Читать книгу Nick Francis 4 - Группа авторов - Страница 9

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Das Erste, was ich wahrnahm, war ein Knistern und eine blecherne Stimme: »Nächster Halt: Gänsemarkt!«

Langsam öffnete ich die Augen. Aus einem Fenster sah ich verschneite, in der aufgehenden Sonne liegende Häuser an mir vorbeiziehen. Zischend wie eine Schlange zog das Gefährt, in dem ich saß, über die Schienen, dann tauchte es ab in den Untergrund und schlängelte sich durch einen dunklen Tunnel. Also mal wieder ein Zug. Allerdings war dieser im Gegensatz zu dem Zug in meinem Wildwest-Abenteuer recht modern. Ich war wohl nicht in der Vergangenheit gelandet, aber auch nicht in der Zukunft. Was bleibt da noch übrig? Was sagte die Frauenstimme eben? »Nächster Halt: Gänsemarkt!« Dabei fällt mir nur Hamburg ein. Na, sehr weit ins Ausland hat es mich dann nicht verschlagen. Ich habe wohl nur die Billigreise in die nächstgrößere Stadt gewonnen. Nichts mit Karibik oder dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Neonröhren tauchten den Waggon in ein grelles Licht. Mein Kopf fühlte sich schwummerig an von der kleinen Zecheskapade, die ich vor Reiseantritt zelebriert hatte. Das Fazit lautete also: Experiment geglückt, Proband besoffen … Nein, so nun auch wieder nicht! Ich hatte genau die richtige Menge Lütt un Lütt intus. Ich war nicht betrunken, aber auch nicht nüchtern – hicks! Autofahren dürfte ich bestimmt nicht mehr, aber wozu auch, ich fuhr ja mit der Bahn.

Doch kommen wir zurück zum Eigentlichen: Angenehmerweise befand ich mich nicht in einer unbequemen, dahinrasenden Kutsche, nicht in einem antiken Zug und schon gar nicht in einer Sklavengaleere, die mit einem Peitschenschwinger bestückt war, der mich durch einen heftigen Hieb in die Welt der Festung brachte.

Nein, ich saß in einer U-Bahn, wir fuhren durch eine Röhre und kamen nur selten ans Tageslicht. Während ich nun meinem mir noch unbekannten Ziel entgegenratterte, nahm ich die Leute in dem Waggon etwas genauer unter die Lupe.

In dieser Saison schienen für die jungen Herren der Schöpfung geföhnte, gern auch gegelte, hochstehende, mit schwarzen und blonden Strähnen versehene Frisuren angesagt zu sein. Auf einigen weniger gestylten Häuptern entdeckte man bunte, aber auch schlichte Wintermützen, vereinzelte Exemplare waren gestrickt und mit einem Bommel versehen. Die Herren trugen enge Röhrenjeans, Lederjacke mit Stehkragen, wahlweise auch Mantel und Winterjacke. Das Schuhwerk war dem Outfit angepasst: Cowboystiefel, Winterstiefel, auch Turnschuhe wurden vereinzelt getragen. Zwei Anzugträger mit langen Kaschmirmänteln waren ebenfalls an Bord.

Die meisten Mädels trugen ihre langen Haare offen. Vier Frauenköpfe waren durch Dauerwellen aufgeplustert. Einige bunte Leggins schauten unter den Winterjacken hervor, aber auch Jeans und zwei Röcke, alle Damenfüße steckten in Winterstiefeln. Dieser modische Look, der mir in die Augen sprang, kam mir total bekannt vor. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Und nicht nur das − ich hatte ihn auch selbst mit stolzgeschwellter Brust und aus tiefster Überzeugung getragen.

Doch nicht zu diesem Zeitpunkt, denn ich selber trug eine schlichte Winterjacke, Schal, Mütze und Handschuhe – Mann, war mir warm.

Als ich nach einigen Minuten alles um mich herum inspiziert hatte, tauchte die Neonbeleuchtung einer U-Bahn-Station auf. Erst jetzt bemerkte ich den Reisekoffer zwischen meinen Füßen. Die Lautsprecher knisterten erneut und die Blechstimme verkündete: »Gänsemarkt!«

Wir wurden langsamer, dann kam der Waggon mit einem Ruck zum Stehen. Die Reisenden, die sich bereits erhoben hatten, bemühten sich, das Gleichgewicht zu halten. Die U-Bahn stand und ich saß. Sollte ich aussteigen? Weiterfahren? Ich musste mich schnell entscheiden. Die Leute öffneten die Türen und verließen in Windeseile das Abteil, genauso schnell stiegen neue Fahrgäste ein. Als sich die Türen schon wieder zu schließen begannen, sprang ich mit einem Satz auf, griff instinktiv nach dem Gepäckstück zwischen meinen Beinen und hechtete hinaus.

Da stand ich nun auf dem Bahnsteig, die U-Bahn hinter meinem Rücken setzte sich in Bewegung. Na, wenn das hier man richtig ist. Ich entschied, der Menge zu folgen, die vermutlich zum Ausgang strömte. Nach wenigen Metern teilte sich der Menschenstrom; es gab also mehr als einen Ausgang. Ich ließ mich von der Menge, die Richtung Dammtorstraße und Staatsoper strömte, mitnehmen. Wir durchschritten einen Gang, dessen weiß gekachelte Wände Graffiti und andere Schmierereien schmückten. Einige Kunstwerke waren mit Veranstaltungsplakaten übertapeziert. Ich blieb stehen und betrachtete die Plakate genauer. Sie verkündeten, dass David Bowie am 26.06.1982 im Hamburger Volksparkstadion auftreten würde. Ich bin also wirklich in Hamburg, und zwar nicht wie bisher üblich in einer weit zurückliegenden Zeit, sondern im Jahr 1982! Ich starrte auf den Aushang und bekam kaum mit, wie die Menschenmassen an mir vorbeihasteten und mich dabei rücksichtslos anrempelten. Schließlich ließ ich mich erneut im Strom der Menge mitreißen. Es ging eine Treppe hinauf.

Also 1982 − der modische Trend meiner Mit-U-Bahnfahrer hatte mich ja schon vorgewarnt. Also, Leute! Habt ihr Bock auf die Achtziger? Dann folgt mit mir dem Sog der Menge. Macht euch, meine lieben Zuhörer, einmal mehr bereit, mich auf meiner abenteuerlichen Reise zu begleiten. Macht es euch gemütlich, stellt das Telefon auf lautlos und das Handy aus, legt die Beine hoch, schaltet ein behagliches Licht an und seid gespannt auf das, was auf uns lauern wird, wenn wir gemeinsam hinab in den Keller steigen, wo das Grauen sicher schon auf uns wartet.

***

Je höher wir die Treppe hinaufstiegen, desto schärfer wehte mir ein eisiger Wind ins Gesicht. Klasse, dass ich Mütze, Schal und Handschuhe bekommen habe! Danke, großer Unbekannter. Als ich die obersten Stufen erreichte, ertönten die verschiedensten Autohupen und allmählich wurde der Menschenstrom, der sich aus der U-Bahn-Station nach oben in den grauschummrigen Morgen hinaufarbeitete, langsamer. Grün-weiße Polizeiautos parkten mit Blaulicht zwischen den Schneebergen. Ein Martinshorn heulte auf, und der dazugehörige Krankenwagen mit hektischem Blaulicht tauchte hinter einem Häuserblock auf.

Abrupt blieben die Leute vor mir stehen. Unten waren alle noch so in Eile gewesen, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her, und hier oben … Stillstand. Nun schienen sie alle Zeit der Welt zu haben. Die Menschentraube wurde immer größer. Wir reckten die Hälse und versuchten, über die Leute vor uns hinwegzuspähen.

Da ich trotz meiner wackeligen Versuche, auf Zehenspitzen zu stehen, nichts erkennen konnte, beschloss ich, etwas zu tun, was so gar nicht meine Art ist. Ich drängelte mich durch die Menge nach vorne. Dabei musste ich mir etliche Pöbeleien und Ellenbogen-Stöße in die Seite gefallen lassen. Ein Schaulustiger entriss mir sogar meinen Koffer und schnauzte mich an:

»He du, was fällt dir ein, glaubst du, ich will nicht auch mehr sehen? Stell dich gefälligst hinten an!«

Doch ihr kennt mich jetzt schon ein wenig länger und könnt euch denken, dass ich mich von solchen Lappalien nicht aufhalten lasse. Ich zog an meinem Koffer und erwiderte:

»Lassen Sie gefälligst los, ich bin Arzt.« Der Typ ließ tatsächlich von mir und dem Koffer ab, und ich drängelte mich dichter an das Geschehen heran. Am U-Bahn-Eingang waren Polizisten damit beschäftigt, die Neugierigen davon abzuhalten, die Absperrung durch die Drängelei zu durchbrechen. Gerade als ich mir einen Platz in der ersten Reihe erobert hatte, meinte ein Polizist:

»Seien Sie doch vernünftig, treten Sie zurück … Herrschaften … Bitte! … Hier gibt es nichts zu sehen!«

Also benahm ich mich wie jeder vernünftige Mensch in so einer Situation. Ich schenkte dem Polizisten keine Beachtung und reckte meinen Hals umso höher. Meine weit aufgerissenen Augen erspähten einen regungslosen nackten Oberkörper, der aus einem Schneeberg herausragte. Er schien mit einer rot glänzenden Schicht überzogen. Gefrorenes Blut? Roter Schnee umzeichnete den Oberkörper zusätzlich. Polizisten schaufelten den toten Mann aus dem Schnee heraus. Von hinten drängelten sich zwei Männer an mir vorbei und setzten gerade an, mit ihren gezogenen Fotoapparaten über die Absperrung zu klettern, als der Polizist sie anblaffte:

»Sind Sie denn ganz und gar verrückt?! Auch Sie bleiben gefälligst zurück – und keine Fotos!«, befahl er und drückte die Kameras runter.

Die Männer, die ich durch ihre an den Mänteln befestigten Presseausweise als Journalisten identifizierte, protestierten lautstark, wobei der eine, ein dauergewellter blonder Schönling mit Schnauzbart, besonders heftig debattierte. Leider konnte ich bei dem Getümmel um mich herum nicht verstehen, was er sagte. Ich hörte dafür noch den Beamten so etwas antworten wie: »Warten Sie auf die Pressekonferenz, da werden Sie alles erfahren«, bevor sich zwei hoch interessierte ältere Frauen zwischen uns quetschten. Gibt es hier was umsonst?

»Es soll ein junger Mann sein, der hier unter dem Schnee gefunden wurde«, begann die eine zu tuscheln.

»Ja, völlig zerfleischt soll er gewesen sein«, tuschelte die andere zurück. »Und nackt!«

»Oh! Wie schrecklich.« Sie hielt sich die Hand vor dem Mund.

»Das ist jetzt schon der Dritte, und alle noch so jung.«

»Und so etwas hier bei uns. Wie furchtbar. Man traut sich ja nachts kaum noch auf die Straße.«

Dann ließen sich die Frauen über die Arbeit der Polizei aus. Die hätte das verhindern müssen, doch stattdessen wäre sie nur damit beschäftigt, Falschparker abzuschleppen und so weiter.

In diesen ganzen Bruchstücken, die ich inzwischen erhascht hatte, steckten ein paar interessante Informationen. Ich wusste jetzt, dass der junge Mann nicht das erste Opfer war. Die Leichen waren mit Blut bedeckt und der Täter hatte bisher nur nachts zugeschlagen. Nachts, viel Blut? Habe ich es wieder mit einem Vampir zu tun? Nee, ein Vampir kann es nicht sein, der würde doch niemals so viel Blut übrig lassen. Es sei denn, er wäre auf Diät. Nick, du spinnst mal wieder.

Dann fiel mir ein großer, schlanker Mann mit grauem Wintermantel und einem schwarzen Hut auf, der in der Nähe der Leiche stand. Er diskutierte mit zwei Männern, vielleicht Kollegen, die wie er in Zivil unterwegs waren. Irgendwie erinnerte er mich an jemanden. Das Aussehen, die Körperhaltung, das wilde Gestikulieren. Mit einer ausgesuchten Höflichkeit fragte ich den Polizisten, der hinter der Absperrung stand und immer noch versuchte, uns von einem weiteren Vordringen abzuhalten:

»Entschuldigen Sie, wer ist der große Mann da hinten − der mit dem grauen Mantel?«

Ich konnte es gar nicht recht glauben, aber ich bekam tatsächlich eine, wenn auch knappe Antwort:

»Hauptkommissar Wallace. Und nun verschwinden Sie, bevor ich Sie einsperren lasse wegen Behinderung eines Polizeieinsatzes.«

»Schon gut, ich bin bereits weg«, antwortete ich und schob mich durch die Menge nach hinten. Hauptkommissar Wallace? An wen erinnert er mich nur? Fällt mir sicher wieder ein.

***

Ich entfernte mich immer weiter weg vom Schauplatz, und nach einigen Metern stand ich vor einem Denkmal. Ich schaute es mir an und las die Hinweistafel. Ach ja, das Lessing-Denkmal. Jetzt weiß ich es wieder. – Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen. – War das nicht von ihm?

In diesem Augenblick registrierte ich zum ersten Mal bewusst, wo ich mich eigentlich befand. Es kam mir gar nicht wie eine Welt aus dem Buch vor. Alles um mich herum war deutlich vertrauter als in den anderen Geschichten. Aber warum sollte es nicht so sein? Wenn ich in das Jahr 1694 reisen konnte, wieso nicht auch in das Jahr 1982, genauso hätte ich wohl auch im Jahre 2129 oder so landen können. Ich hatte zu sehr damit gerechnet, in eine weit entfernte Vergangenheit zu reisen. Ihr sicher auch – oder?

So stand ich einige Minuten grübelnd vor dem Denkmal, bis ein kalter Windstoß, der kleine Schneeflocken mit sich trug, in meine Jacke fuhr. Ich schaute mich um und erblickte ein großes Schild über einem einladenden Eingang. Albatros. Dem Schild zufolge ein Bistro mit integrierter Bar. Ich überquerte die Straße und betrat die rustikal gestaltete Gaststätte. An den Wänden hingen Bilder von James Dean, Humphrey Bogart, Elvis Presley, dem jungen Marlon Brando in Lederklamotten und von Marilyn Monroe. Eine Studentenkneipe der Achtziger. Das Albatros hatte anscheinend durchgehend geöffnet, denn so wie es aussah trafen hier die letzten Nachtschwärmer auf die ersten Frühaufsteher.

Ich gönnte mir eine Frühstückspause. Nachdem ich bestellt hatte, fiel mir ein, dass ich, wenn ich hier nicht abwaschen wollte, Geld benötigte. Ich durchsuchte die Jacke, die ich bereits über die Rückenlehne des Stuhls gehängt hatte, und fand in der Innentasche eine Geldbörse mit einigen großen und kleinen Scheinen unserer guten alten Deutschen Mark. Die Scheine kamen mir vertraut und gleichzeitig sehr fremd vor; es waren noch die alten Scheine, nicht die, die wir vor der Euroumstellung hatten, einige von euch werden sie sicher noch kennen. Und nun ratet mal, wie viel Geld es war. Sage und schreibe fünftausend Mark! Also genügend Knete, um den Kaffee und die beiden halben belegten Brötchen zu bezahlen und sich auch noch ein Zimmer für ein paar Tage zu mieten. So fragte ich die Kellnerin, als sie mir den Kaffee und die Brötchen brachte:

»Entschuldigen Sie, könnten Sie mir hier in der Nähe eine günstige Bleibe empfehlen?«

Sie schaute mich an und lächelte so, als wollte sie sagen: »Bei mir.« In Wirklichkeit aber sagte sie:

»In der Pension Gerhard hier am Gänsemarkt. Die ist sehr nett und vor allem sauber. Ich arbeite da oft am Wochenende zur Frühstückszeit.«

»Da auch! Dann sind Sie ja eine viel beschäftigte Frau.« Ich lächelte der Schönheit, deren Alter ich auf Anfang zwanzig schätzte, zu.

»Ich kann nicht klagen, aber ab und an ist es schon stressig, denn hauptsächlich studiere ich. Mit den beiden Arbeitsstellen finanziere ich mir das Studium. Tanzen gehen am Wochenende kommt da manchmal etwas kurz«, lächelte sie.

Ich nutzte die Gelegenheit und fragte:

»Wochenende? Ich bin ganz durcheinander, weil ich einige Tage unterwegs war, können Sie mir vielleicht verraten, welchen Tag wir heute haben?«

»Heute? – Montag!«

»Richtig, Montag der …«, ich sah sie nachdenklich an. Sie hatte rehbraune Augen, die tief in einem dunkelhäutigen Gesicht lagen.

»Montag, der elfte Januar.«

»Schon der elfte Januar?! Es kommt mir vor, als hätte das neue Jahr erst gestern begonnen. Ich habe jedenfalls fröhlich reingefeiert … Sie auch?«

»Klar! Hier war eine Riesenparty. Wir haben das Jahr neunzehnhundertzweiundachtzig gebührend empfangen.«

»Ja, das ist was! Jetzt haben wir schon neunzehnhundertzweiundachtzig«, sagte ich und dachte: Eigentlich wäre ich jetzt erst zehn Jahre alt. Und ich hörte: »Hallo, Fräulein!«

»Entschuldigen Sie, es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber ich darf die anderen Gäste nicht vernachlässigen.«

»Selbstverständlich, vielleicht sieht man sich mal wieder.«

»Würde mich freuen«, sagte sie lächelnd und drehte sich um. Ihre schwarzen Locken flogen hinter ihr her, als sie zum Nebentisch ging.

***

Das Leuchtschild mit der Aufschrift Pension GerhardZimmer frei zeigte mir mein nächstes Ziel. Doch bevor ich mir ein freies Zimmer organisierte, besorgte ich mir erst einmal eine Zeitung an dem Kiosk, der auf dem Weg lag.

»Moin, ich hätte gern das Hamburger Abendblatt

»Einmal Abendblatt – bitte sehr, macht eine Mark, der Herr!«

Geld und Zeitung wechselten die Besitzer, dabei fragte ich:

»Erscheint die Zeitung täglich?«

Fragend schaute mich der Verkäufer an: »Ja, wenn sie nur einmal die Woche rauskäme, wäre es doch eine Wochenzeitung und keine Tageszeitung?!«

»Da haben Sie auch wieder recht. Wissen Sie, ich war mal an zwei besonderen Orten und da gab es nur eine Zeitung pro Woche.«

»Wenn Sie unbedingt wollen … ich habe auch Zeitungen, die nur einmal in der Woche herauskommen. Hier … die Fernsehzeitung zum Beispiel. Für achtzig Pfennig ist es Ihre.«

»Okay, nehme ich auch.«

Ein weiteres Mal wechselten Gegenstände die Besitzer. Als ich die Zeitungen zusammenrollen wollte, sprang mir die fett gedruckte Schlagzeile des Abendblattes entgegen: Wann wird der Schlächter von Hamburg wieder zuschlagen?

»So ganz aktuell ist Ihre Zeitung aber nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Weil der Schlächter bereits wieder zugeschlagen hat.«

»Habe ich gehört. Das wird bestimmt morgen drinstehen.«

»Na, dann bis morgen. Schönen Tag noch.«

»Danke, Ihnen auch!«

Obwohl ich sehr neugierig auf den Schlächter-Artikel war, sodass ich ihn am liebsten an Ort und Stelle gelesen hätte, rollte ich die Zeitungen zusammen und machte mich samt Lesematerial auf den Weg zur Pension. Dort empfing mich eine rundliche kleine Frau, ich schätzte sie auf Mitte bis Ende sechzig. So wie es aussah häkelte sie gerade an einem Platzdeckchen. Als sie mich sah, legte sie ihre Handarbeit zur Seite, hieß mich herzlich willkommen und stellte sich als Frau Gerhard vor. Ich teilte ihr mit, dass ich für ein paar Tage ein Zimmer suchte. Mit einem Lächeln gab sie mir ein Formular, welches ich pflichtbewusst ausfüllte. Als ich damit fertig war, wollte sie noch meinen Ausweis sehen, doch natürlich fand ich keinen bei mir. Um nun das Ausweisdefizit auszugleichen, meinte ich, dass mir ihre Pension von der Kellnerin aus dem Albatros empfohlen worden sei, die an den Wochenenden bei ihr arbeite.

»Dann geht es schon in Ordnung, geben Sie nur Ihren Namen an. Wenn Sie von Vanessa kommen, ist das als Referenz ausreichend für mich.«

Vanessa.

Damit waren also die Formalitäten erledigt und ich bekam einen Schlüssel. Frau Gerhard ließ es sich nicht nehmen und führte ihren neuen Gast persönlich in das Zimmer, durch dessen Fenster man genau auf das Lessing-Denkmal sah. Zu dem Raum gehörte ein kleines Badezimmer. Super, endlich der ersehnte Übernachtungskomfort! Ihr wisst doch noch, wie ich sonst immer untergebracht war. Hier stand sogar ein kleiner, grüner Fernseher auf einer Kommode. Kennt ihr die Fernseher noch, die nur einen Drehknopf für die drei Programme hatten? Nach der Inspektion des Zimmers schaltete ich das Gerät kurz ein. Das rauschende Schneebild aus schwarzen und weißen Punkten wich nach kurzer Zeit einer farblosen Nachrichtensprecherin, die ich nach einer weiteren Minute auch zu hören bekam:

»Hamburg! Wie uns gerade mitgeteilt wurde, gab es letzte Nacht an der U-Bahn-Station Gänsemarkt ein weiteres Mordopfer. Ein junger Mann, dessen genaues Alter noch unbekannt ist, wurde in den Morgenstunden bei Schneeräumarbeiten gefunden. Dieser ist das dritte Opfer in den vergangenen drei Wochen. Die Polizei hat in einer kurzen Pressekonferenz angedeutet, dass es sich bei dem Mörder mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Serientäter handelt … In den USA kann Präsident Reagan seine einjährige Amtszeit feiern. Rückblickend auf das erste Jahr, meinen einige …«

Jetzt schneite es nicht nur draußen, sondern auch wieder auf dem Bildschirm. Da half kein an der Antenne rütteln und kein Klopfen auf das Gerät. Ich stellte es ab und öffnete den Koffer. Um mir einen Überblick über meine Habseligkeiten zu verschaffen, breitete ich den Inhalt auf dem Bett aus. Zwei Jeanshosen, Unterwäsche, Pullover, Hemden. Keine Pflegemittel. Wo ich hier doch so ein tolles Badezimmer habe. Aber einen aufklappbaren Reisewecker gab es als Bonus. Ich räumte die Sachen in den Schrank. Bekommt eigentlich jeder, der in die Geschichten reist, seine Kleidergröße? Wie geht das?

Dann nahm ich das Hamburger Abendblatt und setzte mich an den Tisch. Aufmerksam studierte ich den Schlächterartikel und erfuhr mehr Details als von der Schwarz-Weiß-Tante aus dem Röhrenapparat. Das Schwarzgedruckte verkündete, dass die beiden jungen Männer, die in den vergangenen Wochen getötet wurden, erst Anfang zwanzig gewesen waren und dass seit Ende letzten Jahres von drei Männern im gleichen Alter jede Spur fehle. Dazwischen wurde ein Zusammenhang vermutet. Der Autor des Artikels nannte auch den Namen des Mannes, der die Ermittlungen leitete: Hauptkommissar Wallace. Danach erging sich der reißerische Text in Spekulationen: Vieles würde darauf hindeuten, dass hinter dem Ganzen eine satanische Gemeinschaft stecke, die den Wolf verehre und sicherlich auch für den Wolfsdiebstahl aus dem Hamburger Tierpark verantwortlich sei, der sich kurz vor dem ersten Mord ereignet hatte. Der Marktschreierartikel endete mit: Bis jetzt waren die Opfer nur Männer Anfang zwanzig. Trotzdem sollte sich keiner in diesen Zeiten zu sicher fühlen … Denn wer weiß, vielleicht könnte es bald jeden jederzeit treffen!

***

Gegen Mittag verließ ich meine neue Bleibe, um mich, wenn möglich, etwas genauer am Tatort umzusehen. Doch da gab es nichts zu entdecken, alles war weggeräumt. Keiner der Passanten blieb mehr stehen, um sich umzuschauen. Der einzig Neugierige war ich, dessen Neugierde am Ende doch noch belohnt wurde. Denn etwas abseits des Leichenfundorts entdeckte ich ein Amulett, genauer gesagt ein Pentagramm, das an einem Lederband hing. Das silberne Ding hatte einen Durchmesser von ungefähr vier Zentimetern. Wie konnte die Polizei das nur übersehen? Ob es mit den Morden zusammenhängt oder hat es einer der Schaulustigen verloren?

Zum ersten Mal in all meinen Abenteuern war mir meine Aufgabe sehr schnell klar: Diese Geschichte drehte sich um die Morde, kein Zweifel. Hier in Hamburg war es nicht so wie in der Karibik, wo ich erst einige Seemeilen überwinden musste, um zu erfahren, worum es in Die Festung eigentlich ging.

Dafür hatte ich große Schwierigkeiten mir zu vergegenwärtigen, dass ich mich wirklich in einem meiner Abenteuer befand. An diesem Ort war mir einfach alles so viel vertrauter als in den anderen Geschichten des Torbuches, die ich bereits durchlebt hatte. Auch wenn ich Hamburg in Wirklichkeit zum ersten Mal 1991 mit meinen Eltern besucht hatte, um das Phantom der Oper in der Neuen Flora zu sehen. Danach waren wir zwei- bis dreimal pro Jahr in der Stadt. Entweder in einem Musical oder im Ohnsorg-Theater, und auch den Gänsemarkt hatte ich in dieser Zeit kennengelernt.

Meine Eltern … in den letzten zwei Jahren musste ich immer seltener an sie denken. Sie wären sicher stolz auf mich, wenn sie wüssten, dass ich Willis Laden übernommen habe. Und meine innige familiäre Beziehung zu Willi und Doris würde sie bestimmt beruhigen. Sie hatten die beiden schließlich auch sehr gemocht. Was würden meine Eltern wohl zu den Torbuch-Erlebnissen sagen? Mutter wäre vermutlich ganz ängstlich und Vater hätte mir das Buch mit Sicherheit weggenommen − nur um dann selbst darin zu verschwinden. Vielleicht wären wir gemeinsam in das Buch gereist. War das eigentlich möglich? Was würde passieren, wenn zwei Menschen ihre Hände gleichzeitig auf einen Titel im Torbuch legten?

Jedenfalls hätte sich mein Vater so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen. Er war ein Abenteurer, wie oft war er mit mir zelten und fischen gegangen! Und dann die ganzen aufregenden Dinge, die ich mit ihm in der von ihm geleiteten Pfadfindergruppe erlebt hatte. Ach ja, und die riesigen Kuchen meiner Mutter, über die wir Pfadfinder uns jedes Mal wie eine Meute Wölfe hermachten. Meine Mutter … sie hatte immer als Erste die Hand gehoben, wenn in der Pfadfindergruppe Fahrer gebraucht wurden.

All die Erinnerungen. Nach dem Tod der beiden hatte ich sie einfach nicht ertragen. Deshalb war ich auch aus der Pfadfindergruppe ausgetreten. Jetzt kommt es mir vor, als wären die Erlebnisse meiner Jugend auch nur Abenteuer aus dem Buch. Und meine Eltern? Sie waren dabei wie die Freunde, die ich jedes Mal zurücklassen musste, wenn ich eine Geschichte verließ. Dieser Gedanke gefällt mir, denn es könnte doch vielleicht sein, dass meine Eltern in einer Parallelwelt weiterlebten?

Doch kommen wir wieder zurück zu unserer Geschichte, wo mein Blick gerade auf ein Gebäude der Deutschen Post landete. Instinktiv machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich wollte nur eines, nach Hause telefonieren. Technisch war es möglich, aber praktisch? Aus der Reihe an Telefonbüchern der verschiedenen Regionen Deutschlands suchte ich das passende Verzeichnis heraus. Doch ich fand weder Peter Francis noch Willi Funke und das brachte mich wieder zurück in diese Welt der Nichtexistenz. Oder existiert meine Welt zu Hause ebenso wenig? Ich klappte das Telefonbuch zu und ließ es in den Ständer zurückgleiten, wo es genau wie meine Gedanken noch ein bisschen hin- und herpendelte. Ich hätte gerne noch einmal mit meinen Eltern gesprochen. Bei dem Gedanken lief mir allerdings ein kalter Schauer über den Rücken. Denn wenn das möglich gewesen wäre, hätte ich auch mit mir selbst sprechen können. So hatte ich einen Beweis mehr dafür, dass es sich bei den Geschichten nicht um Zeitreisen handelte, sondern eher um eine gleichartige Parallelwelt.

In den nächsten beiden Stunden verschwand meine melancholische Stimmung allmählich. Ich machte mich vertraut mit der Umgebung und stöberte in den Seitenstraßen des Gänsemarktes. Als Letztes schlenderte ich in die Drogerie Bukowski. Dort deckte ich mich mit ein paar Badezimmerartikeln ein. Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierzeug, Deo, Duschgel, Shampoo und auch ein paar Tempotaschentüchern. Die sind bei diesem Wetter bestimmt angebracht. Hatschi! Als ich beim Bezahlen das überquellende Portemonnaie sah, überlegte ich mir, einen Teil des Geldes lieber irgendwo zu deponieren, um nicht immer alles mit mir herumschleppen zu müssen. Zurück in der Pension fragte ich also, ob es so etwas wie einen Safe gäbe. Es gab einen. Ich bekam einen Umschlag von Frau Gerhard und schob viertausendfünfhundert Mark hinein. Meine Wirtin quittierte den Empfang und schloss den Umschlag in ihrem Panzerschrank im Büro ein.

Ich ging in meine Kajüte, wie ich mein Zimmer in Erinnerung an mein letztes Abenteuer nannte, und deponierte die Drogerieartikel im Badezimmer. Anschließend begab ich mich nach unten in den kleinen Speiseraum, wo eine ordentliche Portion Rindsgulasch mit Nudeln auf mich wartete. Nach dem Essen verbrachte ich einige Zeit mit dem Abendblatt und der Fernsehzeitschrift. Dann – so gegen sieben Uhr – machte ich mich auf den Weg zum Albatros. Ich wollte mit den Einheimischen in Kontakt treten. Ich hoffte, dass ich so mehr über die Morde erfahren würde. Quasi aus erster Hand ohne schwarz-weiße Nachrichtensprecherin und Druckerschwärze. Im Flur vor meinem Zimmer traf ich auf Frau Gerhard und erzählte ihr von meinem Vorhaben, ausgehen zu wollen.

»Seien Sie bitte recht vorsichtig, Herr Francis, vor allem bei den U-Bahn-Stationen«, entgegnete sie fürsorglich.

»Warum gerade da?«

»Haben Sie denn noch nichts von diesen entsetzlichen Morden gehört?«

»Nicht nur gehört. Als ich heute Morgen ankam, wurde gerade ein Opfer weggebracht.«

»Oh, Herr Francis, was für ein schrecklicher Anblick.«

»Viel war nicht zu sehen, die Polizei hatte alles abgeriegelt … Äh, Sie haben eben angedeutet, dass es gerade bei den U-Bahn-Stationen gefährlich ist, wieso da?«

»Na, weil die Morde doch immer da passiert sind und immer nachts.«

»Das war heute der dritte, oder?«

»Schrecklich, nicht wahr? Und dann noch die Vermissten. Da gibt es bestimmt einen Zusammenhang, so steht das auch in der Zeitung. Ich für meinen Teil werde in nächster Zeit nicht im Dunkeln vor die Tür gehen. Und Sie sind bitte auch schön vorsichtig, denn bis jetzt waren die Opfer immer junge Burschen«, sagte sie und sah mich sorgenvoll an. Anscheinend wieder eine Wirtin, bei der ich den Beschützerinstinkt geweckt habe.

»Eben, junge Burschen«, erwidere ich, »also bin ich doch aus der Nummer raus!«

»Herr Francis, Sie sind doch noch so jung.«

»Na, und Sie erst, werte Frau Gerhard! Ihre Schulzeit kann doch noch gar nicht so lange her sein.«

Lächelnd winkte sie ab und ich verabschiedete mich von der nun deutlich weniger sorgenvoll dreinblickenden Dame. Ohne mir ein schützendes Kruzifix mitzugeben, ließ diese Wirtin mich gehen.

***

Die Stimmung im Albatros war ausgelassener als am Morgen. Da war der Laden zwar ebenfalls gut besucht gewesen, aber es war doch etwas ruhiger zugegangen. Die morgendliche Trägheit hatte den Gästen noch in den Gliedern gesteckt. Jetzt war die Musik lauter und poppiger, Billy Idol schrie rebellisch aus den Boxen. Die jungen Frauen waren greller geschminkt, die Frisuren höher gesteckt und aufgeplustert, von den Hüften standen kurze Tüllröcke ab, die Beine steckten in knalligen Neon-Netzstrumpfhosen. Und um noch eins draufzusetzen, hatten viele ihre Waden mit bonbonfarbenen Stulpen geschmückt. Nietenarmbänder waren bei Jungen und Mädchen beliebt.

An den Tischen hatten sich kleine Grüppchen versammelt. Darunter waren auch einige, die schon das mittlere Lebensalter erreicht hatten und sich, wie sagt man, locker und unauffällig kleideten; so wie ich. Ein Glück, dass sich in dem Koffer normale Klamotten befunden hatten und nicht etwa irgendwelche Jacketts mit ausladenden Schulterpolstern oder so. Ich wollte gerade am Tresen Platz nehmen, als mir jemand auf die Schulter tippte.

»Ja, bitte!«, sagte ich im Umdrehen und blickte in rehbraune Augen.

»Hi, auch wieder da.«

»Oh, arbeiten Sie etwa immer noch? Oder schon wieder?«

»Nein, ich bin mit ein paar Freunden hier … Na, und haben Sie ein Zimmer bei Frau Gerhard bekommen?«

»Oh ja, vielen Dank für den Tipp, echt super da.«

»Frau Gerhard ist eine sehr nette … Ähm, wenn Sie wollen, kommen Sie doch zu uns an den Tisch. Oder sind Sie mit jemandem verabredet?«

»Nö!« Ich schüttelte den Kopf. »Bin ganz alleine hier.«

»Dann kommen Sie, ich möchte Ihnen ein paar Freunde vorstellen. Ich bin Vanessa.«

Weiß ich doch schon längst. Ich tat aber so, als wüsste ich es nicht und stellte mich ebenfalls vor: »Hallo Vanessa, ich bin Nick.«

Wir sahen uns in die Augen. Sie lächelte. Die leuchtend roten Lippen bildeten einen Kontrast zu der hellbraunen Haut. Sie griff nach meiner Hand und zog mich mit. Während ich ihr hinterher taperte, bewunderte ich die wilden pechschwarzen Locken. Unter einer engen Hose und einer ebensolchen Bluse zeichnete sich ihr makelloser Körper ab ... Halt, Stopp! Jetzt habe ich genug geschwärmt.

Also, wie war das noch? Ich taperte hinter der zierlichen Schwarzhaarigen her, bis wir einen Tisch erreichten, an dem eine Frau und zwei Männer saßen.

»Hey Leute! Darf ich euch Nick vorstellen, einen netten Kerl, den ich heute Morgen bei meiner Frühstücksschicht kennengelernt habe.«

Freundliche Begrüßungsworte schallten mir entgegen und Vanessa zeigte auf einen nach dem anderen und nannte mir die Namen:

»Also Nick, das ist Klaus, das meine Freundin und Kommilitonin Alexandra, kurz Alex, und zu guter Letzt haben wir hier noch Dirk. Er ist Koch hier im Albatros, hat aber heute seinen freien Abend. Setz dich«, bat Vanessa und wies auf den einzigen freien Stuhl, während sie sich umdrehte und am Nebentisch fragte:

»Ist der Stuhl hier noch frei?«

»Kannste haben!«

»Danke!«

Seht ihr, mit freundlichen Worten kann man auch in einer vollen Gaststätte zu einer Sitzgelegenheit kommen. Man muss nicht unbedingt jemandem den Stuhl unterm Hintern wegreißen. Sollte sich mal ein gewisser Herr Kapitän ein Beispiel dran nehmen – Aber egal! Das war in einer anderen Geschichte.

Ich fand es sehr angenehm, dass Vanessa mich von diesem Moment an duzte, gab es mir doch gleich ein Dazugehörigkeitsgefühl und es schmeichelte mir sehr, denn ich kam mir gleich viel jünger vor. Doch zurück zu den Anwesenden. Wie dieser Klaus, den ich irgendwo schon mal zu sehen geglaubt hatte, ich wusste nur nicht wo. Doch als er erzählte, dass er Journalist sei, fiel es mir sofort wieder ein. Er war der dauergewellte Schnurbartträger, den ich am Morgen zusammen mit dem anderen Journalisten am Tatort gesehen hatte.

»Ich bin vom ersten Tag an der Story dran und bin mir sicher, dass uns die Polizei einiges verschweigt.«

»Was sollen die uns schon so Wichtiges verschweigen?«, meinte Vanessa, »glaubst du immer noch, dass es sich um Ritualmorde handelt?«

»Alles, was ich rausbekommen habe, spricht dafür. Zum Beispiel das mit dem geklauten Wolf aus dem Tierpark. Kurz danach fingen die Morde an. Die Polizei streitet natürlich ab, dass der Wolf was mit der Sache zu tun hat.«

»Hat der Wolf deiner Meinung nach auch die anderen Studenten entführt?«, fragte Vanessa spitz.

»Wenn du rechnen könntest, meine Liebe, wüsstest du, dass das nicht angehen kann, da der erste Student verschwand, als der Wolf noch in seinem Käfig saß. Aber im Ernst, ich bin mir ziemlich sicher, dass die Nightstalker für das alles verantwortlich sind.«

»Nightstalker?«, murmelte ich.

»Das ist eine sektenartige Satansgemeinschaft. Die Jünger der Nacht, wie sie sich auch nennen, bilden sich ein, sie könnten sich in alles Mögliche verwandeln. Der Wolf ist ihr Maskottchen. Sie tragen schwarze Klamotten und schmieren ihre Gesichter weiß an. Leider fehlen mir noch tatkräftige Beweise, die sie mit den Morden in Verbindung bringen, ansonsten hätte ich in meinem Artikel schon längst konkrete Andeutungen gemacht. Aber bald ist es so weit … verlasst euch drauf.«

»Schreibst du fürs Abendblatt

»Ganz recht! Hast du meinen Artikel in der Ausgabe heute gelesen?«

»Zeile für Zeile!«

Ich überlegte, dann zog ich das Amulett aus der Tasche.

»Hier, kannst du damit was anfangen?«

Klaus nahm es in die Hand, wiegte den Kopf und meinte schließlich:

»Interessant, ein umgekehrtes Pentagramm, das Symbol für Okkultismus und Satanismus. Wo hast du das her?«

»Habe ich in der Nähe der letzten Leiche gefunden.«

»Seht ihr, ein Beweis für meine Vermutung. Jetzt kann ich meinem nächsten Artikel den rituellen Hintergrund verleihen: Satanisches Symbol bei Leiche gefunden.«

»Na ja, nun nicht gerade bei der Leiche.«

»Das ist Journalismus, wir werden uns hier doch nicht um ein paar Meterchen streiten«, grinste er zufrieden.

Er gab mir das Amulett zurück, musterte mich und fragte:

»Hast du Lust, mich morgen zur Pressekonferenz zu begleiten?«

»Das wäre bestimmt sehr interessant, aber ist das nicht nur für Journalisten?«

»Kein Problem! Komm mal kurz mit.«

Mit einem Fragezeichen im Gesicht folgte ich Klaus.

»Stell dich da mal an die Wand.« Er zückte seinen Fotoapparat und schoss ein Bild von mir. Danach tat er sehr geheimnisvoll. Zurück am Tisch unterhielten wir uns weiter über dies und das, bis Alex auf ihre Uhr schaute:

»Ach du Schande, schon halb elf! Ich muss los, morgen habe ich einen anstrengenden Tag, und du solltest auch los, Vanessa, denk an die Vorlesung morgen früh.«

»Du hast wie immer recht. Würdest du nicht auf mich aufpassen, würde ich wohl sämtliche Vorlesungen verpennen.«

»Oder verquatschen,« meinte Klaus und Vanessa streckte ihm die Zunge raus. »Bäh!«

»Ich sollte auch los«, sagte Dirk, »morgen um sechs muss ich wieder in der Küche stehen. Frühstücksschicht, das bedeutet jede Menge Rührei mit Krabben … Was ist, Alex, teilen wir uns ein Taxi?«

»Gerne, aber jeder fährt in seine eigene Wohnung, du weißt, wie sonst die Nacht endet, und wir beide kriegen morgen früh kein Auge auf.«

»Ja, ja, verstehe – hast ja recht!«, murmelte Dirk und machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Und du, Vanessa, wie kommst du nach Hause?«, fragte ich fürsorglich.

»Ich wohne nur zwei U-Bahn-Stationen von hier entfernt.«

»Ist das nicht ein bisschen gefährlich, so allein und schutzlos? Wenn man den Medien Glauben schenken darf«, ich lächelte zu Klaus hinüber, »kann es jeden jederzeit treffen«, ich schaute zurück zu Vanessa, »darum würde ich mich anbieten, dich nach Hause zu begleiten.«

»Aber die Opfer sind doch männlicher Natur«, entgegnete sie.

»Das kann sich schnell ändern. Die Jünger der Nacht warten schon«, mischte sich Klaus ein.

»Du Idiot, aber vielleicht habt ihr recht«, sagte sie und runzelte die Stirn. Dann schaute sie mich so prüfend an, als würde ich mich bei ihr um einen Modeljob bewerben. »Na ja, als Bodyguard könntest du gerade noch so durchgehen.«

***

Die zwei U-Bahn-Stationen hatten wir schnell hinter uns gebracht und so stand ich schon bald mit Vanessa vor einem Mehrfamilienhaus.

»Da wären wir! Hier wohne ich im vierten Stock. Danke, dass du mich begleitet hast.«

Ein Kuss auf meine Wange unterstrich ihre Dankbarkeit.

»Bist du morgen Abend wieder im Albatros

»Wenn du auch da bist, würde ich gerne kommen.«

»Super, so gegen acht könnte ich da sein.«

»Super, ich freue mich! Dann bis morgen Abend und gute Nacht, Vanessa.«

»Gute Nacht, Nick«, sagte sie, drehte sich in Richtung Haustür, steckte den Schlüssel ins Schloss und drückte die Tür auf. Dann drehte sie sich noch mal zu mir um, lächelte und verschwand im dunklen Hauseingang, wo gleich darauf das Licht anging. Durch das Glas der Haustür sah ich ihren Schatten die Treppe hinaufsteigen.

Ach, ich finde es hier ganz nett in Hamburg.

Mit geküsster und nun erröteter Wange stiefelte ich durch den Schnee zurück zur U-Bahn. Die Rückfahrt verbrachte ich mit zwei lallenden Punkern, einem Rentnerehepaar und drei kichernden Teenies. Wieder am Gänsemarkt traf ich auf drei ganz in Schwarz gekleidete Typen und eine Typeline, die mit einem von den Kerlen Händchen hielt. Ihre Gesichter waren weiß geschminkt, die Lippen und Augenränder schwarz. Auch klamottentechnisch glichen sich alle, bis auf die Beinkleidung. Statt der schwarzen Jeans trug das Mädchen schwarze Leggins und darüber einen schwarzen Rock. Der Längste von den drei Kerlen, der mit dem Mädchen an der Hand, hatte seinen schwarzen langen Ledermantel nicht ganz geschlossen und auf seiner Brust hing ein Pentagrammamulett. Vielleicht ist das Ding hier Mode und hat nichts zu bedeuten … Oder das sind Leute von dieser Sekte, von der Klaus erzählt hat. Diese, wie hat er sie noch genannt? Nightstalker!

Die Gruppe in Schwarz setzte sich auf die Rückenlehne einer Bank, die Füße stellten die vier auf die Sitzfläche, die von einer dünnen Schneedecke überzogen war. Sie kramten Bierdosen aus ihren Rucksäcken, rissen sie auf und zündeten eine selbstgedrehte Zigarette an, die aussah wie eine Miniaturschultüte. Wir können uns wohl denken, was da für eine Mischung eingerollt war. Die Tüte machte die Runde, als mich plötzlich einer der vier lallend anpöbelte:

»Was glotzt‘n so? Willste was aufs Maul?!«

»He, halt dich zurück, Tarek«, meinte der Lange und griff den Pöbler am Arm.

»Was ist, Judas, der Typ gefällt mir nicht!«, lallte Tarek, der als Einziger einen schwarzen Bürstenhaarschnitt trug. Die schwarzen Haare der anderen waren mehr oder weniger lang und glatt. Dieser Tarek hatte ein breites Kreuz und schien ganz schön muskelbepackt zu sein, so viel konnte ich trotz des Mantels erkennen. Ich antwortete ruhig: »Ich will keinen Ärger haben, Freunde, bin schon weg.«

»Wir sind nicht deine Freunde – klar?!«, fauchte die Tante nicht weniger lallend.

»Genau, lauf nach Hause zu Mutti – du blöder Wichser!«, setzte Tarek noch nach. Der Große, den sie Judas nannten, war vermutlich der Einzige von ihnen, der noch einigermaßen klar im Kopf war. Der dritte Kerl im Bunde schien schon völlig weggetreten zu sein. Der spindeldürre, etwas zu kurz geratene Jüngling kippte plötzlich von der Bank nach hinten in den Schnee.

»Oh Mann, Roger, was treibst du da wieder?«, fragte das Mädchen, und während sich alle um den im weißen, kühlen Nass liegenden Roger kümmerten, setzte ich meinen Heimweg fort. Auf eine weitere Unterhaltung oder gar eine Auseinandersetzung mit diesen Schreckgespenstern konnte ich gern verzichten.

»Ja, verpiss dich Alter!«, grölte Tarek hinter mir her.

Jo, du mich auch!

Nick Francis 4

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