Читать книгу Schnee von gestern ...und vorgestern - Günther Klößinger - Страница 8

Sonntag

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01:36 brannte der Wecker seine Botschaft glutrot und digital in die Dunkelheit. Penny zog energisch ihre Bettdecke hoch ans Kinn und war fest entschlossen, endlich einzuschlafen. Ein kurzes Flackern, dann leuchteten ihr die Ziffern 01:37 entgegen.

Sie bemühte sich, einen harmonischen Film vor ihrem inneren Auge ablaufen zu lassen: Wie wär’s mit einem Remake von „Bilitis“? Mit ihr selbst in der Hauptrolle – und Steffens als männlichem Star? Der Weichzeichnereffekt wollte sich dabei allerdings nicht so recht einstellen. Ganz unpassend für eine Hommage an Hamiltons Klassiker, hatte der frischgebackene Kommissar seinen alten Trenchcoat an. Die Landschaft hingegen war perfekt: Sanftes Grün waberte auf leicht verschwommenen Baumwipfeln im Wind. Die Musik von Francis Lai schmalzte und triefte wie gewohnt. Schließlich begannen die süßlichen Harmonien aber mit eigentümlicher Magie Pennys Sehnsüchte zum Tanzen zu bringen. Wunschträume loderten auf und verwandelten sich in pures Verlangen. Ihr Herz schlug Purzelbäume, vollkommen unpassend angesichts des elegischen Soundtracks.

„Verdammt noch mal“, zischte die Schlange, „was soll denn der doofe Trenchcoat? So klappt das nie mit dem Baum der Erkenntnis!“

Die träumende Detektivin erschrak – von „Bilitis“ zur „Genesis“, das war eindeutig zu viel des Guten! Trotzdem: Die Schlange hatte recht! Wenn der Kerl nicht bald den Trenchcoat auszog, müsste Penny wohl eher auf „Zärtliche Cousinen“ warten. Sie wollte sich schon abwenden, aber Steffens Blick hielt sie fest. Langsam schritt sie auf die Traumgestalt zu. Steffens hob den Arm, deutete auf einen Busch.

„Na endlich“, dachte Penny, „er hat’s kapiert!“

Der Kommissar sprach merkwürdige Worte: „Sieh dort nach! Und zwar ganz genau!“

Sie erkannte die wuchernden Stauden sofort wieder: Hier hatte sich dieser merkwürdige Spanner versteckt und Jeannie und ihre Freunde beobachtet.

„Aber den Busch hab ich doch schon gecheckt!“, stieß Penny hervor.

Am liebsten hätte sie platzen wollen. Steffens hatte alles zunichte gemacht: Die Leidenschaft für ihn war völlig ihrer professionellen Passion gewichen.

„Dann untersuche ihn noch mal!“

Wie ein Dokumentarfilm spielte der Traum nun minutiös Pennys nachmittägliche Untersuchung erneut ab. Hier hatte also der heimliche Beobachter gelauert. Verwischte Fußspuren im Erdreich. Profil von Schuhen teilweise erkennbar. Penny übertrug diese eins zu eins auf ein Stück Butterbrotpapier. Zigarettenstummel: keine. Buschwerk an manchen Stellen geknickt, wahrscheinlich, um hindurchsehen zu können. Die Detektivin glaubte nicht an einen harmlosen Spanner. Nicht so kurz nach dem brutalen Anschlag auf Jeannie. Penny hatte ihre Bedenken aber nicht oder nur vage ausgesprochen, um die Freunde nicht unnötig zu beunruhigen. Moment mal: warum eigentlich „unnötig“?

Nun, im Ganzen tummelten sich mittlerweile circa fünfzehn Jugendliche und einige Asylbewerber auf dem alten Gehöft, manche von ihnen sehr stämmige und kräftige Männer. Und auch Yasemin, Jasmin und Jessica waren alles andere als hilflose Mädchen in Statistenrollen. Pennys Beunruhigung schwand. Vorsichtig präparierte sie den Boden um den Busch und darunter. Sollte der Spanner erneut hier auftauchen, würde er noch deutlichere Spuren in der Erde hinterlassen: Mit einem Zweig strich Penny einige nur spärlich bewachsene Stellen des Waldbodens frei. Dann goss sie eine ganze Flasche Mineralwasser darüber aus. Schließlich streute sie eine hauchdünne Schicht frischer Erde auf den Boden, sodass die Feuchtigkeit auf den ersten Blick nicht erkennbar war: Sicher, das würde nicht lange halten. Und doch verbesserte es bei einer Rückkehr des Unbekannten die Chance auf einen weiteren Schuhabdruck. Davon könnte sie sogar einen Gipsabguss machen. Sollte es heute nicht klappen, würde sie die Aktion noch einige Male wiederholen und diesmal einen ganzen Kanister voll Wasser mitbringen oder Lehm unter der oberen Schicht des Waldbodens einlegen oder ...

„Gute Arbeit, Penny!“

Sie schrak hoch: Hinter ihr stand Steffens. Er hatte sich seines Trenchcoats entledigt und außer grün gestreiften Ringelsocken trug er nichts mehr am Leib. Beim Anblick der Strümpfe begann Penny zu kichern. Sie versuchte, das aufsteigende Lachen zu unterdrücken, aber vergebens – wie eine vulkanische Eruption brach es aus ihr heraus, wurde lauter und lauter.

Als Penny schließlich die Augen aufschlug, stellte sie verwirrt fest, dass die Weichzeichnerimpressionen verschwammen. Sie wurden von der Nacht unbarmherzig verschlungen. Pennys Herz klopfte bis zum Hals, die völlige Dunkelheit verwirrte sie, bis sich vier glutrote Ziffern aus dem Schwarz schälten: 03:59.

Nick hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Nur um in Aktion zu bleiben, stocherte er mit einem Ast in dem nahezu völlig verloschenen Lagerfeuer herum: Er hatte die komplette Nachtwache übernommen. Die anderen hatten sich kurz nach Mitternacht in die Stallungen zurückgezogen und sich in ihre Schlafsäcke gerollt.

„Willst du meinen gegen die Kälte?“, hatte Robert gefragt, der sich wohl stattdessen an Jessica kuscheln würde. Diese hatte extra den Doppelschlafsack ihrer Eltern für die Aktion hier gemopst.

„Nö!“, hatte Nick nur trotzig genölt, was er nun allerdings bereute: Die alte, speckige Decke, in die er sich gewickelt hatte, hielt ihn nur unzureichend warm. Darüber hinaus hatte der kratzige Fetzen weniger Wirkung als ein Placebo. Das kalte Weiß des Mondes schien Nick bis zu den Knochen hin zu durchfluten und die Glut vor ihm verströmte außer etwas gräulichem Qualm nichts Behagliches. Er drehte sich eine Zigarette.

„Ich liebe deine schiefen Kippen!“, hatte Jasmin früher immer gesagt, aber im Zuge ihrer Vergötterung von Ilka und deren Lebensweise hatte seine Freundin das Rauchen aufgegeben. Er steckte die Zigarette in seinen Mundwinkel und zündete sie an.

„Meine Freundin!“ Gemeinsam mit einer Rauchwolke blies er die Worte hinaus. Sie kamen ihm merkwürdig vor. Hätte nicht auch jemand anders über Jeannies Schlaf wachen können? Mehmet wäre doch ein viel besserer Bodyguard! Warum ließ Jassy ihren treuen Hofzauberer hier allein? Wieder verwendete er blauen Dunst als Sprechblase: „Ich liebe meine Prinzessin!“

Dabei kam Nick sich vor wie ein Schauspieler, der, noch im Probenstadium, Textschwierigkeiten hatte. Sicher, die Worte klangen zärtlich, aber sein Herz schlug ohne jedes Stolpern regelmäßig weiter. Die Sehnsucht nach Jasmins Körper stellte sich als bloßes Verlangen nach Wärme heraus, als Nick genauer darüber nachdachte. Wie oft hatten sie Rücken an Rücken gesessen, hatten geraucht, waren ihren Gedanken und Träumen nachgehangen. Nick sehnte sich so sehr nach dieser vertrauten Innigkeit, dass er glaubte, Jasmins Rücken an seinem zu spüren. Gleichzeitig meinte er zu fühlen, wie ihre Körper sich die Wärme teilten. Plötzlich stutzte er: Ihm wurde tatsächlich wärmer und es hatte sich wirklich jemand an ihn gelehnt. Verblüfft wandte er sich um. Er erwartete, Jasmin hinter sich zu sehen. Nick wünschte sich nur einige liebe Worte von ihr, nicht mehr und nicht weniger. Sein Herz begann nun doch zu hüpfen und der gute alte Kloß im Hals war auch wieder da. Nicks Traum von Jasmin platzte allerdings wie eine Kaugummiblase – oder vielmehr: mit einer Kaugummiblase.

„Yasemin?“, fragte Nick und bemühte sich, das File „Love“ abzuspeichern und in ein anderes Unterverzeichnis zu wechseln.

„Kann nicht schlafen!“, flüsterte Yasemin, und Nick fragte sich, was da in ihrer Stimme mitschwang: Müdigkeit? Vielleicht, aber irgendetwas in den Worten des Mädchens griff nach seinem Herz. Es begann in einen anderen Takt hineinzustolpern. Nick brauchte einige Sekunden, um festzustellen, welche Emotion da in ihm pulsierte, ausgelöst von Yasemins Anwesenheit. Es war eine ganz bestimmte Form der Furcht.

Als die Kurdin ihn fragte: „Darf ich dir ein bisschen Gesellschaft leisten?“, erkannte er sie genau: die Angst vor der Traurigkeit. Er wollte nicht zulassen, dass sie sich in ihm breitmachte. Selbstmitleid war eine Sache, aber echte Traurigkeit war etwas, wovor er regelrecht Panik hatte. Er spuckte seine Kippe in die Glut und räkelte sich, um die Beklommenheit aus seinen Gliedern zu vertreiben. Yasemin rückte näher an Nick heran, als dieser sich ausgiebig streckte und eine Symphonie des Gähnens zelebrierte.

„Du bist müde“, stellte sie fest, „schlaf ruhig ’ne Runde, ich übernehme die Wache!“

Nick wollte noch protestieren, doch außer einem leisen Schnarchen kam kein Laut mehr über seine Lippen. Yasemin beobachtete das Verschwinden des Mondes. Als zarte, rosa getönte Wolken die Morgensonne ankündigten, rannen ihr Tränen über die Wangen. Ein neuer Tag, der postkartenkitschig beginnt. Wieder ein Tag ohne Zuhause, immer auf dem Sprung, sich zu verstecken. Noch dazu mit diesen Bildern im Kopf, die sie seit ihrer Kindheit mit sich herumtrug – im schwarzen Album unauslöschlicher Erfahrungen. Entsprachen die Erinnerungen noch der Wirklichkeit, wenn sie Vater und Mutter vor sich sah? Oder spielte das Gedächtnis ihr üble Streiche. Sie hatte damals, als kleines Schulmädchen, noch keine Zusammenhänge verstehen können. Erst nach und nach, seit sie ihre Kindheit gegen eine – erzwungenermaßen – überreife Jugend tauschen musste, begriff sie so manches: Ihre Eltern waren Geschäftsleute gewesen, ehrbar und erfolgreich. Zumindest spukten da Bilder von einem Büro in Yasemins Gedanken herum. Nette Frauen saßen an Schreibmaschinen. Vater lächelte sie meist freundlich an. Eine der jungen Damen hatte Yasemin immer Karamelldrops zugesteckt. Und Kaugummi. Obwohl Yasemins Eltern sich ihrer kurdischen Abstammung bewusst waren, blieben sie nahezu unpolitisch. Sie hatten viel gebetet. Auf Yasemins Nachfragen, was sie mit dem da oben besprächen, war die Antwort immer dieselbe gewesen: „Wir bitten um Frieden!“

„Welchen Frieden?“

„Für unser Volk!“

„Ist denn Krieg mit unserem Volk?“ Dies war die Frage, auf die Yasemin nie eine Antwort erhalten hatte. Egal, wie überzeugend sie mit ihren großen Haselnussaugen auch schaute – die Eltern schwiegen.

Das Geschäft, das ihr Vater in Ankara aufgebaut hatte, war erfolgreich gewesen – zu erfolgreich. Die Konkurrenten hatten Wind von der Abstammung der Familie bekommen und beschuldigten sie, der Führungsriege der PKK anzugehören. In Windeseile hatte ihr Vater versucht, ihre Flucht zu arrangieren. An dieser Stelle gerieten Yasemins Erinnerungen für gewöhnlich in einen Hagel schlimmer Bilder: der Lastwagenfahrer, der bestochen wurde, sie alle nach Deutschland zu bringen. Die Verhaftung ihrer Mutter kurz vor der Abfahrt. Ihr Vater, der von der Ladefläche sprang und brüllte: „Fahrt los!“ Der Kerl, der den Brummi lenkte, und dann auch um sein eigenes Leben fuhr. Wie sie es geschafft hatten, die Grenzen zu passieren, wusste Yasemin nicht mehr. Später, als sie Asylantrag stellte, fand man bei der üblichen Routineüberprüfung in ihrer Heimat keinerlei Unterlagen über ihre Familie mehr vor. So wurde sie kurzerhand als Lügnerin eingestuft. Mal wieder eine Scheinasylantin, die sich mit einer tränenseligen Story Zuflucht in good old Germany erschleichen wollte. Ob ihre Eltern noch lebten, wusste Yasemin nicht, aber aus allen Computer- und Verwaltungssystemen der Türkei waren sie getilgt worden. Es schien sie nie gegeben zu haben. Bei diesem Gedanken erzitterte Yasemin und schluckte schwer.

Dann war da eines Tages dieser Mann gewesen, der behauptete, ihr Vormund zu sein, die Sozialarbeiterin, die ihr einmal geglaubt hatte, sie nun aber für eine Lügnerin hielt. Dann Yasemins Ausweisung und wieder Flucht. Immer von Neuem, fliehen, fliehen, fliehen. Verstecke und Unterschlupf finden – wie oft hatte sie dafür mit ihrem Körper bezahlen müssen! Wie oft hatten widerwärtige Männer sie mit der Androhung erpresst, sie der Polizei auszuliefern! Wieder und wieder hatten diese abscheulichen Typen sie gezwungen, eklig stinkende oder mit Warzen übersäte Schwänze zu lutschen. Weg damit! Die Bilder mussten einfach nur weg! Yasemin zog die Beine an, umschlang ihre Knie mit den Armen und schluchzte laut auf. Heiß fielen ihre Tränen in den Staub. Ihr Körper begann so heftig zu zittern, dass Nick davon aufwachte. Benommen rappelte er sich hoch und hockte wie ein in höchstem Maße begossener Pudel neben dem weinenden Mädchen. Er hatte keine Ahnung, was in Yasemin vorging, und war sich nicht sicher, ob er sich dem aussetzen wollte. Er kniete sich neben die Weinende, legte ihr einen Arm um die Schulter und fragte: „Soll ich dir eine drehen?“

Die Sonne war bereits vor einiger Zeit über den Horizont geklettert, als Fox sich endlich aufraffte, das kläglich ächzende Hotelbett zu verlassen und ins Bad zu gehen. Eine gerade fertig gekämmte und vorsichtig gestylte Ilka betrachtete sich zufrieden im Spiegel.

„Morgen, Kätzchen! Siehst klasse aus!“, gähnte der verschlafene Fox.

„Etwas mehr Begeisterung, bitte!“, forderte Ilka ein, umarmte Prancock und küsste ihn auf die Stirn. Tatsächlich rief dies zumindest einige der Lebensgeister in ihm wach; er erwiderte den Kuss unerwartet zart und sanft, um dann mit seiner Backe an Ilkas Wange auf- und abzuschmirgeln.

„Wie wär’s mal wieder mit einer Rasur?“, fragte Ilka und verzog ihr Gesicht.

„Hatten wir das Thema nicht erst letzte Woche?“, erwiderte Prancock.

„Stimmt, das hatte ich ja vergessen“, seufzte Ilka, „dein Rasierer hat ja auch Urlaub!“

„Was Neues von Jasmin?“, wechselte Fox vorsichtshalber das Thema, um einer eventuellen Eskalation des Rasierkonflikts aus dem Wege zu gehen.

„Nein, seit gestern Morgen keine SMS mehr. Eigentlich komisch!“

„Ach was“, meinte Fox und verscheuchte die Müdigkeit mit einem letzten Strecken der Arme, „das heißt wahrscheinlich, dass es ihr bestens geht. Mädels in dem Alter melden sich vor allem, wenn sie in Trouble sind oder Knete brauchen!“

„Du hast ja ’ne super Meinung von deiner Tochter!“

„So isses nun mal! Gehen wir frühstücken?“

„Von mir aus“, meinte Ilka grinsend, „wenn du im Pyjama in die Halle willst!“

Prancock brummte etwas Unverständliches vor sich hin und widmete sich dann kurz seiner Morgentoilette, die er in rekordverdächtigem Tempo absolvierte. Dann zog er sich an, um schließlich galant seiner Freundin den Arm zu reichen: „Voilà, Madame, allons a manger!“

Erstaunt blickte Ilka ihn an: „Wo hast du denn das her?“

„Hab mir mal aus Versehen im Sonderangebot einen Bogart-Film auf Französisch gekauft!“

„Na, Gott sei Dank war’s kein Zombieschocker!“

Sie gingen in den kleinen Frühstücksraum. Nur wenige der Gäste hatten sich so früh schon eingefunden. Die beiden ließen sich Kaffee und Croissants schmecken. Diesmal war das Gebäck frisch und knirschte nicht nach Raststättenart. Eigentlich sollte solch ein Geschmackserlebnis bei Ilka die zweite Phase des typischen Urlaubsfeelings einläuten. So bemühten sie und Fox sich redlich, sich zwanglos zu geben, aber sie konnten ihre Gedanken nicht von der merkwürdigen Nachricht aus dem Safe lösen. Da keiner die Urlaubsatmosphäre in diesem Moment stören wollte, tranken und aßen sie schweigend.

Als der Kellner schließlich Geschirr und Besteck abgeräumt hatte, ergriff Ilka die Initiative: „Wollen wir uns das Dorf ansehen?“

„Oh ja, hier gibt’s bestimmt romantische Kuhställe und historische Heuschober!“

„Wir könnten ja auch in die Stadt fahren!“, schlug Ilka vor.

„Na ja“, setzte Fox an und holte tief Luft, „vielleicht kann uns ja der Portier einen Tipp geben!“

Ilka seufzte. Sie wusste genau, was sich hinter dieser Feststellung verbarg: Der Spürhund wollte die Fährte aufnehmen.

Wenige Minuten später hatten sie die Sommerjacken aus ihrem Zimmer geholt und gingen zur Rezeption. Der Portier lächelte ihnen freundlich zu und nickte kurz.

„Taktik: totale Anmache!“, raunte Fox Ilka zu.

„Auf deine Verantwortung!“, raunte diese zurück.

„Oh, Scheiße!“, bemerkte Fox daraufhin etwas zu laut, und das freundliche Gesicht des Portiers nahm einen verwunderten Ausdruck an. Anscheinend waren seine Deutschkenntnisse besser als vermutet.

„Oh, Champs“, stotterte Prancock verlegen, nach einer Entschuldigung ringend, „Champs Elysees, meinte ich, waren Sie auch schon mal da?“ Fox bemühte sich, „Champs Elysees“ gerade noch erkennbar undeutlich auszusprechen, dass es seinem deutschen Fäkalausdruck sehr nahe kam.

„Oui, Monsieur, aber für einen Tagesausflug ist Paris zu weit!“

Ilka trat mit betontem Selbstbewusstsein an den Rezeptionstresen heran. Sogleich warf sie dem Mann dahinter einen unwiderstehlichen Augenaufschlag zu und fragte: „Wissen Sie, wer vor uns in unserem Zimmer gewohnt hat?“

„Darüber darf ich nicht ...“

„Aber natürlich nicht, mon cher ...“, hauchte Ilka und Fox dachte: „Cher? Was soll das schon wieder bedeuten?“ Er spürte, wie sein Adrenalin einen Kochkurs belegte.

„Ich wüsste nur gern, ob er Engländer war!“, fuhr Ilka fort und ließ den Portier gar nicht erst zu Wort kommen. Sie begegnete dessen fragendem Blick stattdessen mit einer Erklärung: „Er hat einen Notizblock auf dem Schreibtisch vergessen und darauf war etwas in Englisch gekritzelt!“

„Sie können den Block gerne hier deponieren, Madame! Vielleicht meldet der Mann sich ja, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt ...“, setzte der Angestellte erneut an, seine Unbescholtenheit zu demonstrieren.

Ilka unterbrach ihn: „Nun, wie Sie sicher bemerkt haben, ist mein Verlobter“ – bei diesem Wort wurde Fox abwechselnd heiß und kalt: Sicher, er war bis über beide Ohren in Ilka verliebt, aber Verlobungs- oder gar Hochzeitsglocken wollte er nach einer gescheiterten Ehe erst mal nicht unbedingt läuten hören – „ebenfalls Engländer und wir finden es schade, einen Landsmann verpasst zu haben!“

„Wirklich tragisch, aber nichts zu machen. Entschuldigen Sie mich bitte!“

Der Portier machte die Andeutung einer Verbeugung und tat so, als hätte er etwas Dringendes in dem kleinen Dienstzimmer zwischen Rezeption und Lounge zu tun. Ilka und Fox blickten ihm nach, dann sahen sie sich in die Augen. Beinahe gleichzeitig zuckten sie mit den Achseln und gingen hinaus zu ihrem Wagen.

„Machen wir einen kleinen Ausflug in die Stadt?“, fragte Prancock mit solcher Unlust in der Stimme, dass selbst Ilka sich eingestehen musste, wie maßlos enttäuscht sie war. Hin- und hergerissen zwischen dem Willen, einfach nur Urlaub zu machen, und dem Bedürfnis, dem mysteriösen Hilferuf nachzuspüren, wirbelten widersprüchliche Gedanken in ihr herum. Am schlimmsten fand sie jedoch, dass ihre Flirtstrategie bereits zum zweiten Mal erfolglos geblieben war.

„War ich nicht gut?“, fragte sie zerknirscht.

„Du warst viel zu gut, Kätzchen, hast doch gesehen – um seine Hormone in Schach zu halten, klammerte der Typ sich über Gebühr an die Datenschutzrichtlinien im Hotelgewerbe!“

„Gibt’s die denn?“

„Keine Ahnung! Also, welche Sehenswürdigkeiten wollen wir angucken?“

Ilka blieb stehen und malte mit dem Schuh wirre Muster in den Kiesweg. Sie reckte ihre Nasenspitze kurz der vormittäglich trägen Sonne entgegen und begann sich am Kinn zu kratzen. Es schien, als würde sie über lebenswichtige Entscheidungen nachdenken, dann wandte sie ihren Blick wieder Fox zu und sagte entschlossen: „Das Gästeverzeichnis des ,Joli Bois‘!“

Prancock seufzte. „Und wie willst du das anstellen?“

„Weiß ich nicht! Du bist doch der Experte für Ermittlungsfragen!“

„Na, na, als Journalistin musst du mindestens genauso gut recherchieren!“

„Eins zu null für dich, Herr Kommissar! Oder heißt es: ,Love – Fifteen‘?“

Sie ergriff seine Hand und zog ihn sanft zu sich. Dann küsste sie Fox ohne Vorwarnung leidenschaftlich auf den Mund. Minuten und Sekunden wurden bedeutungslos. Ilkas überfallartige Zärtlichkeit verwunderte Prancock – normalerweise war sie in der Öffentlichkeit zurückhaltender. Sie löste sich von ihm und schmiegte ihre Wange an seine.

„Na, fallen wir auf?“, flüsterte Ilka ihm ins Ohr.

„Und wie!“, hauchte er zurück. Einige Gäste, die es sich vor der Pension in Kunststoffsesseln bequem gemacht hatten, fanden ihre Zeitungen plötzlich eher uninteressant, stellte Fox mit unauffälligem Seitenblick fest.

„Gut“, resümierte Ilka, „dann machen wir’s so!“

„Was? Und wie ...?“

Ohne eine Erklärung hakte sich Ilka bei ihrem Freund ein und sie marschierten wieder auf den Eingang zu. Als sie durch die Tür traten, schaute der Portier von seiner Theke aus argwöhnisch zu ihnen herüber.

„Perfekt“, dachte Ilka, „Rezeption leer, Herr Datenschutz allein.“

Sie traten nahe an den Mann heran.

„Verzeihung“, kurbelte Ilka ihre Charmemanufaktur an, „wäre es vielleicht möglich, beim heutigen Abendmenü Hummer statt Barsch zu bekommen?“

„Ich weiß nicht, ob der Küchenchef ...“, setzte der Portier zu einer ausweichenden Bemerkung an, aber Ilka unterbrach ihn.

Sie verlor kein Quäntchen ihres verführerischen Blicks: „Fragen Sie ihn doch! Wir lieben Hummer!“

Der Portier öffnete den Mund, doch bevor er etwas erwidern konnte, wandte sich Ilka Fox zu, umklammerte seine Taille mit beiden Armen, zog ihn noch leidenschaftlicher als zuvor an sich und küsste ihn. Offensichtlich hatte orgiastisches Verlangen sie gepackt. Fox bemühte sich, wenigstens aus einem Auge zu linsen und sich nicht völlig seiner Erregung hinzugeben. Er hatte Ilkas Plan kapiert. Verschwommen nahm er wahr, wie der Mann sie beide zuerst entsetzt anstarrte, dann errötete, sich schamhaft abwandte und dabei etwas wie „un moment!“ murmelte. Fluchtartig verschwand der peinlich berührte Portier in Richtung Küche. Augenblicklich ließ Ilka Fox los und griff über den Tresen. Sie nahm das Buch, in dem Ankunft und Abfahrt der Gäste verzeichnet waren, und schob es Fox hin: „Such den gestrigen Tag! Schnell!!“

Ohne ein Widerwort blätterte Fox eine Seite zurück: Voilà! Da waren sie: die Aufzeichnungen über den gestrigen Samstag. Ilka hatte mit der Professionalität der rasenden Reporterin ihre kleine Digitalkamera hervorgezogen. Prancock hielt ihr die entsprechende Seite vor die Linse. Ilka lichtete sie zweimal ab, woraufhin Fox wieder umblätterte und das Buch zurück hinter den Tresen legte. Ilka ließ den Fotoapparat in ihrem Täschchen verschwinden und umarmte Fox von Neuem.

„Diesmal können wir’s wirklich genießen!“, strahlte sie den Kommissar an. Seine Augen signalisierten Verblüffung und Bewunderung. Er löste sich aus seiner Starre, als ihre warmen Lippen die seinen umkosten. Ihre Zunge schob sich suchend in seinen Mund und Ilkas heißer Atem warf Prancocks erotische Zentralheizung an. Diesmal hörten sie die Tür zur Küche nicht knarren. Die Schritte des eintretenden Portiers würden für sie immer eine Legende bleiben. Erst sein lautes Räuspern drehte ihr gemeinsames Thermostat drastisch zurück. Sie ließen einander los und blickten den Mann erwartungsvoll an.

„In Ordnung“, sagte er, „wir servieren Ihnen heute Abend Hummer!“

„Vielen, vielen Dank!“, war die eindeutige Botschaft von Ilkas Augenzwinkern in Richtung Rezeption. Mit einem betont fröhlichen „Au revoir!“ winkte sie dem Portier noch einmal zu, um dann erneut nach draußen zu gehen. Fox holte schnell auf, um nicht wie Ilkas Dackel zu wirken. Hand in Hand und zufrieden grinsend liefen sie zu ihrem Auto. Sie mussten sich richtiggehend beherrschen, nicht wie Kinder zu hüpfen. Am Wagen angelangt, sahen sie sich an und begannen laut herauszuprusten.

„Du bist genial, Kätzchen!“, brachte Fox nur unter Mühen zwischen Kicher- und Lachanfällen hervor.

„Danke, Herr Kommissar“, gab Ilka zurück, „diese Ermittlungsmethode kannst du ja auf einer Fortbildung mal euren Polizeikadetten nahebringen!“ Sie wischte sich Lachtränen aus dem Gesicht und Fox bemerkte nur noch trocken: „Aber weißt du, was Mist ist?“

„Na, was denn?“

„Ich hasse Hummer!“

Wirre Bilder von umstürzenden Regalen und durch die Luft wirbelnden Büchern hielten sie in Schock und Starre gefangen. In ihr schrie die Panik auf: „Das ist ein Traum, das muss ein Traum sein!“ Die quälende Erkenntnis, zu völliger Reglosigkeit verdammt zu sein, ließ Janines Angst zu einem riesigen Tumor anschwellen. Das Krebsgeschwür drohte alles Leben in der jungen Frau zu ersticken. Hämisch lachende Fratzen bleckten ihre Zähne zwischen heranschnellenden Büchern. Mit rohen, achtlosen Gesten fegten brutale Hände Poster und Gemälde von den Wänden. Jeannie wollte schreien, aber ihre Lungen verweigerten den Dienst. Nur ein Würgen kroch ihr aus der Kehle. Die Fratzen fletschten erneut ihre Reißzähne. Mit unbarmherziger Drohgebärde schienen die Hauer zwischen tanzenden Büchern und Bildern zu schweben. Janine wurde abwechselnd heiß und kalt, Schweiß rann über ihr Gesicht. Warum nur konnte sie nicht die Augen schließen, warum war ihr nicht einmal diese Gnade gewährt. Die auf sie hereinstürzende Flut von Papier, Holz und Leinwand nahm ihr schließlich die Sicht. Endlich Finsternis, Stille und Erlösung! Endlich …

Ein sanfter Kuss auf ihre Stirn verscheuchte die Dunkelheit und das Gefühl des Erstickens. Wie eine zu lange unter Wasser gebliebene Schnorchlerin atmete sie implosionsartig ein. Ihr Geruchssinn identifizierte nun einen vertrauten Duft. Noch bevor sie die Augen aufschlug und träge blinzelte, wusste Jeannie, dass Jasmin neben ihr im Bett lag. Einige Comics waren über Decken und Kissen verstreut. Jassy fixierte ihre Lieblingshexe mit solcher Zuneigung, dass Janine von dem Kontrastprogramm fast schummrig wurde. Die Traumbilder waren derart real und beängstigend gewesen, dass sie nun gar nicht genug vom sonnigen Strahlen ihrer Freundin bekommen konnte.

„Jasmin – du? Aber du warst doch auf dem Sofa!“

Jassy lächelte jenes Lächeln, für das Nick derzeit alles Geld der Welt hergegeben hätte. Ihre Stimme klang ruhig und bestimmt: „Erst mal guten Morgen … äh, Vormittag! Du hast heut Nacht ’n paar Mal im Schlaf geschrien. Ich kam mir auf dem ständigen Weg zwischen dir und dem Sofa fast schon vor wie ein kombinierter Staffel- und Marathonläufer. Um die Sache abzukürzen, hab ich mich in deinem Nest breitgemacht.“

„Jasmin, ich … es war schrecklich – diese … diese ...“

Jassy legte Jeannie sachte einen Finger auf die Lippen.

„Lass gut sein, kleine Hexe. Drück nicht noch mal ,Repeat‘ – riech doch mal!“

Noch immer etwas verwirrt davon, sich tatsächlich in der Realität zu befinden, schnupperte Janine. Zunächst nahm sie wieder Jasmins typischen Duft wahr, aber dann drang ein völlig anders gearteter Geruch an ihre Nase. „Mantra-Tee! Du hast meinen Lieblingstee gekocht! Du bist ein Schatz!“

„Um ehrlich zu sein, habe ich Mehmet dazu verdonnert. Der geistert schon seit drei Stunden herum, immer auf der Suche nach einer Aufgabe. Außerdem ist richtiges Teekochen eine Kunst, die ich nicht wirklich beherrsche. Sobald man mehr als Fertigbeutel und Wasser dazu braucht, ist es aus mit meinen Fähigkeiten!“

„Gute Wahl! Mehmet kann das perfekt!“ Jeannie richtete sich nun endgültig auf und begann sich zu rekeln.

„Er war da anderer Meinung“, grinste Jasmin. Sie verzog ihr Gesicht und verstellte die Stimme. Als überzeugende Mehmet-Parodie tönte sie: „Emanzipation gut – aber warum ich kochen und du ...“

Weiter kam sie nicht, denn Jeannie musste derart ansteckend kichern, dass sich zu guter Letzt beide vor Lachen bogen. Als sie schließlich in die Küche kamen und den von Mehmet gedeckten Frühstückstisch sahen, lag noch immer ein Grinsen in ihren Mienen.

Sie waren aus dem Dorf herausgefahren. Trotz ihrer guten Laune machte die Neugier sie beide kribbelig. Beim ersten Waldweg, der sich anbot, bedeutete Fox seiner Freundin, abzubiegen. Ilka lenkte das Auto ein Stück weit in den Wald hinein und hielt dann an.

„Gut, Kätzchen, dann wollen wir die Liste mal durchchecken!“

„Gib mal her!“, forderte Ilka. Sie deutete mit einer Handbewegung auf ihre Umhängetasche.

Das ließ sich Fox nicht zweimal sagen. Schließlich nestelte er den Fotoapparat aus einer Menge Krimskrams hervor. Ilka nahm die Kamera und schaltete sie ein. Wenige Tastenklicks später tauchten die Aufnahmen vom Gästebuch des „Joli Bois“ auf.

„Etwas klein“, grummelte Fox, „brauchst du eine Lupe?“

„Wozu?“, fragte Ilka kopfschüttelnd zurück. „Das Ding hat eine Zoomfunktion!“

Fasziniert, aber auch etwas neidisch beobachtete Fox, wie souverän Ilka mit dem kleinen Digitalgerät hantierte. Immer wenn er sah, wie jüngere Menschen mit der modernen Technik umgingen, beschlich ihn das ungute Gefühl, schon bald zum alten Eisen zu gehören.

„Merkwürdig“, riss seine Freundin ihn aus einem Tagtraum. Er hatte gerade mit dem Alteisenhändler gefeilscht, der für das Auslaufmodell „Prancock“ nur noch Schrottpreise bot.

„Kein englischer Name auf der Liste!“

„Wie bitte?“, murrte Fox ungläubig. „Das kann doch nicht sein!“

„Schau doch selbst! Nur Franzosen!“ Sie hielt dem Kommissar den kleinen Monitor vor die Nase. Dann spulte sie die Gästeliste des „Joli Bois“ Klick um Klick ab.

„Nicht ganz“, stellte Fox fest, „halt das mal an!“

Ilka stoppte den Durchlauf und überflog die Namen in diesem Bildausschnitt: „Lachaise … Duchateau … Benoit … du hast recht: ,Finkenwald, Walter‘! Hm, klingt auch nicht gerade englisch!“

„Aber noch weniger französisch, Kätzchen. Kannst du mal auf seine Heimatadresse skippen?“

„Du meinst ,shiften‘?“, fragte Ilka beiläufig.

Prancock ging mit dem Preis beim Schrotthändler noch mal runter. Das triumphierende Pfeifen seiner Freundin holte Fox wieder in das Hier und Jetzt zurück. „Was gibt’s denn?“, fragte er.

„Bingo, Herr Kommissar: Walter Finkenwald, wohnhaft in ...“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, trällerte einen Takt der Eurovisionsfanfare und sah Fox mit großen, strahlenden Augen an. Schließlich verkündete sie: „Canal Road 23, London, England!“

Penny wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte, dass ihr ausgerechnet Steffens den richtigen Tipp gegeben hatte, wenn auch nur im Traum. Nach ihrer detektivischen Mineralwasser-Aktion plagten sie schwere Zweifel: Würde der Spanner trotz der schmerzhaften Erfahrung mit Yasemins Spiegeltrick noch einmal dasselbe Versteck aufsuchen? Er musste doch davon ausgehen, dass man ihn entdeckt hatte. Ungeachtet dessen fand die Privatdetektivin nun an der präparierten Stelle im Waldboden Fußabdrücke. Das Erdreich war hier zu locker, um effektiv einen Gipsabdruck nehmen zu können, aber eine gute Fotografie wäre auch schon hilfreich.

Penny zückte ihre Kamera und machte aus allen erdenklichen Perspektiven Aufnahmen des deutlich in den Boden gestanzten Profils. Schließlich zog sie ihre Butterbrotkopie vom Vortag heraus und justierte sie auf der frischen Spur: Kein Zweifel, die Muster waren identisch.

„Vielleicht ergibt es sogar Sinn, diese Stelle regelmäßig zu überwachen!“, dachte Penny laut vor sich hin. Sie befahl der inneren Textverarbeitung umgehend, das „vielleicht“ zu löschen. Es stand außer Zweifel, dass dieses spannerfreundliche Gehölz observiert werden musste. Mit einem Stück Reisig verwischte Penny ihre eigenen Spuren und machte sich auf den Weg zu Jeannie: Brunch mit Kriegsrat war angesagt.

„Kommt der Kaffee hier auch online?“, brummte Fox.

„Klar“, antwortete Ilka, ohne ihren Blick von dem Monitor zu wenden, „du musst nur ,www.coffee.com‘ eingeben und deine Tasse unter den Diskettenschlitz halten!“

„Ich hab ja nicht mal eine!“, nörgelte er weiter. Seine Stimme nahm immer mehr die Charakteristika hundetypischen Drohgebarens an. Nicht genug damit, dass er sich angesichts des Computerbooms im aktuellen Jahrtausend zunehmend wie eine Dampflok im ICE-Terminal vorkam, die Einrichtung von Internet-Cafés kam für ihn dem Niedergang der gastronomischen Kultur, also quasi des Abendlandes gleich. Entweder Kneipe oder Computer war seine Devise, oder auch: „Bier statt Bytes“.

Ilka lächelte ihren Freund an, dem das Unbehagen fast schon aus der Nase zu tropfen schien.

„Und – hattest du Erfolg?“, bemühte sich Fox, desinteressiert zu klingen.

„Ja“, grinste Ilka, „ich habe uns per E-Mail zwei Cappuccini bestellt!“

„Sehr witzig!“, grummelte Prancock. „Ich meinte, ob du was über Finkenwald ...“

„Un moment, s’il vous plait!“, erklang die Stimme des Kellners.

Der gereizt gestikulierende Fox hätte ihm beinahe das Tablett aus der Hand gefegt. Die Form wahrend und freundlich lächelnd stellte der Ober zwei dampfende Kaffeetassen vor Ilka und Fox auf den Tisch. Noch ein „Voilà!“ und er war fast ebenso überraschend verschwunden, wie er gekommen war. Prancock starrte fassungslos auf die Tassen.

Ilka ergriff seine Hand, strahlte ihn an und flüsterte: „Ich weiß doch, dass mein kleiner Kommissar ohne Kaffee nicht recherchieren kann!“

„Danke, Kätzchen!“ Tatsächlich stahl sich ein Lächeln in Prancocks Züge und setzte sich fest wie eine Klette im Wollpullover.

Schmunzelnd wandte sich Ilka wieder dem Monitor zu und atmete innerlich auf: Der Tag war gerettet. Sie kannte ja Fox’ romantische Ader. Er ermittelte am liebsten in Sherlock-Holmes-Manier. Heimlich bei Nacht in verdächtige Räume eindringen, sich im Morgennebel auf die Lauer legen und so weiter – das war seine Welt. Lediglich bei Verhaftungen bevorzugte er dann doch den „Dirty Harry“-Stil. Sie hatte allerdings keine Möglichkeit gesehen, mit einer von Fox’ Lieblingsmethoden Infos über Walter Finkenwald zu bekommen, weshalb sie die Internet-Recherche vorgeschlagen hatte.

„Soll ich dich jetzt mit ,Steffens‘ anreden?“, hatte Fox bissig auf diesen Vorschlag reagiert, sich aber mit der Aussicht auf einen Kaffee doch breitschlagen lassen.

„Gib doch mal ,Finkenwald‘ ein!“, instruierte er seine Freundin und löffelte dabei Milchschaum von seinem Cappuccino.

„Wenn du unbedingt Tausende von Eintragungen bei Botanik und Zoologie durchackern möchtest, bitte ...“, stöhnte Ilka auf und tat Prancock den Gefallen. Sie gab den Namen ,Finkenwald‘ ohne weitere Merkmale in die Suchmaschine ein.

„Na also“, sagte sie einen Augenblick später, „hier haben wir 7.328 Einträge: ,Der Spatz im Finkenwald – Heitere Memoiren eines Jägergesellen, erschienen im Waid- und Wanderverlag‘, dann ,Lasst uns suchen die Finken im Wald! – volkstümlicher Schlager von Hartmut Roßberg‘, dann ... und hier ,Schmutzfinken im Pressewald – kritischer Bericht über Machenschaften der Regenbogenpresse von Günther Falstaff‘ und ...“

„Stopp, stopp, du hast ja gewonnen!“, unterbrach Fox die Rezitation. „Wie wär’s denn mit ,Walter Finkenwald‘?“

„Gute Idee ... oder gar mit ,Walter Finkenwald‘ plus ,London‘?“

„Wollte ich gerade vorschlagen!“, log Fox in seine halb leere Kaffeetasse hinein.

Ein leises Schlürfen erklang. Ilkas Finger wirbelten geradezu über die Tastatur. Prancock stellte seine nun leere Tasse ab und überlegte, ob er sich an Ilkas noch jungfräulichem Cappuccino vergreifen sollte – dieser lief schließlich Gefahr, kalt zu werden.

„Das willst du nicht wirklich!“, zischte sie ihm scherzhaft zu.

„Was denn?“, fragte Fox und bemühte sich, die Regieanweisungen zu rekapitulieren, die ihm einst sein Religionslehrer für die Darstellung eines Engels im Weihnachtsspiel gegeben hatte.

„Ich habe genau gesehen, wohin du geblickt hast – und dein Gesichtsausdruck war eindeutig!“

Mit einer resoluten Handbewegung griff Ilka nach der Tasse, zog sie näher an sich heran und löffelte etwas von der bereits leicht eingefallenen Schaumkrone.

Fox erkannte eine Mixtur aus Verwunderung und Freude im Mienenspiel seiner Freundin. „Na, was gefunden?“, fragte er.

„Hm, mal sehen! Immer noch 23 Einträge!“

Sie ließ ihre Blicke über den Bildschirm wandern. Um seine Ungeduld zu zügeln, nippte Prancock erneut an seiner Tasse. Dabei musste er feststellen, dass diese bereits leer war.

„Das meiste sind Buchveröffentlichungen und Aufsätze!“, stellte Ilka fest.

„Zu welchen Themen?“, fragte Fox nach.

„Hier zum Beispiel: ,Memories of a deserter‘, erschienen bei ,Ice Bear Books‘ im Jahre 1965!“

„Kriegserinnerungen eines Deserteurs? Glaube nicht, dass das was mit genau diesem Finkenwald zu tun hat.“

„Dazu müssten wir wissen, in welchem Alter unsere mysteriöse Person ist. Es scheint hier nämlich um zwei verschiedene Finkenwalds zu gehen.“

„Und beide heißen Walter?“ Fox war sichtlich verblüfft. London war eine Millionenstadt, und der Name „Walter Finkenwald“ dürfte in England nicht gerade weit verbreitet sein. Und dann sollte es gleich zwei Männer geben, die zum einen genau so hießen und zum anderen auch noch beide in Londoner Verlagen publizierten? Das roch für Fox doch etwas zu sehr nach Zufall.

„Walter J. Finkenwald beschäftigt sich anscheinend vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg“, fasste Ilka ihre gewonnenen Erkenntnisse zusammen, „während Walter ohne ,J.‘ sich größtenteils mit Nuklearenergie zu befassen scheint.“

„Ist er Physiker oder so was?“

„Klingt eher nach einem Ethiker oder Politologen ... Hier: ,Nuclear Energy – A Threat to Civilisation?‘ aus dem Jahr 1995.“

„Streiche mal das ,London‘, vielleicht hat er ja noch an anderen Orten was veröffentlicht – und gib ,Atom‘ und ,Nuclear‘ als weitere Verknüpfungen ein!“

Ilka starrte ihrem Freund irritiert in die funkelnden Augen: „Meine Güte – du hast es kapiert!“, brachte sie hervor.

„Klar!“, grinste Fox breit. „Wie wär’s da mit ,Kuss‘ in Verbindung mit ,Umarmung‘ und ,Streicheln‘?“

„Später!“, murmelte Ilka nur. Sie hatte sich bereits wieder ihrem Computer zugewandt und tippte hektisch die Suchbegriffe ein. Einige Sekunden später huschte so etwas wie ein pantomimisches „Aha“ über ihr Gesicht.

„Kaum zu fassen!“, sagte sie, mehr zu sich selbst.

„Was ist denn nun?“, wollte Prancock wissen.

„Ich glaube, das ist unser Mann!“

Ohne ihre Augen vom Monitor abzuwenden, nahm Ilka ihre Tasse.

„Jetzt mach’s nicht so spannend!“, wollte Fox wieder den Wolf spielen. Sein vorgeblich bedrohliches Knurren fiel jedoch harmloser aus als geplant.

„’ne Menge Artikel und Bücher über Kernenergie und atomare Rüstungsprogramme!“

„Na und?“

„In englischer, deutscher ... und französischer Sprache!“

Das Knirschen der Diskette im Laufwerk erinnerte ihn unweigerlich an jenes Schaben, das die Zähne seines Chefs mit nervtötender Regelmäßigkeit auf dem Kugelschreiber erzeugten. Diese Assoziation ließ augenblicklich die Zornesader auf seiner Stirn schwellen.

„Chef! Pah!“ Mit einem Ausdruck tiefster Verachtung spie er das Wort aus und wiederholte sein „Pah!“ so lange, bis es sich von alleine zu repetieren schien. Kleine Tropfen von Sputum sammelten sich auf seinem Keyboard. Die Amalgamsymphonie in der Floppy-Version war beendet. Ein leises, surrendes Tönen folgte. Kurzzeitig verdunkelte sich die Mattscheibe, dann erschien, inmitten eines rot leuchtenden Emblems, umrahmt von schwarz-weißen Runen, der Schriftzug „Plan zwei“.

Er klickte „Ok“ an und öffnete das Unterverzeichnis „Adressen“.

„Na klar“, nuschelte der Mann unverhohlen aggressiv, „ich darf sie alle zusammentrommeln, aber befehligen wird ER sie – wer auch sonst.“

Er versuchte, seine Verärgerung mit einem Schluck Wacholdergeist hinunterzuspülen, was ihm aber nicht gelang. Nicht mit einem Schluck, auch nicht mit zweien.

Klick für Klick übertrug er die Adressen in sein E-Mail-Programm. Wie viele wohl kommen würden? Zweihundert? Hundertfünfzig?

„Warum macht der Chef bloß so ’nen Aufwand wegen diesem Hof?“, fragte er sich abermals. „Warum die Kleine erst leben lassen und dann die ganze Truppe mobilisieren?“ Er schüttelte den Kopf und dann die Flasche. Der Wacholdergeist brannte ihm in der Kehle.

„Irgendwas ist da faul bei unserem großen Herrn!“ Zuhause war es egal, ob die Worte sich durch seine Gehirnwindungen quälten oder durch die alkoholdunstige Luft. So sehr er sich auch wunderte, warum Plan zwei derart frühzeitig gestartet werden sollte, packte ihn doch auch eine ungeduldige Erregung. Wie lange hatte er auf einen Moment wie diesen warten müssen. In seinen Wacholder-geschwängerten Überlegungen und Berechnungen schaffte er es nicht, eine Zeitperiode exakt zu benennen, und so leerte er die Flasche mit dem Gedanken: „Viel zu lange!“

Der Brunch war vorbei, der Kriegsrat ineffektiv verlaufen. Penny bohrte genervt mit einem Zahnstocher zwischen ihren Backenzähnen herum. Wenigstens hatte man sich darauf einigen können, die Stelle, die der heimliche Beobachter bevorzugte, im Auge zu behalten. Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte Penny zusammen und versuchte verschämt, den Zahnstocher so unauffällig wie möglich verschwinden zu lassen.

„Es tut mir leid, Penny!“

Petra Roth blickte überrascht in Jessicas Augen. „Was denn?“, fragte sie nach, obwohl sie genau wusste, worauf das Mädchen anspielte.

Jessy schob sich neben der Privatdetektivin auf die Holzbank, blickte hinunter zur Erde und trommelte nervös mit ihren Zehenspitzen, die aus etwas zu kleinen Sandalen hervorstanden, auf dem sandigen Boden. „Ich hab mich über deine Arbeit lustig gemacht, und das war nicht gut ...“

„Schon in Ordnung“, begann Penny, obwohl eigentlich nichts in Ordnung war. So sehr sie Jessicas sonniges Gemüt ansonsten schätzte, dass sie vor versammelter Mannschaft Pennys Profilzeichnungen lächerlich gemacht hatte, war wirklich ein Affront gewesen. Jessy hatte flapsig bemerkt: „Wer ist denn da über dein Pausenbrot gelatscht?“ Und das hatte die ehrgeizige Ermittlerin dem Mädchen sehr übel genommen. Danach war keine ernsthafte Besprechung mehr möglich gewesen. Es schien, als ob die eigentliche Ursache für dieses Happening auf dem Hof für alle völlig aus dem Blickfeld geraten war. Die Aufbruchsstimmung nach dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ war einem lockeren „Let’s have a party!“ gewichen.

„Klar soll euch die Aktion hier auch Spaß machen, aber immerhin ...“

„Ich weiß, ich weiß!“, unterbrach Jessy die sich anbahnende Standpauke. „Soll ich dich jetzt ,Mama‘ nennen? Mir ist schon klar, dass es um Leben und Tod geht, und ich glaube auch, dass dieser Spanner mehr als bloß ein Spanner ist.“

„Kümmerst du dich darum, dass jemand regelmäßig dieses Gebüsch im Auge behält?“

„Vielleicht nicht gerade Yasemin, sonst braucht der Kerl demnächst noch ’ne zweite Augenklappe!“, grinste Jessy in Pennys Richtung.

„Aber eins musst du versprechen, Jessy: keine Übergriffe! Lasst den Typen ruhig im Glauben, er sei unentdeckt geblieben!“

„Denkst du wirklich, der ist so blöd nach Yasemins Spiegelaktion?“

„Wahrscheinlich schon – immerhin ist er eindeutig wieder zu seinem alten Versteck zurückgekehrt.“

„Gut, ich kümmer’ mich drum. Hast du vielleicht so ’ne Digitalkamera? Das wär’ doch praktisch.“

Petra zog wortlos ein kleines Gerät hervor, reichte es Jessy und sagte: „Muss wohl Telepathie gewesen sein!“

„Das ist auch nur ’ne Art von Datenübertragung im New-Age-Modus!“

Beide lachten und der letzte Anflug von Groll gegen Jessy war ins Nirwana entschwunden. Sie saßen noch eine Weile schweigend beisammen. Jessica spielte mit der Kamera herum, während Penny sich umsah. Sie beobachtete das bunte, beinahe ausgelassene Treiben auf dem Hof und fühlte sich fast in eine Hippie-Kommune der sechziger Jahre zurückversetzt: Hier erzählte Mehmet Anekdoten aus seinem Leben, dort stimmte Jasmin ihre Gitarre, einige spät aufgestandene Männer mopsten die Reste vom Grill und an einer anderen Ecke saß Nick und rauchte gedankenverloren eine Zigarette.

„Genau das macht mir Sorgen!“, rückte Jessica unverblümt heraus.

„Bitte was?“, stammelte Penny so verdattert, als hätte man sie aus dem Tiefschlaf anlässlich eines Rosamunde-Pilcher-Films gerissen.

„Na das!“, gab Jessy als einzige Erklärung ab. Sie deutete mit ihrem Kopf in zwei entgegengesetzte Richtungen.

„Schon mal so ’nen großen Abstand zwischen Zauberer Nick und seiner Prinzessin gesehen?“

Jetzt fiel es Penny auch auf: Der Junge hockte mit nicht gerade fröhlichem Gesicht abseits jeglicher Aktivitäten herum, während eine gut gelaunte Jasmin inmitten einer Schar von jungen Leuten saß und ein Lied anstimmte.

„Machst du dir mehr Sorgen um ihn oder um sie?“, fragte Penny.

Jessy schüttelte den Kopf. „Nur um die Band“, meinte sie, „Zoff zwischen der Sängerin und dem Bassisten, das hat schon die Karriere mancher Kultstars zerstört!“

„Das mit dem Internet-Café war ’ne klasse Idee, Kätzchen“, gab Prancock zu. Versonnen kickte er ein Steinchen vor sich her durch die Gassen von Colmar, „nur dieser Online-Cappuccino macht mir Sodbrennen!“

„Bist du sicher, dass dafür nicht der Grappa danach verantwortlich ist?“, neckte Ilka ihren Freund.

„Quatsch“, gab dieser zurück, „damit wollte ich bloß die überschüssige Magensäure wegätzen!“

Statt einer Erwiderung wandte sich Ilka Fox nur lächelnd zu. Noch immer drohten die sportgestählten Knie des Kommissars zu Butter zu werden, wenn er in jenes dunkle Augenpaar sah. In Verbindung mit dem schelmischen Ausdruck, der Ilkas Mundwinkel umspielte wie ein Libero den Stürmer der gegnerischen Elf, konnten diese Augen ihn buchstäblich lahmlegen. Jetzt noch ein richtiges Wort und Prancocks Herz war, auch ganz ohne Elfmeterschießen, hoffnungslos verloren.

„Ich liebe dich, mein kleiner Celentano!“

Hoppla, fast ein Tor, aber der Vergleich mit Adriano ließ Prancock doch noch einmal nach dem Ball greifen. „Celentano? Könntest du mich nicht wenigstens mit Mel Gibson vergleichen?“

„Trinkt der auch Grappa?“, versuchte sich Ilka als Unschuld vom Lande.

„Bestimmt!“, versicherte Fox.

„Na gut“, spielte sie die Komödie weiter, „auf Mickey Rourke lasse ich mich heraufhandeln!“

„Schon wieder ’n Typ mit so ’nem angeschmuddelten Image!“, protestierte Fox.

„Na, bei der Wahl zum ,Mr. Dreitagebart‘ wärt ihr scharfe Konkurrenten!“, stichelte Ilka weiter.

„Dieser Milchbubi braucht für die paar Stoppeln bestimmt ’ne Woche – wenn nicht sogar zwei!“

Ilka gluckste, unterdrückte den Lachanfall aber noch einmal, trat einen Schritt vor Prancock. Sie blieb stehen und hinderte ihn so am Weiterschlendern. Wieder traf ihn der für die Beinmuskulatur so fatale Blick.

„Wer möchtest du denn dann sein?“, fragte sie mit sanfter Provokation.

„Humphrey Bogart vielleicht?“ Verdammt noch mal, was sollte nur dieses „vielleicht“? Cool musste er sein, selbstsicher, sich seines Sex-Appeals bewusst! Ihre Augen jedoch, und ihr Lächeln jagten den Ball so zielsicher in die Torwand seines Herzens, dass Fox zu keinem Machogehabe mehr fähig war.

„Dann bin ich Lauren Bacall!“, flüsterte sie ihm zu, ergriff seine Hände und zog ihn an sich.

Eine ältliche Passantin erinnerte sich beim Anblick des hemmungslos knutschenden Paares an ihre eigene bewegte Jugend und lächelte. Ein fundamental verbrämter Moralin-Junkie versuchte hingegen unter entsetztem Kopfschütteln, sich mit hektischen Schritten von diesem Ort des Lasters zu entfernen. Der auf einer Bank am Straßenrand sitzende Reporter der Gazette „Jouer Garcon“, der seit Wochen über einem Artikel zum Thema „Erotik im Alltag“ brütete, bedauerte, seine Kamera nicht dabei zu haben.

Der kleine Herr im dunklen, leicht abgewetzten Anzug, der die beiden Verliebten aus einer Seitengasse heraus verstohlen beobachtete, hielt diesen Moment für günstig. Die zwei waren nicht weit von ihrem abgestellten Auto entfernt, würden also bestimmt bald weiter oder zumindest zurück in ihre Pension fahren wollen. Außerdem waren sie abgelenkt – eine ideale Situation, denn die Nachricht sollte nicht zu lange offen an der Windschutzscheibe zu sehen sein. Das wäre gefährlich, vielleicht wurde er ja observiert. Er zögerte einen Moment – falls er tatsächlich beobachtet wurde, brachte er dann mit seiner Aktion nicht zwei Unschuldige in Gefahr? Er blickte sich um, bemühte sich aber, dies so unauffällig wie möglich zu tun. Ein verzweifeltes Lachen blieb zwischen seinen Zähnen hängen: Nach wem sah er sich um? Jeder der Passanten, selbst der Eisverkäufer am Straßenrand, konnte einer seiner Verfolger sein. Er ging weiter, griff in seine Hosentasche und zog den kleinen, leicht angeknitterten Zettel heraus. Ja – er brachte sie in Gefahr, aber es war seine einzige Chance, noch einmal um Hilfe zu bitten oder wenigstens jemanden auf die Sache aufmerksam zu machen. Er erkannte das Auto wieder, das unweit des Internet-Cafés parkte. Um einen lässigen Gang bemüht, schlenderte er daran vorbei, griff im Laufen nach einem der Scheibenwischer, hob ihn kurz an und schob das kleine Stück Papier darunter. Gleichzeitig begann er darum zu beten, dass die anderen ihm noch nicht wieder auf den Fersen waren. Mit forschem Gang verschwand er in einer Seitengasse und verbarg sich hinter einer Telefonzelle. Von dort aus spähte er hinüber zum Parkplatz. Er sah einen jungen Herrn im sportlichen Designeranzug, der sich zielsicher dem Auto des Kommissars näherte.

„Oh nein!“, stöhnte der kleine Mann im Schatten des alten Fernsprechers. Sein Magen schien zusammenzuschrumpeln wie nasses Leder beim Trocknen. Der modebewusste Beau ging an Prancocks Auto vorbei. Die Nachricht hing noch am Scheibenwischer. Der Knittermagen entkrampfte sich ein wenig.

Lautlos und sachte glitten Ilkas Lippen von Fox’ Mund zurück. Das turtelnde Pärchen fuhr Wildheit und Kraft von Umarmung und Streicheleinheiten auf ein gesellschaftsfähiges Maß herunter. Die aufgescheuchten Schmetterlinge in den Bäuchen der Liebenden diskutierten erschöpft über Arbeitszeitverkürzung.

Wortlos hielt ein glücklich grinsender Fox seiner Freundin den Ellenbogen hin. Ilka nahm dankbar an, auch sie hätte ihre Knie nun einer Butterfabrik verkaufen können. Ein aufkeimender Frühlingswind kühlte ihre roten Wangen und mit wolkentretenden Schritten gingen die beiden zu ihrem Auto.

„Da ist ja schon unser rollendes Detektivbüro!“, bemerkte Ilka und auch Fox’ Gedankenwelt driftete langsam wieder in Richtung „Recherchen“.

„Schade, dass dieser Finkenwald offenbar keine eigene Website hat!“, murmelte er in seine Bartstoppeln.

„Stimmt, wir haben nirgends ein Bild von ihm zu sehen bekommen“, pflichtete Ilka ihrem Kommissar bei, „vielleicht hätten wir auf der Homepage eines Verlages nachsehen sollen, bei dem er veröffentlicht.“

„Gute Idee, Kätzchen, beim nächsten Mal!“, sagte Prancock, zog gedankenverloren den Autoschlüssel hervor und sperrte die Fahrertür auf.

„Da hängt was an deinem Scheibenwischer!“, bemerkte Ilka.

„Immer diese Werbefritzen!“, deutete Fox die Situation etwas voreilig. Er zog den Zettel unter dem Wischerblatt hervor und zerknüllte ihn. Ohne das Papier eines weiteren Blickes zu würdigen, warf er es zielsicher in einen städtischen Mülleimer.

„Gute Idee, die Instrumente hier im Stall zu lassen, Jessy. Draußen ziehen Wolken auf!“, bemerkte Jasmin, als sie hereinkam.

Nick hatte seinen Bass bereits gestimmt, Robert spannte die Felle seiner Toms nach und Jessica versuchte ihrem Keyboard passende Sounds für „Dangers for Strangers“ zu entlocken. Der neue Song sollte ein echter Knaller werden. Ohne von den Tasten aufzublicken bemerkte sie: „Außerdem: Wir wollen ja proben. Das Benefiz-Festival steigt erst am Ende der Ferien!“

„Gleichberechtigung gut!“, tönte es da von der Scheunentür. „Nichtmusiker also dürfen herein hier auch, oder?“

Mehmets Dackelblick und Yasemins fröhlichem Zwinkern konnte nicht einmal Jessy widerstehen.

„Kommt schon rein“, sagte sie, „wenn wir anfangen, sind wir eh nicht zu überhören! Dann stürmen unsere Fans und die, die es noch werden wollen, sowieso die Bude!“

Jasmin hatte sich die Gitarre umgehängt und überprüfte die Stimmung. „Alles easy!“, stellte sie fest und klopfte gegen ihr Gesangsmikro.

Ein dumpfer Laut pochte in den Boxen. Jasmin sah auf. „Mensch, Mehmet könnte uns doch abmischen!“, brachte sie ihren Geistesblitz sogleich zu Gehör.

„Ich niemand aufmischen! Gleichberechtigung gut, aber Gewalt scheiße!“

„Abmischen, Mehmet, nicht aufmischen. Wir haben keinen Mixer!“, schaltete sich Jessica ein. Sogleich warf sie Jasmin ein anerkennendes und Mehmet ein aufmunterndes Lächeln zu.

„Ich auch mit Hand rühren!“, fuhr Mehmet fort, grinste aber so breit, dass der Band jetzt klar wurde, wie ihr kurdischer Freund sie auf den Arm nahm.

„Wenn du mir jetzt auch noch erzählen willst, ein Tontechniker hätte was mit Keramik zu tun, wäre ich fast von deinem Pennerhirn überzeugt, Mann!“, zog Jessy nun ihrerseits den frisch gebackenen Bandmischer auf.

Der spielte nach dem Unwissenden nun den Beleidigten: „Ich kein Pennerhirn, mein Hirn ein Renner!“

„Quatsch nicht lang herum, Mehmet, ab ans Pult!“, meldete sich nun Yasemin zu Wort.

„Gleichberechtigung gut“, seufzte Mehmet, als er hinter dem Mischpult Platz nahm, „aber ist Gleichberechtigung, dass Frauen andauernd herumkommandieren uns Männer?“

Allgemeines Grinsen war die Antwort, die ihm entgegenschlug. Lediglich Nick blickte nach wie vor unbeteiligt auf die Regler seines Instruments. Robert trat hinter dem Drumkit hervor, ging zu Mehmet und gab ihm eine kurze Einweisung in die Kunst des Soundmixings.

Fünf Minuten später spielte die Band den Song an. Jasmin hatte das Lied komponiert und begann nun sehr zart und gefühlvoll von ausländischen Freunden zu singen. Nach einem Break sollte das Stück dann umschwenken zum Thema „Rassenhass“. Für diesen Teil der Komposition hatte Jassy angedacht, dass Melodie und Begleitung ungleich härter und aggressiver werden sollten und die Dynamik sich steigern würde. Nach der ersten heavy gespielten Strophe unterbrach Robert mit einem Tusch auf den Becken den Song.

„Moment mal“, warf er ein, „jetzt kommen noch drei Strophen, der Refrain sogar noch achtmal. Das dümpelt irgendwann nur noch so dahin.“

Jasmin schluckte. Sie versuchte, sich den Unmut über diese Kritik nicht anmerken zu lassen. „Und was schlägst du vor?“

„Ein Solo würde das Ganze auflockern und die Steigerung betonen!“

„Dann spiel doch eins!“, meinte Jessy lakonisch.

„Sehr witzig“, gab Robert an seine Freundin zurück, „so weit bin ich vielleicht in fünf Jahren. Aber du könntest die Melodie noch mal instrumental durchziehen.“

„Dadurch wird sie auch nicht besser!“, mischte sich Nick ungewohnt destruktiv ein. Ein wütender Seitenblick von Jasmin war die Folge.

„Außerdem bringt das auch keinen Kick!“, stellte Jessy fest. „Ist ja auch nur ’ne Wiederholung! Da könnte Jassy gleich weitersingen.“

„Wenn euch mein Gesang nicht passt, kann ich ja gehen!“, fauchte diese und konnte ihre Wut jetzt nicht mehr zurückhalten.

„Ganz cool bleiben, Jassy“, schaltete Robert auf Versöhnung, „aber wir haben ein Problem: Jessys Keyboard als einziges Melodie-Instrument nutzt sich auf Dauer ab. Kannst du nicht vielleicht mal ’n Gitarrensolo kreieren?“

Jasmin atmete resigniert aus, zuckte mit den Schultern und sagte leise: „Die Chancen dafür stehen so günstig wie für deinen Egotrip auf den Drums, Robby!“

Schweigend standen und saßen die vier Musiker auf der kleinen improvisierten Bühne. Der Dunst ihrer ersten künstlerischen Krise breitete sich unbarmherzig im Raum aus. Jasmin spürte Wut, Angst und Verzweiflung in der Magengegend kribbeln. Die Kloßfabrikation im Hals war in vollem Gange und Tränen brannten ihr in den Augen. Die Band war ihr wichtiger als alle anderen Hobbys. In ihren Songs konnte Jasmin manchmal mehr ausdrücken als in einem Face-to-Face-Gespräch. Sie wollte eben zu einer Grundsatzrede ansetzen, wie viel ihr die Gruppe wert war, da spürte sie, wie sie sanft zur Seite gedrängt wurde.

„Yasemin, was hast du ...?“, hob Jassy an, aber das kurdische Mädchen fragte nur: „Habt ihr noch ’nen Anschluss frei?“

Erst jetzt bemerkte Jasmin das birnenförmige Instrument, das Yasemin in der Hand hielt.

„He, Mann, ’ne Bouzouki!“, stellte Robert fest.

„Quatsch mit Soße“, korrigierte ihn Jessica, „das ist ’ne Saz! Ist total verbreitet in der türkischen Musik!“

„Und erst recht in der kurdischen!“, fügte Yasemin hinzu, griff sich ein herumliegendes Kabel und schloss kurzerhand ihren Tonabnehmer an.

„Gib Saft auf Kanal 9!“, wies Robert Mehmet an. Ohne weitere Absprachen spielte er den Schlagzeugbreak, der „Dangers for Strangers“ üblicherweise eröffnete. Jasmin setzte mit dem Gitarrenvorspiel ein, und als Bass und Keyboards den Harmonieteppich ergänzten, begann sie zu singen: „This song’s for you, Alina – I’ll never forget your loving smile ...“

Yasemin lauschte, saugte Melodie und Harmonik in sich auf. Im Geist glitten ihre Finger bereits über die Seiten der Saz, lauerten auf ihren Einsatz – jenen Part, der immerhin so entscheidend war, dass er fast die Gruppe auseinandergesprengt hätte.

„Sometimes I see the traces of her tears ...“

Yasemin verstand nicht alle Worte, aber in Jasmins Stimme und der Melodie fühlte sie eine Energie, die sie in ihre Finger übertragen wollte.

„She can’t forget her home, the friends she left behind …”

Diese Textzeile berührte Yasemin zutiefst. Und da waren sie wieder: ihr Vater, ihre Mutter, Freunde und Freundinnen von damals.

„When will she ever have a home?“

Trotz der Erinnerungen ging Yasemin in der Musik auf und schließlich kam er: der Break, an dem sie einsetzen musste. Punktgenau erklangen die ersten Töne, zunächst noch zart, fügten sich in die europäisch-poppige Harmonik ein, nahmen Elemente der Melodie auf. Dieser erste Durchgang des Schemas war sanft und zurückhaltend gespielt, wie die Strophen zuvor.

Die Melodie schrieb Yasemin mit ihren Fingern auf die Bünde und Saiten ihrer Saz. Die Töne, die aus den Boxen klangen, trafen sie plötzlich und unerwartet mitten ins Herz. Wieder durchfluteten Bilder das Mädchen: die Erinnerung, wie der Vater ihre noch kleinen Finger auf die Saiten einer Saz legte und ihr zeigte, wie sie das Instrument halten musste. Dieses Lächeln würde sie nie vergessen und auch nicht den stolzen Blick ihrer Mutter, als sie erste Kinderlieder begleiten konnte.

Robert legte eine härtere Gangart ein, Jessica wechselte zu einem etwas schrilleren Sound, Jasmin zupfte die Gitarre nicht mehr, sondern ging zu einem treibenderen Schlagrhythmus über, Nicks Bass spielte nun Achtel- statt Viertelnoten.

Yasemin ließ die Töne einfach in ihre Finger gleiten. Orientalisch anmutende Verzierungen bereicherten jetzt den Rocksound. Das Tempo wurde angezogen. Auch die Bilder veränderten sich: Harmonische Szenen aus der Familie und vom Spiel mit anderen Kindern wurden weggewischt wie Kreidekritzeleien auf einer Schultafel. Ein Crescendo von Becken und Toms öffnete ein dunkleres Erinnerungsalbum – Flucht! Vater und Mutter bleiben zurück. Angst, Kälte. Das Geschaukel des Lastwagens. Wieder Angst, Panik, endlose Trauer. Ihr Plektrum strich nicht mehr über die Saiten, es schlug sie hart an, riss fast an ihnen.

Jessica erweiterte ihre Grundharmonien um die Töne, die Yasemin in die Melodie eingeflochten hatte. Die Saz sang laut und ohne Worte von Verzweiflung, Furcht und Abscheu.

Widerwärtige Szenen überschlugen sich in Yasemins Kopf: „Du willst doch sicher nicht, dass ich die Polizei rufe, Mädchen? Die würden dich bestimmt nach Hause bringen. Aber sieh mal: Mein kleiner Freund braucht dich und du brauchst mich.“ Sie erinnerte sich an alkoholgedünsteten Schweiß, hatte den unerträglichen Geschmack schleimigen Ejakulats auf der Zunge, spürte die groben, pratzenhaften Hände auf ihrem Hinterkopf, die ihr Gesicht wieder und wieder in den stinkenden Schoß des Alten drückten.

Eine dunkle Harmonie schlich sich in das aggressive Solo – damals hatte Yasemin sich gewünscht, zu sterben. Als der Widerling dann abspritzte, wollte sie, dass er starb.

Ihr Puls passte sich dem rasenden Beat des Schlagzeugs an. Die Vergangenheit tobte in ihr, schien aus allen Poren herauszudringen. Diese Spannung wurde für Yasemin auch körperlich immer unerträglicher. Ja – sein Griff hatte sich gelockert, sie hatte sich losreißen können, ihm sein eigenes Sperma ins Gesicht gespuckt. Danach gab es nur noch eins: rennen!

Jessica hämmerte einen Gegentakt zu dem alles beherrschenden Beat. Robert trieb die Rhythmik unbarmherzig voran. Yasemins Greifhand wechselte in die höchsten Lagen des Griffbretts, Mehmet schaltete einen Effekt zu und verwandelte den Klang der Saz so in den Sound einer Heavy-Metal-Screamer-Gitarre.

Die Töne erzählten eine Geschichte, brutal und schnörkelllos. Im Zentrum der Story stand zweifellos Yasemin selbst.

Fliehen war alles, was ihr noch geblieben war: rennen, davonlaufen. Immer wieder irgendwelchen Menschen vertrauen müssen, ohne eine Wahl zu haben. Sich verstecken lassen. Wieder und wieder. Viele nette, liebe und liebevolle Gesichter. Viel Aufmunterung hatte sie erfahren, aber auch ausgeliefert sein, Schläge und Vergewaltigung. Spüren, dass man nur ein Wegwerfprodukt war, etwas, das jeder wie benutztes Klopapier einfach aus seinem Leben spülen konnte. All das hatte sie durchlebt und gefühlt. Und sie glaubte nicht, dass diese Zerrissenheit je enden würde. Nicht für sie.

Die treibende Energie des Schlagzeugs, das Hämmern des Keyboards, das Wummern des Basses und der unbarmherzige Drive der Gitarre waren nicht mehr um sie herum: Alles war in ihr, sie war in allem. Sie drohte zu fallen, in einen endlosen Strudel aus Abschaum und Erniedrigung. Verschlungen von einem Fisch, der sie überall auskotzen konnte, wo er nur wollte. Und kein Ort der Welt würde je ihr Zuhause sein. So etwas würde sie niemals haben, wohin sie auch kam. Es würde immer nur eines geben: rennen, davonlaufen, fliehen. Der Sog der lauten, die Schmerzgrenze überschreitenden Klänge zog sie hinunter, tiefer und tiefer: Die Luft wurde knapp, ihr Herz pochte wild. Bass und Schlagzeug droschen auf ihre Wut, ihren Ekel, ihre Angst ein. Die letzten Reste von Hoffnung, die sie noch in sich trug, wurden unablässig von den heavy Sounds verprügelt, die Bilder der Erinnerung aus ihren Rahmen gefetzt. Alles bewegte sich auf einen einzigen letzten Ton zu, einen unermesslich hohen, schreienden, klagenden Laut. Gleichzeitig mit dem finalen Break der Band spielte Yasemin das höchste „G“, das ihre Saz hergab.

Johlender Beifall wäre das Mindeste gewesen, was der Intensität dieses Solos gerecht hätte werden können, doch bleiern legte sich Schweigen über die Szenerie. Die Musiker starrten das Mädchen fassungslos an, das zitternd und tränenüberströmt in ihrer Mitte stand. Wie ein kleines Kind seine Puppe, presste sich Yasemin ihre Saz an die Brust.

„Ich geh kurz hoch und mach mich frisch! Bestell mir doch bitte ein Wasser!“, flötete Ilka und war bereits in der Pension verschwunden. Prancock musterte nochmals skeptisch den Himmel: Solange kein Schamane die Wolken über dem „Joli Bois“ zum Abregnen bringen würde, wären die Chancen für eine gemütliche „Tea Time“ im Freien nicht mal so übel. Nur sehr vereinzelt saßen Gäste an den Gartentischen, tranken „Café au“ oder auch „sans Lait“, bearbeiteten verführerisch aussehende Kuchen und Tortenstücke mit edlen Gabeln oder schienen darauf zu warten, dass die Frühsommersonne ihr Aqua minerale verdampfte. Prancock suchte einen etwas abgelegenen Zweiertisch unweit einer friedlich dahinmodernden Gartenlaube. Er zog die Stühle hervor und setzte sich. Einige Sonnenstrahlen kitzelten ihn am Arm, ein schwaches Lüftchen regte sich, was man vom Personal allerdings nicht behaupten konnte. Musste man etwa an der Rezeption bestellen?

„Monsieur?“ Wie aus dem Nichts ertönte eine Stimme hinter Prancock. Dieser fuhr erschrocken hoch und sah sich um: Da stand ein Ober, der direkt aus der Gartenlaube herausgetreten war, die wohl auch als Lager diente. Der Kommissar hatte nur den Haupteingang des „Joli Bois“ observiert. Nach dem Schreck schnaufte er erst mal durch.

„Ein Wasser und einen schwarzen Tee, s’il vous plait!“, murmelte Fox verlegen.

„Kuchen?“, hakte der Kellner nach.

„Haben Sie eine Karte?“

„Na klar!“ Der Ober wandte sich zum Gehen, blickte in Richtung Rezeptionseingang, machte wieder kehrt und trat dicht an Prancocks Tisch.

„Monsieur?“, fragte er noch einmal, und bemühte sich dabei um Unauffälligkeit.

„Ja, was denn noch?“, fragte der Kommissar zurück. Er hatte die Wartezeit für ein Minutennickerchen nutzen wollen. Erst jetzt sah er dem Kellner ins Gesicht und erkannte ihn wieder: Es war der Servierer vom Vorabend, der sich so bedeckt gehalten hatte, was Ilkas flirtintensive Nachfrage betraf.

„Monsieur, gestern konnte ich nicht ganz frei sprechen, Sie wissen schon ...“ – er wies mit einer Handbewegung schnell in Richtung Eingang – „unser Chef wacht wie ein Höllenhund und Diskretion ist seine Bibel!“

„Wären ,Die satanischen Verse’ bei einem Zerberus nicht angebrachter?“, schweiften Fox’ Gedanken ab, aber seine Neugier erwachte. Er fokussierte seine Aufmerksamkeit sogleich wieder auf den jungen Mann.

„Sie haben nach diesem Engländer gefragt. Er fiel mir sofort auf, weil er einen deutschen Namen hatte, nicht etwa Smith oder Wesson ...“

„... sondern ,Finkenwald‘!“, ergänzte Fox die Ausführungen des Mannes prosaisch.

„Sie wissen?“, fragte der Ober. Er zog eine Schnute, als hätte ihn die Millionenfrage in einem Fernsehquiz völlig kalt erwischt

„Nur den Namen“, winkte Prancock schnell ab, „sonst nichts. Warum ist er Ihnen noch aufgefallen?“

„Nun“, sammelte sich der Servierer. Er starrte auf seine Finger, die versuchten, einen Knoten in die nächstbeste Serviette zu falten, „ich glaube, er hatte Angst.“

„Angst? Wovor denn? Vor dem Höllenhund?“

„Keine Scherze, Monsieur! Dieser Finkenwald hatte Angst. Wovor, weiß ich auch nicht, aber eines war auffällig!“

„Und was?“ Fox wurde ungeduldig und senkte die Stimme. Er sah, wie sich feine feuchte Perlen auf der Stirn des jungen Franzosen bildeten. Scheu sah der Kellner sich um und beugte sich noch weiter zu Fox hinunter. Dieser konnte nun sogar das dezente Aftershave des Obers riechen.

„Am Abend, bevor Finkenwald abreiste, war Monsieur Nocturne hier angereist ...“

„Welch düsterer Name!“, witzelte Prancock, aber der Ober legte den Zeigefinger an die Lippen. Dann ging er wiederum näher an Fox heran und flüsterte: „Monsieur Nocturne sitzt zwei Tische weiter!“

Prancocks Blick presste sich durch seine Augenwinkel und streifte einen Mann von drahtiger, sportlicher Figur, in einen eleganten Designeranzug gehüllt. Er war scheinbar in die Lektüre der „France Soir“ vertieft.

„Okay, Nocturne checkt ein – und was war dann?“

„Ich habe gesehen, wie Finkenwald beim Abendessen Nocturne einige Tische neben sich sitzen sah. Er erbleichte richtiggehend und gab die Speisekarte zurück. Schließlich bestellte er nur ein Wasser, das er dann mit auf sein Zimmer nahm. Er erschien nicht beim Frühstück. Zum Mittagessen kam er so spät, dass wir ihm fast nichts mehr serviert hätten – er hatte gewartet, bis Nocturne nicht mehr im Speisesaal war. Dann sah er Sie und Ihre Freundin und voilà – räumte er sein Zimmer!“

„Merkwürdig“, sinnierte Fox, „ich habe nie zuvor von ihm gehört. Meinen Sie, er hat mich irgendwie ... erkannt?“

„Ich denke schon! Vielleicht war es ja auch nur Ihr englischer Akzent oder Ihre bezaubernde ... äh, Verlobte! Wenn ich es recht bedenke, glaube ich, er hat Sie erkannt, ja!“

Beide schwiegen. Es war klar, dass sie das Gespräch langsam beenden mussten, wenn sie nicht auffallen wollten.

„Eine Frage noch“, wagte Fox einen letzten Vorstoß, „war sonst noch etwas auffällig an Finkenwald?“

„Oui“, die Sprache des Obers nahm nun einen höchst unheilschwangeren Ton an, „er erkundigte sich immer nach der alten Violon-Mühle.“

„Violon-was?“, wollte Prancock noch wissen, aber er erkannte das gehetzte „Game over“ im Blick des jungen Kellners.

Vom Nebentisch ertönte, wie ein Schlussgong, der Ruf „Garçon!“.

„Gut“, intervenierte Prancock laut und leutselig, „zweimal Kirschtorte ,Foret Noir‘ bitte!“, und klatschte auffordernd in die Hände wie ein Sklaventreiber aus der Kolonialzeit. Das brachte ihm umgehend peinlich berührte Blicke weiterer Gartengäste ein.

Geraume Zeit später kamen Getränke und Kuchen, noch etwas später erschien Ilka. Sie erblickte die Torte und setzte sich, die Augen rollend, zu Fox.

„Gut“, sagte sie mit einer Mischung aus Walrossschnauben und ,Frau Antje‘-Lächeln, „jetzt sind wir quitt!“

„Warum?“, fragte Fox mit seiner berühmten Unschuldsmiene. Sie war ein echtes Paradestück, wegen dem man ihn ohne Intervention von „Amnesty International“ selbst beim jüngsten Gericht einfach durchwinken würde.

„Du hasst Hummer, ich kann Schwarzwälder Kirsch nicht ausstehen!“

„Kein Problem“, ereiferte sich Fox fröhlich, „ich erlöse dich!“ Und als er sich über die zwei großen Stücke Torte hermachte, sinnierte er, ob er Ilka von den neuesten Erkenntnissen berichten sollte. Mit einem Seitenblick auf Nocturne, der sich seit Stunden derselben Seite seiner Zeitung zu widmen schien, beschloss er allerdings, das zu vertagen.

Die Tränen waren getrocknet, aber ihre Spuren brannten noch auf den Wangen. Auch das Schluchzen war verklungen, Yasemin spürte noch ein Kratzen im Hals. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich selbst schelten. Warum konnten diese Wunden nicht einfach heilen. Wieso vernarbten sie nur, eitrig nässend und schorfverkrustet, um immer wieder aufzubrechen? Ein leichter Hauch spätnachmittäglichen Windes kühlte ihr Gesicht, strich über ihre schweren Lider. Sie zog den Duft des sich verabschiedenden Frühjahrs ein, füllte ihre Lungen mit dem Versprechen eines Sommers, bald ganz hier Halt zu machen. Yasemin schloss die Augen, lehnte sich an die Scheunenwand, spürte das alte Holz durch ihr Shirt und bemühte sich, wieder regelmäßig zu atmen. Ihr Herz hatte die Trance-Beat-Party im Hals eingestellt und eine neue Angst klopfte zaghaft an: Hatte sie Jasmin, Nick, Robert, Jessica und auch Mehmet vor den Kopf gestoßen? Als der letzte Beckenschlag des Drumkit verklungen war und sie sich, in Tränen aufgelöst, an ihre Saz geklammert hatte, war nach einer Ewigkeit schweigender Beklommenheit Jasmin an sie herangetreten. Das Mädchen hatte sie vorsichtig am Arm genommen und sie etwas fragen wollen. Jassys besorgter Blick war Yasemin wie eine Alarmsirene erschienen: Sie kannte diese Blicke, die Fragen, die sie nach sich zogen: „Willst du darüber reden?“, oder: „Können wir dir irgendwie helfen?“

Wie oft hatte sie diese heuchlerischen Betroffenheitsfloskeln schon gehört? Wie oft hatte sie schon ihre Ängste nach außen gekehrt, nur um zu erleben, wie sie dann in Kehrichteimer gefegt wurden: „Ich kann dich gut verstehen!“

Wie sollte Yasemin das glauben? Hatten diese Sozialpädagogen, Behördentussis und Verwaltungsbeamten, die Polizisten, Anwälte und Richter auch solche Erfahrungen hinter sich? Waren sie jemals verfolgt, war die Existenz von Menschen, die sie liebten, einfach ausgelöscht worden? Waren sie jemals auf der Flucht gewesen, hatten um ihr Leben gezittert, waren wehrlos einem Vertrauensvorschuss ausgesetzt gegenüber Menschen, die einen verstecken konnten? Ein Vertrauen, das Freundschaft, aber auch Missbrauch, Verrat oder Verhaftung bedeuten konnte. Kannte irgendwer dieser betroffen blickenden Berufsseufzer das Gefühl, anderen ausgeliefert zu sein, jeden Tag aufs Neue um seine Freiheit zu bangen oder gar zu flehen? Gnade im Angesicht eines gnadenlosen Asylgesetzes bedeutete, zu leben, ohne ein Gesicht zu haben. Nirgends konnte Yasemin es wirklich zeigen, ohne die Angst zu spüren, jemand könnte sie den Behörden ausliefern, sie erpressen. Und alle Furcht, die sie in Worte gefasst hatte, war stets abgetan worden mit Achselzucken oder Sätzen wie: „Tut mir leid, aber da kann ich dir leider nicht helfen, laut Gesetz ...“ Gesetz, Gesetz, Gesetz! Die Vertreter irgendeines Gesetzes hatten sie zur Flucht gezwungen, ihr die Eltern geraubt, und die Gesetze ihres erhofften Zufluchtsortes hatten sie wiederum zu Freiwild gemacht, als Lügnerin diffamiert und die letzte Hoffnung auf so etwas wie ein „Zuhause“ zusammen mit dem Asylantrag das Klo runtergespült.

Und dann war da dieser Blick von Jasmin, die sie am Arm berührte und besorgt guckte. Aber die konnte doch auch nichts für sie tun als wieder bloß reden, reden, reden! Guter Wille und Mitleid – was brachte ihr das schon.

Mit einem heftigen Ruck hatte sich Yasemin von Jassy losgerissen, als hätte diese sie mit dem Polizeigriff festgehalten. „Deinen Sozialarbeiterquatsch kannst du dir sparen!“, hatte die Weinende gezischt und war, noch immer die Saz im Arm, aus der Scheune gelaufen.

Jessica war aufgesprungen, um ihr nachzulaufen, aber Mehmet hatte ihr zu- oder vielmehr abgewunken: „Lass sein! Yasemin braucht jetzt Zeit! Reden sinnlos gerade!“

Yasemin war einmal um die Stallungen herumgelaufen, bis zu der Scheune nahe am Waldrand. Sie hatte die Saz neben sich gestellt und sich angelehnt. Die Wand verströmte den unverkennbaren Duft wurmstichigen Alters.

Da war sie ja: diese Hexe, die ihm um ein Haar das Auge verbrannt hatte! Sie stand nicht einmal zehn Schritte von ihm entfernt, lehnte an einer alten Scheune und heulte. Jetzt nur nicht schneller reden als denken – nein, gar nicht reden. Wäre das nicht die Gelegenheit, es dieser Schlampe zu zeigen?

„Beobachten“, hatte der Chef angeordnet, „aus einem anderen Blickwinkel! Wir müssen wissen, wie wir bei der Ausführung von Plan zwei am besten vorgehen!“

Kein Wort von „töten“, aber was, wenn diese abstoßende Kreatur ihn entdeckt hätte? „Dann müsste ich ...“, flüsterte er, biss sich aber fast dabei in die Zunge. Es schmerzte – und daran war nur sie schuld, diese flennende Rotzgöre. „Dann wäre ich gezwungen ... Ja, genau: gezwungen“, das war es! Dagegen könnte der Chef nichts haben! „Gezwungen“, wisperte er und ein Speichelfaden verfing sich im Gestrüpp vor ihm. Nicht einmal zehn Schritte! Sie würde ihn erst im letzten Moment sehen, dann würde er sie packen, seine Hände um ihren Hals legen und schneller zudrücken, als sie schreien konnte. Wenn ihre Augen dann hervorträten, würde er lachen. Leise natürlich, damit die anderen es nicht hörten. Jedenfalls sollte das das Letzte sein, was diese Türkenhexe in ihrem Drecksleben sehen sollte: sein lachendes Gesicht! Darum bemüht, keinen Laut zu erzeugen, richtete er sich auf. Sein Blick war starr zu dem heulenden Etwas gewandt, das noch gar nicht wusste, wie viel Grund es für sein Gerotze hatte.

Yasemin schrak zusammen, als sie die Hand spürte. Entsetzt riss sie den Kopf hoch und sah jemanden an ihrer Seite.

„Nick!“, stieß sie, gleichermaßen vorwurfsvoll und erleichtert, hervor.

„Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe!“

Obwohl genügend Platz war – sie hatten eine ganze Scheunenwand für sich – rückte Yasemin demonstrativ etwas zur Seite. Nick lehnte sich ebenso an das alte Holz, wie das Mädchen es tat, zog ein Päckchen Tabak hervor und schien meditativ in das Drehen einer Zigarette zu versinken. Yasemin war ihm dankbar dafür, dass er einfach gar nichts sagte. Sicher, das musste natürlich nichts heißen, aber dass er ihr Zeit gab und sie nicht zum Reagieren zwang, war für sie ein Geschenk.

„Verdammt noch mal!“ Hatte er das nun von sich gegeben oder nur gedacht?

Egal, jedenfalls hatte er sich so sehr auf diese stinkende Töle konzentriert, dass er nicht bemerkt hatte, wie der Junge von den Stallungen herübergekommen war. Er duckte sich, versuchte seine vor Erregung zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. Es knirschte und knackte, als er wieder in die Hocke ging – sollte er fliehen? Er hielt die Luft an und starrte zu dem schweigenden Paar hinüber: Sie schienen nur mit sich selbst beschäftigt zu sein, würdigten das Gebüsch keines Blickes, was heißen musste, dass sie ihn nicht entdeckt hatten.

„Möchtest du?“, durchbrach Nick die Stille. Er hielt Yasemin eine seiner unverwechselbar schiefen Zigaretten hin. Yasemin schüttelte nur kurz den Kopf, kaum sichtbar, aber Nick nahm es wahr. Er steckte das abenteuerliche Gebilde aus Tabak und Papier in seinen eigenen Mund. Lässig zündete er es an, inhalierte lange und ließ den Blick über die Landschaft schweifen, als sähe er sie zum ersten Mal. Yasemin wusste natürlich nicht, dass Nick einige Jahre seiner Kindheit hier verbracht hatte und sein Blick eher zu Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ passte: ein Rückblick auf vergangene Jahre, im Bewusstsein, sich noch einmal einer großen Herausforderung zu stellen. Plötzlich fühlte sich der Junge wie der greise Fischer. Nick fand den Gedanken so komisch, dass er sich fast am eigenen blauen Dunst verschluckte. Er hustete eine Rauchwolke aus. Ein zaghaftes, fast schüchternes Klopfen auf den Rücken half dem gequält vorgebeugten Jungen, den Hustenreiz zu vertreiben. Als er wieder durchatmen konnte, lehnte er sich an die Wand. Dabei erhaschte er einen Blick auf Yasemins Gesicht. Eigentlich hatte er sich gesträubt, ihr in die Augen zu sehen, aber dem Spiel ihrer Mundwinkel konnte er sich nicht entziehen.

„Jetzt siehst du aus, als hättest du auch geheult!“, stellte Yasemin trocken fest. Sie reichte Nick ein Papiertaschentuch.

„Moment mal, das wäre mein Job gewesen!“, keuchte dieser und schien tatsächlich peinlich berührt zu sein.

„Gleichberechtigung gut, würde Mehmet jetzt sagen!“, flüsterte das Mädchen.

Nick stellte erleichtert fest, dass sich aus ihrer trauernden Gestalt wieder jene Yasemin schälte, die für jeden Scherz zu haben war. Oder mit ihren flotten Sprüchen alle zum Lachen brachte und es spielend schaffte, jedem die Show zu stehlen. Und das, ohne dass der Bestohlene wirklich böse auf sie sein konnte.

Wieder schwiegen sie für einige Sekunden. Yasemin packte einen Kaugummi aus, steckte ihn in den Mund und begann schon nach wenigen Augenblicken mit ihrer Blasenproduktion.

„Das war vorhin echt der Wahnsinn!“, fing Nick an, doch ein fragender Blick von Yasemin ließ ihn innehalten. „Na, dein Solo! Du bist genau die Musikerin, die uns fehlt! Willst du nicht bei uns einsteigen?“

Yasemin erstarrte. Ihr Lächeln schien nun leblos, als habe es ein dilettantischer Skulpteur in Stein gemeißelt. Sie spuckte den Kaugummi ins Gras und sah zu Boden, als suche sie einen Souffleur.

Nicks Herz begann wild gegen den Adamsapfel zu trommeln. Irgendetwas lief hier schief, aber er konnte nicht sagen, was.

„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Yasemin.

Ihre Stimme erzeugte in seinem Magen den Nachgeschmack konservierter Traurigkeit.

„Ich bin illegal hier, Nick. Soll ich immer mit Gesichtsmaske auftreten? Als wen stellt ihr mich vor? – ,An der Saz: das Gespenst aus dem wilden Kurdistan‘?“

Yasemin hielt inne. Die Musik war ihr Ein und Alles. Dabei wusste sie noch nicht einmal, wo ihre Virtuosität herrührte. Ihre Fingerfertigkeit war antrainiert, klar, aber es war die Seele ihrer Melodien, die jeden Zuhörer stets anrührte. Sie schloss die Augen: Ihre flinken Finger erzählten nur Yasemins eigene Geschichte. Sie benutzten das Griffbrett der Saz eher wie eine Schreibmaschine und fanden so Wörter und Sätze, die kein Songtext, kein Gedicht oder Roman treffender zum Ausdruck bringen konnte.

Nick, der eher ein Künstler der Worte war, verspürte das dringende Bedürfnis, seine Betroffenheit darzulegen, seine Sprachlosigkeit in Prosa zu verwandeln. Angesichts der bedrückenden Wirklichkeit des Wortes „illegal“ verbot sich aber jegliche Blumigkeit: Das hier war kein Schwarz-Weiß-Film, den man mit einem Computerprogramm bonbonfarben nachkolorieren konnte. Dies war trübe, graue Realität. Performance, die keine Show werden konnte oder gar durfte.

Beide lehnten noch eine Weile schweigend an der Scheunenwand. Sie vermieden es tunlichst, sich gegenseitig anzusehen und damit Worte herauszufordern. Eine Zeit lang hätte man die zwei für Standbilder halten können, die allerdings bald von einigen herabrieselnden Regentropfen zum Leben erweckt wurden.

Der plötzlich hereinbrechende Sturm hatte das „Joli Bois“ im Nu in ein „Triste Bois“ verzaubert. Die Gäste, die im Garten gesessen hatten, hatten ihr Heil in der Flucht Richtung Lounge gesucht. Ein tropfender Fox und eine triefende Ilka standen ebenfalls in dem dampfenden Speisesaal. Ihre langen Gesichter waren wie Abziehbilder des Mienenspiels aller anderen Gäste, die dem Schauspiel aus Wind und Wasser durch regenverhangene Scheiben zusahen.

Lediglich Monsieur Nocturne stand nicht am Fenster, sondern hatte sich an einem der Tische niedergelassen. Er schien sich erneut in die Lektüre seiner Zeitung zu vertiefen, wobei ihm das Umblättern der durchweichten und somit verklebten Seiten schwerfiel.

„Na, na“, dachte Fox, „ist das Käseblatt wirklich so interessant oder schirmst du dich bloß ab, Junge? Oder observierst du wie der selige Sherlock Holmes durch ein Loch im Papier?“

Ilka strich sich gedankenverloren Wasser aus den Haaren. Plötzlich hielt sie inne. Ihr Blick war auf die kleine Bedarfsgarderobe gefallen. Sie stutzte und stieß Fox sachte an.

„Was gibt’s, Kätzchen?“, wandte der sich von Nocturne ab.

„Schau mal, was da an dem Kleiderhaken hängt!“, flüsterte Ilka Prancock zu. Sie war so offensichtlich um Unauffälligkeit bemüht, dass einige der herumstehenden Gäste ihr und Prancock neugierige Blicke zuwarfen.

„He, ist das mein Trench?“, flüsterte Fox zurück. Er war leicht verwirrt und hatte keinen blassen Schimmer, was seine Freundin ihm mitteilen wollte.

„Quatsch“, gab diese leise zur Antwort, „da würde nicht mal dein Bauch reinpassen ...“

Fox konnte es sich angesichts dieser Frechheit nicht verkneifen, Ilka mit dem vernichtendsten seiner Blicke zu bedenken. Diesen setzte er ansonsten höchstens bei der Verhaftung von Serienmördern ein.

Sie fuhr allerdings unbeirrt fort: „Der hängt schon seit gestern unverändert da. Genauer gesagt, seit wir angekommen sind!“

Der große Kriminalist wollte natürlich sofort auf die geringe Bedeutsamkeit einer solchen Beobachtung hinweisen. Er begann sich, soweit seine Undercover-Mentalität das zuließ, in Pose zu stellen. Doch noch bevor er loslegen konnte, rastete der von Ilka noch nicht einmal ausgesprochene Rückschluss mit einem „klick“ in seinem Secondhand-Stasi-Equipment ein: Ein Trenchcoat, der seine schlampige Aufhängung seit fast vierundzwanzig Stunden aufrechterhielt? In einer Bedarfsgarderobe? Das musste zwar nicht, konnte aber sehr wohl auf einen Gast hindeuten, der überstürzt aufgebrochen war – ja, das roch schon fast nach Panik! Denn wäre er einfach die ganze Zeit in der Pension geblieben, hätte er seinen Mantel bestimmt eher im Zimmerschrank gelassen.

„Glückwunsch, Kätzchen! Gut erkannt – nur: Was stellen wir jetzt damit an?“

Das Interesse der anderen Gäste war erloschen, sodass das allgemeine Gemurmel eine gute Tarnung für das Geflüster der beiden war.

„Wart nur ab!“, sagte Ilka und hakte sich von Prancocks Arm los. Dann zwängte sie sich zwischen feuchten Menschen durch den dunstigen Raum zur Garderobe, nahm die Jacke kurzerhand vom Haken und schlüpfte hinein. Fox sah Ilka bewundernd nach. Es entging ihm allerdings auch nicht, dass Nocturne kurzzeitig das Interesse an den Schlagzeilen der Weltpresse verloren hatte und die Reporterin anstarrte.

„He, der lässt ja fast die Maske fallen!“, stutzte Prancock, verscheuchte den Gedanken aber sofort wieder.

Ilka setzte mittlerweile ein erstauntes Gesicht auf, sah demonstrativ auf das Firmenetikett des Trench und murmelte in bester Daily-Soap-Manier: „Oh, das ist ja gar nicht meiner!“ Sofort zog sie das Kleidungsstück wieder aus und hängte es an den Haken zurück, allerdings ungleich ordentlicher als zuvor. Nocturne blätterte weiter zu den Aktienberichten und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Dow Jones.

Ilka war zu Prancock zurückgekommen und zupfte ihn beiläufig am Ärmel. Fox verstand. Einen Augenblick lang taten sie noch so, als sei der mittlerweile nachlassende Regen das Interessanteste seit der Erfindung des Tamagotchi. Dann zogen sie sich auf ihr Zimmer zurück. Einem diensteifrigen Reflex folgend schloss Fox hinter ihnen ab.

„Puh“, prustete Ilka heraus und ließ sich rücklings auf das Bett fallen, „so sehr hab ich schon lang nicht mehr Blut und Wasser geschwitzt!“

„Nur wegen der Marke des Trenchcoats?“, fragte Fox.

Gut, Ilka hatte das Kragenetikett der mysteriösen Jacke studiert. Das bedeutete, sie wusste nun, bei welcher Temperatur sie zu waschen war, sie kannte die Größe und den Hersteller. Falls ein Namensschild eingenäht war, hatte sie vielleicht erkannt, ob das Kleidungsstück Finkenwald gehörte oder auch nicht – aber weshalb „Blut und Wasser schwitzen“? Von Nocturne wusste sie noch nichts, also dürfte ihr dessen plötzliche Aufmerksamkeit entgangen sein.

Ilka lupfte kurz ihr T-Shirt und zog etwas aus ihrem Hosenbund. Triumphierend hielt sie es Fox hin.

„Sie mal, was ich in der Brusttasche entdeckt habe!“

Fassungslos starrte Fox auf die Brieftasche, die ihm seine Freundin da präsentierte.

„Mylady, ich muss Sie leider wegen Taschendiebstahls festnehmen!“, frotzelte er.

„Na, na, Sie sind doch gar nicht im Dienst, Herr Kommissar!“ Sie spielte die Femme fatale – eine ihrer Glanznummern, wenn Fox und sie sich zankten. Damit versetzte sie die Hormone des Polizisten mit schöner Regelmäßigkeit in Hochspannung. Der Inhalt der Brieftasche war Fox mit einem Male fast völlig egal. Nur mit knapper Not behielt die Neugier die Oberhand und Prancock nahm die handliche Mappe entgegen, warf einen prüfenden Blick darauf und öffnete sie.

„Ihr seid beobachtet worden!“ Knapp, kühl und trocken stand die Feststellung im Raum.

Nick und Yasemin waren vor dem Wolkenbruch zurück ins Gehöft geflohen. Als sie gemeinsam in die Scheune getreten waren, hatte Nick aus den Augenwinkeln heraus Jasmin beobachtet und die Hoffnung gehegt, Anzeichen von Eifersucht in ihren Zügen zu erkennen – nichts. Jessica und Robert waren damit beschäftigt, Mehmet detaillierter in die Kunstform „Soundmix“ einzuweisen, Jeannie brachte ein Tablett mit Tassen duftenden Kaffees herein und schließlich stand eine durchnässte Penny im Tor der Stallungen. Ihre Haare waren wirr an der Stirn festgeklatscht oder bildeten Flussläufe zu ihrem Nacken.

„Ich wusste, dass das Zeitalter des Wassermanns angebrochen ist“, grinste Jeannie die Detektivin fröhlich an und hielt ihr das Tablett hin.

Penny nahm eine dampfende Tasse, roch kurz, sog das belebende Aroma ein.

„Das ist der Beste von Jeannie – die Dröhnung!“, lächelte die Gastgeberin weiter.

Penny sah ernst drein, trank einen Schluck und sagte dann den Satz, der sie alle erschreckte: „Ihr seid beobachtet worden.“

„Waren wir so gut?“, fragte Robert in die Runde, bemüht, gute Stimmung aufkommen zu lassen.

„Nicht ihr“, bemerkte Penny Roth mit einem Seitenblick auf Jessy und Robby und dann zu Nick und Yasemin gewandt, „sondern ihr!“

„Na und?“, meinte Nick. „Wir haben doch nichts zu verbergen!“, wobei er sein schelmisches Magierlächeln aufsetzte.

Im nächsten Moment zuckte er allerdings erschrocken zusammen. Mit donnerndem Krachen war Pennys Tasse vor Nicks Füßen zerschellt. Nur eine beim Kindergeburtstag eingeschlafene „Blinde Kuh“ hätte übersehen können, dass Nässe und Kälte nicht mehr die Ursache für Pennys Zittern waren.

„Verdammt noch mal“, kreischte sie los, „das ist hier keine Comedy-Show, das ist zum Teufel noch mal verdammt ernst, habt ihr kapiert, ihr Witzbolde?“

„Penny, bitte, es tut mir leid“, wollte Jasmin intervenieren, aber mit einer abwehrenden Handbewegung brachte Petra Roth sie zum Schweigen.

„Ein Mord wäre hier fast verübt worden, habt ihr das schon vergessen? Reicht euer Verstand denn nur von Party zu Party? Ich sollte doch ermitteln, oder?“

Schweigen. Der Geruch des vergossenen Kaffees verdünnisierte sich angesichts der dicken Luft. Pennys Atmen zischte durch die Stille. Erst jetzt fiel auf, dass der Regen nicht mehr zügellos herunterprasselte, sondern sich sachte auf Haus und Hof ergoss.

„Aber du musst doch deswegen noch lange nicht uns bespitzeln!“, machte Nick einen auf trotzig.

„Ich hab nicht euch bespitzelt, sondern das Gelände rings um den Hof beobachtet. Ihr seid von ganz allein in die Schusslinie gekommen!“

„Schusslinie?“, fragte Yasemin erschrocken.

„Keine Ahnung“, zuckte Penny demonstrativ ihre Schultern, „jedenfalls lungerte neben der Scheune die ganze Zeit jemand im Gebüsch herum! Als du noch allein warst, haben die Zweige ganz schön gewackelt ...“

„Vielleicht hat sich unser Spanner einen runtergeholt!“, warf Robert nüchtern ein, worauf eine neuerliche Redepause entstand.

„Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem normalen Spanner zu tun haben – hier ist offensichtlich der Mordversuch auf Jeannie fehlgeschlagen und seitdem wird der Hof observiert.“

„Und was meinst du, steckt dahinter?“, fragte Jasmin, obwohl sie die Antwort schon kannte: „Man will es zu Ende bringen!“

„Gib mir doch mal die Zange!“

„Wär’ ein Hammer nicht besser?“

Verlegenes Schweigen. Blickkontakt. Das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, ließ die Finger zittern. Nur nichts anmerken lassen, einfach nur das Werkzeug benutzen und das verdammte Ding endlich knacken. Die kritischen Augen der unbarmherzig schweigenden und herüberstarrenden Zuschauer einfach ausblenden! Es gelang nicht.

„Wenigstens verstehen sie unsere Sprache nicht“, dachte Ilka und hoffte inständig, dass das auch stimmte. Nicht genug damit, dass die übrigen Gäste des „Joli Bois“ höchst verwundert dreingeblickt hatten, als sie und Fox statt des für diesen Abend angekündigten Barschgerichts Hummer serviert bekamen – nein, obendrein breitete sich allgemeines Erstaunen darüber aus, dass die deutschen Gäste keine Ahnung hatten, wie sie ihre Extrawurst vertilgen sollten. Selbst Fox, der die Tricks der Safeknacker aus dem Effeff beherrschte, wechselte das Zängchen unbeholfen von einer Hand in die andere.

„Jetzt weißt du, warum ich diese verdammten Dinger hasse!“, murrte er.

Ilka bemerkte den fragenden Blick des Kellners und tat so, als würde sie mit Kennerblick auf das Scherenungetüm vor sich blicken. Wie hatte sie am Morgen doch getönt? – „Wir lieben Hummer!“ Die Show war perfekt und überzeugend gewesen. Von der momentanen Performance konnte man das nicht gerade behaupten.

„Hättest du nicht ein Steak bestellen können?“, nörgelte Fox weiter.

„Pardon, schmeckt es Ihnen nicht?“ Ilka und Fox zuckten zusammen. Sie hatten nicht bemerkt, wie der Ober, eindeutig ein älteres Modell als am Vorabend, zu ihnen getreten war. Ein besorgter Blick schien sich ihm in die Gesichtszüge gebrannt zu haben, vielleicht als Resultat eines langen, anstrengenden Lebens.

„Sorry, äh, Pardon, aber das letzte Mal hatten wir Hummerfilet, das war irgendwie leichter zu essen!“, stotterte Fox verlegen.

Ilkas Magen krampfte sich zusammen – Hummerfilet! Wie kam Fox nur auf so einen Quatsch? „Da könnte er ja gleich Walnüsse filetieren!“, schoss es ihr durch den Kopf.

Ein kurzes, trockenes „Ich verstehe“ beendete ihren Gedankengang. Dieser Einwurf des Kellners klang für eingefleischte Kenner klassischer Gallier-Comics eher wie ein „Die spinnen, die Römer“. Der Blick des Obers wurde noch besorgter. Nach einer kurzen Denkpause ergriff er, „Pardon“ nuschelnd, Ilkas Hand. Er gab ihr die kleine Zange und führte diese zum Panzer des Hummers. Schließlich setzten sie gemeinsam dazu an, ihn zu knacken.

„Voilà!“, sagte er und bewegte mit einem schnellen Ruck Ilkas Finger. Leicht knirschend gab der Hummer etwas Essbares preis. „Jetzt Sie, Monsieur!“, forderte der Kellner Fox auf.

„Sind wir hier bei ,Spiel ohne Grenzen‘?“, dachte sich dieser. Er setzte nun seinerseits die Zange an, genau so, wie er es bei Ilka beobachtet hatte.

„Wenn das jetzt nicht klappt, bin ich total blamiert!“, wurde ihm schlagartig bewusst. Erneutes Knacken und Knirschen ertönte – und plötzlich applaudierten die anderen Gäste. Prancock und Ilka lächelten gequält. Mit geröteten Wangen blickten sie kurz in die Runde. Endlich konnten sie sich an die genießbaren Partien ihres exquisiten Gerichts heranarbeiten.

„Merci beaucoup!“, bedankten sich die beiden vorgeblichen Hummerfans bei dem sorgengefurchten Ober. Dieser widmete sich nun, entrückt lächelnd, den übrigen Gästen.

Trotz des erhaltenen Schnellkurses war die Ausbeute des Abendessens nicht besonders groß. Fox’ hungrigen Magen hatte es nicht befriedigen können. „Jetzt ’ne Portion Pommes mit Mayo oder noch besser: Fish and Chips! Das wär’s“, dachte der Kommissar. Allerdings war noch ein anderes Gefühl wesentlich stärker spürbar als nur der Hunger: Neugier! Sie rüttelte seinen Jagdinstinkt mit vorpreschender Ungeduld wach. Gleichzeitig musste er schmunzeln in Erinnerung daran, wie Ilka und er vor dem Dinner in verschwörerischer Zweisamkeit auf ihrem Zimmer erste Spuren ausgewertet hatten.

Gestochen scharf lief die Szene noch einmal vor seinem inneren Auge ab: Das Mäppchen, das Ilka mit ihren Taschendieb-Tricks aus dem Trenchcoat gefischt hatte, war eine reine Fundgrube. Ein Etikett wies diesen als Eigentum von Walter Finkenwald, London, aus. Diese Entdeckung hatte Ilka zu einem so lauten „Yeah!“ veranlasst, dass Fox vorsorglich das Fenster geschlossen hatte. Zwischen Kreditkarten und verschiedenen Ausweispapieren war ein Foto herausgefallen. Ilka hatte es aufgehoben und stirnrunzelnd betrachtet. Minutenlang hatte Fox versucht, in ihrem Gesicht zu lesen, aber seine Freundin schien ihre Emotionen gut verborgen zu haben. Schließlich hatte sie ihm das Bild gereicht und gesagt: „Hübsch, nicht?“

Er hatte die Fotografie in Augenhöhe gehalten und sie prüfend betrachtet. Eine junge Frau von vielleicht 21 oder 22 Jahren strahlte ihm entgegen. Ihre überzeugenden, dunklen Augen schienen mit einem Hauch Melancholie in die seinen zu sehen. Heller Teint, eine kurze Nase und eine dunkelbraune Locke, die sich über der Stirn kräuselte, sowie kurzes, sanft gewelltes Haar formten zusammen mit einem kleinen, lachenden Mund und einem etwas spitzen Kinn ein Gesicht, das Fox augenblicklich faszinierte.

„He, guck nicht so verliebt“, schnaubte Ilka Prancock an, „sonst verpasst du in deinem Hormonrausch noch das Beste!“

Verwirrt riss sich Fox von dem betörenden Anblick los. Er bemerkte, wie Ilka mit glühenden Augen das Bild in seiner Hand anstarrte.

„Was ist denn?“, fragte er und versuchte Ilkas Blick zu durchdringen.

Diese zeigte wortlos auf das Bild und deutete mit einer Handbewegung ein „bitte wenden“ an.

Augenblicklich folgte er der Aufforderung und betrachtete die Rückseite des Fotos. Eine gleichmäßige, elegant geschwungene Schrift verkündete mit violetter Tinte: „Alles Liebe! Deine Valerie!“ Darunter kunstvoll geschwungene Zahlen.

„Ein Datum!“, stellte Fox kurz und knapp fest.

„Welch aufregende Erkenntnis!“, flötete Ilka, mit den Augen rollend.

„Verarschen kann ich mich selber!“, reagierte Fox ungewohnt gereizt, um dann mit etwas versöhnlicherem Ton anzumerken: „Ist einen Monat alt!“

„Dafür sieht sie aber ziemlich erwachsen aus.“

„Die Widmung meine ich!“ Fox legte das Bild zu den Papieren, die sie auf dem kleinen Schreibtisch ausgebreitet hatten. Schweigend und konzentriert blickten sie auf die Ansammlung: ein englischer Presseausweis, ein „Certificate of Membership“ der „British Writers’ Association“, ein Personalausweis und Futter für Geldautomaten. Fox nahm eine Kennkarte und betrachtete das Foto. Bereits beim ersten Durchsehen der Dokumente hatte er Ilka etwas verschwiegen: ein Déjà-vu – er war davon überzeugt, das Antlitz von Walter Finkenwald schon einmal gesehen zu haben. Er konnte nicht sagen, wann und wo, war sich aber sicher, es eindeutig als das auf dem Passbild zu identifizieren. Valeries Gesicht dagegen war ihm völlig unbekannt.

„Warum erzähle ich Ilka eigentlich nichts von Nocturne und meinem Gespräch mit dem jungen Kellner?“, fragte sich der Kommissar wieder und wieder. Er fand selbst kaum eine vernünftige Erklärung. Auch die Violon-Mühle hatte er nicht erwähnt. Er fühlte sich schuldig, seiner Freundin gegenüber nicht völlig offen zu sein, aber irgendein undefinierbares Grummeln aus den Tiefen seines Magens riet ihm, die Klappe zu halten. Gleichzeitig sausten ihm aber Engelchen durch den Kopf, die ihn ermahnten: „He, so nicht. Es würde doch nur deinen Stolz verletzen, wenn dein liebes Kätzchen mehr herausfinden würde als du selbst, oder?“ Glücklicherweise kamen aber auch einige Teufelchen auf ihren Pferdefüßen herangehumpelt, um ihm zu Hilfe zu eilen: „Quatsch mit Soße, ihr flügellahmen Besserwisser! Die Sache stinkt zum Himmel und unser Fuchs will seine geliebte Herzdame nicht in Gefahr bringen, klar?“

Bingo! – Das war es! Endlich hatte Fox eine Erklärung für sein Verhalten. Noch dazu eine, die ihn selbst überzeugte. Automatisch stellte die Sprudelmaschine im Bauch ihr Grummeln ein und Fox’ Anspannung widmete sich wieder ganz der rätselhaften Angelegenheit, in der er herumstocherte. Ein dauerhaft schlechtes Gewissen wäre ihm nur hinderlich gewesen.

„Da ist noch was!“, unterbrach Ilka Prancocks introvertierte Selbstreflexion. Sie hatte ein kleines, geklammertes Heftchen, kaum größer als ein Streichholzmäppchen, aus der Brieftasche gezogen.

„Lass mal sehen!“

„Jetzt bin ich mal dran, mein liebes Füchslein!“

Prancock konnte seine Neugier kaum bremsen, während er seiner Freundin beim Durchblättern des Heftes zusah.

„Ein Terminkalender!“, murmelte Ilka vor sich hin.

„Sieh doch mal nach, ob er Pläne für heute hatte!“, schlug Prancock vor.

Ilka blätterte kurz, dann pfiff sie durch die Zähne. „Er wollte sich heute mit Valerie treffen!“

„Wie bitte?“

Wortlos hielt die Reporterin dem Kommissar eine Seite des Terminplaners vor die Nase. Direkt hinter dem aktuellen Datum stand mit einem klecksenden Kugelschreiber notiert „V. MILL“.

Die Überraschung stand Fox so offenkundig ins Gesicht geschrieben, dass Ilka nachfragte: „ Ist dir schlecht? Von der Torte oder so?“

„Nein, nein“, versicherte Prancock eilig, „aber ist es nicht klasse, dass wir jetzt auch Valeries Nachnamen kennen?“

Die Engelchen in ihm liefen wieder Sturm: „Hör mal, es reicht schon, dass du dauernd den großen Beschützer spielen willst, aber das Kätzchen bewusst auf eine falsche Fährte zu locken, ist mehr als dreist … wie ein Tritt in den Hintern des olympischen Geistes!“ – „Doppelt genäht hält besser“, fuhren die Teufelchen barsch dazwischen, „lasst unseren Fuchs erst mal die Mühle checken, dann kann er der Katze doch alles beichten. Sicher ist sicher!“

„Sicher ist sicher!“, wiederholte Fox murmelnd.

„Was ist los?“, fragte Ilka.

„Nichts, nichts. Apropos Essen: Ich glaube, unsere Hummer warten schon.“

„Ich geh nur noch mal schnell ins Bad!“

„Sehr gut!“, dachte sich Fox, und als er hinter der Badezimmertür Wasser ins Waschbecken plätschern hörte, griff er schnell nach dem kleinen Prospekt, der auf dem Nachtkästchen lag: die Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Er blätterte rasch und fand schnell, was er suchte: Ein Foto zeigte in Pastellfarben eine kleine Wassermühle inmitten eines märchenhaft anmutenden Wäldchens. Darunter stand: „Mühle Violon. Die einstmalige Werkstatt des Geigenbauers Jean de Cornemuse. Bis in seine späten Jahre baute er hier seine weltberühmten Instrumente. Seit er im Alter von 99 Jahren starb, steht die Mühle leider leer. Die Erben und die angrenzenden Gemeinden erwägen, ein Geigenmuseum hier einzurichten.“ Weiterhin war eine kurze Wegskizze angekündigt, die allerdings fehlte, ebenso wie der versprochene Faltplan der Umgebung. Sie waren, einem gezackten Riss nach zu urteilen, wohl hastig aus der Broschüre gefetzt worden.

„Finkenwald hat das Büchlein schon vor mir gelesen, wie’s scheint!“, überlegte Fox und blätterte ziellos eine Seite nach der anderen um. Schließlich entdeckte er eine kleine Anzeige auf der vorletzten Seite: Die Erbengemeinschaft der Violon-Mühle bat um eine Spende für die Renovierung des Gebäudes. Daneben war im Kleinstformat doch noch eine Lageskizze abgedruckt. Prancock riss den Aufruf kurzerhand aus dem Prospekt und steckte den Fetzen flugs in die Brusttasche seines Hemdes.

„Tonight at the Violon Mill I’ll be there!“, schoss es ihm durch den Kopf. Wie immer, wenn er völlig in den Gebrauch seiner Muttersprache verfiel, hatte ihn eine Sache in Beschlag genommen. An seinen Beschlüssen war dann nicht mehr zu rütteln.

„Ich bin so weit!“, hatte schließlich eine gut gelaunte Ilka verkündet, als sie aus dem Badezimmer getreten war. Dann hatte sie sich bei Prancock eingehakt und sie waren fröhlich zum Dinner-Drama aufgebrochen.

Nach der einzigartigen Showeinlage mit den beiden Hummern wagte sich Fox schließlich an die entscheidende Frage: „Noch einen Wein, Kätzchen?“

Ilka bemerkte keinerlei Hintergedanken in der Frage ihres Freundes. Mit dem strahlendsten Lächeln, das sie seit Beginn des Urlaubs gezeigt hatte, antwortete sie: „Oui, Monsieur! Auf unseren Erfolg!“

Um kein Anzeichen eines schlechten Gewissens zu offenbaren, wandte Fox sich augenblicklich nach Mr. Sorgenfurche um, winkte ihn an den Tisch und bestellte zwei weitere Gläser Rotwein. Er hasste sich dafür, seine Freundin so zu manipulieren, ihr wichtige Erkenntnisse zu verschweigen, aber mit einem hatten seine kleinen Teufelchen wohl recht, und zwar verdammt recht: Die Sache war nicht nur mysteriös, sie konnte auch ziemlich gefährlich werden, und er wollte Ilka keiner Gefahr aussetzen. Ihm war klar, dass sie nicht davon abzuhalten wäre, mit ihm bei Nacht und Nebel der Violon-Mühle einen Besuch abzustatten, wenn er sie in seine Pläne einweihen würde. Gut, alle seine Vermutungen könnten sich als falsch erweisen: Finkenwald käme in dieser Nacht nicht in den Märchenwald, Mill wäre tatsächlich Valeries Nachname und das Déjà-vu wäre nur ein Irrtum gewesen – selbst dann wäre nichts verloren. Dann könnte man immer noch in die Richtung weiter recherchieren, zu der Ilka momentan tendierte.

„Warum bist du denn so still?“, fragte sie und ihre Zärtlichkeit trug nicht gerade dazu bei, dass Fox’ Unbehagen sich verkrümelte. Ilka griff nach seiner Hand und streichelte sie sanft. „Herr Kommissar, für heute ist Feierabend!“, bemerkte sie leise, aber bestimmt.

Der Ober brachte den Wein und stellte die Gläser vor ihnen ab. Sie stießen an und tranken schweigend. Beide genossen die Stille. Außer ihnen saß niemand mehr im Speisesaal. Das Hummer-Geduldspiel hatte viel Zeit in Anspruch genommen. Zudem nutzten viele den lauen Abend für romantiktriefende Spaziergänge oder zum Erforschen ihrer Minibars. Fox liebte es, den Widerschein sich verabschiedender Sonnenstrahlen im roten Wein zu beobachten. Er sah in sein Glas, als wäre es eine Kristallkugel, die ihm die Zukunft voraussagen könnte. Trotzdem hasste er sich für seinen kleinen Trick: Wenn Ilka nur ein einziges Glas Wein trank, hatte das auf sie einen sehr belebenden, anregenden Effekt und eine wilde, erotische Nacht wäre Fox sicher. Der Gedanke war so verführerisch, dass das Unschuld heuchelnde Füchslein fast von seinem Plan abgesehen hätte. Er entschied sich für ein Gottesurteil: Würde Ilka nach einem Glas kein weiteres mehr trinken – adieu, Violon-Mühle. Im Gegenzug wäre eine leidenschaftliche Nacht Entschädigung genug für ein entgangenes Abenteuer. Trotzdem hatte er gehofft, dass Ilka sich für einen weiteren Wein entschied. Danach war sie nämlich erfahrungsgemäß so müde, dass sie Mühe hatte, nicht schon beim Zähneputzen in Morpheus’ Arme zu entschwinden. So oft ihn das in ihrer erst kurzen Beziehung auch schon genervt hatte – an diesem Abend war Fox die sehr spezielle körpereigene Reaktion seiner Freundin auf die Wirkung hochklassig gekelterter Trauben mehr als nur recht.

„Trink aus, Liebling, ich glaub, ich muss ins Bett!“, unterbrach eine gähnende Ilka Prancocks Gedankengang.

„Gut, Kätzchen! Ich schlaf auch gleich ein!“ Schon wieder eine Lüge, doch die Engelchen hielten bereits Nachtruhe und die Teufelchen grinsten von Horn zu Horn.

„Was machen die denn hier?“, zischte Jessica Robert zu und wies mit einer unauffälligen Handbewegung auf zwei Neuankömmlinge. Durch vereinzelte Zufallsbegegnungen, bei Spaziergängen, beim samstäglichen Einkauf und durch SMS-Kontakte hatte sich die Aktion auf Jeannies Hof wohl als „Big Party“ herumgesprochen. Über den wahren Zweck dieses Ferienlagers hatten die Eingeweihten tunlichst geschwiegen. Infolgedessen kamen im Lauf des Sonntags einige Klassenkameraden von Jasmin und den anderen dazu, manche mit Zelten und Schlafsäcken, andere schauten nur mal kurz vorbei.

„Hoffentlich hauen die bald wieder ab!“, teilte Robby die negativen Gefühle seiner Freundin.

„Meine Güte, habt ihr gesehen, wer da gekommen ist?“ Die Ankunft von Jan und Nicole schien sogar Nick aus seinem Murmeltierdasein aufgeschreckt zu haben, stellte Jessy mit innerer Genugtuung, aber ohne offenkundige Gefühlsregung fest.

„Sagt mal“, fragte Jasmin, die sich neben Robert ins Gras setzte und sofort begann, mit einem schmalen Zweig Löwenzahnblätter im Lagerfeuer zu grillen, „woher hat denn das Söhnchen des Herrn Bürgermeisters Wind von unserer Aktion bekommen?“

„Große Events werfen einfach ihre Schatten voraus!“, gab Robert zurück. Er bemühte sich, seine Lippen nur so wenig wie möglich zu bewegen.

„Gott sei Dank, sie setzen sich zu Yvette und Rico!“, stellte Nick erleichtert fest.

Jessica rollte ihre Augen und sah so angestrengt zum Himmel, als würde sie ihr Sternbild suchen. „Die beiden tun mir jetzt schon leid.“

„Achtung“, warf Nick ein, „gleich beginnt das unvermeidliche Naturereignis. Ich schätze in circa 10 Sekunden! 10 – 9 – 8 …“

Doch der Countdown war noch lange nicht bei „Zero“ angelangt, als es geschah: Nicoles schrilles Gekicher brach über die bis dahin gemütliche und entspannte Unterhaltung der Zweck- und Feiergemeinschaft herein. Selbst die Frösche auf dem nahegelegenen Teich unterbrachen ihre Abendserenade für ein Weilchen. Anscheinend waren sie aber vertraglich an eine Konzertagentur gebunden, sodass sie bald gegen die kreischige Arie der Schülerin anquakten.

Yvette und Rico lächelten gequält und ließen mehr oder weniger heitere Episoden aus Nicoles Schul- und Beziehungsleben über sich ergehen.

„Kaum zu fassen, dass unser Nick mal in diese Operndiva verknallt war!“, seufzte Jessica leise in das Prasseln des Feuers.

„Halt bloß die Klappe!“, fauchte der Bloßgestellte und versetzte Jessy einen symbolischen Faustschlag gegen den Arm.

Jessica grinste und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus Jasmins Reaktion. Wie befürchtet schien die Episode aus Nicks Vorleben Jassy kaltzulassen. Nur so etwas wie ein „Na also“ huschte über ihr Gesicht.

„Andererseits“, stellte Robert in einem Anflug von Pragmatismus fest, „je mehr wir sind, umso sicherer wird es für Jeannie!“

„Stimmt“, gab Nick zu, „und Nicoles Gekreische wirkt auf potenzielle Angreifer mindestens so abschreckend wie die Dudelsäcke der Highlander auf die heranrückenden Angelsachsen!“

„Mensch, Merlin“, lächelte Jessica ihrem Bandkollegen zu, „so kenne ich dich!“

Ihr Lieblingsbassist schien langsam zu seiner alten Form zurückzufinden und sich aus seinem Schneckenhaus zu verabschieden. Umso mehr bereitete es ihr Sorgen, dass Jasmin keinerlei Reaktionen auf Nicks neue Lockerheit erkennen ließ. Jassy starrte in das Feuer. Hin und wieder redete sie mit ihr, Robert, Jeannie, Yasemin und Mehmet, aber Nick schien für sie vom Winde verweht zu sein.

„Wie wär’s mit ’ner kleinen Session?“, fragte zur Verwunderung der Bandmitglieder ausgerechnet Yasemin, die ihre Saz bereits hervorgezogen hatte.

„Gute Idee!“ – „Yeah!“ – „Klasse!“, tönte es aus mehreren Kehlen. Nur Jan Thalmann sah die junge Kurdin feindselig an, die offenkundig seiner Freundin die Show stahl.

Jasmin holte sofort ihre Gitarre, Robert ein Paar Bongos. Auch einige der ausländischen Feiernden hatten Instrumente dabei und bald ertönten Gitarren, Trommeln, Saz, exotische Flöten und Saiteninstrumente. Sie bildeten einen improvisierten Multikulti-Soundtrack und ließen die Welt ein wenig kleiner erscheinen, als sie war.

„Wie wär’s“, sagte Jessica aufmunternd zu Nick, während sie aufstand, „für Keyboard und Bass fehlen hier einfach die Steckdosen, läufst du mit mir Patrouille?“

„Jawohl, Herr Oberst!“, verfiel Nick ironisch in eine Art Rekrutenton. Er erhob sich ebenfalls und beide begannen nebeneinander hertrottend ihren Rundgang um das Gehöft.

„Sag mal“, überwand sich Jessica nach einer Weile zu einer Frage, die ihr unbequem, aber auch unausweichlich erschien, „gibt’s Stress mit dir und Jassy?“

Nick blieb stehen und sah sich um: Das Feuer war nur noch ein schwaches Flackern hinter ihnen, der Hof ein Schatten zwischen Bäumen und Büschen. Frösche und Nachtvögel übertönten schon beinahe die Musik. Der Abstand zu Jasmin war groß genug, zumindest geografisch gesehen. Dennoch schwieg Nick. Er stand unbeweglich in der Finsternis und starrte zurück auf das Lagerfeuer.

„Nick“, wagte Jessy eine weitere Frage, „gibt es da was, was du mir erzählen möchtest?“

„Guter Mond, du gehst so stille hinter einer Wolke auf das Klo!“, summte Fox einen alten Hit aus „Prankes fröhlichen Kinderliedern“ vor sich hin. Der Himmel hatte sich im Lauf des Tages nicht völlig abgeregnet und so warfen nur wenige Sterne ihr Licht zwischen dunstigen Wolkenfetzen auf die Erde. Schwach zeichneten sich die Umrisse einer Tafel vor den Bäumen des Waldes ab. Prancock trat vor das Schild, kramte seine Taschenlampe hervor und bald wanderte ein flackernder Lichtkegel über eine hölzerne Wanderkarte. Deren Genauigkeit und Übersichtlichkeit hätte ein „gut gemeint“ verdient. Nebel und Atemhauch wirbelten im funzeligen Strahl der Lampe wie Qualm im flirrenden Laser einer Disco. Die Musik dazu lieferte DJ Nachtkauz. Der schon leicht schwächelnde Lichtkreis umrahmte schließlich ein rotes „X“.

„Aha, hier sind wir also!“, stellte Fox fest. Er hielt den Prospektfetzen an die Tafel. Mit zwei Fingern drehte und wendete er den Schnipsel, bis das abgebildete Gewirr aus Linien und stilisierten Bäumen jenem auf dem Schild wenigstens annähernd glich. Gerade in diesem Moment strich ein unerwarteter Windhauch durch die Bäume, ergriff das Papierchen und riss es Prancock aus den Fingern. Fox fluchte leise und griff nach dem davonfliegenden Fetzen. Dabei entglitt ihm die Taschenlampe, die sogleich mit einem blechernen Knirschen auf dem Waldweg landete. Ein letzter Funke entwich ihr, als würde die Seele eines jüngst Entschlafenen verlöschen. Fox bückte sich nach der Funzel. Er konnte seine Wut nur noch mit größter Mühe unterdrücken. Mitten in der Bewegung stieß er sich den Kopf am Rahmen der Tafel.

„Aua!“, presste er hervor, richtete sich auf und trat nach der geborstenen Taschenlampe. Wider Erwarten traf er sie so genau, dass sie in hohem Bogen durch die nächtliche Waldluft schwirrte. Laut klirrend prallte sie gegen einen Baumstamm. Ein entsetzter Uhu erhob sich fluchtartig aus dem Geäst und rief dem verdutzten Kommissar ein tadelndes „Uuu-uuuu – huuuuuuu!“ zu. Fasziniert sah Fox dem Vogel nach, der mit elegant anmutendem Flügelschlag entschwebte.

„Oh, Herr Mond hat sein Geschäft verrichtet“, sagte Prancock zu sich selbst, „dann kann ich’s auch ohne Lampe schaffen!“ Tatsächlich trat der fahle Trabant wieder aus der himmlischen Toilette hervor und Fox warf einen letzten prüfenden Blick auf das Schild. Ein mit wenigen Strichen angedeutetes Mühlrad, daneben eine stilisierte Geige: Das dürfte die Violon-Mühle sein. Wenn der Kartograf nicht jegliches Gefühl für Maßstäbe verloren hatte, war sie gar nicht weit weg.

Wieder atmete Fox tief ein. Er spürte die neblige Feuchtigkeit im Mund und ließ sich das würzige Aroma des Nadelwalds auf der Zunge zergehen. Dann schlug er den Kragen seines Trenchcoats hoch, stapfte los und folgte dem Weg auf der linken Seite der Hinweistafel.

Der Nebel verdichtete sich zunehmend, ging aber bald in feines Nieseln über. „Jetzt noch Blitz und Donner, dann haben wir alle Krimiklischees durch!“, stellte Fox fest. Nachdem er versucht hatte, seinen Kragen noch höher zu ziehen, sah er sich um und blinzelte. Zwischen vereinzelten Dunstschlieren konnte er den Weg im Mondlicht relativ gut erkennen.

„Hänsel und Gretel, Part two!“, kinematografierten Prancocks Gedanken den nächtlichen Alleingang. Zweifel hegte er nur bei der Auswahl des passenden Untertitels: „,Hänsel kehrt zurück‘? – nö, zu lasch. ,Die Rache des Hänsel‘ klingt gut, aber wofür rächt er sich eigentlich und vor allem: an wem? An Finkenwald?“

Fox fragte sich, ob er diesen mysteriösen Walter überhaupt bei der Mühle antreffen würde. Hatte der Verschwundene die Spur mit dem Trenchcoat im ,Joli Bois‘ bewusst gelegt oder war das ein panisches Versehen gewesen? Mürrisch kickte Fox einen Tannenzapfen beiseite. Er versuchte sich in Finkenwald hineinzuversetzen.

„Okay, ich bin good old Walter aus London. Ich brauche Hilfe, fühle mich von einem gewissen Nocturne verfolgt. Da taucht ein Bulle auf, dem ich mein Zimmer überlasse und ...“

Fox zuckte zusammen und blieb stehen. Hatte da nicht jemand „Quatsch“ gerufen? Der Kommissar lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Tatsächlich ertönte umgehend wieder das Spottlied eines Waldvogels. „Könnte wirklich ,Quatsch‘ heißen!“, sinnierte Prancock. Egal, ob das französische Federvieh sich in Fremdsprachen übte oder nicht, es passte: Die ganze Story war noch nicht mal so schlüssig wie ein „Gary Button“-Roman. Zu viele Fragen und Unwägbarkeiten blieben offen. Selbst die für Fox typische Hauruck-Psychologie war damit überfordert. Er schlurfte weiter und in seinen Gedanken kreiste Fragezeichen um Fragezeichen.

Trotz der verwirrenden Endlosschleifen, mit denen dieses Rätsel wieder und wieder durch sein Gehirn jagte, nahm er bald das Geräusch fließenden Wassers war – ein gutes Zeichen, wenn man eine Mühle suchte. Seine Augen hatten sich so sehr an das matte Schimmern des Mondes gewöhnt, dass Prancock nicht einmal stehen blieb, um sich neu zu orientieren. Zielsicher ging er in die Richtung, aus der es zunehmend lauter plätscherte. Er war dankbar für das rege Treiben der Vögel und anderer nachtaktiver Tiere: Es flötete und knackte so beständig aus allen Richtungen, dass er nicht bei jedem Schritt auf Geräuschlosigkeit achten musste. Dennoch verlangsamte er den Gang, als er hinter der nächsten Wegbiegung ein Gebäude erblickte. Auch wenn es sich nur schemenhaft vom dunklen Wald abhob, waren die Konturen gut erkennbar. Der Schattenriss glich deutlich dem Bild im Prospekt. Hänsel stellte fest, dass er angekommen war. Dieses Hexenhaus konnte nur die Violon-Mühle sein. Während er sich bewusst im Schatten von Bäumen und Büschen bewegte, entschied sich Fox dazu, Indianer zu spielen: Anschleichen und beobachten war angesagt. Als er das Tor eines Zaunes in Sprungweite hatte, verharrte er, immer darauf bedacht, im Dunkeln zu stehen. Er hielt die Luft an. Von der Violon-Mühle her hörte er – nichts. Gut, einige Scharniere von losen Fensterläden oder Türen knirschten im Takt des nächtlichen Windhauchs. Ansonsten war nur das monotone Konzert der Eulen und Käuzchen um ihn herum zu vernehmen.

Fox wagte einen Schritt in das Mondlicht und griff nach einer rostzerfressenen Klinke. Er drückte sie vorsichtig herunter. Das Krächzen des antiken Schlosses war so laut, dass Fox mit einem Sprung wieder in den Schatten hechtete. Sein Herz wummerte wie der Bass eines überdrehten Subwoofers und er zwang sich, leise zu atmen. Gleichzeitig fragte er sich: „Warum zum Donner die Panik? Finkenwald wollte Kontakt mit mir aufnehmen! Er braucht Hilfe – was habe ich zu befürchten, wenn ich ihn hier treffe.“ Gleichzeitig erinnerte er sich an jenes geflügelte Wort, das in jeder „Gary Button“-Folge wiederholt heruntergebetet wurde: „Ich Blödmann war wie ein Anfänger in die Falle getappt!“ Konnte es sein, dass Finkenwalds Hilferuf eine Art Köder war? Unwahrscheinlich, aber wenn der Typ tatsächlich verfolgt wurde, war vielleicht Walter himself hier in einen Hinterhalt geraten.

„Durchs Tor brauche ich nicht zu gehen“, arbeitete das Planungsbüro „Prankes graue Zellen“ auf Hochtouren, „da könnte ich gleich klingeln und sagen, dass ich Schneewittchens vergiftete Äpfel dabei habe! Stopp – falsches Märchen! Okay, ich bin das himmlische Kind und streiche erst mal weiter um das Häuschen.“

Fox schlich am Zaun entlang, bis er zu einem Nebentrakt kam, der einmal eine Vorratsscheune gewesen sein mochte. Buschwerk und Zweige wucherten hier so nahe an das Gebäude heran, dass Blätter, Zaun und Baumstämme eine Art Tunnel bildeten.

„Hier sieht mich wenigstens keiner!“, stellte Fox beruhigt fest. Er musste sich aber auch eingestehen, dass von hier aus nicht zu erkennen war, was im Haus oder um die Mühle herum passierte. Egal! Offensichtlich war sowieso nichts los. Der Gang aus Zaun und Zweigwerk wurde immer dunkler. Nach scheinbar endlosem Schleichen und Entlangtasten ging es um eine Ecke. Der Mond warf ein Spotlight vor Prancocks Füße. Fast hätte Fox erstaunt durch die Zähne gepfiffen, konnte sich aber beherrschen. Eine Planke hatte sich aus dem Zaun gelöst oder war herausgebrochen worden.

„Jetzt krieg mal nicht die Thrillerpanik! Bei so ’nem morschen Teil ist es ein Wunder, dass nicht überall Bretter und Balken rumliegen!“ Eine diffuse Beunruhigung keimte in ihm auf. Fox bemühte sich, keine Geräusche zu verursachen, als er an die Lücke herantrat. Schließlich lugte er zaghaft hindurch. Nichts und niemand war zu sehen. Fox kniff die Augen zusammen. Er versuchte zu erkennen, ob von der fehlenden Planke aus Spuren zur Mühle führten. Das Mondlicht reichte jedoch nicht aus, um eventuelle Fußabdrücke sichtbar zu machen. Weder Geräusche noch Licht drangen von der alten Mühle herüber. Nahezu lautlos zwängte sich Fox durch das Loch im Zaun. Reflexartig ging seine Rechte in Richtung Schulterhalfter. Er hielt inne. Dem Kommissar fiel ein, dass seine Waffe wirklich Urlaub machte, ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Zögernd sah er sich um. Es gab keine Deckung mehr, er stand wie auf dem Präsentierteller. Waren die Schatten, die er im Garten ausmachen konnte, Bäume, Büsche oder Menschen?

„Ich frage lieber nicht nach!“, beschloss er und huschte schnell zum seitlichen Fachwerk der Mühle. Er drückte sich, wie tausendmal trainiert, an das Gemäuer. Fox setzte Fuß vor Fuß. Die Hektik, die sein Herzschlag ihm diktierte, schüttelte er ab. Sachte manövrierte er sich bis zur Hausecke und spähte hervor. Eine Bewegung vom Tor her ließ ihn zusammenzucken. Schnell zog er den Kopf zurück in Deckung. Nichts geschah. Kein Schuss, keine Rufe wie „Hände hoch“ störten die Stille. Ein erneuter Blick gab Fox die Gewissheit: Nur ein Busch hatte im leichten Wind gewackelt.

„Einmal tief durchatmen und dann weiter!“ war die Devise. Es gab kaum Deckung, aber er hatte keine Alternative: Wollte er in die Mühle, ging’s hier lang. Bis er endlich am Eingang ankam, hatte er das Gefühl, „Ben Hur“ in voller Länge rekapituliert zu haben. Vorsichtig berührten seine Fingerspitzen die Klinke. Verdutzt blieb er stehen und zwinkerte ungläubig: Er hatte eine ähnliche Rostgranate wie am Tor erwartet, aber dieses Stück Metall fühlte sich glatt an. Als er es genauer betrachtete, bemerkte er, wie sich das Mondlicht darin spiegelte. Er ließ seine Finger über das Holz der Tür gleiten: keine abblätternde Farbe, keine aufgeraute, spreißelige Oberfläche – kein Zweifel, die Tür war neu.

„Die Erben wollen sich also doch gegen ungebetene Eindringlinge absichern!“, vermutete Fox und erwartete daher, dass die Tür verschlossen wäre. Langsam drückte er die Klinke herunter. Weder Knarren noch Quietschen ertönten. Dank offenbar frisch geölter Scharniere wurde der Weg ins Innere der Violon-Mühle frei, ohne dass ein Geräusch den Eindringling verraten hätte.

„Coole Sache“, bemerkte Fox mit einem Grinsen, „erst im Sicherheitsrausch neue Türen einbauen und dann vergessen, abzuschließen. Na, mir soll’s recht sein.“

Um im Flur wenigstens ein bisschen Licht zu haben, ließ er die Tür hinter sich offen stehen. Er trat in einen lang gezogenen Gang, der in ein Treppenhaus mündete. Fox näherte sich der Stiege und lauschte. Nichts.

„Dach oder Keller?“, fragte er sich. Am liebsten hätte er eine Münze geworfen, die ihm die Entscheidung abnehmen könnte. Um aber Geräusche zu vermeiden, bemühte er in Gedanken einen alten Abzählreim: „Knick-knack paddy-wack, give a dog a bone, this old man came rolling home.“ Sein Finger zeigte auf die Stufen, die ins Obergeschoss führten. Obwohl er sich bemühte, leise zu sein, blieb das Knarren der Treppen dennoch so unvermeidlich wie das Rülpsen nach einem Glas Limonade.

„Darum trinke ich so was auch nicht!“, schweiften Prancocks Gedanken kurzzeitig ab. Der Dielenboden im ersten Obergeschoss war ungleich staubiger als im Parterre. Ein fahler Lichtstrahl fiel dank eines halb herunterhängenden Fensterladens durch eine milchige Scheibe herein. Das schwache Leuchten ließ im Luftzug wirbelnde Flusen und Körnchen erkennen. Spuren? No chance. Um eventuelle Fußabdrücke ausmachen zu können, hätte Fox eine Taschenlampe oder wenigstens eine Kerze benötigt. Er betrat ein Zimmer. Ein plötzliches Poltern jagte ihm solch einen Schrecken ein, dass er schon glaubte, das Herz sei ihm in die Unterhose gerutscht. Stocksteif stand er in einem fast vollkommen dunklen Raum. Neben sich bemerkte er eine alte Kommode. In schummrigen Lichtfetzen, die diffus vom Fenster her einfielen, sah er einen kleinen, umgefallenen Bilderrahmen auf dem Möbelstück liegen. War der als Waffe tauglich? Egal, ansonsten gab es hier nichts Brauchbares in Sachen Selbstverteidigung. Würde man ihn angreifen, könnte er mit einer Scherbe des Deckglases vielleicht die Augen eines eventuellen Gegners attackieren. Als er sich an der gesplitterten Scheibe in den Daumen schnitt, fühlte Fox sich bestätigt. Er ließ den Bilderrahmen in die Seitentasche seines Trenchcoats gleiten. Die Hände erst einmal frei zu haben, wäre auch nicht verkehrt. Es erfolgte kein plötzlicher Angriff. Prancock lauschte angespannt, mit höchster Aufmerksamkeit. Wieder hörte er Gepolter und gedämpfte Laute. Er konzentrierte sich stärker und erkannte menschliche Stimmen zwischen den anderen Geräuschen.

Um die Herkunft der Laute besser orten zu können, hielt Prancock abermals die Luft an. Augenblicklich fühlte er etwas in der Magengegend, das er im Moment nun wirklich nicht gebrauchen konnte: sein Zwerchfell zog sich heftig zusammen und das unvermeidliche „Hicks“ eines Schluckaufs trat in den Raum. Für Prancock klang es fast wie ein Pistolenschuss. Hastig schloss Fox den Mund und versuchte das Gefühl in der Magengrube zu unterdrücken, aber vergeblich: Ein glucksender Laut nach dem anderen würgte sich seine Kehle hinauf. Selbst die fest zusammengepressten Lippen waren nur unzureichende Schalldämpfer.

„Ruhe! Nur die Ruhe“, begann sich Fox’ Verstand zu Wort zu melden, „für mich klingt jedes Hicksen laut. Ich bin ja auch allein hier drin.“ Der hopsende Solarplexus verhinderte beinahe die exaktere Ortung der Geräusche. Dem Kommissar gelang es jedoch, sich ein wenig zu sammeln. Er registrierte, dass die Laute aus einem Zimmer irgendwo über ihm kommen mussten.

„So lange die da oben weiterquasseln, kann ich hier unten hicksen und rülpsen, bis ich schwarz werde.“

Trotzdem hielt Prancock es für ratsam, seinen Mund geschlossen zu halten. Vorsichtig tastete er sich am Mauerwerk entlang, weiter auf die Geräuschquelle zu. Tatsächlich entdeckte er einen Türrahmen und glitt lautlos in das Zimmer nebenan. Die Stimmen waren nun genau über ihm. Was tun? Natürlich lauschen und … Luft anhalten. Das Kitzeln im Bauch hatte bislang nicht nachgelassen. Nun gesellte sich sogar noch ein angeregtes Grummeln dazu. Krampfhaft versuchte der Kommissar, das Aufstoßen zu unterdrücken. Er konzentrierte sich auf die Worte und Satzfetzen, die er durch die Zimmerdecke wahrnahm.

„Aber was soll …? Warum …? Ich habe keine Ahnung, wo ...“

Wer konnte das sein? Finkenwald? Eine zweite, deutlich höhere Stimme erklang. Prancock verwünschte die Unzulänglichkeit seiner Französischkenntnisse. Am liebsten hätte er nach oben gerufen: „Noch mal, bitte! Aber langsamer, zum Donner!“

Wieder erklang die Stimme, die er zuerst gehört hatte. Sie artikulierte eher zögerlich und mit leichtem Akzent. „Englisch oder Deutsch?“, fragte sich Fox – egal, beides würde zu Finkenwald passen. Wieder strengte Prancock sich an, mehr zu verstehen.

„Aber Valerie ...“

Eine Seifenblase schien in Fox’ Gedankenwirrwarr aufzusteigen: War die geheimnisumwitterte Valerie selbst hier oder nur Gegenstand der Diskussion? Könnte die höhere Stimme einer Frau gehört haben? Durch die Holzdecke hindurch war das nur schwer festzustellen. Fox versuchte es mit noch angestrengterem Lauschen herauszubekommen. Als der nun folgende Wortschwall geendet hatte, war Prancock sich jedoch noch immer nicht sicher. Eines aber schimmerte klar und deutlich in den Regenbogenfarben der Seifenblase: Der Sprecher mit dem englischen oder deutschen Akzent musste Finkenwald sein. Alles deutete darauf hin: Der Hinweis auf das Treffen in der Mühle stammte aus seinem Notizbuch. Die Verbindung mit der attraktiven Valerie, deren Foto Fox eine Hormonkur verpasst hatte, war ein weiteres Puzzleteilchen in diesem Verwirrspiel. Prancock vermisste lediglich die Vorlage für das Puzzle.

„Welches Bild soll ich hier bloß Stück für Stück zusammensetzen?“, fragte er sich.

Wieder beteuerte der Sprecher mit dem undefinierbaren Akzent, dass er nichts wisse. Fox versuchte, diese Stimme mit dem Aussehen Finkenwalds in Einklang zu bringen. Schockartig traf ihn die Gewissheit: Das Déjà-vu beim Anblick des Passbilds war gar keines gewesen. Er war diesem Mann schon einmal begegnet und hatte sogar mit ihm gesprochen. Prancock erinnerte sich nun genau, wann und wo. Der Schock hatte immerhin den Schluckauf gestoppt. Fox atmete erleichtert aus, nur um gleich wieder gespannt die Luft anzuhalten.

Als Nächstes wollte er versuchen, Valeries Bild in seiner Vorstellung mit der rasanten, hohen Stimme von oben zu synchronisieren. Sein Vorhaben wurde jäh unterbrochen. Finkenwalds Beteuerungen erstarben. Nach einem Moment bedrückender Stille hörte Fox einen Schuss. Der Schalldämpfer entließ noch ein weiteres, charakteristisches „Plopp“, dann drang der Aufprall eines leblosen Körpers durch die Zimmerdecke an Prancocks Ohr. Die explodierende Panik durchtränkte das Hemd des Kommissars mit Schweiß. Wieder griff er sich reflexartig an die Stelle, wo im grauen Berufsalltag sein Schulterhalfter hing.

„Verdammt!“, schien das rauschende Blut in seinen Ohren zu brüllen. „Verdammt!“ Prancock sah, dass er die Situation völlig unterschätzt hatte. Zwar hatte er Ilka außen vor gelassen, um sie nicht zu gefährden, aber hätte er einen Mord befürchtet, wäre er nicht so unvorbereitet in die ganze Sache hineingestolpert. Die Story war von einem anderen Kaliber als „Fünf Freunde auf gefährlichen Spuren“. Entsetzen und Schuldgefühle rissen an dem Kommissar.

„Er hatte mich um Hilfe gebeten, ich hätte das verhindern müssen!“ Bleich und am ganzen Körper zitternd stand Fox in der Dunkelheit. Er war dazu verdammt, zuzuhören, wie im Raum über ihm die Kleidung der Leiche durchsucht wurde. Er fuhr zusammen: Eine weitere Stimme donnerte so laut, als ob ihm jemand direkt ins Ohr brüllte: „Verfluchte Scheiße!“

Fox spürte, wie seine Knie weich wurden. Er erkannte zwei Dinge, die ihn vor der Ohnmacht retteten: Zum einen gestaltete sich die Dunkelheit allmählich noch schwärzer, da der Mond wohl wieder mal hinter einer Wolke entschwand. Zum anderen dröhnte die grollende Stimme von oben: „War das wirklich nötig?“ Eine schrille Wortkaskade war die Antwort. Darauf erwiderte der Bass sonor: „Schon gut: Ist immerhin ’ne saubere Lösung! Aber eins fehlt uns trotzdem noch!“

Fox spitzte die Ohren, atmete so flach wie möglich und versuchte, seinen rasenden Herzschlag zu ignorieren. „Was denn? Nun sag schon, was fehlt euch noch?“, pochte die Ungeduld schmerzhaft gegen seine Stirn. Von der Anspannung paralysiert wartete der Kommissar ab.

Zu einer Antwort kam es jedoch nicht mehr: Ohrenbetäubendes Krachen und Splittern ließ die Wände erzittern. Offenbar hatte jemand eine Tür eingetreten. Möbel stürzten polternd um, entsetzte Schreie gingen im Getöse eines Kampfes fast unter. Ein Schuss, diesmal ohne Schalldämpfer, peitschte durch das Chaos.

„Nichts wie raus hier!“, fegte die Furcht durch Prancocks Kopf. „Egal was da vor sich geht, ich muss weg!“

Er beschloss, sich nicht länger mit Erklärungsversuchen aufzuhalten. Er wollte nur noch eines: überleben. Glücklicherweise war der Mond wieder hinter den Wolken hervorgekommen, sodass Fox die Türen auf den ersten Blick im Halbdunkel erkannte. Er holte tief Luft und rannte los. Schon auf der Polizeiakademie hatte man ihm eingebläut, dass man sich nie von der Panik leiten lassen durfte, aber seine langjährigen Trainer waren ihm gerade ziemlich egal: Er stürzte hinaus in den Flur und blickte sich kurz um. Niemand war zu sehen. Er rannte weiter, die Stufen hinunter. Dabei fiel ihm wieder die merkwürdige Akustik der Mühle auf: Im Treppenhaus war so gut wie überhaupt nichts von den Vorgängen im zweiten Obergeschoss zu hören. Er hoffte, dass die Kämpfenden somit auch nicht mitbekamen, wie er die Stufen hinunterpolterte. Endlich war er im Erdgeschoss! Die Tür leuchtete ihm entgegen wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Atemlos sprang er darauf zu und hechtete hinaus. Das Mondlicht erschien ihm nun fast schon grell. Entsetzt sah er neben der Tür einen bulligen Kerl im dunklen Anzug stehen. Fox erstarrte. Was tun? Davonrennen oder – oder was.

„Guten Abend!“, hörte Fox sich selbst sagen, in fröhlichem, fast schon kneipenseligem Ton. Gleichzeitig meldete ein Schaltkreis in seinem Gehirn: „Das ist Wahnsinn!“

Der Typ an der Tür war von Prancocks Fröhlichkeit vollkommen überrascht. Fox erkannte die Umrisse eines Schulterhalfters unter dem Jackett des Mannes. Der Türsteher hatte zwar reflexartig zur Waffe gegriffen, war durch den kumpelhaften Gruß aber leicht verunsichert. Er zögerte eine Winzigkeit zu lang. Fox nutzte die Gunst dieses Sekundenbruchteils. Was Schaltkreis Nummer eins schlicht als „Wahnsinn“ bezeichnet hatte, wurde von der Abteilung „Selbstschutz“ kurzerhand dazu verwendet, um die Erstarrung des Kommissars zu lösen. So sprang Schaltkreis Nummer zwei sofort an und befahl: „Zuschlagen! Jetzt!“ In Windeseile faltete Fox die Hände, als wollte er beten. Die Doppelfaust landete mit einem hässlichen Krachen an der Stirn des Wachtpostens. „Keine Sekunde zu früh!“, stellte Fox nebenbei fest. Der Mann hatte gerade noch die Waffe aus dem Halfter gezogen, doch zu spät: Er ging in die Knie, stöhnte und ließ die Pistole fallen. Prancock trat ihm mit voller Kraft in die Magengrube. Der Wächter krümmte sich vor Schmerzen zusammen. Zwei schnelle Schläge in den Nacken ließen den Koloss endgültig zu Boden gehen. Dummerweise fiel er auf seine Waffe. Wertvolle Sekunden wären verloren gegangen, wenn Fox das Schießeisen unter dem Bewusstlosen hervorgezogen hätte. Stimmengewirr und Poltern drangen aus dem Inneren der Mühle. Fox stürmte geradewegs auf das Tor zu. Der Weg zum versteckten Eingang im Zaun hätte ihm zwar mehr Schutz und Deckung geboten, aber er war sich nicht sicher, ob er in dieser Hektik die richtige Stelle sofort wiedergefunden hätte.

Diesmal waren ihm das laute Quietschen der Klinke und das infernalische Knarren der Scharniere völlig egal. Er riss das Tor auf, sprang hindurch und prallte gegen eine unsichtbare Wand. Er schrie vor Schmerzen auf und fiel. Es roch nach Gummi und Benzin. Jemand hatte eine nachtschwarze Limousine hier geparkt. Komisch, vorhin war noch kein Auto da gestanden. Er hatte von drinnen auch keine entsprechenden Geräusche gehört. Die Akustik der Violon-Mühle schien wirklich einzigartig zu sein, wie geschaffen, um den Klang hochwertiger Geigen zu testen oder unliebsame Zeitgenossen unbemerkt umzubringen. Fox rappelte sich hoch und beschloss, sich über diese Phänomene ein anderes Mal den Kopf zu zerbrechen. Kaum war er auf den Beinen, hörte er ein klackendes Geräusch: Die Tür der schwarzen Limousine öffnete sich. Ein Typ, der mindestens so massig aussah wie der Türsteher, stieg aus. Im Gegensatz zum ersten Posten, der gerade Urlaub im Land der Träume machte, hatte dieser hier die Knarre schon in der Hand.

Fox verzichtete diesmal auf den Abendgruß und spurtete los. Er tauchte in die Schatten ab, in deren Schutz er sich zuvor schon angeschlichen hatte. Er hörte eine Kugel an sich vorbeizischen. Mit einem dunklen Klopfen blieb sie in einem Baumstamm stecken. „Verdammt, der zielt einfach dorthin, wo mein Knistern und Knacken herkommt“, stellte Fox zerknirscht fest. „Bleibe ich stehen, holt er sofort auf. Renne ich los, bin ich eine akustische Zielscheibe.“

Prancock hörte Schritte näher kommen. Die Stimmen von der Mühle her verstummten auf ein gezischtes „Silence“ des nachterfahrenen Schützen hin. Fox’ Magen krampfte sich zusammen. Er atmete nicht und stand reglos im Schatten des Laubwerks. Angestrengt lauschte er in die Finsternis hinein: Zaghaft und doch zielstrebig kam der Verfolger näher. Fox musste aufstoßen – der Schluckauf war wieder da. Das Hicksen erklang gut hörbar zwischen den Rufen vereinzelter Nachtvögel. Augenblicklich ploppte ein Schalldämpfer. Die Kugel schlug dicht neben Fox ins Gebüsch. Er beschloss loszurennen. Auch der Verfolger legte einen Zahn zu. Von Zeit zu Zeit gab er im Rennen Schüsse auf den Flüchtenden ab. Prancock wusste, dass zielloses Geballer aus der Bewegung heraus nur in alten Westernfilmen Erfolg hatte. So was bedeutete lediglich Verschwendung von Munition. Fox war sich sicher, bald an der Weggabelung angekommen zu sein. Er leistete sich den Luxus, im Laufen über die Schulter zurückzusehen. Dabei verlor er kurzfristig den Waldboden aus dem Blick. Sein Fuß verhakte sich in einer knarrigen Baumwurzel, die trotzig vom Weg emporragte. Mit einem Aufschrei schlug Fox der Länge nach hin. Er spürte, wie die Ärmel seines Trench rissen, die Nähte seiner Hose platzten und seine Handflächen über Sand, Steine und Tannennadeln schürften. Eine Schocksekunde lang blieb er reglos liegen, dann drehte er sich um und wollte sich aufrichten. Sein Verfolger stand jedoch bereits über ihm. Die Pistole zielte auf Prancocks Stirn.

„Das war’s also!“, stellte Fox fest und sah, wie sich der Finger des Mannes um den Abzug spannte. „Good bye, Ilka! War leider nur ein Kurzurlaub!“, schloss der Kommissar mit seinem Leben ab, aber kein „Plopp“ drang an sein Ohr. Die Knarre machte lediglich „klick“. Der Kerl hatte tatsächlich sein Magazin leergeballert.

Fox beschloss, dass für eine langwierige, intellektuell ausgefeilte Analyse der Situation nebst ausführlicher Planung des Vorgehens unter Abwägung der Pros und Kontras gerade keine Zeit war, sondern er dringend diesen Moment der Verblüffung nutzen sollte. Somit rollte er sich auf den Rücken und trat blitzartig zu. Er traf seinen Verfolger mit solcher Wucht zwischen den Beinen, dass dieser zukünftig kaum noch Vaterschaftsklagen zu befürchten hatte. Ein unterdrückter Aufschrei und der Typ klappte zusammen. Die Waffe hatte er fallen gelassen und hielt nun beide Hände schützend vor seine Genitalien. Prancock sah das schmerzverzerrte Gesicht des Angreifers im Mondlicht, betrachtete es allerdings nur als Zielscheibe. Noch einmal ließ er einen Fuß vorschnellen. Er traf den Gegner geradewegs am Kiefer. Knochen knirschten und knackten wie morsches Geäst. Ohne einen weiteren Laut sackte der Mann in sich zusammen. Beunruhigt stellte Fox fest, dass offenbar noch mehr Leute der Gegenseite die Verfolgung aufgenommen hatten. Er hörte, wie Stimmen und Schritte näher kamen. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, ging er in die Hocke und kämpfte gegen Schwindel und Übelkeit an. Dann stemmte er sich hoch und rannte weiter. Die Beine schienen immer schwerer zu werden und seine Kräfte erlahmten zunehmend. Ein stechender Schmerz jagte durch sein rechtes Knie – wahrscheinlich war es verstaucht.

„Scheiße, warum musste ich mich bloß umdrehen?“, schalt Fox sich selbst. „Noch eine Wegbiegung, dann müsste ich beim Auto sein.“

Schon sah er es. Treu stand der alte Fiat beim Schild mit der Landkarte und wartete auf den Kommissar wie einst Iltschi auf den großen Winnetou. Fox hastete zur Fahrertür und nestelte den Schlüssel hervor. Dies gelang ihm nur, indem er Panik und Angst mit Gewalt aus dem Kopf verbannte. Endlich steckte der Schlüssel im Schloss. Als Fox aufsperrte und den Verschlussknopf im Innern des Autos hochspringen sah, nahm er aus den Augenwinkeln heraus einen Schatten neben sich wahr. Noch bevor er den Blick heben konnte, spürte Prancock einen harten Schlag am Hinterkopf.

„Komisch, meine Beine tun gar nicht mehr weh!“, war sein letzter Gedanke, bevor er ohnmächtig auf den Waldboden sank.

Schnee von gestern ...und vorgestern

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