Читать книгу Still ruht der See - Gisela Witte - Страница 8

Оглавление

Kapitel 3

Kathrin schreckt hoch. Im Bett sitzend starrt sie in den halbdunklen Raum, dann fällt ihr Blick auf den Wecker. Die Neonzahlen zeigen sechs Uhr.

Nachts ist sie immer wieder aufgewacht. Das blutige Beil, ein besonderes Willkommensgeschenk, hat ihr Alpträume beschert. Wer schickt ihr so etwas und warum? Sie kennt hier im Ort niemanden näher. Franks Ratschlag, das Haus zu verkaufen und damit allen Problemen aus dem Weg zu gehen, konnte sie auch nicht trösten oder überzeugen.

Gerade hat sie ein Traum heimgesucht, der sie häufig kurz vor dem Aufwachen quält: Frank verlässt sie nach einem Wutanfall aus Gründen, die in den verworrenen Traumbildern nicht deutlich werden. Schwer atmend kommt sie erst allmählich zu sich. Der Traum hinterlässt ein dumpfes Gefühl der Trauer und Schuldgefühle. Was hat sie nur falsch gemacht? Warum will Frank sie verlassen? Hat sie sich zu wenig um ihn bemüht? Sie findet keine Antwort.

Erleichtert stellt sie fest, dass die Kopfschmerzen verschwunden sind. Sie steigt aus dem Bett, öffnet die Fensterläden, tritt an das halb geöffnete Fenster und atmet die kühle Luft tief ein. Es ist ein schöner Morgen, der sich mit einem Glühen über den Baumwipfeln ankündigt. Aber noch breitet sich die Wiese wie ein großer Schatten aus, der sich im See fortsetzt. Da erblickt sie Frank. Der Traum hat gelogen. Frank hat sie nicht verlassen. Er läuft in seinem Jogginganzug am Ufer entlang, hält an, streckt die Arme in die Höhe, lässt sie fallen und schaut in die Runde.

Bevor er nach Berlin zurückfährt, will sie wenigstens mit ihm frühstücken. Sie springt unter die Dusche, zieht sich im Eiltempo an. Mit nackten Füßen rennt sie die Holztreppe hinunter, durchquert die Halle und tritt durch die Flur Tür in den Garten. Der Tisch auf der Wiese ist mit einer blau karierten Tischdecke gedeckt. Frank sitzt jetzt auf einem der beiden Klappstühle, von denen die weiße Farbe abblättert. Die Zutaten für sein Frühstück hat er um den Teller gruppiert.

»Guten Morgen«, sagt sie, streicht ihm über die Haare und küsst ihn auf die Wange. Er sieht so frisch und lebendig aus in der Morgensonne. So gerne würde sie heute etwas mit ihm unternehmen.

Sie nimmt eines der fünf Döschen auf dem Tisch in die Hand: »Avocado Mousse« steht auf dem Etikett. Auf einem Teller liegen drei Brotscheiben von undefinierbarer Farbe.

»Na, alles in Ordnung?«, brummelt er und verfolgt ihren Blick. »Ja, ich habe mich für eine Diät entschlossen. In der Umstellungsphase esse ich noch Brot, selbstverständlich nur Bio Brot, von dem ich genau die Inhaltsstoffe kenne.« Frank hebt den Zeigefinger. »Der Durchschnittsmensch denkt nicht nach und ernährt sich von dem, was er im Supermarkt so vorfindet. Wusstest du, dass unsere Verdauungsorgane identisch mit denen von Schimpansen sind? Sie ernähren sich von Früchten, von grünem Blattgemüse, Kräutern, von Nüssen und nur zu zwei Prozent von Kleintieren. Und die gesundheitlichen Auswirkungen sind ja bekannt. Kein Schimpanse leidet an Zivilisationskrankheiten.«

Kathrin starrt ihn mit offenem Mund an. Von Zeit zu Zeit packt Frank die Angst vor den Folgen des Älterwerdens. Dann stürzt er sich auf allerlei kuriose, vermeintlich gesundheitserhaltende Maßnahmen.

»Und was trinkst du da?«, fragt sie und deutet auf den Becher mit gelber Flüssigkeit.

»Meinen basischen Morgentee.«

»Da koche ich mir doch lieber einen säurehaltigen Morgenkaffee«, antwortet sie und erhebt sich.

Als sie zurückkehrt, mustert er die Vollkornbrötchen und das Holzbrett mit den verschiedenen Käsesorten auf ihrem Tablett, wie sie meint, mit neidvollem Blick. Aus Erfahrung weiß sie schon jetzt, dass Frank seine Schimpansen Diät nicht lange durchhalten kann. Dazu genießt er gutes Essen viel zu sehr.

»Das ist hier eine erstklassige Immobilie, ein Wassergrundstück und dazu noch voll erschlossen.«

Kathrin will sich dazu nicht äußern.

»Das Haus würde beim Verkauf eine Menge Geld bringen«, sagt Frank nach einer Weile des Schweigens. »Ich könnte dir auf der Stelle einige solvente Käufer vermitteln.« Sein Blick wandert über die Hausfassade, die Wiese, über das wild wuchernde Gartengelände bis zum Ufer des Sees.

»Früher war das ein richtiges Gutshaus mit Ställen, Scheunen, Gesindehäusern«, antwortet Kathrin. »Mit Wäldern und jede Menge Land. Als die Geschwister meines Großvaters in den dreißiger Jahren ausgezahlt werden mussten, wurde der größte Teil verkauft. Das war gut so, sonst wäre womöglich später zu DDR-Zeiten alles enteignet worden. So stand bei der Wende mein Großvater noch im Grundbuch und damit waren die Eigentumsverhältnisse klar. Das ist übrigens das alte Kutscherhaus.« Katrin deutet auf ein Gebäude, das auf dem Nachbargrundstück weiß durch die Bäume schimmert. »Es stand eine Weile leer. Der Onkel hat es erst wieder vermietet, kurz bevor er ins Heim kam.« Sie zögert, schneidet ihr Brötchen auf und sagt nach einem kurzen Moment: »Ich überlege die ganze Zeit, was ich mit dem Haus machen soll. So lange ist es schon im Familienbesitz. Anderseits ist der Verkauf verlockend. Mit dem Geld könnte ich mich selbstständig machen.«

Sie sieht seine finstere Miene und zögert. »Ach, übrigens habe ich dir schon gesagt, dass ich meinen Job gekündigt habe? Ich … «

Er unterbricht sie. »Wie bitte? Schon wieder? Du hast schon wieder deine Arbeit gekündigt? Das ist bereits das dritte Mal in fünf Jahren.«

Sie verschweigt ihm, dass ihr die Leitung der

Beratungsstelle angetragen worden war. Das würde ihn noch mehr auf die Palme bringen. »Hör mir doch zu, Frank. Mein Job hat mir keinen Spaß mehr gemacht. Ich habe geglaubt, ich könnte Menschen helfen, das war aber sehr begrenzt, nicht so, wie ich gehofft habe. Ich bin noch jung. Ich will Neues lernen, einen Job, der mich zufrieden macht. Außerdem … «

Frank fällt ihr ins Wort. »Ich kann schließlich auch nicht nach Lust und Laune meine Arbeit kündigen. Ich hab mein Studium aufgeben müssen, um Geld zu verdienen.«

Diese Unterhaltung wiederholt sich in regelmäßigen Zeitabständen. Katrin kann das nicht mehr hören und winkt ab. »Ach komm, du hast es gerade nötig.« Erst nach achtzehn Semestern hat Frank sein Architekturstudium aufgegeben, um als Immobilienmakler zu arbeiten.

»Ja, spotte du nur. Bei deiner chaotischen Lebensplanung können wir froh sein, dass wir kein Kind haben. Ein Kind braucht Beständigkeit. Das ist ja nicht so dein Ding.«

Kathrin ignoriert die Bemerkung mit dem Kind. Das ist unfair und ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen. Sie will noch nicht Mutter werden und fühlt sich von ihm bedrängt.

»Jetzt weiche mal nicht vom Thema ab und lass es gut sein. Habe ich jemals von deinem Geld gelebt? Und einen Job wie den in der Bratungsstelle, finde ich bei meiner Qualifikation allemal«, antwortet sie selbstbewusst. »Ich brauche eine Herausforderung, möchte etwas Neues machen. Ich sehe das Erbe als Chance, mich in eine andere Richtung zu entwickeln. Zum Beispiel könnte ich das Haus gewerblich nutzen, eine Pension eröffnen. Übrigens besucht uns meine Kollegin Simone am Wochenende. Vielleicht hat sie ein paar gute Tipps.«

Frank zieht eine Grimasse. Schon häufiger hat er gehässige Bemerkungen über Simone gemacht. Kathrin steht ihr auch nicht besonders nahe, aber sie kann sich Franks Antipathie nicht erklären. Simone hatte sich selbst eingeladen und Kathrin hatte sie nicht vor den Kopf stoßen wollen.

»Ich kann mir gut vorstellen, hier zu leben«, sagt Kathrin trotzig. »Mein Erbe reicht auch für notwendige Renovierungen aus.« Frank sieht sie grimmig an, aber sie fährt unbeirrt fort. »Es hätte auch enorme Vorteile für dich. Wie wäre es, wenn du dir hier ein Büro einrichtest, mietfrei?« Sie grinst. »Außerdem kannst du im Garten und im Gewächshaus alles selbst anbauen, was ein durchschnittlicher Schimpanse so braucht. Ist das nicht reizvoll? Was meinst du?« Sie sieht ihn herausfordernd an.

Er runzelt die Stirn, seine blauen Augen werden dunkel.

»Sehr witzig! Davon höre ich jetzt zum ersten Mal. Entschuldige also, wenn ich nicht gleich wie irre losjubele. Ich habe es nicht gern, ungefragt verplant zu werden. Außerdem darfst du die Renovierungskosten von so einem Riesenkasten nicht unterschätzen. Die Schäden an einem Haus stellen sich immer erst bei der Renovierung heraus. Davon hast du keine Ahnung. Ich versichere dir, versteckte Baumängel können jeden ohne ein größeres Finanzpolster ruinieren. Bleib lieber bei Sachen, von denen du etwas verstehst. Ich garantiere dir schlaflose Nächte ohne Ende!«

»Aber … «, setzt Kathrin an. Franks Handy klingelt. Er unterbricht sie mit einer abwehrenden Handbewegung, steht auf und geht in Richtung See. Am Ufer läuft er hin und her, und gestikuliert heftig, während er telefoniert.

Einen Moment lang bleibt Kathrin sitzen, um Franks Standpauke zu verdauen. Dann trägt sie das Frühstücksgeschirr in die Küche. Dort schaut sie sich prüfend um. Die Speisekammer hat sie noch nicht inspiziert.

Sie öffnet die klemmende Tür und entdeckt eine größere Anzahl von gusseisernen Kasserollen, Pfannen und Kuchenformen. Zwei Regale sind vollgestellt mit Gläsern von eingeweckten Pflaumen, Birnen und mit hausgemachter Erdbeer- und Brombeermarmelade, alle sorgfältig mit Datum versehen. Wer weiß, welche Überraschungen sonst noch im Haus auf sie warten.

Da erscheint Frank in der Küchentür. »Das hatte ich ja schon bei unserer Ankunft angekündigt, muss jetzt nach Berlin fahren, bin wahrscheinlich abends zurück.« Er hebt abwehrend die Hand. »Bitte mach kein Theater, stehe ohnehin unter einem Wahnsinnsstress.« Flüchtig küsst er sie auf die Wange und verschwindet.

Kathrin tritt ans Fenster und sieht ihm hinterher, wie er das Tor öffnet und mit seinem BMW hinausdüst.

In ihren schlimmsten Träumen hat sie sich den Aufenthalt hier im Haus nicht so vorgestellt. Eine Runde durch das Haus wird sie auf andere Gedanken bringen. Sie steckt sich den großen Schlüsselbund, den ihr der Notar ausgehändigt hatte, in die Hosentasche und geht auf Entdeckungsreise. Im Erdgeschoss öffnet sie die Fenster und lässt Sonne und warme Luft herein. Nur einige der Räume sind möbliert, Ölbilder an den Wänden zeigen Landschaften oder Ansichten des Sees. Ein großformatiges gerahmtes Foto gelangt in ihr Blickfeld, auf dem die Großeltern abgebildet sind. Großmutter mit einem Stirnband um den Pagenkopf geschlungen und Großvater mit geöltem Haar und Oberlippenbart. Sie schauen sich in die Augen und tanzen mit sichtlichem Spaß Charleston.

In dem getäfelten Wohnzimmer, dem größten Raum im Erdgeschoss, stößt sie auf den gewaltigen Eichenschrank mit geschnitzten Türen und auf ein Biedermeiersofa, daneben eine Kommode. Nur wenige Möbelstücke sind noch von der Familie erhalten geblieben. Kathrin steckt nacheinander alle größeren Schlüssel an ihrem Bund in das Schloss des Schrankes, aber keiner passt. Gerne hätte sie mehr über sein Innenleben gewusst.

Frank hat das letzte Zimmer belegt, das an die Terrasse grenzt, mit Blick auf den See. Wie überall, wo er sich aufhält, herrscht auch hier penible Ordnung. Eine Ordnung, die sie manchmal als zwanghaft empfindet. Vor das Fenster hat er einen hellen Holztisch gestellt, den er als Schreibtisch nutzt. Zwei Kugelschreiber, ein roter Marker und der teure Füllhalter, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hat, liegen in Reih und Glied nebeneinander, daneben ein Schreibblock und ein blauer Terminkalender, den er offensichtlich vergessen hat. Das kleine grüne Licht an seinem Laptop leuchtet. Einen Moment gerät sie in Versuchung, seine Mails zu lesen, um mehr über seine Geschäfte zu erfahren. Aber wäre das nicht ein Vertrauensbruch?

Bevor sie zurück in die Halle eilt, begnügt sie sich damit, die pedantische Ordnung zu stören, indem sie den Füllhalter aus der Reihe nimmt und ihn schräg auf den Tisch hinlegt.

Auch die Zimmer im ersten Stock sind nur spärlich mit Möbeln ausgestattet. Wo sind all die Möbel geblieben, die sie hier noch vor Jahren gesehen hat? Ein Raum, mit einer Schlafcouch, zwei Sesseln, einem Tisch und einem Schrank, führt zur Terrasse. Nach einigen Versuchen gelingt es ihr, die Flügeltüren zu öffnen. Sie tritt hinaus und ist sofort überwältigt von dem Blick auf den See. Bestimmt wäre Simone auch von der Aussicht begeistert. Sie wird ihr den Raum überlassen, wenn sie zu Besuch kommt.

Franks Terminkalender geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ob sie nicht doch – nur ganz kurz - hineinschauen soll?

Sie geht die Treppe hinunter, läuft durch die Halle, durchquert alle Räume bis zu Franks Zimmer, zögert einen Moment und greift entschlossen nach dem Terminkalender auf dem Tisch. Unter dem heutigen Datum steht: »13 Uhr, Treffen mit M., Blumen«. Das Wort Blumen ist dick unterstrichen. Wer ist »M«? Einem Geschäftspartner würde er sicher keine Blumen mitbringen. Sie spürt ein Ziehen in der Magengegend. Ist das wieder eine von Franks Affären? Bisher hat er es immer geleugnet, wenn sie ihn zur Rede gestellt hat. Die Katze lässt das Mausen nicht, flüstert ihr eine hässliche Stimme zu.

Still ruht der See

Подняться наверх