Читать книгу Die verstörende Lebensgeschichte des Julian M - Günter Scholtes - Страница 10

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Auch eine Möglichkeit, an Geld zu kommen.

Julian hatte durch sein nächtliches Abenteuer ein wesentliches Problem gelöst. Jedoch das dringlichste, sein deformiertes Gesicht, brannte ihm immer noch unter den Nägeln, mehr als Feuer.

Es gab bereits in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Lösungen für Julians Problem, aber die Ärzte, die die plastische Chirurgie annehmbar beherrschten, wirkten nur an Universitäten. Dies wäre kein wirkliches Hindernis gewesen, eine gravierende Barriere war allein das Geld, nur das Geld und sonst nichts. Die Preise, die die Herren Professoren in Hamburg, Berlin, Heidelberg, Tübingen oder wie die Universitäten, an denen solch eine Koryphäe wirkte, sonst noch hießen, verlangten, waren derart horrend, dass Julian sie niemals hätte aufbringen können. Für den Preis eines chirurgischen Eingriffs hätte er Jahre arbeiten müssen. Woher dieses Geld nehmen und nicht stehlen? Nicht stehlen? Wie? Was? Ja – stehlen, das wäre wohl eine Lösung! Aber wie stehlen und wo klauen? Nach Tagen des Grübelns hatte Julian eine glänzende Idee. Diese versprach ihm eine Lösung, wenn auch nicht auf dem direkten Weg, aber eben doch eine passable Lösung.

Julian war immer schon ein höchst aufmerksamer Beobachter. Er interessierte sich für die schönen Dinge, bevorzugt für Schmuck und teure Uhren. Diese waren für ihn unerreichbar in den Juwelierläden sicher aufbewahrt. Bei seinen Spaziergängen an warmen Sommerabenden betrachtete er immer wieder und ausgiebig die Auslagen der Juweliergeschäfte. Nicht nur die teuren Preise erregten sein Interesse und seine Aufmerksamkeit, nein, auch wie die teuren Stücke hinter Panzerglas gesichert waren.

Warum das so ist, das wissen selbst die Götter nicht, aber unter den Arkaden in den Geschäftsstraßen befand sich ein Teil der Auslagen in den Schaufenstern mit der Front zur Straße. Fast bei jedem dieser Juwelierläden gab es auch einen Gang oder Flur, der rechtwinklig zur Straßenfront verlief und in das Innere der Verkaufsräume führte. Diese bemerkenswerte Anordnung hatte zur Folge, dass es immer rechtwinklige Ecken an den Schaufenstern gab und wohl immer noch gibt. Höchst bemerkenswert für Julian! Dorthin, wo dieser rechte Fensterwinkel sich befand und zwei Glasscheiben aufeinander stießen, hatte man transparentes Silikon gespritzt. Warum bei jedem dieser Glaswinkel ein Spalt von einem bis drei Zentimetern an dem rechten Winkel, wo die beiden Panzerglasscheiben zusammenstießen, entstanden war, konnte sich Julian nicht erklären. Oder doch: Die Handwerker hatten schlampig gearbeitet und das beinahe überall. Dieses seltsame Phänomen fand sich nicht nur im Saarland, sondern auch in anderen größeren Städten und nicht nur bei Juwelierläden. Nun sollte man meinen, dies hätte sich nach 50 oder mehr Jahren geändert. Absolut nicht. Selbst im dritten Jahrtausend sind immer noch viele Schaufenster bei verschiedenen Geschäften so zusammengeschustert worden, und das nicht nur an Juweliergeschäften.

Julian mit seinem wachen Geist hatte sofort die passende Idee zu diesen Fugen und den weit verbreiteten stümperhaften Arbeiten. Silikon bleibt dauerelastisch, und so kann man es an diesen Stellen leicht durchstechen oder gar herausschneiden. Die Idee war geboren, der Rest nur noch handwerkliche Arbeit.

In einer kleinen Kreisstadt, die einen Doppelnamen trägt, befand sich in einer Straße, die etwas abseits lag, ein Juweliergeschäft mit reichhaltiger Auslage und sehr teurem Schmuck und vor allen Dingen Uhren. Beim Betrachten dieser kleinen Stadt konnte man mit Fug und Recht behaupten: tagsüber ein Häusermeer, am Abend ein Lichtermeer und nach 19:00 Uhr gar nichts mehr! Warum ab 19:00 Uhr alle Lichter in den Schaufenstern gelöscht wurden, war für Julian nicht nachvollziehbar, es war halt so. Diese Umstände arbeiteten ihm genau in die Hände.

Er entschloss sich, diesem kleinen, aber feinen Laden seine Aufwartung zu machen, und zwar einen Besuch der ganz besonderen Art. Er brauchte nur wenige Vorbereitungen zu treffen und ein Minimum an Werkzeugen für seinen Klau.

An einem schönen Sommerabend, nein, es war kein schöner Sommertag, es regnete in Strömen, ein richtiger sommerlicher Landregen, langanhaltend und sehr ergiebig. 21:00 Uhr. Dieses grässliche Wetter und eben so wenig Licht in der Stadt seiner Begehrlichkeiten. So machte sich Julian auf den Weg mit seinem alten Renault, der den Motor noch hinten hatte und vorne einen riesigen Kofferraum. Etwas weniger als eine halbe Stunde und Julian hatte die Stadt erreicht. Wie erwartet, alles dunkel, alles tot und nirgends Licht auf den Straßen. Von Fußgängern oder sonstigen Spaziergängern noch nicht einmal eine Spur bei dem, was in Strömen vom Himmel kam. Selbst der Autoverkehr war damals sehr gering, denn höchstens jeder hundertste Saarländer hatte ein Auto. Alles in allem, ideale Voraussetzungen an diesem Abend für sein Vorhaben.

Julian hatte sehr schnell seinen auserkorenen Juwelierladen erreicht. Die Straße stockfinster und ebenso das Juweliergeschäft, alles beste Voraussetzungen für sein finsteres Machwerk. Zunächst schlenderte er noch ein Stück die Straße hinauf und wieder hinunter, er war alleine an diesem verregneten Abend. Zielsicher fand er seinen Laden und auch die Ecke, an denen die bereits beschriebenen Panzerglasscheiben aneinanderstießen. Selbst die breite Silikonfuge war nicht zu verpassen. Diese mindestens drei Zentimeter breite Fuge, die mit Silikon gefüllt war, hätte auch jeder Blinde finden können. Ein mitgebrachtes italienisches Federmesser kramte er aus seiner Hosentasche, und dann konnte es ohne Eile losgehen. Mit dem spitzen Messer schnitt er ein rechtwinkliges Loch in das weiche Silikon. Er durchtrennte nur drei Seiten, die vierte blieb unangetastet. Wie eine kleine Klappe ließ sich nun das elastische Material bewegen. Julian ließ die Klappe los, sofort schloss sich diese spurlos wieder. Nichts zu sehen, keine Schnittspuren, nichts. Julian nahm eine kleine Taschenlampe, die er mit sich führte, aus der anderen Hosentasche. Dieses Gerät hatte er mit einem speziellen Leuchtmittel bestücken lassen. Die Lampe hatte eine dunkelrote Birne und das Schutzglas war ebenfalls dunkelrot gefärbt. Dies hatte wiederum zur Folge, dass ein ganz trübes Licht nur auf eine sehr kurze Distanz leuchtete. Die ausgeleuchtete Fläche betrug nicht mehr, als eine Streichholzschachtel bedecken konnte. Mit dieser Lichtquelle kontrollierte Julian seine Arbeit, und er war höchst zufrieden. Dann nahm er einen zwei Meter langen Draht, den er ebenfalls bei sich hatte, und schob ihn durch die Silikonklappe, die eine Abmessung von 4 cm mal 3 cm aufwies. Das Ende des Drahtes hatte er so gebogen, dass es die Form eines Angelhakens hatte. Nun ging er mit dieser selbst fabrizierten Vorrichtung zu Werke. Er fischte im schwachen Licht seiner speziellen Funzel Ring für Ring, Kette für Kette und auch alle Uhren, die sich in seiner Reichweite befanden, zu sich heran. Alles ließ sich problemlos durch die Silikonklappe nach außen befördern. Was zu sperrig war und das Loch nicht passieren konnte, wurde mit einem Seitenschneider zerkleinert. Die teuren Uhren, von denen die eine oder andere nicht durch das vorbereitete Loch passte, wurden ebenfalls bearbeitet und das Armband an einer Seite durchtrennt. So präpariert, ließ sich nun doch alles recht mühelos durch den Silikonspalt nach außen ziehen. Eine Stunde hatte Julian gewerkelt, dann seinen Raub vollendet und die Beute in der Reisetasche verstaut.

Mit größter Sorgfalt verschloss er die Silikonklappe, aus der er seinen neu gewonnenen Reichtum herausgefischt hatte, und betrachtet dann im Schein seiner speziellen Lampe seine verwerfliche Tat. Bei Gott, kein schlechtes Gewissen keimte in ihm auf, er war stolz auf seine Leistung und erst recht auf seine Beute.

Die Silikonklappe schloss so perfekt, dass keine Naht oder Schnittstelle mehr zu sehen war. Julian war sehr zufrieden mit seinem Werk. Ohne Hast und Eile packte er sein Werkzeug wieder ein, klemmte sich den langen Draht unter die Achsel, die Reisetasche in die andere Hand und schon war er auf den Heimweg. Es war bereits stockfinster auf der Straße, er sah die Hand vor Augen nicht. Ein Blick in den Himmel, der immer etwas heller ist als die unmittelbare Umgebung, zeigte ihm sicher den Weg zu seinem Fahrzeug.

Die Heimfahrt war kurz, die Beute riesig. Zuhause in seinem Wohnzimmer kippte er den ganzen Raub auf den Tisch. Der Tisch war kein gewöhnlicher Tisch, das Möbelstück musste bei Julian für alles Mögliche herhalten und war durch einen speziellen Umbau auch für alles zu gebrauchen. Da er alleine wohnte und bei seinem Aussehen auch keine Freunde hatte und schon gar keine Freundin, brauchte der Tisch nur zweckmäßig zu sein. Das war er. Trotz der fortgeschrittenen Stunde ließ Julian es sich nicht nehmen und betrachtete seine Beute ausgiebig, er war mit seinem Fischzug sehr zufrieden. Der Fang war gelungen, die Beute reichhaltig und für eine kleine Kreisstadt überraschend teuer, sehr teuer. Alle Ringe, die durch das Loch aus dem Juwelierladen heraus befördert werden konnten, ohne dass sie mit dem Seitenschneider bearbeitet werden mussten, waren ausnahmslos noch mit baumelnden Preisschildern versehen. Welch gigantische Preise konnte ein Juwelier verlangen, und welche Preise wurden selbst in der Provinz dafür bezahlt! Unvorstellbar für Julian bei seinem monatlichen Verdienst. Für einzelne Dinge, die er in der Hand hielt, müsste er glatt 30 oder mehr Jahre arbeiten, mindestens. Wer hatte in dieser kleinen Stadt so viel Geld, wer war so reich und das wenige Jahre nach dem Krieg?

Die Nacht wurde lang, bis Julian alles sortiert und aufgelistet hatte, er war halt ein ordentlicher Mensch. Bei der Addition der gesamten Preise seiner Beute verschlug es ihm immer wieder den Atem. Gleich mehrfach kontrollierte er seine mathematischen Künste, es blieb dabei, alles sauteuer und die Beute groß.

Ab dem zweiten Tag nach seinem Beutezug kaufte Julian täglich die Saarland-Pravda, die Saarbrücker Zeitung. Er hatte erwartet, in großen Lettern von seiner Schandtat in dem saarländischen Massenblatt zu lesen, aber nichts von alledem. Völlig unverständlich für ihn, kein Bild, kein Ton, kein Vermerk in der Zeitung. Nichts, ist so was nicht höchst merkwürdig? Für Julian gab es die einzige Erklärung, der Juwelier musste wohl etwas zu verbergen haben. Aber was? Vielleicht war sein Geraubtes auch nicht ganz legal erworben worden? Da er praktisch keine Einbruchsspuren hinterlassen hatte, wird man vielleicht dem Juwelier einen Einbruch nicht abgenommen haben. Es konnte Julian egal sein, seine Beute hatte er und keiner fragte weiter danach. Aber doch, durch seine Verbindungen in diese kleine Stadt ist es ihm um sieben Ecken zu Ohr gekommen, dass der Juwelier, da keine Einbruchsspuren vorhanden waren, die eigene Verwandtschaft des nächtlichen Raubes bezichtigt hatte.

In der Vorbereitungsphase des Diebstahles hatte er schon seine Fühler nach gewissen Kreisen ausgestreckt, denn er musste die heiße Ware ja schließlich loswerden beziehungsweise zu Geld machen, das war ja der Sinn des Einbruchs. Wo im Saarland geht das besser als in Saarbrücken? Nirgendwo in Saarbrücken geht es besser als auf dem Sankt Johanner Markt, in den umliegenden Kneipen und einschlägigen Etablissements. Damals wie heute gab es in Saarbrücken etliche Sexclubs mit der Möglichkeit zum Partnertausch, Sexorgien sowieso. SM, BDSM und sonst alles, was das normale und etwas außergewöhnliche Sexualleben so benötigt, war schon damals dort zu finden. Heute ist dieses Angebot allgegenwärtig und nicht nur in Saarbrücken, tatsächlich schon in jedem größeren Dorf. Diese besonderen Angebote existieren flächendeckend und die Kunden sind international. Prostituierte sind in jeder größeren Stadt zu finden, selbst diese Damen sind aus aller Herren Länder. In solchem Milieu und in solch einer Stadt ist man richtig mit solch heißer Ware.

Damals war der Kreis der Abnehmer für Diebesgut und Ähnliches recht klein, dafür heute um ein Vielfaches größer. Die erzielten Preise waren für Julian bescheiden, nein, eher noch mickrig, so dass er es nicht glauben konnte, was man ihm anbot. Er wollte verkaufen und nicht verschenken, nein, so nicht. Das musste er seinem Hehler in aller Deutlichkeit klarmachen, aber es blieb bei den niedrigen Preisen. Nur die Uhren erzielten anständige Preise und ließen sich fast an jeder Ecke gut auch ohne Hehler unter die Leute bringen. Den Schmuck wollten die Ganoven ihm gerne abnehmen, aber fast nichts dafür bezahlen. Im Schnitt war ein Erlös von 10 % des ursprünglichen Preises im Bereich des Möglichen, das war schon das Äußerste, was in den Kreisen geboten wurde und wird. Julian wollte verkaufen, um sein Aussehen endlich zu verändern, aber nicht für diesen Preis. An Verschenken hatte er nicht gedacht. Er brauchte das Geld für den beabsichtigten Umbau seiner Fratze. Deswegen beließ er es bei dem Verkauf einiger Uhren, die einen guten Preis erzielten, der Schmuck wechselte nicht den Besitzer, noch nicht, da gab es wahrlich bessere Möglichkeiten.

Dass das Saarland Grenzland ist, das wusste und weiß bis heute jeder Saarländer sehr zu schätzen. Morgens über die Grenze und ein paar Flûtes und Croissants in Frankreich kaufen, auch eine Flasche Wein oder Champagner sind hin und wieder mit dabei. In Luxemburg Treibstoff tanken für den halben Preis. Dann noch 40 l in einem Benzinkanister – illegal, aber scheißegal – über die Grenze schmuggeln. Kaffee aus Luxemburg sowie ein paar Stangen Zigaretten werden immer gerne genommen, und der Preis der Ware liegt erheblich unter dem im Saarland. So war das damals, und auch bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Ab und zu einen edlen Schinken aus Belgien direkt hinter der Grenze kaufen bis hin zu Antiquitäten und einigen anderen, oft illegalen Sachen mehr. Es ist bei Gott kein Nachteil, wenn man als Saarländer von Feindesland umringt ist. Feindesland waren nicht nur Frankreich, Belgien und Luxemburg, nein, in der Franzosenzeit war selbst Deutschland den Saarländern nicht freundlich gesonnen. Die Saarländer hatten sich diesen Zustand nicht ausgesucht. Pragmatisch, wie die Saarfranzosen schon immer waren, haben sie diese Gegebenheiten zu ihrem Vorteil zu nutzen gewusst. Dies wird immer wieder geschehen, egal, wie Europa sich verändert.

Eines Tages, mit einer Schuhschachtel voller Schmuck unter dem Armaturenbrett versteckt, fuhr Julian nach Metz. Er hat nur das getan, was hier im Saarland eine schon immer gepflegte Tradition war und ist. Im Saarland wurde immer schon geschmuggelt und alles Mögliche über die Grenze verschoben. Alle angrenzenden Länder haben ausnahmslos fleißig mitgemacht und daran prächtig verdient. Europa hin, Europa her, und es ist noch immer so.

Schon das erste Juweliergeschäft in Metz, der schönen alten Stadt, das Julian ansteuerte und dem er seine Pretiosen anbot, war ein Volltreffer. Der Chef des Ladens zerrte ihn regelrecht in ein kleines Hinterzimmer und bot ihm ohne Umschweife 70 % des tatsächlichen Wertes an. Ein hervorragendes Angebot, Julian konnte nicht ablehnen, er griff zu. „Ist noch mehr da, haben Sie noch mehr von dieser Ware?“, wollte der „wissende“ Juwelier wissen: „Ja, später, Monsieur, später gerne wieder.“ Der Juwelier bezahlte und selbstverständlich in bar, aber in französischer Währung. Er wollte in Erfahrung bringen, ob noch mehr da sei. Es war noch mehr da, und der Juwelier begehrte alles. Alles! Der nette Franzose wusste sehr genau, dass alles gestohlen war, gestört hat es ihn in keinster Weise. Mit großem Händeschütteln und Schulterklopfen wurde Julian verabschiedet und dringlichst um ein Wiederkommen gebeten. Julian versprach es, seine innere Stimme jedoch sprach warnend dagegen. Er würde das Geschäft nie wieder betreten.

Einen so großen Betrag in französischen Franken konnte man nicht einfach so auf irgendeiner Bank umtauschen. Selbst heute wäre dies nicht möglich, ohne Aufsehen zu erregen. Damals wie heute war es ein Problem, größere Geldsummen, egal in welcher Richtung, über die Grenze zu bringen. Nun stand Julian vor seinem Auto und fragte es: „Hallo Auto, wie verstecke ich das ganze Geld und bringe es unversehrt über die Grenze an die Saar?“ Jeder Saarländer besitzt magische Kräfte, und so hat ihn sein alter Renault sofort geistig inspiriert. Die einleuchtende Idee kam ihm wenige Minuten später. „Das Ersatzrad muss herhalten“, sagte das Auto mit einer klaren Stimme, die aber nur ein Saarländer hören kann und sonst niemand auf der Welt. Das Ersatzrad, das im Kofferraum festgeschraubt ist, löste er, dann schlitzte er mit seinem Taschenmesser die Seitenwand des Ersatzreifens auf. Leider passte nur ein Teil seines Geldes in den nun luftleeren Reifen. Einen großen Teil des Geldes hielt Julian noch immer in den Händen. Nun schraubte er das Rad mit der zerschnittenen Seite zur Blechwand seines Autos an seinen alten Platz, das Versteck erschien ihm ausreichend gut. Jetzt schnell auf den Heimweg, der ihn von Metz in Richtung Saarlouis durch große und dichte Wälder führte. Irgendwo vergrub Julian kurzerhand den Restbetrag im Wald, nicht weit von einem steinernen Kreuz, welche man in Frankreich und im Saarland noch recht häufig am Wegesrande vorfindet. Die Arbeit war schnell getan und Julian begab sich direkt und ohne Zwischenhalt Richtung Heimat.

Wie sollte es anders sein, erst die Franzosen kontrollierten das Auto an der Grenze gründlich und dann die deutschen Beamten noch gründlicher. Gefunden hat jedoch kein Franzose und auch kein deutscher Zollbeamte auch nur einen Sou (Sou = alte französische Münze). Julian war glücklich. Da das Saarland seit 1957 politisch und wirtschaftlich wieder an Deutschland angegliedert war, befanden sich an jeder saarländischen Grenze Wechselstuben und davon satt. Im Prinzip nur kleine Baracken, hier konnte man mühelos zu einem vernünftigen Wechselkurs seine Währung von französischen Francs in deutsche DM tauschen. Der Umtausch war hier immer weitaus günstiger als bei jeder saarländischen Bank und vor allen Dingen kamen nie Nachfragen irgendwelcher Art. Die Herkunft des Geldes interessierte hier niemanden. So machten die Saarländer davon regen Gebrauch und nicht nur die, die Grenze ist ja schließlich keine Einbahnstraße.

Julian strebte zielstrebig eine dieser Bretterbuden an. Nach wenigen Minuten des Verhandelns machte die Dame hinter der Panzerglasscheibe große Augen und dann ein ausgesprochen gutes Angebot, kein Wunder bei dieser Geldmenge. Julian tauschte das gesamte Geld aus dem Reserverad um, ja tatsächlich, und der Erlös war beträchtlich. Niemand hat damals an diesen merkwürdigen Geldinstituten nach Wohin und Woher des Geldes gefragt. Dies machten sich etliche finstere Gestalten zunutze und die kleinen Leute erst recht, wenn sie denn etwas umzutauschen hatten. Auch Luxemburg war immer und ist auch noch heute ein gutes Ziel für viel Geld, das einen sicheren Hafen sucht. Julian fuhr ein Stück nach Saarbrücken hinein und dann wieder auf einen Waldweg, um dort das nun deutsch gewordene Geld vorübergehend unter die Erde zu bringen. Nach getaner Buddelarbeit fuhr er erneut zurück nach Frankreich an sein unterirdisches Depot, grub sein Geld aus, das er wiederum in das Reserverad packte und wieder ordentlich an den vorgesehenen Platz festschraubte. Diesmal fuhr er nicht bei Saarbrücken über die deutsch-französische Grenze, nein, nun bei Saarlouis. Die Franzosen haben gar nicht kontrolliert und die Deutschen wollten nur einen Blick in den Kofferraum werfen, mehr nicht. So hatte Julian innerhalb von ein paar Stunden das gesamte Geld ins Saarland transferiert. Wieder an die vorgenannte Wechselstube und das Geld wurde in D-Mark getauscht, alles kein Problem an diesen Geldbuden, die aussahen wie ordinäre Würstchenbuden und förmlich nach Geld stanken. Damals alles keine Hexerei und keine Kunst, heute ein hoch riskantes Abenteuer mit ungewissem Ausgang, damals nicht, da war es war gang und gäbe. Um konkret zu sein, es funktioniert auch heute immer noch.

Wie von Julian herbeigesehnt, ließ er mit dem gesamten Bargeld, das ihm nun zur Verfügung stand, die Telefondrähte glühen. Er belästigte eine Universitätsklinik nach der anderen mit seinem Wunsch nach einem ganz normalen Aussehen. Er ließ nicht locker, bis er eine eindeutige und definitive Antwort bekam und eine Einladung zur Vorstellung mit seinem deformierten Gesicht. Er wollte nicht erst in Wochen und Monaten einen Termin zu einem Vorstellungsgespräch haben, nein, am besten schon vorgestern, begnügte sich aber letztendlich mit einem Termin in vier Tagen. Das ganze Prozedere ließ sich wesentlich vereinfachen, indem Julian dem Herrn Professor telefonisch erklärte, dass er alles aus eigener Tasche zu zahlen gedenke. Und da geschah ein Wunder! Geld, viel Geld bewirkt bei den Weißkitteln grundsätzlich ein Wunder. Geldgier war bei ihnen zu allen Zeiten, nahtlos bis heute, die wesentliche Triebfeder ihres Tuns. Nicht die Nächstenliebe, beileibe nicht, Geld und sonst nichts. Man muss es leider so sagen, wie es ist, besonders im Saarland ist dies bis heute eine wahre Seuche. Im Zweifel braucht man sich nur die bereits oben erwähnte Saarbrücker Zeitung einmal zu Gemüte zu führen, man kann nur staunen.

Nicht gerade wenige der heute praktizierenden Schönheitschirurgen, egal wo in dem schönen Deutschland, verlangen nicht nur viel Geld, sie liefern auch noch schlechte Arbeit ab. Früher oder heute, daran hat sich nichts geändert

Julian wollte primär Ober- und Unterkiefer in einem Aufwasch auf ein normales menschliches Maß reduzieren lassen. Der konsultierte Professor und Operateur lehnte dieses kategorisch ab. Erst nur den Oberkiefer, und wenn dieser komplikationslos verheilt sei, dann auch den Unterkiefer. Julian protestierte entschieden dagegen, jedoch die Erklärung des Herrn Professor war sehr einleuchtend, sehr plausibel. Das Risiko einer Infektion besteht immer und wenn diese sich auf ein Operationsgebiet, in dem Fall den Oberkiefer, beschränkt, ist das nur von Vorteil für den Patienten. Die eine Infektion ist dann leichter beherrschbar und zu bekämpfen. Diese Erklärung war einleuchtend für Julian, einen weiteren Protest unterließ er. Die Vernunft sagte Julian, dass der Medizinmann unzweifelhaft Recht hatte.

Nicht erst am vierten, sondern bereits am dritten Tag stand Julian an der Universitätsklinik im Süden Deutschlands und begehrte Einlass. Ein Selbstzahler und Privatpatient bekommt immer Einlass, denn er zahlt bar und immer viel zu viel. Wenn es gut gemacht wird, durchaus akzeptabel.

Am fünften Tag wurde Julian bereits operiert, und zwar vereinbarungsgemäß nur der Oberkiefer. Der Herr Professor, der die äußerst schwierige Operation selbst durchführte, war nach eigenem Kundtun mit seiner Operation sehr zufrieden.

Als Julian sich am sechsten postoperativen Tag im Spiegel anschauen durfte, erkannte er sich nicht wieder. Oh Gott, das ganze Gesicht geschwollen, die Augen, wie bei einem Chinesen, nur noch ein Schlitz, und der Rest vom Gesicht ein riesiges Hämatom. Julian war entsetzt und glaubte, dies sei der Endzustand seines Gesichtes. Der Unterkiefer ragte nun noch prominenter aus dem Gesicht heraus als je zuvor, so glaubte es jedenfalls Julian. „Alles halb so schlimm, gar kein Problem, junger Mann“, beruhigte ihn der Herr Professor. Da dieser sehr kompetent schien, glaubte und beruhigte sich Julian wieder, irgendwie hatte er Vertrauen zu dem Mann. Nach wenigen Tagen konnte er feststellen, der Herr Professor hatte Wort gehalten, seine Arbeit war hervorragend. Das chirurgische und ästhetische Ergebnis des Eingriffs ließ keinen Wunsch offen, nur perfekt und sonst nichts. Der nun nicht mehr an den Oberkiefer angepasste Unterkiefer war zum Essen allerdings völlig untauglich, zum anderen sah Julian nun noch entsetzlicher aus als je zuvor. Dieser Meinung waren auch Professor und Operateur in Personalunion. Aber es war ja nur der Anfang, schlecht war der Operateur und erst recht das Ergebnis nicht.

Trotzdem, und selbst bei äußerst kritischer Betrachtungsweise des Operationsergebnisses, kamen alle Beteiligten und im Besonderen Julian nicht umhin, sich anerkennend zu äußern, der Oberkiefer war gelungen. Julian war kein spontaner Mensch und trotzdem umarmte er den Professor mit äußerster Dankbarkeit. Der Hochschullehrer hatte noch eine Überraschung für Julian. „Wenn Sie wollen, können wir in zwei, spätestens in drei Tagen, den Unterkiefer ebenfalls korrigieren, und dann kann man Sie zunächst für ein halbes Jahr auf die Menschheit loslassen. Sie werden nicht mehr allzu sehr auffallen. Sicherlich, die Ohren und die Augen müssen dringend korrigiert werden. Die Augen, ja die Augen müsste ein Kollege der Augenklinik möglichst bald operativ in Ordnung bringen. Je länger Sie als erwachsener Mensch warten, desto schwieriger und schlechter wird das Ergebnis. Nicht das optische und kosmetische. Nein, Sie werden später sonst Probleme mit dem Sehen selbst bekommen, zumindest sehen Sie alles doppelt und das wäre dann ein echtes Problem. Jedoch, es sollte nicht allzu schwierig werden. Gut, dass es an den Augen Probleme geben kann, daran muss schon gedacht werden. Bei einer Operation an den Augen besteht immer die Gefahr, dass diese misslingt. Niemand kann ihnen bei irgendeiner Operation den Erfolg garantieren, niemals und niemand, junger Mann.“ Es konnte gar nicht anders sein, Julian war sofort einverstanden mit dem nächsten Schritt, trotz der zu erwartenden Schmerzen nach solch einer Operation, er wollte doch nur so aussehen wie alle anderen Menschen auch.

Damals und auch zum großen Teil noch heute ist die Schmerztherapie in Deutschland ein Stiefkind der Medizin. Die meisten Ärzte haben keinen blassen Dunst von einer suffizienten Schmerztherapie, es ist leider die Wahrheit, und manche Krankenhäuser lernen es nie.

Wie bereits die vorherige Operation, so zeigte auch die des Unterkiefers ein hervorragendes optisches und operatives Ergebnis. Julian war nicht mehr Julian, Julian war tatsächlich ein anderer Mensch. Sicherlich mit seinen Augen, die alles taten, bloß nicht anatomisch und physiologisch synchron zu arbeiten. Ebenso die riesigen Elefantenohren, die noch dazu mehr nach vorne standen als nach hinten. So sah Julian auch nicht gerade aus wie ein Frauenschwarm, aber schon bedeutend besser als je zuvor. Das momentane Ergebnis war ohne jeden Zweifel ein gutes Ergebnis, einfach nur super! Julian war glücklich.

Nein, nicht nur die Augen und die Ohren, auch noch die Zähne gehörten zu der großen Baustelle. Aber gemach, Julians Geldreserven waren fast aufgebraucht. Ganz so aussichtslos war die Situation nun wiederum nicht. Zu einem hatte Julian ja noch einen beträchtlichen Teil seiner Beute im Abflussrohr der Toilette versteckt. Zum anderen waren da noch in Frankreich diverse recht gierige Abnehmer, die nur auf ihn warteten. Und wenn alle Stränge reißen … Ja ja, das Loch in der Silikonfuge. Alles wollte Julian nicht zu Geld machen von seinem Beutezug, lieber einige kleine Teile für sich behalten. Auch er war längst zu der Erkenntnis gelangt: Kleider machen Leute. Schmuck und teure Uhren hinterlassen in gewissen Kreisen einen sehr prägenden Eindruck. Und so wollte er es und tat es auch. Ein gewisser Teil seiner Beute wurde wieder in Metz zu Geld gemacht, doch nur ein Teil. Die besonders schönen Dinge behielt er für sich.

Noch nach Wochen schmerzte Julian das Gesicht bei jeder noch so kleinen Berührung. Nach einer gewissen Zeit stellte er jedoch mit Befriedigung fest, der Schmerz ließ allmählich nach, bis er nach drei Monaten gänzlich verschwunden war. Das Essen, das bereitete ihm noch größte Mühe und Schwierigkeiten. Seine vorherige, so undeutliche und verwaschene Sprache konnte Julian durch intensive Übungen in nur wenigen Wochen in ein geschliffenes Deutsch verwandeln. Kein Problem für einen akademisch gebildeten Menschen, auch wenn seine Wurzeln ihren Ursprung in einer Arbeiterfamilie hatten.

Man muss ebenso wissen, nicht jeder akademisch gebildete Mensch ist ein Intellektueller. Sehr häufig haben Akademiker alles nur stur auswendig gelernt und nichts verstanden. Bei Prüfungen und Examina glänzen diese Leute mit Bestnoten. Sobald sie jedoch ihr Wissen in die Praxis umsetzen sollen oder müssen, ist der Transfer von den grauen Zellen und Gehirnwindungen in brauchbares Wissen völlig unzureichend. Und solche Banausen sitzen dann in den Gerichten oder in Berlin im Plenarsaal. Etliche davon treiben als Ärzte ihr Unwesen in Kliniken und Praxen. Ein großer Teil dieser Nullen ergreift das Lehramt. Die Letztgenannten bekommen schon im Alter von 30 Jahren einen Nervenzusammenbruch. 10 Jahre später haben sie einen Tinnitus und psychopathologische Aussetzer. Spätestens mit 45 gehen sie dann in die Frührente bei vollem Gehalt. Manche der letztgenannten Koryphäen müssen sich für ein Stunde Unterricht fünf Stunden vorbereiten. Es ist zum Weinen!

Etliche Operateure, die in fast jeder Klinik umhergeistern – meistens sind es Ärztinnen, aber nicht nur – müssen vor jeder Operation noch einmal im Anatomiebuch nachschlagen. In dem Handbuch für Operationstechnik versuchen diese Leute dem Buch, das verworrene Geheimnisse der Chirurgie zu entlocken. Jedoch nur bei kleineren Operationen, zum Beispiel bei einem Appendix, einem Blinddarm. Lässt man diese Spezialisten an anspruchsvolle Operationen, so liest man auf der letzten Seite der Samstagsausgabe der entsprechenden Zeitungen von ihrem Können. Hin und wieder auch in der Zeitung mit den vier Buchstaben. Oder der Staatsanwalt möchte unbedingt einmal die Krankenakte lesen. Es ist kein Geheimnis, dass diese Koryphäen in der Regel ungeschoren davonkommen. Es gibt auch genügend Gutachter, die schreiben für Geld jedes gewünschte Gutachten und sei es noch so widersinnig. Wissenschaftliche Gutachten sind grundsätzlich käuflich, das weiß jeder Rechtsanwalt. Jeder Patient kommt schnell zum gleichen Ergebnis, wenn es ihn selbst betrifft, dann ist es jedoch zu spät.

Die verstörende Lebensgeschichte des Julian M

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