viel einfacher“, seufzt er.

Norphel geht davon aus, dass sich bei mehr als 75 weiteren Dörfer in Ladakh geeignete Standorte für seine künstlichen Gletscher befinden, die schätzungsweise jeweils über 20.000 Kubikmeter Wasser pro Jahr liefern würden, doch dafür fehlt ihm das Geld.

Wir begeben uns hinunter ins Tal nach Stakmo und machen Halt bei Tashis Haus. „Dieser Mann ist ein Held“, erklärt Tashi mir. „Dank seinem künstlichen Gletscher kann ich Kartoffeln anbauen, weil die früher im Jahr gesetzt werden müssen, und meine Ernte fällt viel üppiger aus. Nun ziehe ich auch Tomaten und anderes Gemüse. Ich verdiene dreimal so viel wie vorher.“ Mit der neuen Bewässerung kann er die höheren Temperaturen nutzen. Der Klimawandel hat der gesamten Region dort, wo Wasser zur Verfügung steht, neuartige landwirtschaftliche Möglichkeiten beschert; in großer Höhe, wo sich die Bauern früher zwischen Eis und Wüste abmühten, Gerste anzubauen, gedeihen nun vielerlei Obst- und Gemüsesorten, wie Auberginen, Äpfel, Paprika und Wassermelonen.

Dennoch könnte Tashis neuer Wohlstand nur kurzlebig sein. Der Klimawandel bringt auch veränderte Niederschlagsmuster mit sich, mit geringerem Schneefall im Winter, der aber benötigt wird, um die künstlichen Gletscher zu bilden. „Diese Gletscher entstehen nicht durch Zauberhand“, betont Norphel. „Sie müssen den Winter über wachsen.“

Die künstlichen Gletscher sind zwar keine Dauerlösung für die Probleme des Klimawandels, mit denen sich die Menschen hier auseinandersetzen müssen, aber sie verschaffen einigen der Ärmsten eine Atempause, um sich an die geänderten Verhältnisse anzupassen. Im weiteren Verlauf des Anthropozäns wird die ganze Region für die meisten derzeit dort lebenden Bauern wohl unbewohnbar werden. Norphel schenkt diesem buddhistischen Volk einige weitere kostbare Jahre in den von ihren Vorfahren ererbten Häusern, Landschaften und Gemeinschaften, in denen ihre traditionellen Lieder und Geschichten wurzeln und man ihre Sprache versteht.

Norphel ist nicht der einzige Einzelkämpfer, der dem geballten Angriff der Menschheit auf die Erde trotzt, indem er Gletscher anlegt. In den peruanischen Anden versuchen einige Menschen buchstäblich, einen Berg wieder weiß zu malen.

Licapa ist ein Dorf in 4200 Metern Höhe. Die Lebensgrundlage seiner Bewohner ist die Zucht von Alpakas, der domestizierten Kamelart Südamerikas. Dieser 100 Kilometer westlich von Ayacucho gelegene Landstrich Perus gehört zu den ärmsten des Landes. In den 1980er- und 1990er-Jahren litt er besonders unter dem Terror des Leuchtendes Pfades, einer brutalen maoistischen Guerillagruppierung, die hier ihre Basis hatte.

Bei meiner Ankunft in dem Dorf unter dem Gipfel des Chalon Sombrero waschen Frauen ihre Wäsche in einem kleinen, schmutzig aussehenden Teich, während eine Gruppe von Männern dabei ist, eines der Steinhäuser instand zu setzen. Diese Hochlandbewohner, die Quechua, die alte Sprache der Inka, sprechen, haben während der letzten 20 Jahre mithilfe verschiedener staatlicher Projekte versucht, ihre zerstörten Gemeinschaften, Häuser und Lebensgrundlagen wieder aufzubauen. Doch der Klimawandel arbeitet gegen sie.

Salamon Parco, ein junger Vater, kämpft einen einsamen Kampf gegen die globale Erwärmung. Als er so alt war wie sein fünfjähriger Sohn Wilmer, so erzählt er mir, floss ein Fluss durch das Dorf, der die Alpakaweiden bewässerte. Damals wuschen die Frauen ihre Wäsche nie im Teich, sagt er. Doch vor 20 Jahren verschwand der in 5000 Metern über dem Meeresspiegel gelegene Gletscher auf dem Chalon Sombrero spurlos und mit ihm das Wasser. Geblieben ist ein schwarzer, felsiger Gipfel über einer Gesteinsrinne, durch die einst ein Fluss strömte.

Wie in Stakmo regnet es auch in Licapa nur selten, und der Regen ist auf den Januar und Februar beschränkt. Für den Rest des Jahres sind die Hochgebirgsweiden auf das Gletscherschmelzwasser angewiesen; ohne es werden sie gelb und verdorren. Über 1000 Menschen haben das Dorf bereits verlassen, weil sie ihre Familie nicht ernähren konnten, und sind in Barackensiedlungen in der Umgebung von Perus Hauptstadt Lima gezogen. Auch Parco mit seiner Frau und drei kleinen Kindern hat darüber nachgedacht. „Aber meine Heimat ist hier. Was würde ich in der Stadt machen? Ich muss erst einmal versuchen, es hier zu schaffen“, sagt er. Stattdessen streichen Parco und sein Freund Geronimo Torres den schwarzen Berg jeden Morgen mit weißer Farbe an, weil sie hoffen, damit den Gletscher wiederherzustellen, der 900 Menschen die Lebensgrundlage sichert.

Im Mai hatten sie mit dem Anstreichen des Berges begonnen; bei meinem Besuch im September sind bereits 3 Hektar an schwarzen Felsen weiß. Das außergewöhnliche Experiment wird durch ein Preisgeld von 200.000 Dollar aus einem von der Weltbank 2009 ausgeschriebenen Wettbewerb zur Anpassung an den Klimawandel unterstützt; die Idee dazu hatte der recht exzentrische peruanische Unternehmer Eduardo Gold. Das Geld, auf das Gold noch wartet, wie er mir mitteilt, soll in den Bau einer Fabrik in Licapa investiert werden, die die Kalkfarbe für das Weißen des Berges herstellen wird.

Das Experiment beruht auf dem Prinzip, dass ein schwarzer Körper mehr Wärme absorbiert als ein weißer. Erhöht man das Reflexionsvermögen der schwarzen Felsen durch die weiße Farbe, sollte der Berg kalt genug sein, um das sich auf ihm bildende Eis zu halten – bis schließlich ein Gletscher entstanden ist. Das hofft man zumindest.

Es gibt jedoch zahlreiche Skeptiker, unter ihnen Perus Umweltminister, nach dessen Meinung man das Geld besser für andere Projekte zur Abschwächung der Folgen des Klimawandels ausgeben sollte. Auch Behörden und öffentliche Körperschaften betrachten Gold, der keinerlei wissenschaftliche Qualifikation besitzt, mit Argwohn.

Nichtsdestoweniger berichtet Parco, es seien schon einige Ergebnisse sichtbar. „Tagsüber beträgt die Temperatur auf der bemalten Fläche 5 °C, auf den schwarzen Felsen hingegen 20 °C. Und nachts fällt sie auf der weißen Oberfläche auf –5 °C“, erklärt er. Über Nacht hat sich auf den bemalten Felsen bereits Eis gebildet, das allerdings bis 10.30 Uhr wieder geschmolzen ist.

Geplant ist, oberhalb des angestrichenen Bereichs einen kleinen Wasserbehälter zu bauen und mithilfe einer Windkraftanlage Wasser dorthin zu pumpen. Dieses Wasser soll dann die Nacht hindurch langsam über die Farbe sickern, wo es hoffentlich gefriert. Mit der Zeit soll die Eisschicht dann dicker werden und der Prozess eine Eigendynamik erhalten, weil die Voraussetzungen für die Entstehung eines Gletschers geschaffen werden: „Kälte erzeugt Kälte“, erläutert Gold. Parco und Torres müssen insgesamt 70 Hektar anstreichen, was sie eigentlich in zwei Jahren erledigen wollten. Zu Beginn waren sie noch zu viert, aber nach 15 Tagen gaben die beiden anderen Männer auf, weil sie für ihre Arbeit kein Geld erhielten.

„Wir streichen den Berg weiter an, weil es funktioniert und weil wir keine andere Wahl haben“, sagt Parco. „Ohne Gletscher gibt es kein Wasser für uns und wir müssen wegziehen.“

Ich frage Lonny Thompson, einen Glaziologen der Ohio University, der die Gletscher Perus bereits seit 40 Jahren studiert, was er von der Idee hält. Seiner Ansicht nach kann das Anstreichen eines Berges in einem begrenzten Bereich kurzfristig einen gewissen Erfolg haben, ist aber in größeren Regionen nicht durchführbar. „Niemand wird die gesamte Andenkette weiß anpinseln“, meint er kopfschüttelnd. Was man angesichts des bestehenden Gletscherschwunds brauche, seien künstliche Wasserspeicher, um die Gletscher zu ersetzen. „Das bedeutet, man müsste in großem Stil Dämme und Reservoirs bauen, was in einer solchen erdbebengefährdeten Zone ein heikles Unterfangen, aber unumgänglich ist.“

Dass Parcos entlegenes Dorf Licapa in den kommenden Jahren auf der Prioritätenliste für neue Wasserspeicher ganz oben steht, ist unwahrscheinlich. Einen Berg weiß zu streichen, wird jedoch in den nächsten Jahren möglicherweise genug Eis produzieren, um den Dorfbewohnern Zeit zu geben, sich eine andere Lebensgrundlage zu schaffen.

Versuche, die Erdoberfläche zu weißen, um ihr Reflexionsvermögen zu erhöhen, gibt es in viel größerem Rahmen auch anderswo. Verfahren zur Reduzierung der Sonneneinstrahlung, die den Planeten aufheizt – auch „Solar Radiation Management“ genannt –, haben das Potenzial, der regionalen oder sogar der globalen Erwärmung rasch entgegenzuwirken. Angesichts der Tatsache, dass die Erderwärmung in diesem Jahrhundert höchstwahrscheinlich die Grenze von 2 °C überschreitet, die Wissenschaftler als „sicher“ für die Menschheit betrachten, werden Optionen, die eine schnelle Abkühlung versprechen, immer attraktiver. Das Zurückwerfen der Sonnenenergie ins All hilft nicht gegen die Versauerung der Meere durch atmosphärisches Kohlendioxid – dazu später mehr. Es verspricht jedoch einen Zeitgewinn, während die Gesellschaften ihren Kohlenstoffausstoß verringern, sich an wärmere Bedingungen und ein neues Klima anpassen sowie einen effektiven und effizienten Weg finden, das Kohlendioxid, das wir in die Atmosphäre geblasen haben, wieder einzufangen.

Einige Wissenschaftler schlagen vor, Weltraumspiegel auf eine Umlaufbahn um die Erde zu schicken, die das Sonnenlicht zurückwerfen, bevor es unsere Atmosphäre erreicht. Auf der Erde könnte man die Dächer von Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden weiß tünchen, hellere und stärker reflektierende Nutzpflanzen anbauen (die eventuell gentechnisch modifiziert sind) und Wüsten oder Meere mit reflektierenden Materialien bedecken. Mit ausreichend Farbe und Entschlossenheit ließen sich strategisch günstige Berggipfel vielleicht aus der Luft weiß ansprühen.

Seit den 1980er-Jahren hat sich im südspanischen Almería auf einer Fläche von 26.000 Hektar der weltweit größte Anbau von Obst und Gemüse unter Folien entwickelt. Diese Landschaft des Anthropozäns, auch „Plastikmeer“ genannt, ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil Europas trockenstes Wüstengebiet mittlerweile Millionen Tonnen an Produkten erzeugt, sondern auch, weil die Folien so viel Sonnenlicht in die Atmosphäre zurückstrahlen, dass sie die Provinz tatsächlich abkühlen. Während die Temperaturen im restlichen Spanien schneller als der weltweite Durchschnitt angestiegen sind, haben meteorologische Observatorien in der unter Plastik liegenden Anbauregion einen Rückgang von 0,3 °C pro Jahrzehnt verzeichnet.5 Es zeigt sich, dass die Plastikfolien wie ein Spiegel wirken, der das Sonnenlicht zurück in die Atmosphäre lenkt, bevor es den Erdboden erreichen und aufheizen kann. Zumindest vor Ort neutralisieren die Anbauflächen den globalen Treibhauseffekt.

Umstrittener ist das Verfahren, Schwebstoffpartikel in der Atmosphäre zu verteilen, die die Erde vor der Sonneneinstrahlung abschirmen und somit abkühlen sollen. Auf natürlichem Wege ist dies nach einem Vulkanausbruch zu beobachten, etwa 1991 beim Ausbruch des Pinatubo, der die Globaltemperaturen in den darauffolgenden zwei Jahren um mehr als ein halbes Grad sinken ließ.6 In ferner Vergangenheit ließen Ausbrüche von Supervulkanen den Planeten in Eiszeiten versinken und führten zu Massenaussterben. Der gleiche Effekt, wenn auch weitaus schwächer, ist auf Schifffahrtsrouten zu beobachten: Schiffe verbrennen normalerweise Schwerbenzin mit schwefelhaltigen Emissionen, die die Ozeane mit messbar kühleren Luftströmen überziehen. Sulfatpartikel – die sich etwa in dem braunen Dunstschleier über Asien finden – haben einen abschirmenden Effekt, der das auf die Erdoberfläche treffende Sonnenlicht um 15 Prozent reduziert.

Natürlich würde niemand vorschlagen, das Problem der Erderwärmung durch industrielle Luftverschmutzung zu lösen. Stattdessen suchen Ingenieure nach anderen Möglichkeiten, die Sonnenenergie in der Atmosphäre abzufangen und zurückzuwerfen. Das Sprühen von Salzpartikeln in niedrige Haufenschichtwolken (Stratocumulus) über den Meeren könnte sie heller machen, somit den Reflexionsgrad erhöhen und lokal kühlend wirken. Wolken, die sich von der Reflexion und Höhe her perfekt dafür eignen, treten natürlicherweise in drei Regionen auf: vor Chile/Peru, Namibia/Angola und Nordamerika. Jim Haywood vom britischen Met Office Hadley Centre for Climate Research, ein Experte für den braunen Dunstschleier, hat Modellstudien über die Stratocumulus-Wolken vor Chile/Peru durchgeführt, die nahelegen, dass ein Modifizieren der Wolken einen signifikanten Kühleffekt hätte. Zugleich haben sich aber noch andere mögliche Konsequenzen gezeigt: Das Besprühen der westafrikanischen Wolken scheint den Niederschlag über dem Amazonas zu verringern, was schlecht wäre; das Sprühen von Salz in die Wolken vor Chile scheint den Niederschlag über dem trockenen Australien zu erhöhen, was sich als nützlich erweisen könnte.

Der britische Ingenieur und Erfinder Stephen Salter, ein Pionier der Wellenenergie-Technologie, ist der Meinung: Statt sich auf Feder-, Schicht- und Haufenwolken zu konzentrieren, sollte man weltweit strategisch günstig gelegene Zonen, in denen sich die Meereserwärmung bemerkbar macht, überwachen und Salzkristalle in die darüberliegenden Luftschichten sprühen, um reflektierende, Kühlung bringende Wolken zu erzeugen und auf gefährliche Wettererscheinungen einzuwirken. „Taifune wie Haiyan [der im November 2013 die Philippinen verwüstete] hätten vor dem Auftreffen auf die Küste durch Besprühen der Wolken entscheidend abgeschwächt werden können“, behauptet Salter. Er hat eine Flotte aus schwimmenden Türmen entworfen, die ein Spray aus Meerwasser in die Wolken sprühen könnten, um sie aufzuhellen. Nach seinen Berechnungen lägen die Gesamtkosten für einen Einsatz der Türme, der die Globaltemperaturen pro Jahr um ein halbes Grad senken würde, unter denen einer einzigen internationalen Klimakonferenz.

Währenddessen untersuchen andere Forscher, welche Wirkung Sulfatpartikel hätten, wenn man sie kilometerweit in die Stratosphäre pumpen würde – wie bei einem Vulkanausbruch, wenn auch in kleinerem, jedoch langfristigerem Rahmen. Mit ihren Experimenten, die bislang noch im Labor stattfinden, erproben sie, wie stark unterschiedliche Partikel das Sonnenlicht reflektieren würden und ob die kühlenden Partikel unerwünschte Nebeneffekte hätten – zum Beispiel die Zerstörung der Ozonschicht.

Die Veränderungen, die der Mensch in den Bergen des Anthropozäns initiiert hat, hängen weitgehend mit Temperaturen oder Niederschlägen zusammen. Beide Parameter ließen sich noch von uns beeinflussen, indem wir entweder unsere Treibhausgasemissionen reduzieren oder die Aufheizung durch Sonnenenergie eindämmen. Das Anthropozän könnte sich zu einer Epoche mit einem nuancierteren Klimawandel entwickeln, in der man Temperatur und Niederschlag auf die Bedürfnisse der Menschen abstimmt und das Wetter plant. Eine merkwürdige Vorstellung.

Die Menschen haben stets auf ihre Umwelt eingewirkt. Nur dank unserem hervorragend angepassten Gehirn können wir auf der ganzen Welt leben, was uns im Wesentlichen gelingt, indem wir uns gegen unsere natürliche Umgebung abschirmen. Ob wir die Globaltemperaturen um zwei, vier oder gar sechs Grad steigen lassen – es wird zweifellos immer einfallsreiche Vertreter unserer Spezies geben, die sich erfolgreich anpassen werden. Hätten wir dafür einige Jahrhunderte Zeit, würde es der gesamten menschlichen Population vermutlich gelingen, mit diesen Lebensbedingungen gut zurechtzukommen. Das Problem ist nur, dass die Erwärmung der Atmosphäre für den Menschen zu rasch erfolgt, um sich daran anpassen zu können.

Dennoch ist die Idee, die Atmosphäre künstlich abzukühlen, höchst umstritten, weil diese ein öffentliches Gut darstellt. Es könnte auch daran liegen, dass die Absicht dahinter so explizit geäußert wird. Obwohl die Menschen die Atmosphäre künstlich mit Treibhausgasen aufheizen, erfolgte die Nutzung fossiler Brennstoffe stets mit dem Ziel, Energie zu erzeugen, und nicht, den Planeten zu erwärmen. Nach Ansicht mancher Leute sollte selbst die Forschung über die Abkühlung der Atmosphäre untersagt werden, weil sie die Absicht impliziert, die Ergebnisse in die Tat umzusetzen. Andere meinen, diese Forschung schwäche die Bemühungen, den Klimawandel durch Eindämmen des Kohlendioxidausstoßes bei der Energieerzeugung zu bremsen. Die Freiheit der Forschung sollte jedoch keinesfalls eingeschränkt werden – wissenschaftlich zu untersuchen, ob etwas funktionieren würde und was die möglichen Folgen wären, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Wissenschaftler die Verwirklichung ihrer Ideen bedingungslos vorantreiben wollen. Es gibt wissenschaftliche Fragen, die es zu beantworten gilt, etwa die Auswirkungen auf den Niederschlag oder die technische Durchführbarkeit einer Idee, bevor die Gesellschaft sich Gedanken darüber machen kann, ob sie solche Techniken einsetzt oder nicht.

Dieser neue Bereich des Geoengineering im Anthropozän ist eine faszinierende wissenschaftliche Disziplin, und die beteiligten Forscher gehören zu den bemerkenswertesten und umsichtigsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Das Ganze erinnert auf gespenstische Weise an die Atomforschung der 1940er-Jahre: Die Geoingenieure von heute sind die Pioniere einer aufregenden, völlig neuen Wissenschaft; sie machen ständig Entdeckungen und entwickeln verblüffend leistungsfähige Technologien, von denen sie inbrünstig hoffen, dass sie niemals eingesetzt werden. Sie alle warnen vor den Risiken, die mit der Anwendung der Technologien einhergehen, und wiederholen gebetsmühlenartig, dass eine drastische Reduzierung der Gasemissionen, die die Atmosphäre aufheizen, die beste Lösung des Problems wäre.

Der Einsatz von Reflektoren könnte sehr reale und ernst zu nehmende Folgen haben. Modelle lassen vermuten, dass ein Abkühlen der nördlichen Hemisphäre (um die katastrophale Eisschmelze in der Arktis zu verlangsamen) den Niederschlag in armen Ländern der südlichen Tropen stark verringern würde. Um das zu verhindern, müsste man eventuell zur gleichen Zeit reflektierende Kühlvorrichtungen über der südlichen Hemisphäre anbringen. Eine weitere Komplikation besteht in dem Problem, den Prozess wieder zu beenden. Um die Globaltemperaturen niedrig zu halten und der drohenden Aufheizung entgegenzuwirken, müssten diese Reflektoren permanent und vielleicht in größerem Umfang besprüht werden. Beim Beenden des Sprühprogramms würden die Globaltemperaturen dann sehr plötzlich um mehrere Grade ansteigen, und das wäre für die Menschheit viel gefährlicher als die allmähliche Erderwärmung aufgrund der zunehmenden Emissionen.

Dennoch bedeutet das Dilemma, in dem wir Menschen uns derzeit befinden – mit dem verheerenden Klimawandel konfrontiert zu sein und zugleich immer stärker abhängig von den Brennstoffen, die das Problem weiter verschärfen –, dass Techniken zur Kühlung unseres Planeten wohl ernsthaft in Betracht gezogen werden müssen. Das entspricht im Grunde dem, was Menschen angesichts einer Herausforderung immer getan haben: sich ihr stellen und einen Ausweg finden. Verfechter des Solar Radiation Management wie Paul Crutzen verweisen darauf, dass sie eigentlich nur nachahmen, was Vulkane tun, und in der Lage sind, den Heizeffekt einer verdoppelten Kohlendioxidkonzentration schnell und kostengünstig umzukehren. Und da wir bereits wissen, was bei einem Vulkanausbruch geschieht, sei dies angeblich eines der sichersten Verfahren – jedenfalls weniger gefährlich als die Folgen der globalen Erwärmung. Die Technik ließe sich langfristig nutzen, um einen desaströsen Klimawandel abzuwenden, oder auch in Zeiten schlimmer Dürren oder Hitzewellen – möglichst unter der Schirmherrschaft eines internationalen Abkommens. Und bei gut durchdachter Anwendung könnten solche Verfahren möglicherweise auch die Gletscher von ganzen Gebirgszügen erhalten oder wiederherstellen. Doch solange die Welt noch darüber nachdenkt, ob weltweit wirksame Kühlsysteme realisierbar, ethisch verantwortbar und klug sind, entwickeln Norphel und andere Architekten der Berge praktische und effektive regionale Lösungen für einen sich aufheizenden Planeten.

Am achten Tag

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