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2 Gibt es schon im Kindergarten Hinweise für ein Risiko für Lese- und oder Rechtschreibschwierigkeiten?

Frühzeitig ein Risiko für eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung zu erkennen, kann von großer Bedeutung sein, um durch Frühförderung die Folgen eines Entwicklungsrisikos abzumildern. Allerdings ist es nicht einfach, ein Risiko zu erkennen. Außerdem gibt es Vorbehalte gegenüber einer frühen Identifikation eines Risikos. Die Befürchtung ist, dass dies zu einer Verunsicherung oder sogar zur Stigmatisierung eines Kindes führen kann, wenn fälschlicherweise ein Entwicklungsrisiko festgestellt wird. Daher werden Programme zur Frühförderung im Kindergarten nicht selten mit der ganzen Kindergartengruppe durchgeführt, da Studien gezeigt haben, dass zusätzlich zu den Kindern mit einem Risiko für eine Lese- und Rechtschreibstörung auch die Kinder ohne ein Entwicklungsrisiko von der Frühförderung profitieren können.

2.1 Hintergrund

Es gibt Risikofaktoren für eine LRS, die vermutlich genetisch bedingt sind. Daher gehört ein familiär gehäuftes Auftreten einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung auch zu den bedeutsamen Risikofaktoren. Hinweise aus Familienstudien legen nahe, dass, wenn ein Elternteil an einer dieser Störungen leidet, das Risiko für ein Kind bei ungefähr 50 % liegt. Dies ist zwar ein recht hohes Risiko, bedeutet aber nicht, dass diese Zahl auf jede Familie zutrifft. Ein häufiges Missverständnis ist, dass genetisch bedingt bedeutet, dass die Erkrankung nicht behandelbar ist. Wie wirksam eine Behandlung sein kann, hängt nach unserem heutigen Wissen nicht davon ab, welche Ursachen der Lese- und/oder Rechtschreibstörung zugrunde liegen.

Ein weiteres Entwicklungsrisiko für eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung liegt in einer verzögerten Sprachentwicklung. Die Sprachentwicklung verläuft in verschiedenen Stadien, beginnend im ersten Lebensjahr und wird in eine Sprech- und Sprachentwicklung unterschieden. Die Sprechentwicklung umfasst die Artikulation, die Fähigkeit, verschiedene Laute zu bilden und zu verbinden. Im Bereich der Sprachentwicklung wird die Sprachwahrnehmung und das Sprachverständnis unterschieden. Zur Sprachwahrnehmung gehört die Unterscheidung von Lauten, z. B. von dem Laut /b/ vom Laut /p/. Diese Unterscheidung ist für die Rechtschreibfähigkeit besonders wichtig. Kann ein Kind die Laute voneinander unterscheiden, so sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, den Lauten den jeweils richtigen Buchstaben zuzuordnen. Auch die Zergliederung der Sprache in größere sprachliche Strukturen, wie z. B. in Silben (z. B. Gü-ter-wa-gen), ist eine wichtige Vorläuferfertigkeit für den Schriftspracherwerb.

2.2 Fallbeispiel

Die Erzieherin im Kindergarten beobachtet, dass Marie, die ein waches und sehr interessiertes Kind ist, bei den Singspielen, bei denen die Kinder Reime finden sollen, sehr große Probleme hat. Marie ist im letzten Kindergartenjahr und in der Vorbereitungsgruppe auf die Schule. In ihrer Gruppe werden Spiele durchgeführt, bei denen man genau hinhören, Wörter sich merken, Reime finden und Laute unterscheiden muss. Diese Spiele finden fast täglich in der Gruppe statt. Marie machen diese Spiele keinen Spaß, da sie große Schwierigkeiten bei den Aufgaben hat. Marie, die sonst immer genau zuhört, ist in der Gruppe unruhig, springt häufig auf und möchte was anderes machen. Die Erzieherin bespricht ihre Beobachtungen mit den Eltern und fragt, ob es in der Sprachentwicklung bisher Auffälligkeiten gab. Nachdem die Eltern dies verneinen, überlegen sie gemeinsam, ob bei Marie vielleicht eine Hörstörung vorliegt, weshalb sie die Sprache und Laute schlechter unterscheiden kann als die anderen Kinder. Obwohl die Eltern beschreiben, dass Marie alles, was sie sagen, gut versteht, lassen sie eine Untersuchung beim Hals-Nasen-Ohrenarzt durchführen. Die Überprüfung der Hörfähigkeit war unauffällig, allerdings sieht der HNO-Arzt einen Zusammenhang mit den früher, länger andauernden Mittelohrentzündungen von Marie und ihren aktuellen Schwierigkeiten, Laute zu unterscheiden. Er rät dazu, die Sing- und Sprachspiele weiterzuführen, allerdings bräuchte Marie mehr Zeit dafür. Er empfiehlt, dass die Erzieherin die Spiele nur zum Teil mit Marie in der Gruppe durchführen sollte und zum Teil lieber einzeln. Auch die Eltern könnten Marie bei dieser Entwicklung unterstützen, es gebe wissenschaftlich untersuchte Programme, die Eltern mit ihrem Kind zur Förderung der sprachlichen Fähigkeiten als Vorbereitung für das Lesen und Rechtschreiben durchführen können ( Kap. 16).

2.3 Praxistipps

Im Vorschulalter kann eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung nicht diagnostiziert werden, da entsprechende Lese- und Rechtschreibfertigkeiten noch nicht gelernt wurden. Daher ist bei Vorliegen der folgenden Risiken eine Frühförderung sehr empfehlenswert ( Kap. 16). Zu den Risiken gehören eine familiäre Häufung von Lese- und/oder Rechtschreibproblemen und spezifische Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung. Sind Eltern oder ein Geschwister von einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung betroffen, zeigen sich Sprachschwierigkeiten im Bereich Reime, Silben und Laute zu unterscheiden oder beim Benennen von Buchstaben, ist eine Förderung der Sprachfertigkeiten in den letzten Monaten vor der Einschulung empfehlenswert. Falls das Kind bei der Sprachunterscheidung Probleme hat, die länger andauern, sollte eine entsprechende Diagnostik beim HNO-Arzt1 oder Fachärzten, die speziell sich mit dem Hören bei Kindern auskennen (Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie), durchgeführt werden.

Um sich nicht allein auf die Beobachtung des Kindes bei Sprachaufgaben zu verlassen, werden auch Testverfahren durchgeführt, die ermöglichen, das individuelle Risiko eines Kindes für Probleme beim Lesen und Schreibenlernen vorherzusagen. Diese Tests werden einzeln mit dem Kind durch Personen durchgeführt, die dafür ausgebildet sind. Die Tests sind unterschiedlich lang und erfordern meist eine gute Aufmerksamkeitspanne und Konzentrationsfähigkeit des Kindes. Die Vorhersage eines Risikos ist allerdings ungenau, abhängig vom Testverfahren werden ca. 20–50 % der Kinder, die ein Entwicklungsrisiko im Lesen und Rechtschreiben haben, nicht erkannt. Daher ist die Anwendung nur bedingt zu empfehlen.

1 Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).

Lese-/Rechtschreibstörung

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