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Die Mosers

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waren eine alteingesessene Bauernfamilie, die seit vielen Generationen in Bad Aibling lebte und im Ortsteil Ellmosen einen Vierseithof mit 21 Hektar Land betrieb. Die Land- und Viehwirtschaft lief mal besser mal schlechter, war mit harter Arbeit verbunden, jedenfalls hatten die meisten Bauern in Bad Aibling vor, während und nach dem Krieg ein ausreichendes Auskommen.

1933 heiratete der damalige Bauer Heinrich Moser die am Hof beschäftigte Magd Maria Hufnagel, eine herzensgute und fleißige Frau, die dem herrschsüchtigen Heinrich tatkräftig und ausgleichend zur Seite stand. Geliebt hatte sie ihn nicht, als Bäuerin hielt sie gleichwohl das Heft in der Hand, mindestens wenn es um wichtige Entscheidungen ging. Sie lancierte den bayrischen Sturkopf in ihrem Sinne, indem sie seine charakterlichen Schwächen ausnutzte, ohne dass ihm das je bewusst geworden ist.

So hatte er einmal im Gemeinderat großspurig erklärt, dass er keinesfalls den Bau einer neuen Straße entlang seiner Grundstücke zulassen werde. Maria schüttelte dann den Kopf und machte klar:

»Ja wo samma denn, du gibst doch hier den Ton an! Lass doch den Verlauf der Straße so festlegen, dass es zu unserem Vorteil ist. So, dass der Zugang zu unseren Hangwiesen erschlossen wird.«

Das gefiel Heinrich und er willigte nun im Gemeinderat ein, natürlich nur unter bestimmten Auflagen, deren bauernschlaue Details Maria ihm so geschickt unterjubelte, dass er meinte, sie seien auf seinem Mist gewachsen.

1934 wurde der Sohn Franz geboren. Als Einzelkind wuchs er wohlbehütet von Mutter Maria auf. Er blühte in der Kindheit in Liebe zur Natur und zum ländlich geprägten Leben auf, wenngleich er unter dem strengen und despotischen Vater oftmals zu leiden hatte. Maria wusste das aber auszugleichen und schlimmere Konflikte zu vermeiden. Franz war anders als sein Vater, eher introvertiert, feinfühlig, tierlieb und musikalisch veranlagt.

Der erzkonservative Heinrich war tiefgläubig und bestand darauf, dass Franz ab dem zehnten Lebensjahr ein katholisches Internat besuchte. Sogar Maria, die sich dagegen wehrte, konnte es nicht verhindern.

Auf dem Internat entwickelte Franz seine musikalische Begabung weiter, lernte Klavier und Klarinette und hatte auch ein Jahr Gesangsunterricht. Dem Vater Heinrich gefiel das aber gar nicht. Nach vier Jahren nahm er Franz wieder vom Internat und verordnete ihm auf dem Hof harte Arbeit.

Franz war nun alt genug, um mit der Art seines Vaters klarzukommen, zumal er klüger war und gelernt hatte, statt zu widersprechen einfach abzulenken. Maria war froh, Franz wieder im Haus zu haben, zusammen waren sie durchaus in der Lage, Heinrich zu manipulieren, wenn sie es für sinnvoll hielten. So schafften sie es, dass in der Nachkriegszeit, gegen seinen Willen, ein moderner Mähdrescher und ein Getreidesilo angeschafft wurden, womit sie die Landwirtschaft deutlich effizienter bewerkstelligen konnten.

Der junge Franz schloss eine landwirtschaftliche Ausbildung ab und übernahm sukzessive die Führung am Hof.

Im Nachbardorf Kolbermoor lernte er als junger, fescher Mann bei Auftritten des Bad Aiblinger Bauernorchesters, in dem er als Klarinettist mitspielte, die Zwillingsschwestern Christa und Anette kennen. Zunächst trafen sie sich häufig zu dritt, dann verliebten sich Christa und Franz und heirateten 1958. Heinrich war natürlich dagegen, Christa hatte nämlich ein Einser-Abitur hingelegt und gerade die Ausbildung zur Stewardess begonnen. Er jedoch wünschte sich eine gestandene Bauersfrau als Schwiegertochter, die Haus und Stall in Ordnung halten und ihn bis ins hohe Alter hinein versorgen würde. Also polterte er:

»Die wird in der Weltgeschichte rumfliegen und rumvögeln und wir haben die Arbeit hier.«

Maria dagegen hieß Christa auf dem Moser Hof herzlich willkommen, die zwei verstanden sich bestens, sie hatten dieselbe Wellenlänge. Maria und Christa waren wie Mutter und Tochter, was besonders für Maria ein Segen war.

Christa wurde sehr bald schwanger und musste ihre Stewardess-Karriere an den Nagel hängen. Anfang Juni 1960 brachte sie in einer tragischen Nacht im Kreiskrankenhaus Rosenheim die Zwillinge Max und Josef zur Welt. Es war eine Katastrophe, für Christa kam jede Hilfe zu spät, sie verblutete und verstarb am frühen Morgen.

Was passiert war, konnte nicht genau rekonstruiert werden. Die bei der Geburt anwesende Hebamme jedenfalls war danach spurlos verschwunden. Sie alarmierte in der Nacht zwar noch den diensthabenden Arzt und machte deutlich, dass er unbedingt und dringend bei der Geburt gebraucht würde. Der aber musste einen gerade eingelieferten, schwer verletzten Motorradfahrer in kritischem Zustand versorgen und operieren. Als er sich am frühen Morgen schließlich um die Geburt kümmern konnte, war es schon zu spät.

Ganz Kolbermoor und Bad Aibling nahmen Anteil an diesem unglücklichen Schicksal. In beiden Orten wurden Messen gelesen, die Kirchen füllten sich in diesem Juni wie lange davor und danach nicht. Überall auf den Straßen, in den Läden und in den Gasthöfen fanden sich Menschen zusammen und tuschelten über diese unglückselige Geschichte. Und es dauerte nicht lange, bis erste Beschuldigungen laut wurden. Gegen den Arzt, der zu spät gekommen sei, gegen die herzlose Hebamme, die sich in Luft aufgelöst hatte und gegen das Krankenhaus, das wegen permanenten Personalmangels Schuld auf sich geladen hätte.

Wenig später kam die Gerüchteküche in Gang. Die Schlauesten im Ort wussten plötzlich wie es wirklich war. Sie tratschten über diesen bösen Heinrich, der schuld gewesen sei, über verflossene Liebeleien von Christa, über Franz, der unfähig sei, den Hof zu führen, über die Hebamme, der Mordabsichten unterstellt wurden.

Maria traute sich kaum noch in den Ort zu gehen, sie war es leid, auf immer wieder blödsinnige Fragen antworten zu müssen, die von angeblich gut meinenden Leuten gestellt wurden. Eine gute Freundin meinte, Maria solle doch zu der bekannten Astrologin Sibylle in Rosenheim gehen und sich Rat holen. Was passiert sei, sei doch so schlimm, dass es jetzt um so wichtiger wäre, in die Zukunft zu schauen. Maria war bodenständig und wollte davon zunächst nichts wissen. Nachts verfolgten sie jedoch böse Träume, ihre Nervosität nahm zu und schließlich überwog der Gedanke, dass vielleicht weiteres Unglück verhindert werden könnte, wenn man mehr über die Sternenkonstellationen wüsste.

Die Astrologin zog ein überzeugendes Brimborium auf:

Im Sternzeichen der Zwillinge (21.Mai bis 21.Juni) seien besonders die im Monat Juni geborenen nicht vor schlimmen Schicksalsschlägen gefeit. Die Zwillingsmenschen hätten positive Eigenschaften wie neugierig, kommunikativ, anpassungsfähig, kreativ, aber eben leider die im Juni geborenen überwiegend negative wie ruhelos, launisch, aggressiv, labil, unehrlich. Das sei auf Grund der ungünstigen Konstellation von Jupiter und Merkur in ihrer Position zur Sonne der Fall. Ganz fürchterlich sei die Situation am 9.Juni (das Geburtsdatum der Moserzwillinge, das die Astrologin aber angeblich nicht wusste). An diesem Tag versteckte sich Uranus, der für den "Lebensgeist" steht, hinter Mars, dem Planeten der "Verstandesseele". Das könne nur bedeuten, meinte die Hellseherin, dass der Lebensgeist gegenüber dem Verstand zurückstehen wird. Eine ungute Zukunftsdeutung!

Nachdem die Astrologin wortreich dargelegt hatte, dass das Eingehen auf die komplexen kosmologischen Probleme im geisteswissenschaftlichen Sinne höchste Intuition und Erfahrung voraussetzt, hat sie die Maria Moser kräftig abgezockt und sie mit ganz unangenehmen Gefühlen nach Hause geschickt.

Tagelang wühlte dieses Wissen in Marias Herz und Seele. Die täglich zu bewältigenden Probleme mit Hof und Zwillingen lenkten sie aber mehr und mehr ab und schließlich setzte sich ihre bäuerliche Bodenständigkeit wieder ganz und gar durch. Sie verfluchte diese Quacksalberin und pfiff auf deren "geisteswissenschaftliche" Erkenntnisse.

Für den sensiblen Franz war das Geschehen ein absolutes Desaster. Zunächst gab er sich ganz der Trauer um seine geliebte Christa hin. Dann kam der Alltag zurück. Wie sollte er es schaffen, sich um die Zwillinge zu kümmern und gleichzeitig die Arbeit am Hof zu stemmen? Eine Zeit lang spielte er insgeheim mit dem Gedanken, ob vielleicht Anette die Rolle von Christa einnehmen könnte. Anette aber liebte mittlerweile einen anderen Mann. Von Heinrich hörte er nur böse Worte und Vorhaltungen. Wegen seines Asthmas konnte der Vater keine schweren Arbeiten mehr verrichten.

Schließlich war es ein Segen, dass Franz durch die harte Arbeit auf dem Hof aus seiner depressiven Phase gerissen wurde und nach und nach wieder Fuß fasste. Gott sei Dank gab es ja Maria, seine tatkräftige Mutter und Oma der Zwillinge, die sich von Anfang an liebevoll um sie kümmerte.

Maria war mit fünfundvierzig eine sehr junge Großmutter und für sie begann nun ein neuer Lebensabschnitt, den sie als den schönsten und abwechslungsreichsten in ihrem Leben empfand. Das, was man den Buben fürs Leben beibringen musste, war nun ihre Aufgabe, die sie mit Freude und Hingabe erfüllte. Sie war eine herzliche, gefühlvolle, gescheite und vielseitige Person, die allerdings auch Leistung, Benehmen und Sozialverhalten einforderte. Franz aber legte eine gewisse Passivität an den Tag, wenn es darum ging, sich als erzieherisches Vorbild einzubringen oder persönlichkeitsbildende Entwicklungen der Söhne zu fördern.

So wuchsen die Zwillinge auf dem Moser Hof wohl behütet von Maria auf. Beide hatten die Naturverbundenheit und Tierliebe von ihrem Vater geerbt, und doch waren sie vom Wesen her grundverschieden. Als Kinder waren sie im Ort überall bekannt und beliebt, Zwillinge gab es sonst weit und breit nicht und so freche, offene und fröhliche schon gleich gar nicht.

Als Jugendliche wurden ihre unterschiedlichen Charaktere immer deutlicher: Max spontan, Draufgänger, oft nicht steuerbar, rechthaberisch, dominant. Vom Großvater Heinrich wurden da wohl einige Gene vererbt. Sepp eher abwartend, offen und herzlich, wissbegierig, intelligent. Seine Gene waren wohl eine gelungene Mischung von Vater und Mutter.

Auf dem Hof genossen Max und Sepp den täglichen Kontakt mit all den Tieren: Hühner, Gänse, Truthahn, Katzen, Hunde, Schweine, Kühe. Außer dem Truthahn, der aggressiv war und schon mal zuzwickte, mochten die Buben alle, egal ob Stall- oder Freilandtiere, aber natürlich besonders die Haustiere.

Max' Liebling war die Schäferhündin Assi. Sie war scharf, Fremde mussten sich vor ihr in Acht nehmen, besonders den Postboten hatte sie auf dem Kieker. Sie war aber auch sehr treu und zuverlässig. Im Grunde war sie sozusagen die Chefin über alle Moser Tiere.

Sepps Liebling war die Katze Fiffi, ein einfarbig graues, pfiffiges, kleines Kätzchen, das oft in Sepps Bett schlief und ihm die Haaransätze an den Schläfen mit ihrer rauen Zunge schleckte. Sie war nicht nur schnell beim Mäusefangen, sondern auch schlau und, was ihre Zielstrebigkeit anbelangt, allen anderen Tieren überlegen. Sogar Assi musste das mit Respekt zur Kenntnis nehmen. Wenn sie einen Platz, z. B. auf Assis Matratze erobern wollte, wusste sie mit Salamitaktik und Beharrlichkeit dieses Ziel zu erreichen.

Eingeschult wurden die Brüder in die Luitpold Volksschule in Bad Aibling unweit vom Ortsteil Ellmosen. Schon nach dem ersten Schuljahr empfahl die Lehrerin, die Zwillinge in verschiedene Klassen einzuweisen. Durch ihr unterschiedliches Wesen würden sich beide behindern, meinte sie.

Im Gegensatz zu ihrem schulischen Werdegang waren sich die Zwillinge bei ihren vielfältigen Streichen meist ganz einig. Diese waren geprägt von sportlichem Ehrgeiz, Kreativität und Unbekümmertheit.

Das fing so an, dass sie als Sechsjährige auf die Idee kamen, dem Wohngebäude des Hofes eine zweite Türe zu verpassen. Sie dachten sich, dass man dann eben nicht mehr den ganzen Gang entlang laufen müsste, um an die Treppe zu gelangen, das könnte doch viel Zeit sparen. Also gingen sie mit Hammer und Meißel ans Werk, um an der richtigen Stelle einen Durchbruch zu schlagen. Als das Loch die Größe eines Handballs erreicht hatte, wurde Heinrich auf das Klopfen aufmerksam. Nichts Gutes ahnend lief er herbei und sah, was passiert war und bekam fast einen Herzinfarkt (dem Frieden des Hauses hätte das durchaus gut getan).

Wutentbrannt schrie er:

»Was seid ihr verflixten Kerle für Idioten! Ihr kommt mir nicht aus, das müsst ihr jetzt sofort wieder zumauern.«

Max rief: »Scheiße!«

Sepp legte nach, den Großvater böse anblickend: »Mist, du kapierst es eh nicht, du A…«

Heinrich verfolgte streng jeden Handgriff bis mit Hilfe von Vater Franz das Loch wieder zu war.

Die Werferei mit Steinen machte den Brüdern viel Spaß. Also wetteten die Halunken, wer besser zielen könne. Nach jeweils fünf Würfen wurde gewechselt. Zielobjekt waren Straßenlaternen. Das hat vielleicht gescheppert, wenn wieder eine zu Bruch ging und das Glas am Boden zersplitterte.

Es muss der sportliche Ehrgeiz gewesen sein, dass ihnen in diesem Moment nicht bewusst war, welchen Schaden sie anrichteten. Wohl aber einem Mann, der sie beobachtet hatte und diese "verdammte Sauerei" der Polizei meldete. Na ja, wie meistens, wusste Maria mit Engelszungen zu verhindern, dass die beiden schlimmere Strafen aufgebrummt bekamen und somit nur den Schaden ersetzen mussten. War das eine Lehre fürs Leben? Das vom Taschengeld Ersparte war jedenfalls auf einen Schlag weg.

Das mit dem Ehrgeiz beim Zielen wäre fast noch einmal ins Auge gegangen. Die Buben bastelten sich Steinschleudern, da kam es zum einen darauf an, wer weiter damit schießen konnte und zum anderen, wer als Erster einen etwa 40 Meter entfernten Baum treffen würde. Dumm nur, dass dieser Baum an einem Fußgängerweg stand und um ein Haar ein spazierendes Paar getroffen wurde.

Das Paar war wütend, die beiden schimpften wie die Rohrspatzen und wollten die Buben anzeigen. Auch Maria schimpfte die Hanswursten lautstark (viel lauter als sie es ohne Zuhörer getan hätte), drohte Hausarrest und drastische Strafen an (die sie jedoch nie vollstreckte) und bot den beiden Erbosten Kaffee und Kuchen an, sodass sie wieder einmal Schlimmeres verhindern konnte.

Eines Tages entdeckten Sepp und Max, dass im Schuppen auf der nördlich gelegenen Hangwiese regelmäßig ein Fremder übernachtete. Das wollten sie demjenigen heimzahlen und schleppten einen Eimer mit schweren Steinen an. Den befestigten sie mit einem Gestell oberhalb der Schuppentüre innen so, dass er beim Öffnen der Türe herunterfallen musste. Der Eimer würde dem Eindringling dann, wenn er wieder käme, auf den Kopf fallen - dachten sie und erzählten niemandem von dieser Falle. Es ergab sich, dass Vater Franz die Heuhaunzen aus diesem Schuppen herausräumen wollte: Krachhh! - oh je - das tat schrecklich weh! Eine gut gemeinte Idee endete böse, es traf den Falschen. Nicht einmal Maria konnte eine Tracht Prügel verhindern.

Man täte den Zwillingen Unrecht, würde man nur von ihren Streichen erzählen, von denen man allerdings ein Buch füllen könnte. Nun ja, vielleicht noch diesen:

In den großen Schulferien - die Zwillinge mochten etwa vierzehn Jahre alt gewesen sein - waren viele Familien verreist. In Bad Aibling gab es nicht wenige, die wirtschaftlich gut da standen und neben einem pompösen Haus im vom Gärtner gepflegten Garten auch einen schönen Swimmingpool ihr eigen nannten.

Die Zwillinge und einige Freunde wussten genau, in welchen Gärten sich die Pools befanden und waren so gescheit, dass sie manche Alarmanlagen austricksen konnten. So genossen sie, nachdem die Sonne untergegangen war, das Schwimmen und Planschen in einigen dieser Pools. Erwischt hat man sie nie, aber es sprach sich herum, dass Fremde offensichtlich in mehreren Gärten die Schwimmbecken benutzt hatten.

Nun gab es im Ort auch eine Familie, die Milchprodukte herstellte, dadurch sehr reich geworden und nicht beliebt war, sicher auch weil man sich erzählte, dass der Vater von drei hübschen Töchtern angeblich auf Vögel schießt. Die Zwillinge und zwei Freunde beschlossen, sich das genauer anzusehen, zumal das nach dem Hörensagen der größte aller Pools weit und breit sein sollte.

Da sie wussten, dass die Familie nicht verreist war, müsste man zwar besonders aufpassen, könnte aber irgendwie vielleicht auch die begehrenswerten Töchter beobachten. Die waren zwar ein bisschen älter als die Burschen, aber darum umso reizvoller.

Nicht von der Straße aus, sondern von einem Nachbargarten stiegen sie über den Zaun und durch die Lücke einer hohen Hecke in den Garten ein. Sie schlichen zunächst vorbei am Pool - mein Gott war der riesig! - auf die Terrasse. Die Terrassentüren waren leicht geöffnet, jedoch die zugehörigen Lamellentüren zugezogen. Das Licht von innen schien nach außen durch und die Burschen konnten die dort sitzende und sich unterhaltende Runde hören und teilweise sehen, die schrägen Lamellen gaben nur die obere Hälfte frei.

Nun fühlten sich die Burschen sicher und gingen im Garten auf Pirsch. Es war fast Vollmond, man konnte gut sehen. Max fand einen toten Raben, die Freunde noch zwei tote Tauben. Sepp hatte entdeckt, dass im Obergeschoss, oberhalb des Garagendachs ein Fenster beleuchtet war. Über eine angrenzende Esche konnte er auf das Garagendach klettern.

Vorsichtig näherte er sich dem Fenster. Man durfte ihn keinesfalls sehen. Wow, was er da zu sehen bekam war richtig geil! Eine der Töchter saß im Negligé auf dem Bett, mit angezogenem Bein lackierte sie sich die Fußnägel. Eine Weile beobachtete er sie, er fand sie echt schön, tolle Beine! Am liebsten hätte er ans Fenster geklopft und gesagt: »Hallo, ich bin‘s, lass mich doch rein!« Vielleicht kann ich so eine mal aufreißen, dachte er sich.

Dann wollte er die anderen nicht zu lange warten lassen. Wieder unten berieten sich alle zum weiteren Vorgehen. Max meinte:

»Da liegt eh schon ein Ratz im Pool, ich steig da nicht rein, schmeißen wir doch die toten Vögel auch noch dazu.«

»Und die ganzen Gartengeräte, die da rumliegen, versenken wir auch noch«, ergänzte einer der Freunde.

»Wer Vögel tot schießt, hat nichts anderes verdient«, ätzte Sepp schadenfroh.

Gesagt, getan. Das platschte natürlich. Aber die Besitzer hatten schon vorher gemerkt, dass da im Garten etwas im Gange war.

Plötzlich gingen die Terrassentüren auf, gleichzeitig rannten zwei Polizisten mit großen Stablampen in den Garten. Blitzschnell stoben die vier in Richtung Hecke davon, jeder in eine andere Richtung. Drei schafften es noch über den Zaun in den Nachbargarten. Sepp konnte nur noch hinter der Hecke in Deckung gehen. Die Polizisten leuchteten alles aus. Der eine von ihnen rief dem anderen zu, dass er da drüben jemand über den Zaun hätte springen sehen. Beide eilten dort hin, das war Sepps Glück. Er blieb eine gute halbe Stunde reglos flach am Boden liegen und machte sich erst davon, als der Spuk vorüber war.

Die Polizei erwischte niemanden. Den verunreinigten Pool hat man erst am nächsten Tag entdeckt. Die Familie erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Nun aber wusste ganz Bad Aibling, wer Vögel erschießt.

Wie schon erwähnt, gibt es über die Zwillinge außer den Streichen auch Anderes und Positives zu berichten. Vater Franz hatte in ihnen eine tatkräftige Hilfe bei der Ernte und den anfallenden Arbeiten auf dem Hof. Handwerkliches Geschick hatten beide, wobei Max sich mehr um die Instandhaltung der Gebäude und Sepp sich um Traktoren und Landmaschinen kümmerte.

***

In der Luitpold Volksschule gab es eine allerliebste Mitschülerin, die schwarzhaarige Elisabeth Schindler. Wie das eben so ist, spinnen die Buben auch im Alter von zehn Jahren schon auf die hübschen Mädchen. So war es auch mit Max und Sepp und ein paar anderen Buben, sie alle schwärmten von Elli und standen auf sie.

Der gefiel das natürlich, auch wenn einige andere Mädchen ihrem Neid freien Lauf ließen und hässliche Bemerkungen über sie machten. Der Elli ihrerseits gefielen von denen, die um sie warben, die Zwillinge am besten. So ergab es sich, dass man sich außerhalb der Schule öfter traf und sich eine echte Freundschaft entwickelte.

Einmal gingen Elli, Max und Sepp gemeinsam in die Nachmittagsvorstellung ins Bad Aiblinger Kino. Es lief der Film, den alle sehen wollten "Wenn die tollen Tanten kommen". Die drei setzten sich in die hinterste Reihe, Elli in der Mitte, Sepp links, Max rechts neben ihr. Der Film zeigte viel Klamauk und billige Scherze, worüber die drei aber herzhaft lachten.

Plötzlich nahm Max, der Draufgänger, Ellis Hand und drückte seinen Mund auf den ihren. Sie wich erschreckt aus, ließ aber ihre Hand in seiner. Als Sepp das mitbekam, stand er auf und verließ die Vorstellung. Danach hatten die Brüder Zwist, der Max behauptete, die Elli mag nur ihn, der Sepp war sauer. Und die Elli? Irgendwie hat ihr der Draufgänger schon gefallen, aber sie wollte keinen Ärger und den Sepp fand sie, na ja, etwas smarter.

Der Max musste einsehen, dass er die Elli so nicht gewinnen konnte und so kühlte sich die Freundschaft der Drei erst einmal ein wenig ab. Elli war aber immer wieder bei den Mosers auf dem Hof, auch deshalb, weil die Großmutter Maria und der Vater Franz die Elli gerne mochten. Man könnte sagen, sie war so etwas wie eine Ersatztochter. Später wechselte Elli von der Volksschule auf die Realschule und Sepp aufs Gymnasium, sodass die Kontakte seltener wurden, aber nicht abbrachen.

Je älter die Zwillinge wurden, umso mehr entwickelten sich ihre Charaktere auseinander. Max, der Macher, deckte vom Filou und Schlitzohr bis zum bauernschlauen Trickser alle Facetten ab und geriet dadurch immer wieder in Konfliktsituationen. Nicht selten verrannte er sich dann auch. Verantwortlich, wenn etwas schief ging, waren aber immer die anderen. Das ging z. B. so: Von seinem Freund Markus lieh er sich ein Fahrrad aus, das dieser sich gerade neu von seinem Ersparten gekauft hatte.

»Okay«, sagte Markus, »sperr’s ja immer ab und morgen Abend will ich es zurückhaben.«

»Klar doch«, antwortete Max, obwohl er wusste, dass er mit seiner neuen Freundin eine dreitägige Radtour zum Chiemsee geplant hatte.

Wie das halt so ist, wenn man verliebt ist, der Max passte einen Moment nicht auf. Es war abschüssig, er drehte sich nach seiner Freundin um - hat sie die Abzweigung mitbekommen? - und fuhr stangerlgrad an eine dicke Eiche. Bumm! … Jetzt war’s passiert! Vorderrad Achter, Rahmen gestaucht.

Natürlich war jetzt erst mal die Freundin schuld. Obwohl vom Aufprall noch benommen, schrie er sie vorwurfsvoll an: »Zefix, warum fährst du bloß immer so weit hinter mir!!«

Die aber war sich keiner Schuld bewusst und nur besorgt, ob er sich verletzt hätte.

Zu Hause erzählte Max dem Markus, der natürlich mit Blick auf sein schönes und jetzt kaputtes Rad entsetzt reagierte, eine ganz andere Geschichte:

Ein Autofahrer hätte ihm, dem Max, in Rosenheim die Vorfahrt genommen. Er, der Max, konnte nicht mehr ausweichen und kollidierte in voller Fahrt mit dem Opel. Jetzt hätte er, der Max, auch noch den Ärger mit dem Autofahrer am Hals, der nämlich behaupten würde, er hätte die Vorfahrt gehabt, was aber nicht stimmte.

Der Markus schüttelte nur immer wieder ungläubig den Kopf.

»Markus«, meinte der Max schließlich, und war überzeugt, ein faires Angebot zu machen, »den Achter mach ich dir raus, das geht mit einem Speichenwerkzeug, da hilft mir sicher auch der Sepp. Aber um den Rahmen musst du dich selber kümmern, ich kann ja auch nichts dafür, dass der Depp mich umgesäbelt hat, und jetzt hab ich obendrein den Streit mit dem.«

Den Freund war der Max dann ein für alle Mal los und seine Freundin, die das irgendwann später mitbekommen hat, auch.

Sepp entwickelte sich ganz anders. Er suchte den fairen Wettbewerb. Wenn etwas schief ging, resümierte er, was er falsch gemacht haben könnte oder wie er sich hätte anders verhalten können. Schnelle Entscheidungen zu treffen, wenn er sich nicht sicher war, war seine Sache nicht. Sepp war ein Problemlöser und kein Problemverursacher, es machte ihm Spaß, komplizierte Zusammenhänge zu durchdringen und Neuland zu betreten. Seine angeborene Kreativität war dafür die beste Voraussetzung.

Als die Brüder sechzehn Jahre alt waren, kam es zu einem folgenschweren Unfall. Sepp arbeitete in der Scheune, schob mit dem Traktor Heuballen in den hinteren Teil und stapelte sie. Max war mit der Leiter in den Dachboden gestiegen und reparierte auf der Leiter stehend eine undichte Stelle am Dach. Dabei glitt ihm ein Dachziegel aus der Hand. Sepp sah den Dachziegel auf sich zufliegen und wich reflexartig mit dem Traktor aus. Der Traktor rempelte die Leiter um und Max stürzte aus etwa fünf Meter Höhe auf den Scheunenboden.

Es krachte fürchterlich, Max schrie laut auf. Er konnte sich nicht mehr rühren. Sepp war zutiefst entsetzt und unfähig rational zu handeln. Maria, die durch den Schrei aufgeschreckt herbeieilte, rief sofort den Notarzt. Das denkbar schlimmste Szenario wäre eine Querschnittslähmung, befürchtete sie.

Im Krankenhaus dauerte es einige Stunden bis Maria, Franz und Sepp das Ergebnis der Diagnose erfuhren: Beckenbruch und Fraktur des rechten Oberschenkels.

»Gott sei Dank keine Wirbelverletzung«, stellte Maria erleichtert fest.

Max musste seine Lehre ein halbes Jahr unterbrechen, das er mit Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten verbrachte, ehe er wieder halbwegs hergestellt war und ohne Krücken laufen konnte.

Jedoch schlimmer als die gesundheitliche Einschränkung bei Max war die Tatsache, dass die Brüder sich von nun an nicht mehr grün waren und sich aus dem Weg gingen. Max gab natürlich Sepp die ganze Schuld an dem Unfall. Sepp tat die Sache zwar unendlich leid, nur Schuldgefühle hatte er nicht. Schließlich war Max ja der Ziegel aus der Hand gefallen und die Ursache für sein reflexartiges Ausweichen.

***

Max schloss seine Lehre erfolgreich ab und setzte nach einem Berufsjahr ein dreisemestriges Studium in Rosenheim drauf. 1981 kehrte er als ausgebildeter Landwirt auf den Moser Hof zurück. Entsprechend seiner Veranlagung und seiner Ausbildung war klar, dass er später den Hof übernehmen würde.

Sepp studierte in München an der TU Elektrotechnik mit Schwerpunkt Telekommunikation. Während des Studiums freundete Sepp sich mit seinem Kommilitonen Jonas Winter an. Über das Wochenende war Jonas oft Gast auf dem Moser Hof. Für einen Stadtmenschen wie Jonas war der Hof mit der vielfältigen Tierwelt eine interessante Abwechslung. Besonders angetan war er von der schmusigen kleinen Katze Fiffi, die sich von Anfang an gerne von ihm streicheln ließ.

An einem Wochenende lernte er Elli kennen, in die er sich hätte verlieben können, wenn sich die Gelegenheit des Öfteren ergeben hätte. Jonas merkte aber auch sofort, dass es zwischen Sepp und Elli knisterte und er wollte keinesfalls als Störfaktor dazwischen stehen.

In Bad Aibling gibt es im Ortsteil Mietraching ein Areal mit Radomen (äußeren Schutzhüllen), die riesige Abhörantennen beinhalten. Das Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes der Luftwaffe wurde nach dem Weltkrieg von der US Army übernommen und später von den Amerikanern zu einer Abhörstation ausgebaut. Nach 1970 zu Zeiten des kalten Krieges wurde gemunkelt, dass das US-Verteidigungsministerium und die National Security Agency die Station für die amerikanischen Auslandsgeheimdienste betrieben.

Sepp hatte sich immer schon dafür interessiert, was da ablief, konnte aber nie etwas Konkretes herausfinden. Gemeinsam mit Jonas besichtigten sie von außen das hermetisch abgeschirmte Gelände und spekulierten, was die Amerikaner dort wohl abhören würden. Natürlich konnte technisch fast der gesamte Funkverkehr abgehört werden, aber welche Frequenzen waren von Bedeutung und welche Reichweiten ließen sich realisieren? Wieweit konnten auch Satellitenkommunikationen abgehört werden?

Die Satelliten Syncom 1 und 2 gab es schon seit Mitte der 60er Jahre, sie waren die ersten Synchronsatelliten für den terrestrischen Fernsprechverkehr und die Telekommunikation. Später kam der erste kommerziell genutzte Satellit INTELSAT dazu, in den 70er Jahren die Europäischen Satelliten Symphonie 1 und 2.

Sepp und Jonas bekamen nichts heraus und wussten nur das, was sie über die Technik im Studium gelernt hatten. Beide interessierten diese Gerüchte über die Station in Mietraching und sie beschlossen, die Geschichte weiter aufmerksam zu verfolgen.


Im Zeichen der Zwillinge

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