Читать книгу Chaos - Gilles Kepel - Страница 8

EINLEITUNG EIN GRAB FÜR SYRIEN

Оглавление

Von 1977 bis 1978, also vier Jahrzehnte bevor dieses Buch entstand, hielt ich mich als Stipendiat der arabischen Sprache für ein Jahr in Syrien auf, am Institut Français in Damaskus. Für uns angehende Arabisten war dies Pflicht und zugleich ein Sesam-öffnedich zu den faszinierenden, uns noch verborgenen grammatikalischen und phonetischen Geheimnissen des Orients. Bis auf wenige Ausnahmen gelang niemandem in unserer Zunft eine Karriere, der nicht im »Scham« geweilt hatte. Mit dem alten und im lokalen Dialekt noch gebräuchlichen semitischen Wort bezeichneten wir unter uns sowohl die Levante als auch deren traditionelle Hauptstadt. In der muslimischen Geografie, in der man sich vom Westen her gen Mekka beugt, steht der Scham für links oder den Norden, und der Jemen für rechts beziehungsweise den Süden.

Weder meine Studienkollegen noch ich hätten uns damals vorstellen können, dass der Begriff des Scham vierzig Jahre später zum verbindenden Schlagwort der Dschihadisten in den französischen Banlieues werden würde, die sich den Kämpfern des sogenannten »Islamischen Staats« (oder Daesh) anschlossen, um »Abtrünnige« zu massakrieren. Zu ihren Opfern gehörten zunächst vor allem Alawiten, also Gläubige jener esoterischen Konfession, zu der sich auch der syrische Präsident Hafiz al-Assad bekannte. Dann kamen sie zurück, um ihre »ungläubigen« Landsleute im Bataclan oder dem Stade de France zu töten. Und in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht ausmalen können, als erfahrener Arabist im Juni 2016 von einem franko-algerischen IS-Kämpfer zum Tode verurteilt zu werden. Ursprünglich aus Roanne stammend, war er in Oran aufgewachsen, befand sich nun aber in der syrischen Stadt Raqqa, wo der sogenannte »Islamische Staat« seine kurzlebige Hauptstadt errichtet hatte. Verkündet wurde das Urteil über Facebook.live von einem seiner Handlanger, einem Franzosen mit marokkanischen Wurzeln, der in Magnanville einen Polizisten und dessen Ehefrau ermordete. Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich in der Folge gezwungen sein würde, mitten im Pariser Quartier Latin unter Polizeischutz zu leben. Zu meinen Studienzeiten war das Internet natürlich noch unbekannt, ja sogar unvorhersehbar oder undenkbar, und in einem zweidimensionalen Atlas sah man Staaten, deren Staatsgebilde und Territorien eindeutig durch schwarze Linien gekennzeichnet waren. So wie auf der Karte des Römischen Reichs, die 1974, also vor meinem orientalischen Traum, im Unterrichtsraum für Geisteswissenschaften hing und mich dazu verführte, im folgenden Sommer in Venedig ein Schiff zu besteigen. Ich wollte in Istanbul, in der Levante und Ägypten mit eigenen Augen all die Gegenden entdecken, die auf der Karte zu sehen gewesen waren. Niemand konnte damals die zahllosen Zusammenstöße antizipieren, die die digitale Welt und die sozialen Netzwerke in den Köpfen der Menschen und den Darstellungen der Welt auslösen sollten. Niemand ahnte die geistige Verwirrung voraus, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergehen sollte, mit der Auflösung von räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten, die uns vierzig Jahre später die Orientierung hat verlieren lassen.

Auch wenn in Damaskus Ende der 1970er-Jahre Ruhe herrschte, so wütete das Chaos bereits im benachbarten Libanon. Der Bürgerkrieg mit seinen Gräueltaten tobte entlang politisch-konfessioneller Linien und verdeutlichte damit die Verwirrung, die zwischen den beiden Identitäten, »islamisch-progressiv« und »christlich-konservativ«, herrschte. Diese hybriden Bezeichnungen standen für den Konflikt um die bewaffneten palästinensischen Flüchtlinge im Libanon, bei dem die immer weniger werdenden Maroniten, in der Mehrheit pro-westlich eingestellt, mit den Sunniten um die Macht rangen. Da die Sunniten sich eher für den Sozialismus begeisterten, versah man sie mit dem Attribut »progressiv«, auch wenn dies heute eher unangemessen oder veraltet wirkt. Was damals nur wenige Beobachter bemerkten: Die Ölmonarchien der arabischen Halbinsel und des saudischen Wahhabismus waren nach dem Oktoberkrieg 1973 durch den atemberaubenden Anstieg des Erdölpreises unglaublich reich geworden und entwickelten sich nun zu den wichtigsten Akteuren der um sich greifenden Reislamisierung der Region und versuchten, den kosmopolitischen Geist der Levante, wie ich ihn in meiner Jugend kennengelernt hatte, zu ersticken. Und niemand hätte gedacht, dass die Iranische Revolution, die wenig später ausbrach, aus den ehemals eher unbedeutenden, inzwischen aber durch eine konkurrierende islamistische Doktrin radikalisierten Schiiten die wichtigste politische Kraft des Libanon machen würde, die dann über Syrien und den Irak auch Persien erreichte.

Meine Kollegen am Institut Français in Damaskus und ich waren Ende der 1970er-Jahre von der syrischen Kultur fasziniert, in die wir unsere bunt gemischten Wunschvorstellungen hineinfantasierten. Zumeist hatten wir nur wenig gelesen und waren kaum mit den in Vergessenheit geratenen Texten von Orient-Reisenden wie Volney oder Chateaubriand vertraut. Wir waren in der Regel oberflächlich links, mit einer Ideologie ausgestattet, die in den zehn Jahren nach dem Mai 1968 den studentischen Mikrokosmos beherrschte. In dem Jahrzehnt hatte dieses Linkssein jedoch seinen ursprünglichen Dogmatismus verloren, und es blieb nur eine vage Lehrmeinung übrig, eine wirre Vision der Welt, zu der einige wenige feste Überzeugungen wie Antiimperialismus und Antizionismus gehörten. In der Erwartung, dass diese zusammenbrechen würden, applaudierten wir a priori Syrien unter Hafiz al-Assad als Speerspitze des Widerstands gegen Israel und als Vorreiter des arabischen Progressivismus.

Ich habe meine Illusionen recht schnell aufgegeben. Ich liebte die Landschaften Syriens – sie erinnerten mich an die vertraute Umgebung von Nizza, wo ich meine Kindheitsferien verbrachte, und zugleich an die Odyssee, die ich in Vorbereitung auf mein Studium kurz zuvor für einen Griechisch- und Lateinkurs gelesen hatte. Diese romantische Wiederkehr konnte jedoch nur kurz die Brutalität eines Regimes und die Gewalttätigkeit einer Gesellschaft überdecken, wie sie Riad Sattouf sehr anschaulich in den seit 2015 erschienenen Comics Der Araber von morgen beschreibt – und zwar genau so, wie ich es selbst erlebt habe. Im Pariser Quartier Latin war weder die Freiheit meiner Kollegen noch meine eigene je eingeschränkt gewesen, doch in Syrien mussten wir nun lernen, uns in der Öffentlichkeit bedeckt zu halten und anderen Menschen gegenüber misstrauisch zu sein. Wir entdeckten den Alltag in einer »linken« Diktatur und verstanden, dass wir weder von denen sprechen sollten, die in den Kerkern verschwunden waren, noch uns mit ihren Angehörigen zeigen durften. Am Institut Français in Damaskus lernte ich dann den acht Jahre älteren Michel Seurat (geboren 1947) kennen. Der hervorragende Arabist und von Alain Touraine inspirierte Soziologe widmete sich der Analyse des syrischen Regimes. Als er später mit seiner Frau und seinen kleinen Töchtern im Libanon wohnte, musste er seine Forschungsarbeit mit dem Leben bezahlen: Er wurde am 22. Mai 1985 am Flughafen Beirut von der aus Teheran und Damaskus gesteuerten, schwer zu fassenden »Organisation des islamischen Dschihad« entführt und starb 1986 in Gefangenschaft. Seine Mörder schmähten ihn als »spezialisierten Wissenschaftsspion«.

Noch vor diesem traumatischen Ereignis, das mein Leben und meinen Blick entscheidend prägen sollte, war es vor allem die vom Schock der syrischen Realität ausgelöste Desillusionierung, die mich nach meiner Rückkehr nach Paris zu einer Entscheidung trieb: Ich gab das Studium der klassischen Geisteswissenschaften und der von ihnen verfremdeten alten arabischen Kultur auf und widmete mich fortan der Politikwissenschaft, um das Drama, das sich im Nahen und Mittleren Osten abspielte und meine simplen Gewissheiten ins Wanken brachte, zu verstehen. Kaum hatte ich 1978 mein Studium aufgenommen, sah ich mich mit einem weiteren Paradox konfrontiert: dem Ausbruch der »Islamischen Revolution« im Iran. Trotz meiner Zeit in Damaskus verfügte ich nicht über den inneren Abstand, der es mir erlaubt hätte, die »revolutionäre«, schiitische und antiimperialistische Islamisierung in Teheran mit ihrem »reaktionären«, sunnitischen und antisozialistischen Gegenstück in Riad in Verbindung zu bringen. Dabei begann in den 1970er-Jahren jener chaotische Kreislauf, zu dessen Motor zum einen die gewaltigen Einnahmen durch den Ölverkauf und zum Zweiten das Wachstum des politischen Islam wurden – was zur Zerstörung der Levante führte. Das Zusammenspiel dieser beiden Phänomene prägte die vergangenen fünfzig Jahre und damit zwei Generationen von Menschen. Mit der Ausrufung des »Kalifats« durch den sogenannten »Islamischen Staat«, zu Beginn des Ramadan am 29. Juni 2014, erreichte dies im Land des Scham seinen monströsen Höhepunkt. Im selben Jahr sank der Rohölpreis um sagenhafte 70 Prozent, was uns dazu zwingt, die mittel- und langfristigen Perspektiven der Region zu überdenken, also auch ihre politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft, darunter auch die Frage nach der Stellung der Religion in der Gesellschaft. Mehrere Gründe hatten zu dem Rückgang des Ölpreises geführt: Durch die gesteigerte Förderung von Schieferöl entwickelten sich die Vereinigten Staaten neben Russland und Saudi-Arabien zu einem der drei größten Ölproduzenten weltweit. Auch das veränderte Konsumverhalten der OECD-Länder, in denen Elektroautos perspektivisch eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, ließ durch sinkende Nachfrage den Ölpreis in den Keller gehen. Da sich beides gleichzeitig abspielt, steht das gesamte Einkommensmodell infrage, das sich in den letzten fünfzig Jahren im Nahen Osten etabliert hat, wie auch der Fortbestand seiner logischen Folge, nämlich des Hegemonialanspruchs des politischen Islam, den sowohl die arabischen Ölmonarchien wie auch ihre iranischen Rivalen auf der anderen Seite des Persischen Golfs propagieren.

Ein scheinbar triviales Ereignis belegt die nie da gewesene Entkopplung des Herrscherhauses der Halbinsel vom salafistischen Establishment, das die Macht der Saudis in den zurückliegenden Jahrzehnten religiös legitimierte, während es sich zugleich dank der Zustimmung der gesamten sunnitischen Welt ausbreiten konnte: Mit seinem Dekret vom 26. September 2017 widersetzte sich der saudische König Salman ibn Abd al-Aziz den Protesten der Ulemas und ihren strengen moralischen Ansprüchen und erlaubte Frauen mit dem Ende des Ramadan 2018 das Autofahren. Siebenundzwanzig Jahre vorher, genauer am 6. November 1990 – rund eine Generation zuvor – waren saudische Frauen, die sich in Riad hinters Steuer gesetzt hatten, noch strafrechtlich verfolgt und angefeindet worden. Kronprinz Mohammed bin Salman sah sich nun mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Arbeitsmarkt für den Übergang in das Zeitalter nach dem Öl umzugestalten und Frauen durch einen Zugewinn an Mobilität den Zugang zur Arbeitswelt zu erleichtern. Der mit seinen zweiunddreißig Jahren im Vergleich zum ansonsten von alten Männern dominierten Königshaus noch junge Kronprinz beklagte im November 2017 den extremistischen Überbietungswettbewerb, an dem sich Saudi-Arabien seit 1979 beteiligt habe. Und tatsächlich begann jenes entscheidende Jahr 1979 mit der Rückkehr Chomeinis nach Teheran und endete mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan, dem Vorspiel zum dortigen Dschihad. Nun war die Büchse der Pandora geöffnet, und der internationale islamistische Terror hält seitdem unvermindert an. So wurde zugleich die Essenz des saudi-wahhabitischen Systems infrage gestellt, das den Nahen und Mittleren Osten seit dem Sieg der Waffe Erdöl im Oktoberkrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten dominiert hatte. Die anderen Bezeichnungen für diesen Krieg, »Jom-Kippur-Krieg« oder »Ramadan-Krieg«, belegen, wie stark die zukünftige politische Ausrichtung durch religiöse Dogmen geprägt werden würde.

Die folgenden Seiten werden diese chaotischen Jahrzehnte in den Zusammenhang einordnen – und dann versuchen, die sich abzeichnenden Fortentwicklungen zu skizzieren. Schließlich entspricht das vergangene halbe Jahrhundert genau dem Zeitraum meiner eigenen Erfahrungen, die ich persönlich als Zeuge vor Ort, als Beobachter und Chronist gemacht habe, bis ich gar von meinem Forschungsgegenstand aufgesogen wurde, als der sogenannte »Islamische Staat« mich zum Tode verurteilte. Diese jüngere Vergangenheit soll auf persönliche Art und Weise interpretiert werden, wobei ich die Fakten strukturiere und neben mir erhellend erscheinenden Einzelereignissen auch Entwicklungen aufzeige, die auf »lange Sicht« wirksam wurden.

Im ersten Teil des Buches werden die vier Jahrzehnte zwischen dem Oktoberkrieg 1973 und den als »Arabischer Frühling« bekannten Aufständen, die in Wahrheit im Winter 2010/2011 begannen, chronologisch dargestellt. Hier wird die Rede sein von der zunehmenden Islamisierung der Politik und der Gewaltspirale des Dschihad, der nach und nach den ganzen Planeten eroberte – angefangen im Jahr 1979, als man auf die Iranische Revolution mit einem von den USA unterstützten Krieg in Afghanistan antwortete, der zehn Jahre später in den Zerfall der Sowjetunion mündete. Ferner werden die drei Phasen des Dschihadismus erläutert, zu denen auch der 11. September 2001 gehört, an dem die Vereinigten Staaten völlig überraschend und dramatisch wie von einem Bumerang getroffen wurden. Dem beginnenden christlichen Jahrtausend sollte damit auf spektakuläre Art und Weise ein islamistisches Gewand übergestülpt werden. Diese Rückschau baut auf einem halben Dutzend meiner Veröffentlichungen zum Thema auf, angefangen von Der Prophet und der Pharao (1985) bis Terreur et martyre (2008), von denen ich nur jenes Material aufgegriffen und eingebaut habe, das mir für die Interpretation der entscheidenden, während der 2010er-Jahre plötzlich aufgetretenen Phänomene aussagekräftig erschien.

Dieses paradoxe Jahrzehnt steht im Mittelpunkt des zweiten Teils. Es begann hoffnungsvoll mit dem Arabischen Frühling 2011, fand seine Fortsetzung dann aber in der Verkündung des sogenannten »Islamischen Staats« durch Daesh und die Verbreitung des islamistischen Terrors bis nach Europa. Es endete schließlich mit dem Sturz des »Kalifats« im Herbst 2017, als nach Mossul auch Raqqa zurückerobert wurde. Ich habe auf beiden Seiten des Mittelmeers an der Analyse dieser Widersprüchlichkeiten gearbeitet: wie die Demokratiebewegungen trotz aller in sie gesetzten Hoffnung zum einen in das unvorstellbare Grauen des IS münden konnten und zum anderen in autoritären Regimen, Schurkenstaaten sowie recht- und gesetzlose Gebieten. Aufbauend auf Fragestellungen, die ich in Passion arabe (2013) und Terror in Frankreich (2015) entworfen habe, wird es um die Situation der sechs Länder gehen, die eine »arabische Revolution« durchlebten – also Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen und Syrien. Diesen schließen sich Überlegungen zum Irak an, denn im irakisch-syrischen Grenzgebiet erwachte das Monster IS zum Leben. Da der sogenannte »Islamische Staat« glücklicherweise Ende 2017 gestürzt wurde, können wir heute mit ausreichend Abstand die Gesamtheit der Ereignisse jener tragischen Zeit betrachten. Ich habe mich bemüht, aus der Menge an Tatsachen, von denen im Folgenden die Rede sein muss – etwa weil sie uns im wahrsten Sinne des Wortes gewaltsam aufgezwungen wurden –, ein großes Tableau zu entwerfen und aus diesem dann Lehren zu ziehen, indem ich die aktuellen Ereignisse in das Langzeitgedächtnis der vorangegangenen Jahrzehnte eingeschrieben habe. Die Levante und vor allem Syrien, denen der größte Teil dieses Buchs gewidmet sind, bilden das Herzstück der Untersuchung, da in meinen Augen sich in dieser Region die Krisen, die den Nahen und Mittleren Osten sowie die muslimischen Länder Nordafrikas erschüttern, verdichteten und hier ihren Höhepunkt erreichten.

Im letzten Teil schlage ich eine Interpretation jener Ereignisse vor, die sich seit dem Winter 2017/2018 ereignet haben, also seit jener Phase, die mit dem Sturz des IS und der absehbaren Niederlage des syrischen Aufstands eingeleitet wurde. So soll das Ausmaß der tektonischen Verschiebungen erkennbar werden, deren erste Anzeichen bereits heute sichtbar sind. Dieses Material, zum Großteil bei Reisen durch Nordafrika sowie den Nahen und Mittleren Osten gesammelt, erlaubt uns, Hypothesen für die Szenarien genau zu überprüfen, die beide Seiten des Mittelmeerraums betreffen – zum Guten oder zum Schlechten. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Dschihad und dem Salafismus, aus dem Auseinanderbrechen des »sunnitischen Blocks« und den derzeitigen Umwälzungen auf der arabischen Halbinsel? Wird sich der Iran die Hegemonie in einer Region des »schiitischen Halbmonds« sichern oder macht die Auseinandersetzung mit Trumps Amerika diesen Erfolg zu einem Pyrrhussieg? Kann das nach seinem Einsatz in Syrien wieder zu einer Großmacht gewordene Russland unter Wladimir Putin zwischen seinen so widersprüchlichen Verbündeten wie Israel, Saudi-Arabien, der Türkei und dem Iran vermitteln? Und gelingt es Europa, das sich vor allem durch seine von Terroristen wie Flüchtlingen angesteuerte Mittelmeerküste plötzlich wieder in einer Krisenzone befindet, seine Passivität zu überwinden und sich erneut als geopolitischer Protagonist zu positionieren? Derzeit sieht Europa, von der Blockade seiner Institutionen gehemmt, den Zentrifugalkräften einer extremen Rechten wie eines linken, von Islamismus durchsetzten Populismus ohnmächtig zu.

Das Desinteresse der amerikanischen Supermacht, immerhin größter Öl- und Schiefergasproduzent, an der Region begann unter Präsident Obama und wird auf spektakuläre Art und Weise von dessen Nachfolger Donald Trump fortgesetzt. Damit ist Europa gezwungen, seiner Verantwortung voll und ganz gerecht zu werden. Unter diesen Voraussetzungen ist die Wiederbelebung der Levante ein entscheidender Punkt. Die Region wurde ihrer Lebensgrundlage beraubt, als der unternehmungsfreudigste Teil der Bevölkerung an die Küsten des Persischen Golfs abwanderte. Sie dürfte jedoch nach all den erschöpfenden Schlachten zwischen den Feinden auf ihrem Gebiet vom strukturellen Niedergang des Ölpreises besonders getroffen werden. Die Stärkung der Levante als Gelenk zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten und der Zusammenhalt der beiden Regionen sind daher das Mittel der Wahl, um einen kulturellen Zusammenstoß zu vermeiden, der ansonsten die Krisen der letzten Jahrzehnte verstetigen würde. Indem es sich bemüht, einen Entwurf für dieses notwendige Vorhaben zu entwickeln, möchte mein Buch einen kleinen Beitrag zum Aufbau unserer Zukunft liefern – über das Chaos hinaus.

Chaos

Подняться наверх