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Kapitel 5

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Im Präsidium waren in der Zwischenzeit Nachforschungen über Ruth Möller in Gang gesetzt worden. Wie zu erwarten, hatte der Kollege des Innendienstes, Manfred Lutz, nichts Auffälliges über die Familie herausfinden können. Es schien auf den ersten Blick so, als ob einer der üblichen Raubüberfälle zu bearbeiten sei. Deshalb schickte Hanna ihren Kollegen nach Hause, natürlich mit der Auflage, sich einsatzbereit zu halten. Es reichte, wenn einer sich den Silvesterabend mit Arbeit verdarb. Sie begann nach ungeklärten Fällen im Wohnumfeld des Opfers zu suchen, um die Zeit bis zum Eintreffen des Sohnes sinnvoll nutzen zu können.

Außer einer Akte über einen Vermissten, den man vor seinem Verschwinden zuletzt in Fechenheim gesehen hatte, gab es keine weiteren Hinweise. Die Sache lag über ein halbes Jahr zurück. Es bestand keine Verbindung zu dem Mord an Frau Möller.

Hanna blickte missmutig über ihren Schreibtisch, stand auf und trat ans Fenster. Die ersten Knaller gingen in die Luft und Rauch stieg auf. Vermutlich handelte es sich bei dem Mordfall um die Tat eines Einbrechers, der die Nerven verloren und zugeschlagen hatte.

Sie verließ ihr Büro und schlenderte in die Kantine. Heute war es hier gähnend leer. Nur einige Kollegen, die Hanna nicht kannte, saßen an einem Tisch und tranken Kaffee. Sie kaufte sich ein Sandwich und ging zurück ins Büro. Um 14 Uhr meldete sich endlich der Sohn des Opfers.

„Guten Tag Frau Wolf. Mein Name ist Uli Möller. Ich bin seit circa einer halben Stunde in der Wohnung meiner Mutter und habe mir alles angesehen. Ich schätze, dass ich in einer halben Stunde bei Ihnen im Polizeipräsidium sein kann.“

„Gut, Herr Möller. Konnten Sie feststellen, ob etwas gestohlen wurde?“

„Ja, das habe ich Ihren Kollegen schon gesagt. Außer dem Geld aus dem Portemonnaie fehlen noch einige Figuren, die meine Mutter gesammelt hat.“

„Welche Figuren“, wollte Hanna überrascht wissen.

„Meine Mutter hat ihr Leben lang Porzellanfiguren aus der Hummel-Serie gesammelt. Ich weiß auf Anhieb nicht genau, wie viele sie insgesamt besaß, aber einige scheinen zu fehlen.“

Hanna dachte einen Moment nach. Das war ihr gar nicht aufgefallen. Doch wer interessierte sich heutzutage schon für diese Kitschfiguren aus Porzellan? Die waren doch völlig aus der Mode. Warum in aller Welt hatte der Dieb die Sachen mitgenommen? Um diese Frage klären zu können, würde es sinnvoller sein, sich die Sammlung Vorort anzusehen.

„Ach, wissen Sie Herr Möller. Ich bin schneller in Fechenheim, als Sie hier in der Miquelallee. Ich möchte mir Ihre Beobachtungen am Tatort zeigen und erklären lassen. Es ist besser, wenn ich zu Ihnen nach Fechenheim komme.“

„Wie Sie wollen, Frau Wolf. Ich sehe mich in der Zwischenzeit nochmals genauer um. Vielleicht fällt mir noch etwas auf. Bis später.“

Als die Kommissarin ein weiteres Mal an diesem Tag in der Baumertstraße auftauchte, war die Menge der Schaulustigen von der Straße verschwunden. Ihre Neugierde hatte sich schnell verflüchtigt. Hanna lief mit raschen Schritten in den ersten Stock. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Die Leiche war in der Zwischenzeit abtransportiert worden und die Kollegen hatten die Fenster zum Lüften weit geöffnet. Ein etwa 1,80 m großer Mann kam auf sie zugelaufen und reichte ihr die Hand.

„Tag Frau Wolf. Ich kann es nicht fassen. Was für ein schreckliches Verbrechen. Meine Mutter hat niemandem etwas getan. Wer macht so etwas? Ich habe mich immer um sie gekümmert, aber ich konnte nicht den ganzen Tag bei ihr bleiben. Trotzdem mache ich mir Vorwürfe.“

Hanna nickte wortlos. Sie kannte die Verzweiflung der Hinterbliebenen und ihre Selbstvorwürfe. Doch Verbrechen gehörten zum Alltag, jedenfalls zu ihrem. Laut meinte sie:

„Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, Herr Möller. Ich kann Sie gut verstehen, aber solche Taten sind nicht zu verhindern. Zeigen Sie mir bitte, was Sie herausgefunden haben.“

Hanna wollte den Sohn möglichst schnell ablenken und warf einen kurzen Blick in die Küche. Die Spurensicherer hatten ihre Arbeit gerade beendet und waren dabei einzupacken.

Herr Möller ging Richtung Wohnzimmer. Dann blieb er stehen, drehte sich nach Hanna um und wartete auf sie. Als die Kommissarin direkt neben ihm stand, nahm sie den Schrank das erste Mal richtig wahr. Ein abgenutztes altes Möbelstück, das aus dunklem Nussbaumholz angefertigt worden war. Der obere Teil des Schrankes bestand aus einem offenen Regal mit fünf Borden. Darauf waren kleine Porzellanfiguren aufgereiht. Ein Mädchen, das ein Taschentuch in der Hand hielt und winkte. Ein anderes Kind trug einen Einkaufskorb und so weiter. So etwas wurde gestohlen? Sie blickte zu Herrn Möller, der versonnen auf die Menagerie sah. Er trat einen Schritt vor und öffnete die beiden Türen, die sich im unteren Teil des Schrankes befanden.

„Ich habe durchgezählt, es sind noch 71 Figuren vorhanden. Meine Mutter hatte bestimmt an die 100 Stück. Der durchschnittliche Preis einer Figur liegt bei rund 200 Euro, wobei die Figurengruppen schnell mal auf 1000 Euro kommen können. Als meine Mutter vor Jahrzehnten anfing zu sammeln, waren die Porzellanfiguren nicht so teuer wie heute. Die Künstlerin malte anfangs nur Bilder. Sie war Nonne und ist schon lange tot. Sie hat nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, mit dem Verkauf ihrer Bilder Geld in die klammen Kassen des Klosters zu bringen. Ein Geschäftsmann kam irgendwann auf die Idee, die Bilder als Vorlage für Porzellan zu nehmen. Doch die ehemalige Manufaktur existiert nicht mehr. Die Figuren entsprechen nicht mehr dem Zeitgeist, aber es gibt Sammler und die bestimmen den Preis.“

Hanna hatte überschlägig nachgerechnet:

„Demnach könnte die Sammlung Ihrer Mutter einen Wert von rund 20.000 Euro haben“, stellte sie nüchtern fest.

Herr Möller nickte zustimmend:

„Die Verkaufspreise sind Liebhaberpreise. Die Japaner sind ganz verrückt nach dem Porzellan. Ich habe vor ein paar Jahren einen Ordner angelegt und die Rechnungen abgeheftet, daraus kann man den Einkaufswert ermitteln, aber nicht den gegenwärtigen Marktpreis. Außerdem habe ich Fotos von der Sammlung gemacht. Die Papiere liegen auf dem Tisch. Sie können alles mitnehmen. Wir benötigen die Rechnungen allerdings wieder, um sie der Versicherung vorlegen zu können. Meine Mutter war versichert. Vielleicht ersetzt die Allianz einen Teil des Schadens. Das gestohlene Geld, also die etwa 300 € aus ihrem Portemonnaie, sind nichts gegen das Porzellan. Der Dieb hat vermutlich keine Ahnung, wie viel die Sachen wirklich wert sind. Mittlerweile handelt es sich um alte Sammlerstücke, was die Preise natürlich in die Höhe treibt.“

Hanna sah sich das Regal genauer an. Der Mann sagte die Wahrheit. Auf dem dunklen Holz lag Staub. Dort, wo weitere Figuren gestanden hatten, glänzte das Holz. Sie musste mit Mike reden. Zu Herrn Möller gewandt meinte sie:

„Ich komme gleich wieder zu Ihnen.“

Mike war im Schlafzimmer beschäftigt.

„Habt ihr schon das Regal im Wohnzimmer nach Spuren abgeklebt?“

Er nickte: „Ja sicher, der Sohn hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass einiges fehlt. Es gibt Fingerabdrücke, aber es ist auch manches verwischt. Ich vermute mal, dass jemand Handschuhe getragen hat. Die Auswertung wird dauern.“

„Dann könnten es mehrere Täter gewesen sein?“

Mike verzog das Gesicht:

„Kann ich im Moment noch nicht sagen.“

Hanna ging zu Herrn Möller zurück.

„Ich lasse Ihre Unterlagen kopieren und rufe Sie an, wenn Sie den Ordner wieder abholen können. Ist Ihnen außerdem noch etwas aufgefallen?“

„Ja, aber das ist mehr eine Vermutung. Meine Mutter hat immer zum Monatsende Wasser und Limo bestellt. Die Firma liefert ins Haus. Sie trank Sinalco, meist hat sie es mit Wasser gemischt. Reines Wasser mochte sie nicht. Sonderbarerweise ist der Kasten halb leer und das Leergut ist verschwunden. Es kann nicht sein, dass sie innerhalb von wenigen Tagen einen halben Kasten Limonade ausgetrunken hat. Und vor allem, wohin sind die leeren Flaschen verschwunden?“

Hanna warf dem Sohn einen verblüfften Blick zu. Herr Möller besaß eine erstaunlich gute Beobachtungsgabe.

„Wer hat Ihre Mutter mit Getränken beliefert?“

Der Name der Firma fiel dem Sohn des Opfers nicht sofort ein, deshalb ging er zu einem kleinen Telefonschrank, der im Flur stand, und nahm ein Adressbuch aus der Schublade. Er blätterte das Buch durch und hielt dann inne:

„Die Firma heißt Paul und ist in Dörnigheim ansässig.“

Hanna griff nach ihrem Smartphone und suchte. Es gab tatsächlich einen Getränkedienst Paul in Dörnigheim.

„Wir werden uns mit den Angestellten der Firma unterhalten. Sie haben sicher Quittungen über die Verkäufe. Hat Ihre Mutter vielleicht Rechnungen aufgehoben?“

„Herr Möller schüttelte den Kopf:

„Nein, meine Mutter hat immer alles gleich aufgeräumt. Sie war sehr ordentlich.“

Hanna war nicht überrascht. Schon beim Betreten der Wohnung war ihr aufgefallen, dass alles an seinem Platz stand. Kein Vergleich zu Behausungen, die sie sonst manchmal zu sehen bekam.

„Herr Möller, es wäre für uns sehr hilfreich, wenn Sie anhand der Rechnungen eine Liste der gestohlenen Figuren erstellen könnten. Sie brauchen sowieso eine Aufstellung für die Versicherung. Wir wissen dann schneller, wonach wir suchen müssen. Wenn die Liste fertig ist, bringen Sie uns die Unterlagen bitte sofort ins Präsidium.“

Er nickte und blickte zu Boden. Der Mann wirkte müde und erschöpft. Nach der ersten Aufregung und Geschäftigkeit schien er langsam den Mord zu realisieren. Seine Mutter war nicht aufgrund ihres Alters gestorben, sondern auf schreckliche Weise umgebracht worden. Der Mörder schien sie mit seinen Füßen totgetreten zu haben. Es war an der Zeit, Herrn Möller allein zu lassen, damit er zur Ruhe kommen konnte.

„Bitte melden Sie sich bei uns, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.“

Uli Möller steckte wortlos die Karte in seine Tasche, die Hanna ihm gereicht hatte. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und legte seine Hände vors Gesicht. Seine Schultern zuckten und Tränen tropften auf den Fußboden. Die Kommissarin verließ leise den Raum.

Es geschah am Main

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