Читать книгу Schnee von gestern ...und vorgestern - Günther Klößinger - Страница 7

Samstag

Оглавление

Worte flogen auf sie zu, Hunderte, Tausende und Abertausende von Wörtern, Zitaten, ganzen Romanen. Mehr wurden sie, immer mehr, bis sie glaubte, in einem Meer von Buchstaben zu ertrinken.

„Merkwürdig“, dachte sie, „wo sind eigentlich die Schmerzen?“

Ihr Versuch, ihre Wunden zu ertasten, misslang. Obwohl sie ihre ganze Kraft zusammennahm, schaffte sie es nicht, auch nur einen Finger zu bewegen. Weniger und weniger Luft drang in ihre Lungen; die Buchstaben sirrten umher wie ein immer dichter werdender Schwarm Fliegen.

„Weg! Weg!“, wollte sie den insektengleichen Wesen zurufen, aber kein Laut drang aus ihrem Mund. Mehr und mehr Buchstaben – oder Fliegen? – kamen zusammen, bildeten eine dunkle, haarige Wolke. Die junge Frau wollte den Arm heben, die Mücken verscheuchen. Abermals versagten ihre Glieder den Dienst.

„So ist er also, der Tod!“, dachte sie, nun merkwürdig entrückt. „Ein Haufen Schmeißfliegen, die dir als Buchstaben verkleidet deine Lebensgeschichte vor die Augen schreiben.“ Ihre weiteren Gedanken schafften es nicht mehr, sich zu Worten zu formen, nur schrecklich überdimensionale Visionen von borstigen, geflügelten Tieren. Die krabbelten ihr in Nase und Mund, legten schleimige Larven unter einer erstarrten Zunge ab und krochen weiter, hinab in diesen dunklen Schlund, wo ein letzter Schrei vergeblich auf seine Freilassung gewartet hatte.

„Vergeblich?“, würgte sich ein Wort hervor, erschuf sich selbst aus jenem dunklen Urschleim namens Angst.

„Vergeblich?“ Ein Wort, eine Frage, die die Furcht am Brodeln hielt. Ein anderes Wort befreite sich hingegen aus den Fängen der Todesgewissheit. Zuerst kam es nur wie ein Röcheln an die Oberfläche, dann barst es aus der jungen Frau heraus: „Nein! Nein! Nein!“ – immer und immer wieder „Nein!“, dieser Schrei sollte nicht vergeblich gewartet haben, er schoss ungebremst hervor. Mit ihm schwand das Gefühl, zu ersticken. Es drang kein Fliegenschwarm in den Mund, sondern frische Luft. Mit einem Mal war alles weg: die Buchstaben, die Fliegen. Und auch die Hand ließ sich wieder bewegen. Sie hob sie, ließ sie aber sofort wieder sinken.

Verwundert sah Jeannie sich um. War das alles nur ein Traum gewesen – die Schlägertypen, die bei ihr eingedrungen waren, sie zusammengeschlagen und ihre Wohnung verwüstet hatten? Hier war doch alles in Ordnung: Die Regale standen noch, die Stühle waren ordentlich unter den Tisch geschoben, die Bilder hingen an den Wänden.

Kälte stieg in Jeannie hoch, breitete sich aus bis in die letzte Faser ihres Körpers. Ein heftiges Zittern schüttelte sie. Hier war sie nicht zuhause. Verwirrt sah sie sich um. Eine warme Hand legte sich behutsam auf ihre Stirn. „Ganz ruhig, Jeannie! Es wird alles gut!“

Jeannie zuckte zusammen. Die plötzliche Berührung erschreckte sie. „Jasmin? Oh Gott, Jasmin. Ich dachte schon, alles ist aus!“

Jassy kniete neben dem Sofa, auf das sie Jeannie gebettet hatten. Sie streichelte ihrer Freundin zart durch die Haare und zog mit der anderen Hand behutsam eine Decke zurecht. Jeannie entspannte sich etwas, das Zittern ließ nach.

„Bleib nur ruhig liegen. Du bist nicht schlimm verletzt. Das wird alles wieder!“

„Um Himmels Willen“, schreckte Jeannie hoch, „habt ihr mich etwa zu einem Arzt gebracht? Der informiert bestimmt die Polizei, und ich muss doch …“

Sanft, aber bestimmt unterbrach Jasmin Jeannie und legte ihr einen Arm um die Schulter.

„Keine Angst. Du bist bei Penny. Die anderen wollten Polizei und Krankenwagen rufen, aber ich habe vorgeschlagen, erst Penny Bescheid zu sagen. Ihre Schwester arbeitet doch im Krankenhaus, und die hat als Freund ’nen Arzt an der Angel. Er hat dich untersucht und gesagt, du brauchst vor allem Ruhe.“

„Ich muss dir das alles erklären, Jasmin. Weißt du, ich, ich …“ Jeannie versuchte sich aufzurichten.

Jasmin lächelte und schob Jeannie bedächtig auf ihren Kissenberg zurück. „Dafür ist später noch Zeit. Hast du Durst?“

Statt einer Antwort nahm Jeannie nur Jassys Hand, drückte sie an ihre Backe und ließ sich tiefer in die Kissen sinken. Schon bald verriet ihr gleichmäßiges Atmen, dass sie wieder eingeschlafen war.

Robert staunte nicht schlecht, als er in Jessicas Armen aufwachte. Sicher, dies war nicht das erste Mal gewesen, dass sie eine Nacht miteinander verbracht hatten. Nur, dass sie völlig bekleidet, noch dazu mit farbverklecksten T-Shirts den Tag begannen, war neu. Außerdem lag neben dem Bett ein schnarchendes Etwas, das sich bei genauerem Hinsehen als Nick Winters entpuppte. Robert setzte sich auf und kratzte sich am Kopf. Jessica nuschelte schlaftrunken etwas in sich hinein und drehte sich von ihm weg.

Er setzte sich auf die Bettkante, rieb sich die Augen und versuchte seine Gedanken zu ordnen: Erstens: Das alles war kein Traum gewesen. Zweitens: Echt Wahnsinn, keine Polizei zu rufen. Drittens: Wie spät war es eigentlich? Viertens: Er war froh, dass sie nicht bei Penny geblieben, sondern noch zu Jessica gegangen waren. Fünftens: Dummerweise fand Nick das auch. Robert hätte sich gern mit Jessy unter vier Augen über das seltsame Verhalten des Freundes am gestrigen Abend unterhalten. Dazu würde es nun wahrscheinlich erst nach dem Frühstück Gelegenheit geben.

Irgendwo im Raum hörte er einen Laut, den er nur zu gut kannte: Eine SMS war auf Jessicas Handy angekommen. Er sah sich um und fand das Telefon zwischen seinen, Jessicas und Nicks Schuhen. Er nahm es und rief die Nachricht ab: „Jeannie geht’s ganz gut. Penny und ich machen Frühstück. Kriegsrat in einer Stunde bei P.“

„In einer Stunde? Und was machst du, wenn hier alle bis heute Nachmittag durchpennen, werteste Jasmin?“, brummelte Robert das Handy an.

Wieder ertönte das wohlvertraute Geräusch und erneut las Robby eine SMS: „Dann klingele ich euch eben raus! Jassy.“ Fassungslos stierte Robert auf das Display. „Das gibt’s doch nicht“, stammelte er, „langsam glaub ich doch an Hexerei.“

Ein frisches Lachen schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Die neue Theorie zur Metaphysik blieb unvollendet. Er blickte zum Fenster hinüber: Sie hatten am frühen Morgen vergessen, die Jalousien herunterzuziehen, und so sah er, dass vor dem Haus nicht nur die Sonne strahlte, sondern auch Jasmin. Er trat heran und öffnete das gekippte Fenster ganz.

„Du hast mich aber schön gelinkt, Jassy. Ich dachte, du machst Frühstück.“

„Bin auf dem Weg zum Brötchenholen. Da hab ich dann das Rollo auf Halbmast gesehen und beschlossen, euch mit modernster Elektronik zu wecken!“

Robby blickte in das schelmische Gesicht, in das er einmal hoffnungslos verliebt gewesen war. Noch immer stolperte sein Herz, wenn Jasmin ihm in die Augen sah. Und doch war er froh, nun Jessica an seiner Seite zu haben.

„Wie geht’s Jeannie?“, fragte er nach.

Jasmin hob kurz die Schultern und ließ sie wieder sinken.

„Ihr tut noch alles weh“, sagte sie, „aber sie kann aufstehen. Das wird schon wieder!“

„Und warum wollte sie keine Polizei?“, fragte Robby unverblümt nach.

Wieder Achselzucken. Jasmin sah nachdenklich und betrübt an Robert vorbei. Sie sah Nick schlafend auf dem Boden liegen, eingerollt wie ein Baby.

„Komisch“, dachte sie, „eigentlich müsste mir das Herz aufgehen, weil ich ihn hier sehe.“

Ihr Herz aber blieb verschlossen. Robert hatte Jassys Seitenblick bemerkt, wurde aber aus ihrem unergründlichen Mienenspiel nicht schlau.

„Weck die beiden und dann kommt! In einer dreiviertel Stunde gibt’s Frühstück!“ Mit diesen Worten ging Jasmin einfach weiter und floh damit auch vor den in ihr aufsteigenden Gefühlen.

Blinzelnd sah Ilka sich um und konnte es kaum fassen: Der Geruch von Kaffee, die Melodie der französischen Sprache und das Licht der Morgensonne lagen wie träger Nebel in der Luft. Sie atmete tief ein, schloss noch einmal die Augen und strich sich mit der Zungenspitze über ihre Lippen: der Geschmack, der Geruch, die Laute um sie herum – das war zweifelsfrei Urlaub. Sie öffnete die Augen wieder. Fox trat, ein Tablett in der Hand balancierend, an den Tisch heran. Mit dem müden Anflug eines Lächelns zwinkerte er Ilka zu, stellte das Tablett ab und setzte sich auf einen roten Plastikstuhl.

„Voilà, Madame!“, spielte er den Kellner und schob seiner Freundin eine Plastiktasse mit dampfendem Kaffee hin. Danach kam ein Tablett, auf dem ein mickriger Pappteller lag. Ein krümeliges Gebilde darauf, das wohl ein Croissant sein sollte, rundete das morgendliche Menü ab.

„Dank des Euros wissen wir jetzt wenigstens genau, wie sehr man hier beschissen wird!“, brummte Fox und trank von seinem Kaffee.

Ilka lächelte, schloss beide Hände um ihre Tasse und genoss, wie sich die Wärme von ihren Fingern aus im ganzen Körper verbreitete.

Alles atmete den Hauch von Vorfreude und Unbeschwertheit. Der Zustand der Raststätte wäre in einem Restaurantführer mit „minus 25“ noch sehr freundlich bewertet, aber genau das gehörte für Ilka einfach zum Verreisen: die Muster aus Kaffeerändern und Krümeln auf weißen, angeschrammten Plastiktischen, der Geruch von billigem Kaffee und aufgebackenen Brötchen, der Klang einer fremden Sprache, Gesichter, die man nie wiedersehen würde, und der Anblick von morgenroten Sonnenstrahlen, die durch speckige Fenster drangen. Ilka lächelte Fox an; der blickte verschlafen zurück.

„Bist du sicher, dass du das nächste Stück fahren willst?“, fragte sie.

„Mir ist ein Rätsel, wie du so fit sein kannst, Kätzchen. Du bist jetzt vier Stunden nonstop gefahren und doch strahlst du wie ein hochgegangener Reaktor.“

„Ich bin einfach nur glücklich!“, sagte sie mit gespieltem Seufzen und streichelte kurz Fox’ Hand.

„Na, dann gehen wir in Zukunft immer in solche Lokale!“, grummelte Fox und biss in sein Gebäckteilchen. Ein lautes Knirschen war zu hören. Eine Dame, die sich augenscheinlich zur „High Society“ zählte und an diesem Ort so passend schien wie Gauguin am Montmartre, warf einen vernichtenden Blick in Fox’ Richtung.

„Hör mal“, fragte Ilka erstaunt nach, „seit wann machen Croissants ,kruntsch‘, wenn man hineinbeißt?“

„Ganz normal nach drei Tagen in der Auslage“, gab Prancock zurück und nahm noch einen Schluck Kaffee, um zu verhindern, dass das altertümliche Stück Backware aus seinem Mund herausstaubte.

Ilka lachte und trank ihren Becher aus. Danach starrte sie sinnierend in die Luft.

Fox bemerkte es und fragte kauend nach: „Woran denkst du gerade?“

„Ich frage mich, ob es nicht etwas früh für Jasmin ist, mit 16 schon auszuziehen.“

„Hör mal“, sagte Fox, „wenn ich mich recht erinnere, war es doch eine Idee von dir, ihr ein Miet-Abo für deine alte Wohnung zu schenken, bis sie Abi hat, und dann weiterzusehen …“

„Na ja“, gab Ilka zu und rührte mit einem Plastiklöffel in ihrer leeren Kaffeetasse, „ich hätte nach allem, was ich dort erlebt habe, nicht wieder einziehen können, wir beide wollten ohnehin zusammenziehen und …“

„Natürlich waren unsere Gründe, Jasmin mit einer eigenen Bude zu beglücken, auch etwas egoistisch, aber Jasmin hätte das nicht angenommen, wenn sie es nicht für richtig gehalten hätte – du hast doch gesehen, wie sie sich gefreut hat.“

„Nun gut“, stimmte Ilka zu, „so ’ne dauerhaft sturmfreie Bude hätte mir in dem Alter auch gefallen!“

„Und außerdem ist sie ja nicht aus der Welt! Wir wohnen immer noch in derselben Stadt. Im Zeitalter des Handys kann sie sich rühren, wann immer sie was braucht!“

Eine mechanische Tonfolge erklang aus Ilkas Umhängetasche.

„Muss wohl Telepathie sein!“, grinste Ilka, zog ihr Telefon hervor und stellte fest: „Voilà – eine SMS von deiner Tochter!“

„Lies mal vor!“, meinte Fox und schlürfte den Rest seines Kaffees in sich hinein.

„Alles bestens! Wir frühstücken gerade! Schönen Urlaub. Jasmin.“

„Na, siehst du“, sagte Fox zufrieden, „ist doch alles in Butter. Jasmin kommt auch ohne uns klar!“

Als Penny, sich die Augen reibend und herzhaft gähnend, hereinkam, saßen Jasmin und die anderen bereits am Frühstückstisch.

„Ah, König Artus kommt – die Tafelrunde ist komplett!“, wurde sie von Nick begrüßt, dessen Stimme allerdings bei Weitem nicht so locker und unverkrampft klang wie sonst. So löste seine Bemerkung auch keine allgemeine Heiterkeit aus. Penny trat heran, ließ sich auf einen Stuhl fallen und blickte mit geröteten Augen in die Runde.

„Oh Mann“, sagte sie, „wenn ihr mich noch mal gegen 2 Uhr morgens aus dem Bett klingelt …“ Ohne den Satz zu beenden, nahm sie die verlockend nach Kaffee duftende Kanne vom Stövchen und goss sich ein. Dabei fragte sie: „Wie geht’s dir, Jeannie?“

Jeannie war blass, aber ein schwaches Lächeln hatte zurück in ihr Gesicht gefunden und wirkte zwischen Schrammen, Heftpflastern und blauen Flecken wie ein Regenbogen im Gewitterhimmel.

„Schon besser!“ Ihre Stimme zitterte noch ein wenig. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir, wie ich euch allen … ihr habt …“

Ihr Blick wanderte in die Runde. Alle sahen sie an, nur Nick war damit beschäftigt, Marmelade auf seinem Brötchen zu verstreichen.

„Schon in Ordnung“, griff Jasmin ein, die bemerkte, wie sehr Jeannie mit den Tränen kämpfte, „dieser Tagesordnungspunkt ist abgehakt. Wir kommen nun zum Bericht des Kassenführers!“

„Kassenführer?“, fragte Robert erstaunt nach.

„Kleiner Scherz!“, gab Jasmin grinsend zurück, wandte sich dann zu Janine, die ihre Spitznamen „Jeannie“ und „kleine Hexe“ wesentlich lieber hatte als ihren wirklichen Vornamen.

„Erzähl doch mal von Anfang an.“

Jeannie schluckte, blickte zu Boden und umklammerte dabei ihre Tasse, als wollte sie den Kaffee aus ihr herauspressen.

„Ich habe das alles zuerst gar nicht ernst genommen, wisst ihr?“

„Aber was denn?“, wollte Jessica wissen.

Jeannie hob den Kopf und sah Jessy mit einem Ausdruck völliger Hilflosigkeit an. „Die Anrufe!“

Alle schwiegen. Sogar Nick blickte nun neugierig in Janines Richtung, rührte dabei aber so nervös in seiner Tasse herum, dass der Kaffee auf die Untertasse schwappte.

„Welche Anrufe?“, schaltete sich Penny ein. Ihr detektivischer Instinkt war geweckt.

„So seit vier Wochen riefen immer öfter irgendwelche Typen bei mir an. Meistens wurde sofort aufgelegt, wenn ich mich meldete. Aber später kamen die Beschimpfungen und am Schluss dann Drohungen. Sie haben gesagt, dass … dass …“

Die Erinnerungen beanspruchten Jeannies Kräfte zu stark. Sie stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und vergrub ihr schmerzendes Gesicht in den Händen. Schluchzen brach aus ihr heraus wie ein unkontrollierbarer Orkan, ihr ganzer Körper erzitterte.

Betroffen schwiegen die anderen. Penny stand auf, ging zu Jeannie, stellte sich hinter sie und begann, leicht ihre Schultern zu massieren.

„Ganz ruhig!“, flüsterte sie, indem sie sich zu Janines Ohr herunterbeugte. Unablässig ließ sie Daumen und Handballen im Nacken der Weinenden kreisen, sanft, aber bestimmt.

Das Zittern ließ nach, Jeannie hob den Kopf. „Die wollten mich umbringen! Umbringen, versteht ihr?“

Jasmin zog ein Taschentuch hervor und reichte es Jeannie. Diese putzte sich die Nase, schluckte noch einmal und sah, wieder gefasster, in die Runde. Penny löste sich von ihr und ging zurück zu ihrem Käse-Dinkel-Brötchen.

„Aber warum?“, unterbrach Jessica die fassungslose Stille. „Warum sollte dich jemand umbringen wollen?“

„Und vor allem“, schaltete sich zur Überraschung aller Anwesenden Robert ein, „was sollten die ganzen ausländerfeindlichen Parolen in deinem Flur? Soweit ich weiß, stammst du nicht gerade aus Nigeria oder so …“

„Nun, ich habe ein paar Ländereien geerbt, die zu dem Gehöft gehören. Ich fand es zu schade, sie brachliegen zu lassen; den Nerv, Bio-Bäurin zu werden, hatte ich aber auch nicht. Mein Job im Laden braucht auch seine Zeit und macht viel Spaß. Da habe ich mir überlegt, ob man nicht ein Projekt starten könnte. Mein Freund war daraufhin so begeistert, dass er mich sofort verließ. Er meinte, ich hätte dann noch weniger Zeit für ihn …“

„Kommt mir irgendwie bekannt vor!“, dachte Nick für sich, sagte aber nichts.

„Das gehört ja nicht hierher“, fuhr Jeannie fort. „Ich habe die Felder verschiedenen Ausländerinitiativen zur Verfügung gestellt. Sie bewirtschaften sie und verkaufen den Ertrag auf dem Markt. Der Erlös geht an die Gruppen selbst, direkt und unbürokratisch. Auch Kleider und alle möglichen anderen Sachen für Asylbewerber werden davon finanziert, Spiele für die Kinder und so. Ich bekomme nur einen Teil der angebauten Früchte, Obst, Gemüse, Salat …“

„Gebet dem Kaiser seinen Zehnten!“, warf Nick theatralisch ein, erntete aber wieder keinen Applaus. Stattdessen warf seine Freundin ihm einen strafenden Blick zu.

„Und damit hast du dich zur Zielscheibe für Ausländerhasser gemacht!“, stellte Robert trocken fest.

„Anscheinend, aber bei den Telefonaten habe ich eben gedacht, das wären solche Feiglinge, die halt lautstark tönen, aber nicht wirklich was tun. Erst als neulich dieser Mord an Ibrahim passierte, wurde mir mulmig.“

„Kanntest du den denn?“, fragte Robert.

„Nicht wirklich, aber im Vorstand von ,Integration Now‘ war er ein hohes Tier.“

„Trotzdem“, warf Penny ein, „möchte ich mal wissen, warum die Polizei außen vor bleiben soll. Jeannie, du hast es hier mit eiskalten Killern zu tun, die …“

„Einige der Männer und Frauen, die bei mir auf den Feldern arbeiten, sind Leute, über deren Asylantrag noch nicht entschieden ist. Die dürften von Rechts wegen gar keiner Beschäftigung nachgehen …“

„… sondern nur in ihrer Wohnbaracke rumsitzen und Däumchen drehen“, stellte Jasmin fest, und Jessica fügte hinzu: „So was finde ich auch total übel. Da lässt man sie ewig auf ihre Verhandlung warten und wenn sie was Sinnvolles tun, schiebt man sie ab!“

„Aber die Sache ist lebensgefährlich für dich!“, betonte Penny noch einmal, an Jeannie gewandt.

Diese zuckte trotzig die Achseln und gab zurück: „Wenn Mustafa und Hussein zurückgeschickt werden, macht man sie in ihrer Heimat auch ’nen Kopf kürzer!“

Penny sah, dass Argumentieren in dieser Zwickmühle unmöglich war. Sie goss sich erneut Kaffee ein und nickte Janine aufmunternd zu.

Diese fuhr fort: „Yasemin schließlich ist sogar illegal hier – ihr Antrag ist schon abgelehnt und sie ist auf der Flucht vor der Abschiebung. Zuflucht findet sie nur bei verschiedenen Asylbewerbern, die zum Teil auch auf meinen Feldern arbeiten.“

Alle schwiegen, aßen und tranken. Sie mussten das Gehörte und die Erlebnisse der vergangenen Nacht erst einmal verarbeiten. Jessica warf einen prüfenden Blick in die Kanne, nahm sie und verschwand in die Küche, um neuen Kaffee zu kochen.

„Meine Güte“, entfuhr es Jasmin, „kommen deine Leute dann nicht heute auf deinen Hof, um die Sachen für den Markt zu holen?“

„Nein“, antwortete Jeannie ruhig, „den Wochenertrag lagern sie in einer Scheune nahe dem Wohnheim für Asylbewerber. Am Wochenende arbeiten wir nicht – nur in Ausnahmefällen.“

„Gut!“, atmete Jasmin auf. „Ach ja, meine Namensvetterin würde ich gern mal kennen lernen, kleine Hexe!“

Jeannie lächelte. „Ich glaube, ihr werdet euch mögen“, sagte sie, „Yasemin singt auch gerne und spielt hervorragend Saz!“

„Oh nein“, dachte sich Nick, „nicht noch eine Busenfreundin für meine Prinzessin.“

„Jetzt mal ganz konkret“, forderte Penny ein, „was können wir tun, ohne diesem Mob das Feld zu überlassen, wenn wir keine Polizei einschalten dürfen? Bei den ganzen Spuren, die sie bei dir hinterlassen haben, Jeannie – nach allem, was ich gesehen habe, als ich heute Nacht rausfuhr, um dich und die anderen abzuholen – wäre genügend belastendes Material da. Das reicht allemal, um die Kerle lange Jahre einzubuchten!“

„Mag sein“, sinnierte Jasmin, „aber die fühlen sich zu sicher. Da steckt bestimmt eine größere Organisation dahinter. Die Polizei würde vielleicht diese Schläger fassen, aber die Hintermänner würden einfach neue rekrutieren.“

„Gut, dann musst du eben untertauchen!“, schlug Penny Janine vor.

„Aber damit geben wir dem Terror nach!“, gab Robert zu bedenken.

„Hört auf zu debattieren!“, meinte Jessica, die soeben mit einer frischen Kanne Kaffee hereinkam. Verheißungsvoll breitete sich der Duft im Raum aus. „Ich habe die Idee!“

Alle sahen sie erwartungsvoll an.

„Ganz einfach: Wir wollten uns in den Pfingstferien doch ohnehin intensiv auf den Band-Wettbewerb ,Rockin Summer‘ vorbereiten!“

„Ja und?“, fragte Nick nach.

„Liegt doch ganz nahe, Mann! Wir verlegen unseren Probenraum für die ganzen zwei Wochen in Jeannies Scheune und pennen dort auch. Zwischendurch helfen wir beim Aufräumen und Renovieren – da haben wir ja jetzt Übung …“

„… und genügend Farbe übrig!“, bemerkte Robert.

„Richtig!“, strahlte Jasmin. „Und einige deiner ausländischen Freunde machen doch bestimmt mit. Und damit bist du nicht mehr allein, an gut und gern acht bis zehn Leute trauen diese Feiglinge sich garantiert nicht so leicht ran.“

„Aber was ist nach den zwei Wochen?“, fragte Penny, noch immer skeptisch.

„Penny“, sagte Jessica beschwichtigend und goss der Gastgeberin Kaffee nach, „du bist doch eine 1A-Detektivin. In diesen zwei Wochen sammelst du so viele Beweise, dass wir die ganze Organisation hopsgehen lassen, oder?“

Jessy lächelte so unwiderstehlich, wie sie nur konnte, und zwinkerte Penny zu.

„Und wer bezahlt mein Honorar?“

„Du bekommst lebenslang Freikarten für unsere Konzerte!“, eilte Robert seiner Freundin zu Hilfe.

„Und am Ende der Ferien macht ihr ein großes Benefiz-Open-Air auf der Wiese hinter dem Heim!“, schlug Jeannie Jasmin vor.

Deren Herz schlug einen frohen Beat an: Jeannie hatte tatsächlich wieder jenes Strahlen in den Augen, von dem sie alle befürchtet hatten, sie würden es nie mehr sehen.

„Sag mal“, fragte der Anrufer mit Nachdruck und unüberhörbar bedrohlich, „was war denn jetzt mit deiner Aktion?“

„Was soll denn gewesen sein?“

Verwirrung machte sich breit. Beiderseitige Sprachlosigkeit. Zähneknirschen auf Plastik. Genug Zeit, um nachzudenken. Dem Mann fiel allerdings kein eigenes Versäumnis ein. Laut schluckte er.

Der Kugelschreiberkauer beendete das kurze Schweigen: „Nichts los – absolut gar nichts, nicht mal ’ne Meldung im Regionalradio. Unsere Hacker haben den Polizeicomputer angezapft – nichts! Keine Meldung. Auch kein Feuerwehreinsatz letzte Nacht …“

„Du wolltest ja keine Leiche“, warf der Mann ein und dachte: „Leider!“ Er sagte aber: „Es gab keine Ecke, in der ich Feuer hätte legen können! Das Gör wäre verbrannt oder erstickt. Habe dann wenigstens Zunder und Kanister dagelassen. Sah aus wie eine missglückte Brandstiftung!“

„Habt ihr sie etwa so zusammengeschlagen, dass sie …?“

„Nein! Gewehrt hat sie sich zwar nicht mehr, aber geatmet hat sie noch.“

Mit Genugtuung erinnerte sich der Mann daran, wie dieses Biest geheult und gewinselt hatte. Zuerst war das wie Musik in seinen Ohren gewesen. Er und seine Kumpels hatten sie weiter und weiter mit all den Büchern beworfen. Ein wahrer Rausch! Schließlich war ihnen das Jammern doch auf den Geist gegangen. Als er ihr dann eine steinerne Statuette an die Stirn geschleudert hatte, war Ruhe gewesen. Am liebsten hätten sie gleich die ganzen alten Schinken angezündet. Machwerke, die alte Wahrheiten verleugneten. Geschrieben von irgendwelchen Ausländern. Und dann noch dieser ganze Hokuspokus über Hexerei. Gequirlter Hühnerschiss zwischen Buchdeckeln! Schließlich hatte er höchstpersönlich das Regal umgeworfen, direkt auf jenen Haufen aus verschwendetem Papier. Er konnte nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob diese Göre noch geatmet hatte, aber das ging den anderen auch nichts an.

„Mein Tag kommt noch“, dachte er bei sich, „dann wirst du mir Rede und Antwort stehen und ich werde dich verurteilen. Jawohl, das werde ich …“

„Bitte was?“, fragte der Anrufer.

Der Mann biss sich in die Lippe. Anscheinend hatte er wieder einmal schneller gesprochen als gedacht. Stille, bis auf das Schaben der Zähne und das Klicken des Kugelschreibers. „Nichts, nichts … Soll ich mir die Sache noch mal ansehen?“

„Lass mal! Wir warten lieber ab. Nicht, dass du dann noch geschnappt wirst, wenn du an den Ort deiner Taten zurückkehrst!“

„Und wann schlagen wir wieder zu?“

„Abwarten!“

Die Wochenendausgabe der „Allgemeinen“ flog ins Eck. Die Rätselbeilage machte sich selbstständig und segelte bedächtig zu Boden. Der Hauptteil war bereits mit einem plumpen „Flatsch“ heruntergefallen. Ein Kassettenrekorder auf dem Sideboard verströmte düstere Akkorde. „Revenge, Revenge!“, forderte die rauchige Reibeisenstimme von Nightmare Blackbone, seines Zeichens Sänger der Depri-Punk-Band „Deepest Swamp“. Else löste den Blick von dem Gebilde aus Zeitungspapier, das in der Ecke lag, und schlug hart mit der Faust auf den Tisch.

„Ihr könnt mich mal mit euren Katastrophenmeldungen“, zischte sie, „von mir aus geht’s aller Welt dreckig! Wer fragt schon nach mir?“

Sie hob den Blick und sah den Kaffeefleck an der Tapete. Ein stilles Mahnmal ihrer Verletztheit. Er war etwas blasser geworden, aber nur ein wenig. Eigentlich hatte Else ihren Wocheneinkauf erledigen wollen, aber die Vorstellung, hinaus in das freundliche Wetter zu gehen, war ihr zuwider. An allen Ecken waren sie zu sehen: glückliche Menschen! Von Frühlingsgefühlen berauscht, umarmten sie einander, lächelten sich zu, tauschten Küsschen aus. Ein letztes brachiales „Revenge!“ zerriss fast den billigen Lautsprecher. Dann schaltete sich das uralte Gerät mit einem lauten „Klack“ ab. Das Geräusch ließ Else erneut aus ihrer Erstarrung aufschrecken. Herr Nightmare war wohl endgültig im „Deepest Swamp“ abgesoffen.

Die Stille im Raum griff kalt nach Elses Gefühlsapparat, dessen Thermostat ohnehin bereits „Frost“ zeigte. „Alle haben ihre eigenen Katastrophen – oder sie sind glücklich! Wieso sollte da einer nach mir fragen?“ Sie buchstabierte wieder einmal ihr neues Mantra: „A – L – L – E – I – N!“, als das Telefon die Übung in Selbstmitleid schrill unterbrach.

„Bestimmt fragst du gleich mit besorgter Stimme, wie’s mir geht, du Heuchler!“, durchfuhr es Else. Mit grimmigem Blick sah sie ihr Telefon an. Sie ließ es mehrfach läuten.

„Wenn du glaubst, ich geh ran, Mr. Mathe, hast du dich getäuscht!“

Es klingelte weiter. Jedes neue Schrillen hallte lauter als das vorherige in Elses Kopf. Nach zwölf Klingelzeichen nahm sie den Hörer und meldete sich mit einem durchdringenden: „Revenge!“

Schweigen. Dann ein verlegenes: „Verzeihung! Ich glaube, ich habe mich verwählt.“

Die Stimme kam Else bekannt vor, sie wusste sie aber nicht sogleich einzuordnen. Mr. Mathe war es jedenfalls nicht, den sie da hörte.

„Entschuldigung!“, stammelte Else, peinlich berührt von ihrer eigenen, albernen Racheaktion. „Hier Müller. Ich musste nur eben noch die Stereoanlage abdrehen. Wer spricht denn da?“

„Oh, Frau Müller! Dann bin ich doch richtig! Thalmann hier!“

Else schwieg verdutzt. Horst Thalmann, der Oberbürgermeister der Stadt, rief sie persönlich an – was hatte das zu bedeuten?

„Was kann ich für sie tun, Herr Thalmann?“

„Frau Müller, wie sie vielleicht wissen, finden in diesem Herbst Stadtratswahlen statt!“

„Jaja, ich weiß, aber was habe ich …?“

„Meine Kollegen von der ,Freien Liste‘ und ich könnten Sie uns sehr gut als Stadtratskandidatin vorstellen.“

„Aha“, dachte sich Else, „daher weht also der Wind – er braucht mal wieder ’ne Politmarionette!“

Else hatte den letzten Wahlkampf noch sehr gut in Erinnerung: Die großen Parteien hatten die Bürger der Stadt über die Jahre hinweg durch Gemauschel und Phrasendrescherei enttäuscht und verärgert. Thalmann war deshalb wohlweislich für eine nicht zu kleine, aber dennoch freie Wählergemeinschaft angetreten. Deren Ziele vertrat er zwar nur halbherzig, aber im Hinblick auf den guten Ruf, den seine Familie seit Generationen in dieser Stadt genoss, waren sie auch nicht hinderlich. Seine persönliche Karriere war ohnehin das Wichtigste für ihn. Darüber hinaus gab es genügend Zündstoff für Protestwähler. Selbst eher konservativ, unterstützte er so zähneknirschend den Antrag seiner Fraktion, die alte Ziegelei als Heim für Asylbewerber zu nutzen.

Das war aber der einzige offenkundig unpopuläre Themenpunkt im Programm seiner Liste gewesen. Die Wahl wurde knapp gewonnen, die Gesinnung aber sogleich verloren: Kaum einmal Bürgermeister, paktierte Thalmann nur noch mit den einstigen Strippenziehern und entmachtete so seine eigenen Weggefährten. Lediglich in der Frage der Ausländerpolitik machte er hin und wieder Zugeständnisse an die Liste, deren Mitglied er immer noch war – zumindest auf dem Papier! Ansonsten herrschten nach wie vor Korruption und Vetternwirtschaft. „Same procedure as every election“, rezitierte Else geräuschlos.

„Aber Herr Bürgermeister, wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?“

„Nun, Ihr Name ist den Leuten in unserer Stadt nach wie vor ein Begriff, auch wenn sie nicht mehr als Kommissarin tätig sind. Sie sind als integer und zuverlässig bekannt …“

„Worauf sich anscheinend alle Männer um mich herum verlassen“, dachte sich Else, „und was sie alle ausnutzen!“

„… und wir hätten für Sie sogar einen sehr attraktiven Listenplatz reserviert“, fuhr das Stadtoberhaupt mit professioneller und erprobter Freundlichkeit fort.

„Zweihundert?“, fragte Else scherzend nach.

Der Politprofi wusste, wie er auf solch einen Einwurf zu reagieren hatte. Die Imitation eines belustigten, herzlichen, aber nicht zu lauten Lachens drang an das Ohr der früheren Polizistin. Das weckte Erinnerungen an Verhörsituationen, in denen Kleingangster ihre Schuld herunterspielen wollten. Als Thalmann dann aber eine Zahl nannte, stockte Else der Atem.

„Zwei? Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Thalmann!“

Listenplatz zwei würde bei Thalmanns Wiederwahl bedeuten, dass sie die Chance hatte, stellvertretende Bürgermeisterin zu werden.

„Das ist mir völlig Ernst! Mein Stellvertreter, Herr Traunstein, scheidet aus gesundheitlichen Gründen zum Ende dieser Periode aus dem Amt und es wäre doch an der Zeit, einmal eine starke Frau auf diesem Posten zu haben, Frau Pr…, äh, Müller!“

„Da haben wir’s“, stellte Else in Gedanken fest, „mein früherer Name! Meine alte Position und natürlich der allseits präsente Name meines Exmanns sind es, was dich an mir überzeugt, und sonst nichts.“

Elses Gehirn wollte turbomäßig alle Möglichkeiten durchchecken, die es gab, solch ein Angebot möglichst diplomatisch abzulehnen. Doch ihr Mund schien der Kommunikationsgewerkschaft beigetreten zu sein und sprach, ohne das Ergebnis des Denkprozesses abzuwarten: „Gut, ich werde es mir überlegen!“

„Vielen Dank, Frau Müller! Sie können mich natürlich jederzeit anrufen, auch privat, um mir Ihre Entscheidung mitzuteilen. Vielleicht können Sie aber auch zu unserem traditionellen Pfingsttreffen in der „Grauen Gans“ kommen – nächsten Samstag, um 19 Uhr.“

„In Ordnung! Ich werde mich melden!“, sagte Else und legte auf.

Das siebte „Pardon!“ innerhalb von eineinhalb Stunden ließ Ilkas Miene noch finsterer werden, als sie ohnehin schon seit der vierten Absage war.

„Soso, Herr Kommissar“, sagte sie mit einer Stimme, die im Niemandsland zwischen Ironie, Spott und Verärgerung zuhause war, „Pfingstferien sind also in Frankreich keine Hauptsaison und es ist absolut nicht nötig, eine Pension im Voraus zu buchen!“

Schuldbewusst zog Fox den Kopf ein – leider hatte er keine Munition für Vergeltungsschläge in der rhetorischen Waffenkammer. So bemühte er sich, argumentativ lieber die Genfer Konvention einzuhalten und abzuwiegeln wie ein überforderter UN-Mandatsträger im Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten.

„Sollten wir vielleicht erst mal was zu Mittag essen?“, nuschelte er in Ilkas Richtung, wobei er umständlich die Fahrertür aufschloss.

„Klar“, gab Ilka angriffslustig zurück, „wir haben ja alle Zeit der Welt, und alle Raststätten und Pensionen in Colmar warten nur darauf, für uns die Betten frisch zu beziehen!“

Die Zentralverriegelung knirschte müde und beide stiegen wortlos ein.

„Okay, ich gestehe“, knurrte Fox, die Landstraße fixierend, „dass ich die Situation mit den Übernachtungsmöglichkeiten falsch eingeschätzt habe. Zugegeben! Aber deine Idee, schon nach der vierten Absage in der Stadt auf den ländlichen Raum auszuweichen, hat sich auch nicht gerade als Hit der Saison erwiesen!“

„Schon gut“, seufzte Ilka und schaltete mit den Worten „Apropos Hit!“ das Autoradio ein.

„No, je ne regrette rien!“, schmetterte Edith Piaf im Brustton vollster Überzeugung durch den Äther.

„Die Piaf bereut nichts!“, sinnierte Prancock.

„Die hatte wahrscheinlich auch vorgebucht!“, zog Ilka ihren Freund auf.

„Sieh mal, Kätzchen, ein Dorf!“

„Welches Dorf? Das sind gerade mal zehn Häuser!“

„Da finden wir bestimmt was!“

„Na, das wird dann garantiert ein höchstmondäner Urlaub!“, seufzte Ilka und ließ sich mit gespielter Leidensmiene tiefer in ihr Sitzpolster sinken.

„Klar, typisch französisch“, gab Fox zurück, „überall duftet es nach Kanal No. 5, zum Dessert gibt’s Maus au Chocolat …“

„… und ein achtzigjähriger Kellner verführt die junge, unerfahrene Urlauberin!“

Fox musste so lachen, dass fast sein Fuß vom Gaspedal gerutscht wäre. Flink schaltete er herunter und fuhr auf Höhe des ersten Hauses an den Straßenrand. Nachdem er sich seine Lachtränen aus den Augen gewischt hatte, sah er Ilkas Zeigefinger, der direkt auf das Gebäude wies.

„Guck mal!“, sagte sie und ihr Tonfall klang plötzlich wieder aufmunternd.

Fox sah aus dem Seitenfenster und erblickte ein Werbeschild, das mit Jugendstil imitierenden Lettern den Namen des Anwesens verriet: „Pension du Joli Bois“.

Er konnte es nicht fassen. Am liebsten wollte er seinem Begleiter den Feldstecher reichen und flüstern: „Sieh dir das mal an!“, doch noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er allein gekommen war. Er bemühte sich, einen günstigeren Winkel für das Fernglas zwischen Gestrüpp und Zweigen zu finden. „Nur nicht wie ’n Wildschwein durchs Gehölz brechen!“

Mit der freien Hand schlug er sich leicht auf den Mund, war ihm das nun rausgerutscht oder waren die Worte noch in seinem Kopf hängengeblieben? Er war nicht weit von dem Anwesen der Göre entfernt. Der Wind trug ohnehin schon den Duft seines schweißgetränkten Unterhemds hinüber zum Gehöft. Er ging weiter in die Hocke und drehte mit einem kleinen Rädchen das Bild in den Okularen schärfer.

„Was zum Donner geht da vor sich“, murmelte er. Dann hielt er erschrocken inne. Diesmal hatten seine Ohren die eigene Stimme zweifelsfrei wahrgenommen, noch während er die Worte dachte. Er rang um Konzentration und betrachtete verständnislos das Treiben auf dem Hof: Einige junge Kerle und Gören trugen ein Schlagzeug und Gitarren in die Stallungen. Andere, fremdländisch aussehende Männer und Frauen – „Kanacken!“, dachte er bei sich – luden Werkzeug, Farbeimer und Tapetenrollen aus einem Kleinwagen.

„Ich hab doch gleich gesagt, wir sollten sie kaltmachen!“, stellte der Mann im Gebüsch fest. Zufrieden registrierte er, dass kein Laut über seine Lippen gekommen war. Er konnte in keiner Weise einordnen, was da passierte, aber nach Depressionen infolge eines Mordanschlags sah das bunte Treiben auf dem alten Bauernhof nicht gerade aus – eher nach einer ausgelassenen Einzugsfete.

„Hallo Penny!“, rief Jasmin der Detektivin fröhlich entgegen, als diese aus ihrem Auto stieg. Die beiden umarmten sich herzlich, dann öffnete Penny den Kofferraum. Mehrere prall gefüllte Plastiktüten lagen darin.

„Hoffentlich ist Jeannies Kühlschrank groß genug!“, überlegte Penny laut. Sie beugte sich noch im selben Atemzug über die gekauften Lebensmittel und ging daran, eine volle Einkaufstasche aus dem Kofferraum zu hieven.

„Warte doch, ich helf’ dir!“, sagte Jassy, trat heran, bückte sich und schon verschwand auch ihr Kopf unter der geöffneten Heckklappe. Verwundert bemerkte Jasmin, dass Penny sich einen Zeigefinger auf den Mund legte.

„Was ist …?“, begann Jassy, aber Petra Roth unterbrach sie: „Psssssssssst!“

Jasmin hielt inne und sah Penny nur fragend an.

„Irgendwer beobachtet euch!“

Bestürzung trat in Jasmins Züge, fassungslos öffnete sie den Mund, aber etwas hinderte sie daran, die Frage auszusprechen.

„Als ich hierherfuhr, fiel mir ein merkwürdiges Blinken im Gebüsch auf.“

„Ja, und?“

„Als ich dran vorbei war, habe ich im Rückspiegel unterhalb des Blinkens zwei knallrote Turnschuhe gesehen.“

„Du meinst also …“

„Genau!“, unterbrach Penny ihre Freundin. „Da linst jemand mit einem Fernglas oder einem Fotoapparat herüber. Und er will auf keinen Fall entdeckt werden. Zu seinem Pech reflektiert Glas das Sonnenlicht.“

„Und was sollen wir jetzt machen?“

„Erst mal nichts!“, erwiderte Penny und hob ächzend die Tasche aus dem Kofferraum.

Jasmin tat es ihr gleich und beide schleppten übervolle Tüten in Richtung Hauseingang. Der stämmige Mann mit krausem, dunklem Haar, der gerade damit beschäftigt war, die Scharniere wieder an Haustür und Türstock zu befestigen, ließ augenblicklich die Schraubenzieher fallen. Er rannte flugs auf Penny und Jasmin zu und nahm ihnen die schweren Lasten ab.

„Emanzipation gut“, knurrte er, „aber nicht bis Leistenbruch!“

Verdutzt sahen die Freundinnen dem Mann nach, als er die Taschen ins Haus trug.

„Das ist Mehmet!“, bemerkte Jasmin knapp.

„Angenehm, Roth, äh, Penny!“, stammelte die Detektivin perplex, stellte dann aber fest, dass der resolute Türke bereits außer Hörweite war. Achselzuckend ging sie weiter, betrat mit Jasmin das Haus und bemerkte erstaunt, dass Mehmet bereits wieder aus dem Keller zurückkam.

„Schon alles verstaut?“, fragte Jasmin verblüfft.

„Emanzipation gut“, antwortete Mehmet mit verschmitztem Lächeln, „aber Ordnung in Kühlschrank Sache von Hausfrau!“

Penny blickte ihn strafend an, doch ihr Gegenüber entgegnete mit einem vollkommen entwaffnenden Lachen: „Ich meine: Frau des Hauses!“

„Schon besser“, lächelte Penny zurück. Sie ging auf ihn zu und gab ihm die Hand.

„Ich bin Penny!“

„Mehmet!“

„Ich weiß!“

„Wenn du alles weißt, vielleicht auch du weißt, wer Spanner im Gebüsch?!“

Penny pfiff anerkennend durch die Zähne und fragte: „Bist du sicher, dass du kein Detektiv bist, Mehmet?“

„Ich 007 aus Ankara!“, witzelte Mehmet und schob mit gespieltem Stolz seine Brust vor.

„Wir sollten trotzdem überlegen, was wir tun!“, schlug Jasmin ungeduldig vor, als plötzlich ein markerschütternder Schrei das Gemurmel der Helfer vor dem Haus durchbrach. Augenblicklich wurden Jasmin und Penny bleich. Mehmet wirkte nur noch wie ein bereits verschluckter Scherzkeks.

„Was war das?“, stammelte Penny.

„Ein neuer Anschlag? Penny, Mehmet, wir müssen …“ Weiter kam Jasmin nicht. Die erst provisorisch befestigte Haustür schwang auf, die Scharniere und Schrauben beschlossen, ihr Bestes zu geben und nicht erneut herauszuspringen. Eine schlanke, große Gestalt stand im Türrahmen, ein triumphierendes Lächeln im Gesicht. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen, kantigen Gegenstand, den sie den dreien entgegenstreckte.

Jasmins Gesicht entspannte sich etwas. „Mensch, Yasemin, war das ein Schock! Hast du so geschrien?“

„Nee“, gab das große Mädchen Kaugummi kauend zurück, „das war der Spanner!“

„Aber woher … wusstest du von dem Kerl?“, stammelte Penny.

„Erstens habe ich Augen im Kopf“, Yasemin unterstrich ihre Rede mit einer selbstbewussten Kopfbewegung, „und außerdem gibt mir Mehmet manchmal praktische Tipps!“

„Und was ist jetzt mit dem Typen?“, fragte Jasmin ihre kurdische Namensvetterin.

Yasemin hielt grinsend den Gegenstand hoch. Es handelte sich um einen kleinen Handspiegel.

„Damit“, sagte sie, „habe ich ihm ein paar Sonnenstrahlen direkt in die Linse umgeleitet. War anscheinend volles Bingo!“

„Hat jemand ihn gesehen?“, erwachte Pennys professionelles Interesse.

„Klar, ich! Aber nur flüchtig. Konnte nur erkennen, dass es ein Mann ist. Rannte ziemlich schnell von uns weg und achtete bestimmt nicht auf verwischte Spuren. Zum Verfolgen war er aber schon zu weit entfernt … und außerdem: Du bist hier die Detektivin, oder?“

„Stimmt!“, erwiderte Penny lächelnd. „Und was bist du?“

„Der Spannerschreck!“, gab Yasemin grinsend zurück und produzierte eine überdimensionale Kaugummiblase.

Fox schwieg und konzentrierte sich auf den Café au Lait, der vor ihm stand. Verstohlen warf er einen Blick zu Ilka hinüber. Sie saß ihm gegenüber und bemühte sich, nicht allzu gereizt zu wirken. Kaum zu fassen, aber das „Joli Bois“ war ebenso ausgebucht wie alle Pensionen, bei denen sie zuvor ihr Glück versucht hatten.

„Wenn sogar hier, am Abgrund zum Arsch der Welt, nichts zu wollen ist“, hatte Prancock mit wachsender Resignation genuschelt, „dann sollten wir wohl besser die Brücken der Umgebung abklappern.“

Wenigstens einen Kaffee wollten sie sich in der Lounge – ein etwas protziger Name für das Esszimmer des kleinen Etablissements – gönnen, um sich für die weitere Suche zu stärken. Zu Fox’ Verwunderung hatte Ilka nichts dagegen gehabt, obwohl der Nachmittag unbarmherzig voranschritt und weit und breit kein Quartier in Aussicht war. Ilka hatte das „Pardon!“ des Mannes an der Rezeption bereits aus dessen Mienenspiel lesen können, bevor er es ausgesprochen hatte. Fox’ Frust weckte in ihm die Lust, seinen Kaffee mit Cognac zu veredeln. Verstohlen blickte er sich um. Niemand nahm Notiz von ihm. Mit geübter Hand griff er in die Tasche des Trench, den er über die Stuhllehne gehängt hatte, schnappte sich den Flachmann, öffnete ihn mit einer einzigen Handbewegung und wollte einen Schuss Weinbrand in seine Tasse kippen, als er stutzte: Das Fläschchen war leer. Eine Tatsache, die nicht gerade ein Gefühl der Freude in ihm weckte.

„Sei froh, dass es leer ist!“, sagte Ilka.

Fox sah hoch und blickte seiner Freundin ins Gesicht: Sie hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und hielt mit zarten, leicht gespreizten Fingern ihre Tasse in Höhe des Kinns, schlürfte etwas heraus und blies dann ein Sahneklümpchen von einer Seite der Tasse zur anderen. Versonnen blickte sie in ihren Kaffee, dann zu Fox. Ihr Lächeln vertrieb jeglichen Appetit auf Cognac, aber dennoch: Fox fühlte sich ertappt.

„Wieso?“, brummte er. „Auf unsere erfolgreiche Quartiersuche könnten wir ja wohl anstoßen, oder?“

„Schon“, meinte Ilka, „aber nicht damit!“

Verdutzt beäugte Fox das Fläschchen genauer. Der Werbeschriftzug von „Caramelle No. 5“ prangte mit unnachahmlicher Eleganz auf dem Glas. Ilka konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. Um den Lachanfall zu unterdrücken, trank sie einen weiteren Schluck Kaffee.

„Dein Parfum?“ Fox war verwirrt. „Aber wie …?“

„Na, Herr Kommissar, eines Tages klaut man Ihnen noch die Kanone aus dem Schulterhalfter!“, stellte Ilka triumphierend fest.

„Wann hast du die Flaschen denn vertauscht?“, wollte Prancock wissen.

„Rate doch mal!“

Trotz seiner Verwirrung verschlang Fox Ilka fast mit den Augen: Wenn sie dieses spitzbübische Lächeln zu ihm herüberschickte und der Schalk aus ihren Augen sprühte, fand er sie mehr als nur unwiderstehlich. Die Aura, die nachmittägliche Sonnenstrahlen, durch Fensterglas gebündelt, in Ilkas Haar zauberten, verlieh ihr die Ausstrahlung einer pfiffigen Jeanne d’Arc, die gerade den Engländern eins auswischt.

„Sag schon!“, wurde Fox etwas ungeduldig, trommelte mit den Fingern der linken Hand leise auf der Tischplatte, während er mit der rechten Ilkas Arm streichelte. Diese stellte ihre Tasse ab, lehnte sich zurück und ergriff Fox’ Hand.

„Beim Küssen“, flüsterte sie ihm zu, indem sie sich wieder nach vorn beugte, „bevor wir hier rein sind!“

Fox musste nun ebenfalls über das ganze Gesicht grinsen. „Nun“, sagte er, „die meisten Taschendiebe küssen mich nicht unbedingt. Also keine Gefahr für meine Knarre. Soll ich schon mal zahlen?“

„Gute Idee!“, meinte Ilka und trank ihren Kaffee aus.

Fox griff in seine Gesäßtasche und wollte den Geldbeutel zücken, fand ihn aber nicht. Fragend blickte er zu Ilka, die ihm sein Portemonnaie entgegenhielt und ihm verführerisch zuhauchte: „Ich liebe solche langen Küsse!“

Beide mussten so laut herausprusten, dass ihr Gelächter die übrigen Gäste in der sogenannten Lounge aufblicken ließ. Mit Tränen in den Augen winkte Fox dem Kellner. Statt diesem trat der Herr, der ihnen noch aus der Rezeption bekannt war, an ihren Tisch.

„Pardon“, sagte Fox, „wir wollten die Ruhe des Raums nicht stören!“

„Oh, kein Problem!“, erwiderte der Mann. „Aber ich habe eine gute Nachricht für Sie: Ein Gast musste überraschend abreisen – Sie könnten sein Zimmer haben!“

Verblüfft sahen Ilka und Fox den Portier an.

„Sie müssten nur eine Stunde warten, bis der Zimmerservice den Raum so weit fertig hat. Sie verstehen?“

„Natürlich“, sagte Ilka und lächelte den Hotelangestellten so charmant an, dass Fox die rasende Eifersucht in sich kaum bremsen konnte.

„Möchten Sie in der Zwischenzeit vielleicht etwas ausgiebiger speisen? Unsere Tageskarte sieht Coq au vin vor!“

„Ich glaube, wir auch!“, sagte Prancock, nachdem er Ilkas zustimmendes Nicken registriert hatte.

Der Portier bedankte sich und verschwand mit einer kurzen Verbeugung in die Küche.

„Das war’s jetzt aber endgültig mit dem Stress“, stellte Ilka mit erleichtertem Seufzen fest, „nun ist aber wirklich Urlaub!“

Jeannie sah sich um: Die Ordnung in ihrem Wohnzimmer war wiederhergestellt, nichts erinnerte mehr daran, dass sie hier fast umgebracht worden wäre. Die Regale standen wieder an ihrem Platz, in ihnen waren Bücher aufgereiht, als wären sie nie herausgenommen worden. Bilder und Poster hingen wieder an den Wänden. Ihr größter Schatz, die Kristallkugel, war wie durch ein Wunder heil geblieben und ruhte wieder auf ihrem roten Samtkissen. Die Überreste zerfetzter Poster hatte Mehmet bereits zum Papiermüll gebracht. In der Diele waren Nick und Robert mit dem Übermalen der Hetzparolen an den Wänden beschäftigt. Penny räumte mal hier, mal da ein wenig herum, blieb aber plötzlich vor einer noch nicht übertünchten Wand stehen, las die üblen Sprüche und erstarrte. Ihr Gesicht wurde immer finsterer, eine lange Denkfalte zog sich über ihre Stirn, dann pfiff sie durch die Zähne.

Robert rückte seinen missglückt gefalteten Papierhelm zurecht und auch Nick unterbrach die Streicharbeiten.

„Kommt mal her!“, rief Penny den Jungen zu, ohne den Blick von der Wand abzuwenden.

„Was gibt’s denn?“, fragten die beiden und gingen zu der Detektivin.

Penny blickte die zwei gesprenkelten Nachwuchsmaler an und deutete auf die Graffitis.

„Ja, und?“, fragte Nick. „Sind halt Faschosprüche!“

„Sicher“, meinte Penny, „aber ich habe den Eindruck, wir haben es hier nicht mit einem dumpfen, primitiven Mob zu tun, sondern mit einer intelligent geplanten Aktion!“

„Quatsch“, widersprach Nick, „solche Schlägertypen sind doch nur Dumpfbacken und Dünnbrettbohrer!“

Energisch schüttelte Penny den Kopf, wobei sie mit dem Zeigefinger auf einen bestimmten Spruch deutete: „Asylanten sind biologisch abbaubar!“

„Ihr könnt sagen, was ihr wollt, Nick: Dumpfbacken schreiben vielleicht ,Kanacken raus‘, ,Ausländerpack‘ oder ,Araberfotzen killen‘, aber dieser Spruch deutet auf einen differenzierteren, wenn auch perversen Humor hin. Ich glaube, hier will nur jemand den Eindruck erwecken, dass da hirnlose Schläger am Werk waren.“

„Aber wozu denn das?“, schaltete sich Robert ein.

„Um etwas zu vertuschen!“

„Und was?“

„Wenn ich das wüsste, wäre mir auch wohler!“, sagte Penny und zuckte mit den Achseln.

„Kaum zu fassen!“, keuchte Fox, als er seinen Koffer zwischen das Bett und den Wandschrank hievte.

„Was denn?“, fragte Ilka nach, die sich im Bad um ihren Kulturbeutel kümmerte.

„Na, dass wir tatsächlich noch ein Quartier gefunden haben!“, schnaufte Prancock und mühte sich damit ab, den festgezurrten Gürtel zu öffnen, der den Koffer zusammenhielt.

Ilka lächelte und fuhr sich bedächtig mit einer Bürste durchs Haar. Zufrieden betrachtete sie sich dabei im Badezimmerspiegel. Etwas Müdigkeit funkelte in ihren Augen, aber Anspannung und Anstrengung waren ihr nicht mehr anzusehen.

„Dazu gibt’s ein passendes Sprichwort, Herr Kommissar!“, rief sie Fox zu, der mit wachsender Verzweiflung an der Schnalle herumnestelte.

„Stimmt!“, antwortete er seiner Freundin. „Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss eben der Berg zum Propheten kommen, oder?“

„Ich dachte da eher an: ,Auch ein blinder Fox findet mal ’nen Bau.‘“

Schelmisch grinste sie sich selbst an, legte die Bürste beiseite und forschte im abenteuerlichen Dschungel ihrer Toilettenutensilien nach einem Döschen mit Hautcreme. Verwundert stellte Ilka fest, dass keine verbale Retourkutsche erfolgte. Fox schien wirklich ebenfalls sehr müde zu sein. Ob sie nach dem Auspacken wohl noch viel mehr als einen kleinen Nachmittagsspaziergang und ein gemütliches Abendessen genießen würden?

Fox schwitzte, beschloss aber, das Fluchen nur innerlich auszuleben – er wollte Ilkas unbeschwerte Urlaubsstimmung nicht unnötig gefährden. Sie reagierte oft mit Enttäuschung und Ärger auf seine Kraftausdrücke. „Meine Güte“, dachte er bei sich, „wie viele Schlösser habe ich schon geknackt, in wie viele Wohnungen von Tatverdächtigen bin ich ohne Schlüssel reingekommen, aber diesen dämlichen Gürtel um den Koffer bekomme ich nicht auf!“

Er spielte mit dem Gedanken, das Leder mit seinem Taschenmesser zu durchtrennen. Da er aber keine Ahnung hatte, wo sich dieses Werkzeug gerade befand, riss und zerrte er weiter mit den Händen an dem Gurt. Mehr als er es hörte, spürte er ein schwaches Knacken der Schnalle. Noch ein Millimeter und sie würde nachgeben. Mit neuem Mut zog Fox wieder ruckartig an dem Riemen.

Ilka hörte nur ein gewaltiges Poltern, einen Aufschrei und Flüche, die jede freiwillige Selbstkontrolle vermissen ließen. Verwundert, aber ohne echte Besorgnis stellte sie das Cremedöschen auf die Ablage über dem Waschbecken und ging in das Zimmer zurück. Erstaunt stellte sie fest, dass der Raum anscheinend leer war. Einen Augenblick später allerdings sah sie Fox’ Kopf hinter der Bettkante auftauchen.

„Was ist denn los, Fox? Du siehst ja aus der Wäsche wie der Papst in der Peepshow!“

„Lach nur, Kätzchen“, grunzte Prancock, „der blöde Gürtel ist gerissen!“

„Und deswegen liegst du am Boden herum?“, spöttelte sie, trat an das Bett heran und stellte verwundert fest, dass Fox’ gesamte Wäsche auf dem Fußboden verstreut lag. Fragend sah sie ihren Freund an.

Dieser zuckte mit den Schultern. „Das war die Fliehkraft!“, brachte er mit entschuldigendem Unterton vor.

„Ein echtes physikalisches Phänomen: Die Fliehkraft verteilt Wäsche auf dem Fußboden?“

„Quatsch! Ich hab wie blöd an dem Gürtel gerissen. Als der dann ratsch machte, hat es mich rückwärts flachgelegt, und dabei habe ich den Koffer umgeschmissen!“

Ilka spielte die Empörte. „Aber nein, Liebster“, säuselte sie im Timbre einer alternden Operndiva, „mit Qualitätsware aus dem Hause ,Rouque-Zouque‘ wäre das nicht passiert!“

Fox setzte sich ächzend auf und griff nach Ilkas Hand. Sachte zog er die junge Frau zu sich heran. Sie kniete sich neben ihn auf den Boden und begann ihm sanft durchs Haar zu streichen. Ihre Blicke begegneten sich und schienen sich wie die Pole starker Magnete anzuziehen. Keiner konnte oder wollte nun vom anderen lassen, und wie einem Naturgesetz folgend, fanden ihre Lippen sich. Mit sanftem Nachdruck kitzelte Ilkas Zunge sich den Weg zu der ihres Freundes durch. Ihre Liebkosungen ließen Fox’ Nackenhaare Spalier stehen. Eine warme Woge wie aus den sommerlichen Gewässern der Südsee erfasste Ilka. Die Augen schließen und sich wie ein Wellenreiter der Strömung hinzugeben, war alles, was sie jetzt wollte. Seine Hände fuhren in ihre Haare und umschmeichelten ihren Kopf wie die sanfte Gischt bei Ebbe. So wie das Meer, wenn es nur durch die einfache Faszination seiner Existenz Ruhe und Entspannung spendet. Ihre Finger glitten an seinem Rücken herab, schoben das verschwitzte Hemd beiseite und fassten entschlossen seine Taille. Auch Fox hatte sein schlingerndes Floß gegen ein zielstrebig dahin sausendes Surfboard eingetauscht. Der Geruch von Ilkas Haut zauberte einen fruchtigen Kokoscocktail auf Fox’ innere Leinwand. Er sog den Duft genießerisch ein. Ilka ließ sich in das Gefühl völliger Hingabe gleiten. Das Zimmer um sie herum existierte nicht mehr und sie lagen nicht in einem Berg von Hemden, T-Shirts, Hosen und anderen Sommerklamotten, sondern im heißen Sand des Strandes von Taku Takua. Die Trommeln der Inselbewohner steigerten sich und die Herzen der zwei Verliebten folgten blindlings jedem neuen Stakkato.

Unvermittelt brach die Flut herein. Die beiden klammerten sich fester aneinander, glitten mittlerweile gemeinsam auf einem Surfbrett dahin. Eine gigantische Welle trug sie davon. Dann lagen sie wieder unter den Palmen des Strandes. Sie ruhten, und doch schnellten sie über das Wasser. Sie fühlten sich geborgen und doch den Naturgewalten ausgesetzt. Ein leiser, fast singender Laut drang an Fox’ Ohr. Sanft gab er Ilkas Mund frei. Ihr Atem traf seine Wange, er fühlte ihre Hitze und lauschte den Klängen, die wie eine zärtliche, aber zugleich wilde Beschwörung aus ihrer Kehle hervorbrachen. Das Schnurren, das er von sich gab wie ein zufriedener Kater, der faul in der Mittagssonne döst, nahm er nicht wahr. Dennoch wusste er, dass er Teil jener Combo war, die hier eine eigenwillige Coverversion des „Liebestraums“ intonierte: Ilka hatte die erste Stimme übernommen, er brummte den Bass und ihre Herzen überschlugen sich als Rhythm Section: Immer neue Variationen virtuoser Polyrhythmik trieben sie vorwärts. Die Flut hatte sie in einen Taifun gezogen, aber die beiden standen fest auf dem nicht zu erschütternden Surfboard. Der andere Teil ihres Seins nahm die Hitze des Sandes in sich auf, gab gleichzeitig Hitze an ihn ab. Mehr und mehr Körnchen klebten an ihren schweißnassen Körpern, rieselten durch ihre Haare, rannen durch liebkosende Finger.

Jäh stoppte ein durchdringendes Schrillen den Taifun, ließ wie ein göttliches Machtwort Strand und Palmen im Nirwana verschwinden. Die beiden Surfer strandeten unsanft in einem Atoll aus Sommerkleidung. Ilka und Fox öffneten die Augen und wandten ihre Köpfe zu dem kleinen Beistelltischchen, auf dem ein altmodisches Telefon ungeduldig klingelte. Unwillig löste sich Fox aus Ilkas Umarmung, ging zu dem Apparat und nahm ab.

„Hier ist der Pensionsservice. Möchten Sie Ihr Abendessen um 18 oder 19 Uhr zu sich nehmen?“

„19!“, nuschelte Prancock genervt in die Muschel und legte – ohne weiteren Kommentar – auf.

Jeannie sah sich in ihrem Wohnzimmer um und hatte das Gefühl, sie wäre an einem fremden Ort. Die heil gebliebenen Gegenstände befanden sich wieder an den gewohnten Plätzen. Entstandene Lücken hatten Jasmin und Yasemin geschickt und liebevoll mit Blumen und Nippes aufgefüllt, sodass nichts mehr daran erinnerte, was sich vor noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier abgespielt hatte. Eine fröhlich pfeifende Jessica kam herein und hielt ein zusammengerolltes Stück Papier in ihrer rechten Hand.

„Sieh an“, bemerkte sie auf ihre typische, nicht zu überhörende Art, „da ist noch ein freier Fleck an der Wand.“

Ohne Zeit zu verlieren, trat sie vor die noch ungeschmückte Stelle. Sie hielt den Kopf schräg und warf einen prüfenden Blick auf die weniger ausgebleichte Region der Tapete. Die ursprünglichen Farben deuteten darauf hin, dass hier einmal ein Poster gehangen hatte.

„Könnte passen!“, befand das Mädchen. Dann rollte sie das Papier auf und befestigte es passgenau an der Wand, sodass die farbliche Unregelmäßigkeit völlig verschwand. Als sie damit fertig war, drehte sie sich zu Jeannie um und strahlte sie an.

„Gefällt’s dir?“, fragte Jessy und konnte nicht anders, als hinzuzufügen: „Darauf hab ich ’ne Eins bekommen.“

Jeannie lächelte und betrachtete die farbenfrohe Malerei. Jessica hatte ihren Gefühlen und dem Pinsel offenbar freien Lauf gelassen: Fröhliche rote und violette Wirbel umgarnten zartes Grün und Türkis in perfekter Harmonie, die förmlich aus dem Bild herauszutreten schien.

„Gegenstandslose Kunst ist in“, bemerkte Jeannie, an ihre Freundin gewandt, „dafür würde mancher Kunstliebhaber bestimmt einiges hinblättern ... wenn du dem Ganzen einen höchst intellektuellen Titel geben würdest – ,Regenfänger der Wahrheit‘ oder so ...“

Jessica spielte die Gekränkte. Sie verschränkte die Arme. Eine Kunstpause folgte. Mit der Grazie einer Diva aus der frühen Tonfilmzeit hob sie das Kinn und parlierte drauflos: „Erstens ist das Werk nicht ,gegenstandslos‘, wie Madame es nennen, und zweitens hat es einen Titel!“

„Nicht gegenstandslos?“, fragte Jeannie verwundert. Sie trat näher an Jessys Werk heran. Die Künstlerin ging gnädigerweise etwas zur Seite und blickte die offensichtliche Banausin gönnerhaft an. Nun war es an Jeannie, den Kopf schräg zu halten, leicht die Augen zusammenzukneifen, den Blick in den Wogen und Strudeln aus kräftigen und zarten Farben zu versenken. Und: Voilà – das Bild war tatsächlich nur auf den ersten Blick ein reines Wirrwarr gemeinsam gut wirkender Farben. Betrachtete man das Spiel der geschwungenen Linien und der scheinbar zufälligen Kleckse genauer, konnte man etwas erkennen, das sich richtiggehend aus diesem kolorierten Tohuwabohu herausschälte: ein fröhliches, freundliches und zuversichtliches Gesicht.

„Fehlt nur noch, dass es mich anzwinkert!“, dachte Janine bei sich. Ihr Blick verweilte fasziniert auf dem Porträt, das ihr merkwürdig vertraut vorkam.

Jessica begann, ihre Arbeit zu erklären, auch wenn Jeannie sie gar nicht darum gebeten hatte.

„Das Thema hieß ,Meine beste Freundin‘ oder ,Mein bester Freund‘ – nett, wie unser Kunstpauker nun mal ist, konnten wir uns das wenigstens aussuchen. So, und nun rate mal, wer dich da anguckt!“

„Robert?“, fragte Jeannie spitzbübisch. Natürlich hatte sie Jasmins Züge mittlerweile eindeutig erkannt.

„Der war damals noch Jassys Freund“, stellte Jessica trocken fest, „aber ich seh schon, du willst mich verarschen!“

„Nein, nein!“, warf Jeannie Jessy ein Lächeln zu. Dann kniff sie ihr freundschaftlich in den Arm. Sie wollte sich bedanken, fand aber die richtigen Worte nicht schnell genug, um Jessicas weitere Ausführungen zu stoppen.

„Na ja, der Müller, unser Lehrer, hat beim ersten Blick auch gedacht, ich wollte ihn verschaukeln – aber nachdem er seine Brille gerade gerückt und noch einmal genau hingeschaut hatte, stand meine Note schon fest. Wochen später hat er mich dann angequatscht, ob ich ihn nicht auch mal so malen könnte. Er wollte so ein Porträt seiner Frau schenken!“

„Und – hast du’s gemacht?“, fragte Jeannie.

Jessica nickte ganz aufgeregt. „Klar, das Werk war allerdings noch genialer: Man konnte im Farbspiel wahlweise Herrn Müller oder ein Nashorn erkennen. Ich hab mich einfach auf die alte psychologische Weisheit verlassen, dass die Menschen nur das sehen, was sie auch sehen wollen!“

Jessy machte wieder eine bedeutungsschwangere Kunstpause. Sie atmete mit einem theatralischen Seufzer ein, um zu signalisieren: „Na los, frag schon weiter!“

„Hat’s geklappt?“, wollte Jeannie auch prompt wissen.

„Ein schadenfrohes Grinsen, gepaart mit unwiderstehlicher Unverfrorenheit blitzte aus Jessys Augen. Jeannie konnte nicht mehr anders und begann zu kichern. Jessy erzählte weiter: „Müller war total begeistert, als er das Bild sah. Er schenkte mir eine riesige Schachtel Pralinen – na ja, Kohle wäre mir lieber gewesen – und packte mein Werk freudestrahlend in seine Aktentasche. Als wir in der folgenden Doppelstunde damit beschäftigt waren, irgend so ’n tödlich langweiliges Stillleben zu pinseln, bemerkte ich, wie er das Bild immer wieder hervorzog und anhimmelte.“

Jeannies Lachen konnte sich nicht mehr hinter dem Zwerchfell verstecken. Sie prustete laut heraus, und auch Jessica hatte Mühe, den Rest der Erzählung noch deutlich zu artikulieren: „Richtig angeschmachtet hat er es – oder vielmehr sich selbst. Den verzückten Gesichtsausdruck hättest du mal sehen sollen. Ach, was heißt da ,verzückt‘ – ,entrückt‘ müsste man sagen. Na ja, ab dem nächsten Tag sah er mich allerdings nur noch verstört und peinlich berührt an und ’ne Eins hab ich bei ihm auch nie mehr bekommen ...“

„Was wohl deutlich macht, welchen Teil des Kunstwerks seine werte Gemahlin in dem Bild gesehen hat!“, sagte Jeannie, nachdem sie ihren Lachanfall beendet hatte. Ein unkontrollierbares Kichern spukte aber immer noch durch ihre und Jessys Stimme. Sanft nahm Janine die Freundin in die Arme. Jessy hatte ihr nicht nur ein Bild geschenkt, sondern auch das Lachen in ihre Wohnung zurückgebracht. Die Schatten der Erinnerung lagen sicherlich auch noch darin, doch schienen sie inzwischen weniger bedrohlich als zuvor.

„Emanzipation gut“, tönte es da von der Tür her, „aber Frau auch soll umarmen lieben Mann!“

„Sag mal“, fragte Fox, der große Mühe damit hatte, seine Hemden in ein Fach des kleinen Schrankes zu stapeln, „wie stellst du es nur an, dass dir deine T-Shirts nicht gleich wieder entgegenfliegen?“

Ilka hatte ihre Kleidungsstücke ordentlich im eigenen Teil des Hotelschranks verstaut und wandte sich Prancock grinsend zu: „Gelernt ist gelernt! Ach, und übrigens“, ihre Stimme nahm einen leicht bedrohlichen Unterton an, „diese T-Shirts“, wie du sie nennst, sind höchst edle Oberteile. Sogar meine absolut noble weiße Bluse hab ich dabei!“

„So was hatte ich zum letzten Mal bei meiner Konfirmation an!“, grummelte der Kommissar.

„Soso“, stichelte Ilka weiter, „du hattest an deiner Konfirmation also eine Bluse an!“

„Ich dachte, Blusen sind out und altmodisch, Kätzchen!“

„Sind sie auch“, seufzte Ilka, „aber wenn man mit einem Mann deines Alters unterwegs ist ...“ Sie konnte den Satz nicht mehr beenden, denn ein wild zusammengeknäultes Paar Männerstrümpfe traf sie ins Gesicht.

Sie sah so verdutzt drein, dass Prancock schallend lachen musste. Das wurde allerdings von einem modischen Top gestoppt, das seine Freundin ihm genau auf den Mund warf. Es flogen noch einige Neckereien und Kleidungsstücke hin und her, aber nach einer weiteren Viertelstunde hatten die beiden die Schlacht beendet und ihr gesamtes Gepäck verräumt.

„Sieh mal einer an“, stellte Fox fest, „hier gibt’s sogar ’nen Safe für deine Wertsachen!“

„Du kannst ja deinen Flachmann darin einschließen!“

„Dafür ist das Ding hier nicht sicher genug, glaube ich! Aber für deine Brillanten könnte es reichen.“

Ilka lächelte und trat an den Hotelsafe. Noch nie hatte sie so ein Behältnis benutzt, einfach deswegen, weil sie keine entsprechenden Wertgegenstände besaß. Ausweispapiere und Brieftasche trug sie lieber bei sich.

„Wenn da jemand deine Klunker rausklaut, weigert sich jede Versicherung zu zahlen!“, bemerkte Fox.

Ilka wollte die Sicherheit des Safes nun auch einmal überprüfen. Sie drehte den Schlüssel. Ein ungesundes Ächzen erklang und die Fronttür des kleinen Schließfachs klappte auf – viel zu schnell und leicht, wie Ilka befand. Ein prüfender Blick offenbarte außerdem, dass das Türchen nur noch an einem Scharnier hing und nun schräg hin- und herbaumelte.

„Was da schon alles drin gelegen haben mag?“, sprach Ilka ihre Gedanken versonnen aus und blickte in das angeblich sichere Aufbewahrungsfach.

„Kondome, Ledermasken, Peitschen, Pornos ...“, machte Fox einen seiner üblichen Prancock-Witze und erwartete schon Ilkas anklagendes „Männer!“, doch es kam nicht. Verwundert sah er seine Freundin an.

„Ist was?“ Da bemerkte er Ilkas faszinierten Blick, der auf dem Safe ruhte. Nun wurde der Polizist in ihm neugierig: „He, Kätzchen, was gibt’s denn?“

Ilka griff in das Schließfach und zog etwas heraus. Verständnislos sah Fox den Briefumschlag an. „Hat da jemand seine Rechnung liegen lassen?“, fragte er, mehr an sich selbst gerichtet.

Ilka hielt ihm das Kuvert hin. Nun stockte auch ihm der Atem. Eine krakelige Handschrift, die große Eile verriet, war auf dem Papier erkennbar: „For Mr. P.“

Englisch? Hier, in Frankreich? Gut, es stieg bestimmt auch der ein oder andere von Prancocks Landsleuten in dieser Pension ab. Dennoch: ein merkwürdiger Zufall. Und dann noch der Adressat: „Mr. P.“!

Fox kratzte sich am Kinn. Konnte das wirklich Zufall sein? Es musste einer sein, denn niemand wusste, dass er und Ilka in diesem verschlafenen Nest waren. Auch, dass es in der „Pension du Joli Bois“ noch ein warmes Plätzchen für sie beide gegeben hatte, war schon mehr Zufall gewesen, als ein rational denkender Kriminalbeamter normalerweise verkraftete. Gut, er konnte also nicht gemeint sein, schließlich gab es genügend Namen, die mit „P“ begannen: Prentice, Pearson, Prince ...

„Seltsam, was?“, drang Ilkas Stimme in den Dunst seiner Gedanken.

„Allerdings!“, sagte er, zuckte mit den Achseln und starrte weiterhin auf den Brief.

„Soll ich ihn öffnen“, fragte Ilka unsicher, „oder geben wir ihn lieber an der Rezeption ab?“

Wieder Schweigen.

Prancock begann laut zu denken: „Wenn der Brief absichtlich im Safe hinterlegt worden ist, wer kann dann der Empfänger sein?“

„Der Zimmerservice?“, versuchte sich Ilka an einer Deutung.

„Unwahrscheinlich“, brummte Fox, „ich glaube, im Safe machen die höchstens alle hundert Jahre mal sauber!“

„Vielleicht liegt der Umschlag ja schon so lange da drin!“ Ilka seufzte ratlos und setzte sich auf die Bettkante. Noch immer hielt sie den Brief fest, als handele es sich um eine Schatulle, in der sich höchst wertvoller Schmuck befand. „Wenn er für einen Gast gedacht war oder ist, müsste der Schreiber genau wissen, wer nach ihm hier übernachtet ...“

„... und dann genau dieses Zimmer bekommt? Klingt nicht gerade plausibel, großer Meisterdetektiv!“

„Ich hab’s!“ Fox’ Augen funkelten und Ilka wusste genau, was das bedeutete: Der Scherzkeks in ihrem Freund war wieder erwacht: „Wir sitzen im Zentrum der Weltverschwörung – und das ,Joli Bois‘ ist total darin verwickelt ...“

„... und übersieht lediglich ein wichtiges Dokument in diesem Safe. Noch dazu in einem Zimmer, wo harmlose Urlauber einziehen. Die sind allerdings rein zufällig ein Kriminalkommissar und eine Reporterin! Aus welchem Film mit Sandra Nullbock hast du denn die Story?“

„Es war Julia Robbers!“, gab Fox den Ball zurück.

Ilka verlor langsam die Lust am Witzeln und beendete das Spielchen kurzerhand mit dem Ausspruch: „Außerdem war’s die Nachtigall und nicht die Lerche! Mensch, Fox, ich hab keine Lust mehr, ewig herumzuspekulieren!“

„Was willst du dann machen?“, fragte er. Sein Mienenspiel ähnelte dabei dem eines Pudels, der in die Schafschur geraten war.

„Ich mache den Umschlag auf!“, sagte Ilka fest entschlossen.

Fox spürte zu seiner Verwunderung, wie Skrupel in ihm aufstiegen. Doch noch bevor er „Aber ...“ sagen konnte, hatte seine Freundin mit einem Fingernagel das Kuvert aufgeschlitzt und dann einen kleinen Zettel herausgezogen. Die zerfranste Oberkante des kleinen Blattes ließ vermuten, dass es eilig aus einem Notizblock gerissen worden war. Ilka las, was darauf stand. Ihre Augen weiteten sich und Fox glaubte, schauspielerisch übersteigertes Entsetzen in ihnen zu erkennen.

„Gute Ilka“, dachte der Engländer, „jetzt will sie’s extra spannend machen für ihren alten Kriminalkommissar!“

Ilka streckte ihm im selben Moment den Zettel entgegen. Er las die Botschaft, die jemand darauf gekritzelt hatte. Wie schon die Anschrift auf dem Kuvert, war sie augenscheinlich sehr hektisch zu Papier gebracht worden. Nun wusste er, dass er Ilkas Schauspielkunst überschätzt hatte. Es war echtes Entsetzen gewesen: Zwei Wörter starrten ihm entgegen und ihm war, als könnten sie ihn in jedem Moment anspringen. Die Nachricht war einfach, kurz, knapp und unmissverständlich: „Help me!“

„Was war das denn für ein Flop? Noch immer keine Meldung im Radio, nichts im Polizeicomputer und dann faselst du noch was von Augenschmerzen!“ Das wütende Schaben der Zähne schien vom Kugelschreiber direkt auf den Hörer übergesprungen zu sein. Schnaubende Geräusche dröhnten wie Sturm aus der Muschel.

„Hätte ich sie kaltmachen dürfen, hättest du jetzt deine Meldung!“, dachte der Anrufer. Diesmal war er sich sicher, dass die Lippen sich keinen Millimeter auseinanderbewegt hatten. Seine Rechte umkrampfte zittrig das Telefon, mit der anderen Hand presste er einen kalten Waschlappen auf das linke Auge.

„Und was geht dort nun vor sich?“, bellte der andere aus dem Hörer.

„Habe ich doch schon gesagt ...“

„Alles etwas wirr, Mann!“

„Also noch mal Klartext: Irgendwelche Kumpels dieser Göre renovieren ihr Haus ... jede Menge Türken, auch ein paar Schlitzaugen und Nigger. Dazwischen noch deutsche Jugendliche ...“

„Und was war das mit dieser Musikkapelle?“

„Keine Ahnung! Jedenfalls haben sie auch Gitarren und ein Schlagzeug in die Scheune geschleppt!“

Beide schwiegen einen Moment. Die Frage, was die Sache mit den Instrumenten zu bedeuten hatte, wand sich unausgesprochen durch Telefonkabel und Gehirnströme. Aufgrund der verwirrenden Fakten bildete sich jedoch weder bei dem einen noch bei dem anderen Gesprächspartner ein Reim auf den Einzug einer Band. Das schabende Geräusch wechselte seine Intensität, als hätte jemand einen Schalter von „abwartend“ zuerst auf „energisch“ und dann auf „nervös“ gestellt.

„Und was war das mit deinem Auge?“, fragte die Stimme aus dem Hörer.

„Keine Ahnung! Ich hatte so ’ne Türkenschlampe im Visier. Weiß auch nicht, was die gerade so machte, fingerte mit irgendwas rum, hat vielleicht ’ne Zigarette gedreht oder so. Ein paarmal hat sie in meine Richtung geschaut ...“

„Du hast dich also blicken lassen!“

„Nein, die hat mich garantiert nicht gesehen! Mein Versteck war viel zu gut! Keiner hätte mich in dem dichten Gebüsch ausmachen können! Jedenfalls blitzte es auf einmal in meinem Feldstecher. Ein irres Licht hat mein Auge erwischt ...“

„... und du hast bestimmt so gebrüllt, dass man dich noch zehn Kilometer weiter gehört hat!“, spöttelte der Chef bitter.

„Aber nein“, log der Anrufer, „ich hab mich total zusammengerissen. Aber die Schmerzen sind ganz schön heftig!“, sagte er.

Er bemühte sich, nur zu denken, dass er dem anderen mindestens die zehnfache Qual an den Hals beziehungsweise in den Augapfel wünschte. Eine kurze Gesprächspause entstand. Atem und Kaugeräusche am Kugelschreiber waren ruhig und gleichmäßig geworden. Die Vorstellung, einen Vorschlaghammer zu nehmen und dem großen Boss damit den Stift in den Hals zu jagen, war zu komisch. Der Anrufer hatte gewaltige Mühe, sein Lachen zurückzuhalten. Dann folgten zwangsläufig die inneren Filmclips, wie der Hammer das erstaunte Gesicht traf, wieder und wieder. In einer Schreckensstarre blieb der Körper aufrecht sitzen, als wollte er dazu auffordern: „Ja, weiter! Gib’s mir!“ Und dieser Wunsch sollte sich ihm erfüllen. Nur zu gerne. Wieder und wieder traf der Hammer den Kopf. Schließlich blieb nur eine unförmige Birne aus blutigem und haarigem Matsch übrig, aus der ein Kugelschreiber herausragte. Darauf war ein Auge gespießt.

„Was gibt’s da zu lachen?“, drang die Stimme des Chefs an das Ohr des Anrufers. Dessen linke Hand ließ reflexartig den Waschlappen los und er legte sie auf seinen Mund. Das letzte Kichern erstickte. Überreste davon schluckte er hinunter wie modrige Medizin. Dann gab er seinen Mund wieder frei und sagte: „Nichts, nichts, Chef! Habe nur gehustet! Wie machen wir nun weiter?“

Die Stimme am anderen Ende antwortete ruhig, doch ohne jedes Zögern: „Plan zwei!“

„Jetzt schon?“, fragte er sich und sein Kichern erstarb. Warum nur waren dem Chef dieses Mädchen und der Hof so wichtig? Die Sache mit diesem Ibrahim war ganz einfach gewesen. Es hatte nur geheißen: „Mach ihn kalt!“ Dieses Mal lag der Fall ganz anders. Sicher, diese ausländerfreundliche Ziege hatte eine Lektion verdient, aber jetzt schon ...

„Plan zwei!“, wiederholte er mechanisch.

„Wo bleibt denn Jasmin?“, fragte Nick, während er „Volume“ an seinem Bassverstärker justierte. „Wir sind gleich fertig für den Soundcheck!“

„Noch bei Jeannie!“, antwortete Jessica, ohne den Blick von den Tasten ihres Keyboards zu wenden.

„Hätte ich mir ja denken können!“, murmelte Nick genervt in die nun ertönenden Bassläufe hinein. Der Sound war klar, das Warm-up konnte beginnen.

„Was hättest du dir denken können?“, fragte Jessica zurück.

„Dass sich das Ding hier in der feuchten Scheune andauernd verstimmt!“, klammerte sich Nick fast schon verzweifelt an seinen Bass.

Jessys Finger hielten mitten in der Melodie von „Dangers for Strangers“, einem neuen Song von Jasmin, inne. Sie wandte sich Nick zu. Er tat so, als gäbe es für ihn im Moment nur die Saiten seines Instruments. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er aber Jessicas gerümpfte Nase. Er wusste genau, was diese Vokabel in der Körpersprache seiner Klassenkameradin zu bedeuten hatte: „Du bist durchschaut, Mann!“

„Eifersüchtig?“, fragte sie ihn unverblümt.

Er schwieg. „Verdammt noch mal“, dachte Nick, „wenn’s nur das wäre!“ Er hatte sich seine Eifersucht ja schon längst eingestanden, aber noch brutaler waren die Schuldgefühle, die seit der Geschichte mit dem Handy an ihm nagten. Klar, sie hätten in dem Moment auch nicht viel für Jeannie tun können. Die Typen waren ja bereits voll in Fahrt gewesen. Er erinnerte sich an das Krachen und Splittern der Türe und Janines Schreie auf der Mailbox. In der Stunde, die bis zum Abhören der Nachricht vergangen war, hätte Jeannie auch sterben können. Was wäre aus seiner Psyche geworden, wenn die kleine Hexe schwerere Verletzungen davongetragen hätte? Und wenn sie gar verblutet wäre? Und wenn ...?

Nick bemerkte, dass Jessy plötzlich neben ihm stand.

„Gibt’s da was, worüber du reden möchtest?“, fragte sie ihn.

Das Mitgefühl, das er, wie er fand, nicht verdiente, ließ sein schlechtes Gewissen so sehr anwachsen, dass er glaubte, sein Herz würde in wenigen Sekunden platzen. Er spürte Galle und Cola in seinem Hals aufsteigen. Gerade noch rechtzeitig schnallte er die Bassgitarre ab, drückte sie Jessica in die Arme und rannte aus der Scheune. Würgend erbrach er sich ins Gras. Sein Magen verkrampfte sich wieder und wieder, selbst, als seine Vorräte an Säure, Getränken und Speisen schon erschöpft waren. Eine Hand legte sich zart auf seine Schulter. Er drehte sich um, wollte einfach nur brüllen, die Worte herauskotzen wie vorher seinen Mageninhalt: „Lass mich einfach in Ruhe, verdammt noch mal!“

Verblüfft hielt er inne. Mit einem Mal schämte er sich seines Ausbruchs und auch sein Anblick war ihm peinlich. Im eigenen Erbrochenen kniend, mit Tränen in den Augen und mit wutverzerrter Miene schrie er den Menschen an, der ihn trösten wollte. Er hatte vermutet, Jessica wäre ihm nachgekommen. Er blickte jedoch nicht in Jessys Gesicht, sondern geradewegs in Yasemins erstaunte Augen.

„Entschuldige bitte ...“, stammelte Nick, aber die junge Kurdin gab ihm nur einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter und lachte ihn frech an: „Jaja, diese Rockmusiker, schon vor dem Auftritt besoffen!“

Ein unerbittliches Zittern in seinen Knien hätte beinahe verhindert, dass Nick aufstand, aber schließlich rappelte er sich doch hoch. Ein wenig gequält lächelte er das unverdrossen fröhliche Gesicht Yasemins an, noch immer peinlich berührt.

„Schön wär’s“, nuschelte er, gegen den wieder aufsteigenden Geschmack von Magensäure ankämpfend, „dann hätte ich wenigstens vorher meinen Spaß gehabt!“

Yasemin erwiderte nichts, aber ihr Blick zeigte, dass sie verstand. Selbst heftig kauend, hielt sie Nick ein geöffnetes Päckchen „Ripley’s Spearmint“ hin. Als Werbeveranstaltung zu ihrem wortlosen Angebot produzierten ihre Lippen eine überdimensionale Blase aus grünem Bubblegum. Die Farbe erinnerte Nick unglücklicherweise an jenes Gemisch aus Körpersäften und Wiedergekäutem, das er gerade erst von sich gegeben hatte. Zu seiner eigenen Verwunderung rebellierte sein Magen nicht mehr. Die Kaugummiblase platzte und die zähe Masse hing wie ein alter Putzlappen an Yasemins Nasenspitze. Verwundert schielte das Mädchen die Bescherung an. Als wäre er eine Digitalkamera, speicherte Nick diesen Anblick ab. Noch nie hatte er erlebt, wie, wenigstens für einen Moment, alle Sorgen und Selbstbezichtigungen gemeinsam mit einer Kaugummiblase platzten. Er nahm sich selbst einen Streifen aus der Packung und begann zu kichern. Schließlich standen beide lachend auf der Wiese und nicht einmal der penetrante Geruch des frisch Erbrochenen konnte ihre Heiterkeit vertreiben.

Jessica hatte behutsam erst den Bass zur Seite geräumt, den Volume-Regler des Verstärkers auf „0“ zurückgedreht, um Rückkopplungen zu vermeiden, und war dann zum Scheunentor gelaufen. Ihr war es ein echtes Bedürfnis, Nick zu trösten. Der Freund ihrer besten Freundin war ihr seit der Zeit, in der sie schon als Band zusammen waren, ans Herz gewachsen. Als sie aber ins Freie trat, glaubte sie, ihre Augen und Ohren wären im falschen Film gelandet: Der gerade noch depressiv und todkrank wirkende Nick stand dort und bog sich vor Lachen, ebenso wie Yasemin. Das orange schimmernde Licht der Abendsonne verlieh der Szene den Reiz einer Freilichtaufführung von Shakespeares „Komödie der Irrungen“.

„Kann es sein, mein liebes Füchslein, dass die Nachricht in unserem Safe dich etwas verwirrt hat?“, fragte Ilka und löffelte bedächtig „Creme du Joli Bois“, die Dessertspezialität des Hauses.

„Wie kommst du denn darauf, Kätzchen?“ Mit dem üblichen Unschuldsblick sah er von seinem Nachtisch hoch.

„Weil du gerade irgendein Kräuterextrakt auf deine Weincreme gibst. Schoko- und Vanillesoße stehen daneben!“

Verdutzt wandte Prancock sich der Ordnung auf dem Tisch zu, dann hob er das Fläschchen, aus dem er gerade etwas in die Süßspeise geträufelt hatte, vor seine Augen.

„Was macht eigentlich stinknormales Maggi bei einem echt französischen Menü?“

„Gerade hier muss es das geben!“

„Wieso denn das?“, fragte Fox.

„Weil man es in Frankreich wie ,Magie‘ ausspricht!“

Ilka verstand die Welt nicht mehr. Normalerweise konnte sich Prancock über solche Wortspielereien köstlich amüsieren. Nun aber wirkte er fast wie ein verdatterter Greis. Er musterte kurz das gelbrote Etikett und gab noch einige Tropfen in sein Schüsselchen. Dann stellte er das Fläschchen beiseite, nahm einen Teelöffel zur Hand und begann seine Creme mit dem Maggi zu verrühren.

„Wenn du meinst“, murmelte er gedankenverloren. Dabei betrachtete er die in seinem Nachtisch entstehenden bräunlichen Strudel, als würde gleich ein Flaschengeist daraus aufsteigen.

Unauffällig blickte sich Ilka in dem kleinen Speisesaal um. Sie hoffte, dass die übrigen Gäste nichts von Fox eigenwilliger Dessertzubereitung mitbekamen. Diese schienen jedoch in eigene Gespräche vertieft zu sein.

„Findest du die Sache nicht auch merkwürdig?“, fragte Prancock.

„Die Pampe, die du gerade zusammenmixt?“ Ilka stellte sich dumm. Sie wusste genau, was in Fox vorging: Der Kriminalkommissar in ihm war geweckt, und für den gab es angesichts der rätselhaften Nachricht ausschließlich eine Bestimmung: ermitteln, was sonst?

Sicher – Ilka fand die Botschaft aus dem Safe ebenfalls seltsam. Sie konnte die „sunny side of life“-Abteilung in sich einfach nicht davon überzeugen, dass das Ganze ein Scherz war – keine Chance! Auch ihre Neugier, wer hier um Hilfe bat und warum, war von beunruhigender Intensität. Doch fuhr da auch diese andere Stimme in ihr Achterbahn, die sagte: Dies hier ist der erste Urlaub mit dem Mann, den ich liebe. Und genau das will ich haben: Urlaub! Freizeit, Entspannung, lachen, spazieren gehen, gemeinsame Stunden und Tage. Einfach nur genießen! Kein neuer Fall und keine brandheiße Story bitte. Die Achterbahn war eine Steigung hinaufgeächzt, nun stand ihr Wagen auf dem höchsten Punkt: Nase in den Wind strecken und schon ging die Fahrt sturzflugartig talwärts. Das Gefühl ungezwungener Freiheit wich augenblicklich beklemmendem Herzrasen: Was war, wenn nun wirklich jemand in Gefahr schwebte? Oder sogar um sein Leben fürchten musste? Wie würden sie sich fühlen, wenn einen oder zwei Tage später die Nachricht von einem Mord publik würde, dessen Opfer kurz vor seinem Tod im „Joli Bois“ abgestiegen war?

Die Talfahrt war zu Ende, Ilka fühlte ihre widersprüchlichen Empfindungen im Bauch rumoren. Sie nahm ihr Weinglas und nippte kurz daran. Dann beugte sie sich leicht nach vorne, um näher bei Fox zu sein. Sie flüsterte ihm zu: „Frag doch mal unauffällig nach dem Namen unseres Vorgängers. Vielleicht hat es ja was zu bedeuten, dass er überraschend abreisen musste.

Prancock schob sein Schüsselchen beiseite. Bereits nach einem kleinen Löffel war ihm der Appetit vergangen. Auch er nahm sein Weinglas, trank aber zunächst noch nichts.

„Du hast recht!“, flüsterte er zurück. „Aber solltest das nicht du machen? Dein Französisch ist viel besser als meines!“

„Na gut“, seufzte Ilka und legte sich eine Formulierung zurecht.

Schon wenige Minuten später trat der Ober zu ihnen und fragte, ob er abräumen dürfte. Ilka strahlte den jungen Franzosen so herzlich an, dass Fox ihn am liebsten standrechtlich erschossen hätte.

„Oui, merci“, flötete Ilka. Der Kellner begann Geschirr und Besteck auf ein Tablett zu legen, als sie ihn fragte: „Sagen Sie, wem haben wir es eigentlich zu verdanken, dass wir hier in dieser wundervollen Pension logieren können?“

„Ihren guten Finanzen, nehme ich an!“

„Wie witzig!“, dachte Fox und schnaubte innerlich. Diese Art von Scherzen konnte er nur vertragen, wenn sie von ihm selbst stammten – oder von Ilka. Der Ober begann ihn an Steffens zu erinnern. Noch ärgerlicher fand Fox, dass Ilka den Witz mit einem herzhaften Lachen goutierte.

„Natürlich!“, sagte sie und lächelte charmant. Als hieße sie Catherine Deneuve, strich sie sich eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesicht, hielt den Rücken gerade und legte den Kopf leicht schräg. In dieser Pose verharrend, hakte sie nach: „Ich kann nur nicht verstehen, dass jemand hier vorzeitig abreist. Was war das denn für ein Gast?“

„Darüber, Madame, kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben!“

„Aber deine Augen sprechen Bände, du Schleimer!“, tobte Mr. Eifersucht in Fox. Krampfhaft bemüht, die Form zu wahren, sah Prancock seine Freundin an. Zu seinem Entsetzen schaltete sie auf Flirtstufe zwei: Sie hob die Augenlider mit bedächtigem Schwung und fixierte den jungen Servierer. Ihr Blick verströmte pures Charisma. Der Kellner hatte große Mühe, nicht zu erröten. „Natürlich nicht“, beteuerte sie betont verständnisvoll, „aber leider hat Monsieur etwas in unserem Zimmer vergessen! Wir würden es ihm gerne zukommen lassen!“

„Nun, Madame“, setzte der Kellner an und lächelte verlegen – das Barometer in Fox’ Magengegend zeigte auf „Langsam reicht’s!“ – „dann deponieren Sie Ihren Fund doch beim Portier. Wenn unser Gast den Verlust bemerkt, wird er sich wahrscheinlich telefonisch in der Rezeption melden. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Madame.“ Er war schon dabei, mit seinem Servierwagen zu enteilen, da wandte er sich noch an Prancock: „Ihnen natürlich auch, Monsieur!“ Dann verschwand er zielstrebig in die Küche.

„Warum hat er es denn plötzlich so eilig?“, wunderte sich Ilka. Sehr zu Fox’ Missvergnügen starrte sie dem Ober nach.

„Wahrscheinlich hatte er Angst, dass seine Erektion ihm die Hose sprengt!“, knurrte Fox vor sich hin. Demonstrativ stierte er in sein Weinglas. Gerade wollte er es an den Mund heben, als eine Berührung ihn erschauern ließ: Ilka hatte sachte ihre Hand auf seine gelegt. Er sah sie an. Der Anblick der zarten Finger weckte sein Verlangen. Er hob den Kopf und sah Ilka in die Augen. Fox war wie vom Donner gerührt und von tausend Blitzen elektrisiert: Die Flirtshow mit dem Kellner war nur ein schwacher Abglanz dessen gewesen, was er nun in Ilkas Blick erkannte.

„Wollen wir die Ermittlung vielleicht lieber morgen fortführen?“, hauchte sie.

Er trank hastig aus und nickte ihr zu: „In Ordnung, Frau Kommissar, aber den Portier knüpfe ich mir vor!“

„Alles klar, Jeannie, die Party kann steigen!“, verkündete Jasmin fröhlich und marschierte herein.

Janine saß am Fenster und sah hinunter auf den Hof. Viele Freunde und Bekannte entfachten dort Grillfeuer, redeten, spielten und musizierten. Die Rührung darüber, dass sie alle gekommen waren, um ihr zu helfen, packte Jeannie. Natürlich wollte sie ihre Lieben nicht enttäuschen – und doch krampfte sich ihr Herz zusammen, wenn sie sich vorstellte, nun zu feiern.

Als Jeannie nicht reagierte, trat Jasmin zu ihr. „Dir ist das zu viel, oder?“

Die kleine Hexe war dankbar, dass sie das nicht selbst hatte aussprechen müssen. Sie wandte ihr Gesicht Jassy zu. Diese erkannte neben einem Ausdruck der Hoffnung jede Menge Unsicherheit, Traurigkeit und Angst. Wohl wissend, dass jedes weitere Wort nur eine leere Hülse aus Buchstaben bleiben würde, nahm sie Janine in ihre Arme und zog sie mit sanftem Nachdruck an sich.

„Gestern wäre ich hier fast gestorben!“, flüsterte die kleine Gestalt mit dem zerschundenen Gesicht.

Jasmin fühlte, wie sich die Finger ihrer Freundin in die Falten des Stoffes krampften. Jassy ließ ihre Hände langsam an Jeannies Rücken hochkrabbeln und begann dann, sie am Haaransatz im Nacken zu streicheln. Jeannie drückte ihren Kopf noch fester an Jasmins Brust, schlang die Arme nun regelrecht um die Hüften ihrer Freundin. Sie begann das dunkle Gebräu von ängstigenden Bildern in sich aufzulösen und mit ihren Tränen herauszuspülen. Ihr war klar, dass das nicht in diesen Minuten zu schaffen war, vielleicht Monate oder Jahre dauern könnte, aber nun ergab sie sich dankbar in ihre ganz persönliche kleine Ewigkeit.

Jassy liebkoste Jeannie unermüdlich weiter. Am liebsten wollte sie Angst und Verzweiflung aus ihrer Freundin einfach herausstreicheln. Sie spürte, wie Janine sich entspannte, das Schluchzen nachließ und der Kopf an ihrem Busen leichter zu werden schien.

„Leg dich schlafen!“, flüsterte Jasmin der noch immer zitternden kleinen Hexe ins Ohr.

„Alleine? Hier? Ich weiß, ich darf nicht davonlaufen, aber ...“

„Ich bleibe bei dir!“, sagte Jasmin leise.

„Aber das Fest! Und die Band! Ihr wolltet doch noch spielen!“

„Morgen, Jeannie, morgen!“

Er konnte fast nichts mehr erkennen, da die Sonne mittlerweile komplett in ihr Nachtasyl entschwunden war. Nur noch die Flammen eines kleinen Lagerfeuers strahlten einige Jugendliche und Erwachsene an. Die zunehmende Dunkelheit schien die Schmerzen in seinem gepeinigten Auge zu lindern, aber die Reste eines wehen Pochens trieben ihn weiter an. Wie taktiler Technobeat hämmerte es in seinem Augapfel. Sein Herzschlag schien sich mit jenem dumpfen Rhythmus zu synchronisieren. Gleichförmig artikulierte sich der Sound in einer stimmlosen Trance- und Dancefloor-Tirade: „Hass! Hass! Hass! Hass! Hass!“

Ja, er hasste sie, alle, die da drüben lachten, aßen und tranken. Sie waren nicht von seinem Blut. Die, die es doch waren, begingen Verrat. Das war sogar Hochverrat! Er konnte Gesichter und Staturen der Menschen im Flackern des Feuers nicht mehr unterscheiden. Egal: Sie waren alle gleich. Ihre Nutzlosigkeit vereinte sie. „Noch lacht ihr in das Feuer“, geiferte er mit unverhohlenem Hass, „aber bald werdet ihr selbst brennen.“

Trance und Techno änderten den Beat. Zum Hass des Beobachters gesellte sich Hohn. Erst einmal hatte der Gedanke ihn erstaunt, aber nun spürte er bereits Erregung und Vorfreude. Er hielt den Atem an und sprach ein lautloses „Plan zwei!“ in das friedliche Gurren der Nachtvögel hinein.

Schnee von gestern ...und vorgestern

Подняться наверх