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4 Lesestörung bei Erwachsenen

Oft besteht die Lesestörung bis ins Erwachsenenalter. Im Vordergrund stehen nicht die Lesefehler, sondern die langsame Lesegeschwindigkeit. Sind allerdings die Wörter aufgrund ihrer Länge oder weil sie selten sind, wie z. B. Fremdwörter, schwer zu lesen, stellen sie für die Betroffenen eine große Hürde da. Die stark beeinträchtigte Lesegeschwindigkeit wirkt sich beim Lesen von längeren Texten besonders stark aus. So bereiten Fachtexte, die im Beruf oder in der Ausbildung gelesen werden müssen, große Probleme, weil der Inhalt des Gelesenen meist durch die hohe Lesezeit nur unvollständig entnommen werden kann. Können einzelne Sätze nur mit großer Mühe und Zeit entschlüsselt werden, so verlieren die Lesenden den Gesamtzusammenhang des Textes und beginnen oft wieder mit dem Anfang des Textes. Eine Erschwernis sind kleingedruckte Texte mit geringerem Wort- und Zeilenabstand. Auch schlecht strukturierte Texte, die kaum Absätze und Paragrafen haben, sind für Menschen mit einer Lesestörung eine unnötige Herausforderung. Die Leseprobleme zeigen sich im Alltag häufig, wenn unter hohem Zeitdruck Sätze und Texte gelesen werden müssen.

4.1 Hintergrund

Aufgrund der neurobiologischen Basis der Lesestörung sind basale Prozesse im Gehirn verändert, die für die geschwindigkeitsabhängige Verarbeitung von Buchstaben und Lauten, den Zugriff auf ein Wortgedächtnis sowie den Abruf dieses Wissens bedeutsam sind. Im Rahmen der spezifischen Förderung werden diese Prozesse zwar trainiert und die Geschwindigkeit verbessert sich auch, trotzdem handelt es sich um einen Kompensationsprozess. Dies bedeutet, dass der Leseprozess im Erwachsenenalter verlangsamt und auch fehleranfällig ist. Im Rahmen der Behandlung der Lesestörung entwickeln Jugendliche zusätzliche Strategien, mit der Lesestörung zu leben und diesen Aspekt in ihr Leben zu integrieren. Denn nicht nur das Ergebnis der Schulabschlussprüfung kann durch die Lesestörung stark beeinflusst werden, sondern auch die Entscheidung über die an den Schulabschluss sich anschließende Aus- und Weiterbildung. Da die Lesestörung von vielen Betroffenen noch immer als ein Stigma erlebt wird und sie nicht offen über ihre Erkrankung sprechen wollen und können, entstehen im Alltag immer wieder schwierige Situationen, wie das nachfolgende Fallbeispiel verdeutlicht.

4.2 Fallbeispiel

Sebastian Meier studiert BWL und leidet seit der Grundschulzeit an einer Lesestörung. Trotz außerschulischer Förderung hat er erhebliche Probleme, Texte zu verstehen, da er sehr viel Zeit braucht, einzelne Sätze zu entschlüsseln. Manche Wörter sind besonders schwer, was dazu führt, dass er für diese Wörter besonders viel Zeit braucht. Ist es ihm gelungen, diese Wörter zu lesen, fehlt ihm, insbesondere bei langen Sätzen, der Inhalt des bereits Gelesenen. Dies führt nicht selten dazu, dass er entmutigt aufgibt und versucht, den Inhalt auf anderen Wegen zu bekommen. Im Alltag kommt er aber immer wieder in schwierige Situationen, wenn er z. B. unter Zeitdruck etwas lesen muss. So passiert es ihm immer wieder, dass er sich bei Straßennamen verliest und dann viel länger zum Ziel braucht. Auch im Studienseminar hat er häufig Angst vor Situationen, in denen in recht kurzer Zeit ein Text gelesen und dann darüber referiert werden muss. Er hat manchmal fast panische Angst davor, aufgerufen zu werden. Dies erinnert ihn oft an seine Schulzeit, wo er auch immer Angst vor solchen Situationen hatte.

4.3 Praxistipps

Es gibt eine Reihe von Strategien, die helfen können, mit den Leseanforderungen im Alltag und im Beruf umzugehen. Generell stellt sich oft die Frage, ob eine Förderung im Erwachsenenalter sinnvoll ist. Liegt eine ausgeprägte Lesestörung vor, ist die Frage klar mit ja zu beantworten, da auch im Erwachsenenalter eine Leseförderung hilfreich sein kann. Die Förderangebote sind jedoch meist nicht spezifisch für Erwachsene mit einer Lesestörung, sondern beruhen auf Konzepten, die für Kinder und Jugendliche entwickelt wurden. Diese sind auch für Erwachsene geeignet, meist ist allerdings der Inhalt sehr kinderspezifisch und der Wortschatz nicht für das Erwachsenenalter ausreichend. Erwachsenenbildungsstätten bieten teilweise Alphabetisierungskurse an, um Erwachsenen zu helfen, die entweder aufgrund fehlender Sprachkenntnisse oder aufgrund geringer Schriftsprachkompetenzen, bedingt durch psychosoziale Probleme in der früheren Entwicklung, geringere Lesefertigkeiten haben. Diese Kurse sind meist für Erwachsene mit einer Lesestörung nicht geeignet, da der Förderansatz nicht spezifisch auf ihren Förderbedarf ausgerichtet ist. Trotzdem sollte man sich bei der lokalen Volkshochschule oder anderen lokalen Bildungsträgern erkundigen, ob es Förderangebote für Erwachsene mit einer Lesestörung gibt. Hilfreich ist auch der Kontakt zu dem jeweiligen Landesverband des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e. V., der zusätzlich zur Beratung auch Informationen zu lokalen Angeboten für die Diagnostik und Förderung geben kann. Im Bundesverband gibt es eine Interessengruppe von jungen Erwachsenen mit einer LRS (JA – Die Jungen Aktiven) ( Kap. 17), die ebenfalls Informationen bereitstellt und berät.

Liegen aufgrund der LRS und damit verbunden eine psychische Erkrankung vor, wie z. B. eine Prüfungsangst, ist eine psychotherapeutische Behandlung sehr hilfreich. Dazu muss vorher eine Diagnostik zur Frage durchgeführt werden, ob und welche psychische Erkrankung vorliegt und ob eine Empfehlung zur psychotherapeutischen Behandlung gegeben werden kann. Die Diagnostik wird von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie, von Fachärzten für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und bei Heranwachsenden, die bereits zuvor in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt wurden, von Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie angeboten. Die Behandlungskosten für die psychotherapeutische Behandlung werden von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen gemäß dem individuellen Vertrag erstattet.

Die Gewährung von Nachteilsausgleich ist auch bei Erwachsenen in Prüfungen möglich, dies setzt meist ein fachärztliches Attest voraus. Die Entscheidung, ob der Nachteilsausgleich gewährt wird, hängt von den jeweiligen Ausbildungsstätten ab. In jedem Fall sollte man sich mit der Vertretung der Menschen mit einer Behinderung in Verbindung setzten und prüfen, welche Erfahrungen bisher dazu in der Institution mit der Gewährung von Nachteilsausgleich bestehen und wie die gesetzlichen Regelungen sind. Leider ist es manchmal notwendig, sein Recht auf Nachteilsausgleich einzuklagen.

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