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Kapitel 2

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Einen Monat später, an Christi Himmelfahrt, schien die Sonne und auf dem Main waren Ausflugsschiffe und jede Menge Boote unterwegs. Männergruppen zogen mit Pferde- oder Traktorgespannen durch die Straßen, hoben die Gläser und grölten Lieder zum Vatertag. Entlang des Mains fuhren viele Radler und Spaziergänger flanierten entlang des Wassers. Wer Hunger hatte, kehrte in eine der Kneipen am Rande des Weges ein.

Auch am Fechenheimer Mainufer und dem dort vorbeiführenden Leinpfad herrschte Hochbetrieb. Die Kellner im ‘Ruderhaus’ hatten jede Menge zu tun. Vor der Gaststätte waren Tische und Bänke aufgestellt worden, aber auch dort gab es keine freien Sitzplätze mehr. Inmitten der vergnügten Meute saßen zwei Männer, die Ausschau nach einer günstigen Gelegenheit hielten, denn sie waren wie immer knapp bei Kasse.

Der Blick des einen Mannes kreiste über die Köpfe der vergnügten Ausflügler hinweg. Er taxierte sein Umfeld sehr aufmerksam. Derweilen quatschte der andere von beiden mit dem Gast an seiner Seite, der sehr auffällig angezogen war. Er trug einen großen Schlapphut, eine schwarze Weste und eine Hose, die an den Hosenbeinen einen Schlag hatte. Neugierig geworden wollte er wissen:

„Also du heißt Kevin und bist auf der Walz. Wie geht das denn?“

„Ich ziehe durchs Land und suche mir Arbeit als Zimmermann. Verdiene mein Geld und wandere dann weiter.“

„Und wo wohnst du?“

„Ich brauche keine Wohnung. Ich finde immer ein Bett, in dem ich schlafen kann.“

Während er sprach grinste er fröhlich. Um sein helles Gesicht kräuselten sich blonde Locken. Seine langen Haare waren am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden, der ihm bis auf die Schultern reichte. An einem Ohr trug er einen goldenen Ohrring. Er sah abenteuerlich und sehr männlich aus. Ganz sicher würde der nicht leer ausgehen und für die Nacht ein Bett finden. Doch zur Verwunderung seines Nachbarn erkundigte er sich nach einer Schlafgelegenheit.

„Wie sieht es mit dir aus oder bei deinem Kumpel, habt ihr noch ein Sofa frei?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf und meinte:

„Tut mir leid, ich bin froh, dass ich als Untermieter etwas was gefunden habe. In Frankfurt sind die Wohnungen rar und teuer.“

Der Fremde zwinkerte und meinte freundlich:

„Verstehe schon, ich werde sicher etwas auftreiben. Hallo, Bedienung, ich möchte zahlen!“

Er öffnete den Rucksack und kramte seinen Geldbeutel hervor. Elvira kam mit dem Bon in der Hand zum Abkassieren an den Tisch.

„Kann ich noch eine Flasche Schnaps bekommen, ich will aufbrechen?“, wollte er wissen.

Sie seufzte kaum hörbar und sagte:

„Das kassiere ich gleich mit ab. Macht dann 23 Euro.“

Der Zimmermann zog einen Fünfzigeuroschein hervor und reichte ihn der Kellnerin. Da bemerkte der eine der Männer, dass die Geldbörse des Mannes gut gefüllt war. Er straffte sich und versuchte einen Blick seines Kumpels zu erhaschen. Doch der reagierte nicht und schaute in der Weltgeschichte herum. Er griff mit der Hand nach hinten und tat so, als ob ihm etwas heruntergefallen wäre. Beim Aufrichten gab er ihm von hinten einen kleinen Stoß. Der andere erschrak, wurde aber dadurch auf das Geld aufmerksam. Die Kellnerin legte dem Fremden das Wechselgeld auf den Tisch und verschwand, um den Schnaps zu holen.

„Du, da fällt mir etwas ein“, meinte einer der Sitznachbarn von Kevin und sah ihn interessiert an.

„Hier in der Nähe ist der Schultheißweiher und ein Freizeitgelände, also ein Badesee und Naturschutzgebiet. Wir haben da schon öfter gefeiert und anschließend unseren Rausch ausgeschlafen. Es ist doch warm, dort könntest du prima unter freien Himmel pennen.“

Die Kellnerin kam mit der Flasche zurück und reichte sie dem Gast. Der Zimmermann verstaute den Schnaps in seinem Rucksack und erhob sich. Nebenbei meinte er:

„Wie weit ist es denn bis zum See?“

Der Angesprochene sprang auf und zerrte seinen Kumpel am Arm hinter sich her. Sie steuerten auf den Ausgang zu und der Handwerker folgte ihnen ins Freie. Die Sonne ging langsam unter und ihr gelboranges Licht zauberte eine romantische Abendstimmung über den Main. Ein Graureiher überflog das Wasser und verschwand in einem der alten Bäume, die am Wasser standen.

Einer der Männer eilte zum Fluss und zeigte mit der Hand auf die andere Seite des Ufers:

„Da hinten liegt der See, in der Biegung des Mains. Wir können über den Steg dort gehen und sind in null Komma nix auf der anderen Seite. Dann sind es höchstens noch ein paar Minuten Fußweg bis zum Naturschutzgebiet.“

Der Zimmermann hatte einiges über den Tag getrunken und verspürte das Bedürfnis sich hinzulegen. Eine Nacht im Freien zu schlafen stellte für ihn kein Problem dar. Vor allem in einer warmen Sommernacht. Am Morgen würde er sich im See erfrischen und dann weiterziehen.

„Als gut, zeigt mir die Stelle. Ich lade euch ein.“

Er hob die Hand und ging voraus. Einer der Männer folgte ihm, drehte sich aber nach seinem Kumpel um und fauchte ihn leise an:

„Nun komm schon, es ist nicht so weit.“

„Nee du, ich muss morgen Auto fahren. Ich kann nichts mehr trinken“, mit diesen Worten drehte er sich um und verließ die beiden in Richtung Innenstadt.

Die beiden Männer überquerten den Carl-von-Weinberg-Steg und gelangten zu den Wiesen auf der anderen Seite des Mains. Die letzten Radausflügler fuhren an ihnen vorüber und grüßten freundlich. Es dauerte nicht lange, bis sie den Badesee erreicht hatten. Ein paar Naturfreunde zogen im Wasser noch ihre letzten Runden. Enten tauchten nach Nahrung und Blesshühner zogen wie kleine Wiesel durch den See. Ein Liebespärchen hatte sich im Gebüsch ein ruhiges Plätzchen gesucht.

„Und hier gibt es keine Aufsicht?“, wollte Kevin überrascht wissen.

„Sag ich doch. Das Baden ist kostenlos. Ich würde dir empfehlen, Richtung Naturschutzgebiet zu gehen, da hast du garantiert deine Ruhe.“

„Also gut, geh du voran.“

Er zögerte keinen Moment, stapfte durchs Gras und lief los. Suchte nach einem Platz, der nicht einsehbar und weit genug von den letzten Besuchern des Sees entfernt lag. Nach einiger Zeit fand er eine Nische, die zwischen größeren Sträuchern lag, und deutete mit dem Finger auf den Platz:

„Hier vielleicht?“

„Ach ja, ist ein schönes Fleckchen“, mit diesen Worten ließ sich Kevin ins Gras fallen und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Er schaute in den Himmel und sah den Wolken zu. Es war in der Tat sehr still in dieser Gegend. Sein Begleiter setzte sich vorsichtig auf die Wiese, beobachtete den anderen und schwieg. Wenn der Kerl jetzt einschlafen würde, wäre das Risiko zu hoch. Er sah sich unschlüssig um und beobachtete die langsam untergehende Sonne. Der Mond war schon auf der anderen Seite des Himmels als bleiche Scheibe zu sehen. Nach einer Weile richtete sich Kevin auf, zog die Flasche aus dem Rucksack und nahm einen kräftigen Schluck. Dann reichte er seinem Begleiter den Schnaps mit der Aufforderung:

„Hier trink was, bevor du dich auf den Heimweg machst.“

Darauf hatte er gewartet. Er griff nach der Flasche und tat so, als ob er trinken würde, und stellte sie anschließend wieder ins Gras. Der Fremde setzte den Schnaps noch einmal an die Lippen und nahm einen langen Zug, bevor er die Flasche zur Seite legte. Er streckte sich aus und bettete seinen Kopf auf den Rucksack. Abendstille legte sich über die Wiesen. Vögel zwitscherten ihre letzten Lieder vor Einbruch der Dunkelheit.

Der Kleine erhob sich mit einem Mal und verschwand mit der Bemerkung:

„Ich muss mal pinkeln.“

Er schlich sich fort und suchte in der Dämmerung nach einem passenden Stein. Dann kauerte er sich in einiger Entfernung hin und wartete, was passieren würde. Kevin starrte noch immer in den Himmel und hing anscheinend seinen Gedanken nach. Irgendwann drehte er sich auf die Seite und achtete nicht mehr auf seinen Begleiter. Der verharrte noch eine Weile, um sicher zu sein, dass der Mann auch schlafen würde. Dann schlich er sich vorsichtig an. Es war dämmrig geworden, aber er konnte noch sehen, dass dem Zimmermann der Schlapphut ins Gesicht gerutscht war. Sein Oberkörper bewegte sich sanft auf und ab. Er schien zu schlafen.

Vorsichtig kniete er sich neben ihn, umfasste den Stein mit beiden Händen und schlug mit aller Wucht auf den Schlafenden ein. Der zuckte zusammen, seine Hände fuhren vor Schmerz in die Höhe und ein Schrei durchdrang die Stille. Doch da ereilte ihn schon der zweite Schlag. Blut spritzte dem Angreifer ins Gesicht, doch der nahm es nicht wahr. Er war wie im Rausch und schlug den Stein noch mehrere Male auf den Kopf des Wehrlosen. Erst als der Mörder außer Atem war, sackte er ins Gras zurück.

Es war still. Nichts rührte sich, nur ab und zu war der Flügelschlag eines Vogels zu hören, der über den See flog. Nachdem sein Atem wieder gleichmäßiger geworden war, durchwühlte er die Taschen seines Opfers und nahm ihm sein Geld und die Kette ab. Danach versuchte er, Kevin zum Zaun zu rollen. Doch der Tote war schwerer, als er angenommen hatte.

Er stand auf und zog den Mann an den Beinen weiter. Es kostete ihn eine enorme Kraft, den leblosen Körper bis zum Zaun zu schleifen. Mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht bog er den alten Maschendrahtzaun hoch. Dann kniete er sich neben das Opfer und rollte ihn mit großer Kraftanstrengung unter dem Draht hindurch auf die andere Seite. Anschließend fiel er atemlos ins Gras.

Nachdem er wieder schnaufen konnte, ergriff er den Rucksack seines Opfers und warf ihn weit über den Zaun. Kevin Schmidt war nun auf einer Wanderschaft, von der er nicht mehr zurückkehren würde.

Er drehte sich vorsichtig um und hielt Ausschau, ob jemand in der Nähe war. Dann eilte er im Laufschritt zum Badesee, wusch sich Gesicht und Hände und blieb noch eine Weile am Wasser sitzen. Nachdem die Nacht alles Licht verschluckt hatte, stand er auf und machte sich in der Dunkelheit auf den Rückweg.

Er schlich leise in die Wohnung seiner Verwandten und stieg noch mit seinen Klamotten am Leib in die Badewanne. Dann versuchte er mit der Handwaschbürste das Blut aus den Kleidern zu schrubben. Doch die Flecken verschwanden nicht so einfach. Er riss sich Shirt und Hose vom Leib und kletterte wieder aus der Wanne.

Wo hatte die Alte nur den Badreiniger versteckt? Er entdeckte ihn hinter der Toilette, schraubte die Flasche auf und ließ die blaue Flüssigkeit über die verschmutzten Sachen laufen. Dann griff er nach einem Putzeimer, der in der Ecke stand, und füllte ihn bis zum Rand mit Wasser. Danach drückte er den Stoff unter Wasser, bis bläuliche Blasen aufstiegen. Bis zum Morgen würden die Flecken verschwunden sein.

Schachmatt huschte er in seine Kammer und fiel aufs Bett. Er wollte schlafen, aber es dauerte lange, bis er endlich in der anderen Welt angekommen war.

Es geschah am Main

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