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Eine Stunde Weihnachten

Der Eingang des unscheinbaren Hauses hinter dem Bahnhof leuchtet fast so bunt wie der Weihnachtsbaum, den sein jüngster Sohn gestern für den heutigen Weihnachtstag mit kindlich-kreativer Energie in den grellsten Regenbogenfarben geschmückt hat. Er atmet noch einmal tief durch, bevor er das Bordell im Bahnhofsviertel seiner Heimatstadt betritt. Es ist ihm bewusst, dass er mit diesem so klein anmutenden Schritt etwas Neues wagt. Ihn fröstelt, und das liegt nicht nur an den winterlichen Temperaturen.

So schreiend bunt der Eingang ist, so gedämpft rot ist das Licht hinter der Fassade. Von irgendwoher dudelt ein Radio leise quäkend Weihnachtslieder. Der Duft von irgendeiner Kaufhauskräutermischung zur Saison hängt in der aufgeheizten Luft. Er muss unwillkürlich an kalten Weihrauch am Morgen nach einer Mitternachtsmesse denken. Der Bordellbetreiber hinter dem Tresen schaut kaum auf und winkt den neuen Besucher weiter in Richtung des Kontakthofs. Auf den sechs Stockwerken mit je elf Zimmern bieten 66 Frauen aus aller Herren Länder ihre Dienste an.

Der Besucher öffnet seinen Wintermantel und nestelt nervös an seinem Kollar herum, das ihn sofort als Geistlichen erkennbar macht. Er ist überrascht, denn trotz des Weihnachtsfestes herrscht hier große Betriebsamkeit, sodass der Pastor den vielen Freiern kaum auffällt. Im Kontakthof riecht es nach schweren Parfüms und abgestandenen Alkoholausdünstungen. Er erinnert sich an einen alten Zeitungsartikel über Bordelle mit dem Titel »Eine Weide, die nach Schlachthof riecht« und findet das nicht unpassend. Beherzt macht er einen Schritt in die Mitte des Raums. Sofort kommen einige der Frauen, die an der Wand gelehnt haben, auf ihn zu und fragen, worauf er Lust habe.

»Ich habe Lust«, sagt er mit fester Stimme, »alle Frauen, die heute hier arbeiten, eine ganze Stunde lang zu mieten.« Fatima-Heike, Tochter von muslimisch-christlichen Eltern, die hier irgendwie hängengeblieben ist, kontert schnippisch: »Das könnte teuer werden! Und was willst du überhaupt mit so vielen Frauen? Glaubst du etwa, du bist omnipotent?« Das Wort hat sie vor ein paar Tagen im Radio aus einem klassischen Weihnachtslied aufgeschnappt und sich gemerkt, weil es so witzig klingt.

»Nein, das wohl kaum. Und was das Geld anbelangt: Ich habe mein Erspartes genommen und möchte euch allen eine Stunde Weihnachten schenken. Ich habe hier 6 666 Euro. Könntet ihr bitte den anderen Frauen in den Zimmern Bescheid geben? Dann kann ich jeder Frau die vereinbarten 101 Euro für eine Stunde in die Hand geben.«

Es dauert eine ganze Weile, bis alle Frauen aus ihren Zimmern gekommen sind und ihr Geld in Empfang genommen haben. Fatima-Heike fragt frech: »Und jetzt? Sollen wir dir ’ne Nonnennummer machen?« Die Freier im Kontakthof grinsen und warten gespannt, wie es weitergehen wird.

»Nein, danke!«, schmunzelt der Pastor. »Ihr könnt mit dieser Stunde machen, was ihr wollt. Das ist ja der Sinn eines Geschenks.«

»Aber warum?«, ruft eine andere Frau aus der Menge. »Warum tust du das? Du kennst uns doch gar nicht.«

»Das stimmt«, antwortet er. »Wie ich schon sagte: Ich wollte euch allen einfach nur eine Stunde schenken, weiter nichts. Danach halte ich den Weihnachtsgottesdienst in meiner Gemeinde. Und dann gehe ich nach Hause zu meiner Familie, und es gibt die Bescherung. Aber ich möchte euch diese eine Stunde schenken, damit ihr an diesem Nachmittag nicht arbeiten müsst und die Gelegenheit habt, euch über Weihnachten zu freuen. Denn Weihnachten heißt, dass allen Menschen große Freude verkündet wird, weil für sie in der ersten Weihnacht der Retter Jesus geboren worden ist.«

»Was geht uns das an? Das erzählst du besser den Leuten in deiner Kirche«, unterbricht ihn eine Blondine. »Der Jesus, der will doch nichts mit uns zu tun haben. Der verurteilt doch unseren Lebensstil«, fährt sie fort.

»Die Leute in einer Moschee und die in deiner Kirche tun das auch, die wollen uns dort nicht haben!«, mischt sich Fatima-Heike ein. »Außer wir steigen aus«, fährt sie fort, »und leben von Hartz IV und lassen uns als Vorzeigeobjekte der Barmherzigkeit der Kirche herumreichen.« Sie lacht dabei, aber der Pastor merkt, wie verletzt sie tief innen ist.

»Das kann leider sein, dass Leute euch ablehnen«, gibt der Pastor zu, »aber der Herr der Kirche, Jesus, verurteilt euch jedenfalls nicht. Ich will es euch ganz kurz erklären: Damals, in der ersten Weihnacht, hat Gott Jesus auf die Erde geschickt, um den Menschen zu sagen: Ich habe euch lieb. Allen voran die Hirten, die wegen ihres Berufs und der damit verbundenen miesen Arbeitsbedingungen Ausgestoßene aus der Gesellschaft waren. Jedenfalls keine ›Vorzeigeobjekte‹, sondern ziemlich zwielichtige Gestalten, Penner und ehemalige Gangster. Doch gerade die hat Gott sich ausgesucht, um ihnen zuallererst die Weihnachtsbotschaft zu erzählen. Sie saßen am Lagerfeuer, und auf einmal umleuchtete sie eine riesige Lightshow. Als sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatten, sahen sie einen Engel. Der sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Ich bringe euch die größte Freude für alle Menschen: Heute ist für euch in der Stadt, in der schon David geboren wurde, der langersehnte Retter zur Welt gekommen. Es ist Jesus Christus, der Herr. Und daran werdet ihr ihn erkennen: Das Kind liegt, in Windeln gewickelt, in einer Futterkrippe.

Weihnachten bedeutet, dass Gott sich den Menschen zuwendet und ihnen sagt: Ihr seid mir unendlich wertvoll, und ich habe euch total lieb. Weihnachten bedeutet, dass Gott den Menschen mit Jesus ein großes Geschenk macht: An dem Leben von Jesus sollen nämlich alle sehen können, wie man glücklich werden kann. Für Muslime ist Jesus ein großer Prophet, für Christen ist Jesus der Sohn Gottes. Für alle Menschen aber ist Jesus der Grund, warum es Weihnachten gibt, warum es Geschenke gibt und man einen ganzen Abend lang mal nur fröhlich sein kann. Aus dem Grund wollte ich euch heute eine Stunde Weihnachten schenken.«

»So hat mir das noch nie jemand erzählt!«, sagt Fatima-Heike bewegt. Sie unterhalten sich noch eine Zeit lang und stellen dem Pastor Fragen. Am Ende ist die eine Stunde viel zu schnell vorbei, während der sie miteinander lachen und glücklich sind.

»Wisst ihr was?«, sagt der Pastor, bevor er gehen muss. »Ich habe zwar kein Geld mehr, aber ich werde mir welches leihen und euch noch eine Stunde schenken, mit der ihr machen könnt, was ihr wollt, weil wir die erste Stunde ja nun hauptsächlich mit Reden verbracht haben. Und wenn ihr mögt: Ich lade euch alle in meinen Gottesdienst ein, damit ihr noch mehr Weihnachten erleben könnt. Ihr könnt gleich mit mir kommen, müsst aber nicht. Ihr könnt die Stunde auch einfach nur genießen und nichts tun. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn ihr am Gottesdienst teilnehmt. Ich werde das sofort mit eurem Chef besprechen.«

Mit einem verlegenen Räuspern meldet sich da genau der zu Wort. Er hat sich seit einiger Zeit unbemerkt im Halbdunkel aufgehalten. »Das wird nicht notwendig sein. Du musst keinen Kredit aufnehmen, Pastor. Ich werde die nächste Stunde von meinem Geld bezahlen.«

Während die Frauen ihren Boss ungläubig ansehen, murren einige Freier: »Und was ist mit uns?« – »Sorry, aber die nächste Stunde ist der Laden dicht!«, verkündet der Bordellbesitzer bestimmt. »Du kannst mich mal!«, sagt einer der Freier ungehalten und steuert auf den Ausgang zu. Ein anderer ruft wütend: »Jetzt machst du wohl einen auf fromm, was?«

Die Frauen sind noch immer sprachlos über die zusätzliche freie Stunde. Manche verziehen sich in ihre Zimmer, andere an die Bar. Einige von ihnen aber, allen voran Fatima-Heike, machen sich auf den Weg, um im Gottesdienst der Gemeinde zu sehen, ob die Weihnachtsgeschichte wirklich das hält, was der Pastor versprochen hat.

MICKEY WIESE

Weihnachtswundernacht 1

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