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Imperialismus, Krieg und Revolution

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Die Pariser Weltausstellung von 1900 war, auch wenn in den Festreden die Brüderlichkeit aller Völker betont wurde, zwischen industrialisierten Industriestaaten und ihren Kolonien zutiefst gespalten. Der größte Teil von Afrika, weite Teile Asiens und des pazifischen Raumes standen unter der Kontrolle einiger mächtiger Staaten. Großbritannien, Russland, China und Frankreich, die Niederlande, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich beherrschten riesige, multiethnische Reiche; auch andere europäische Staaten hatten sich einen „Platz an der Sonne“ in Form von kleineren kolonialen Besitzungen erobert. 1898 hatten die Vereinigten Staaten beispielsweise die Philippinen und Puerto Rico erworben. Politische Ideologien, die überall in Europa verbreitet waren, rechtfertigten die imperiale Herrschaft als Ausdruck des Fortschritts und der Zivilisation. Diese brächte den Beherrschten technologischen Fortschritt, Erziehung, Bildung und Religion.

Freiheit und Gleichheit?

Unabhängigkeit und Freiheit waren im Weltenplan für die nicht-europäischen Staaten nicht vorgesehen. Nur die Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich 1776 von der Herrschaft einer fremden monarchischen Macht befreien können, um dann ein Jahrhundert später auch imperiale Macht auszuüben. Später endete die Kolonialherrschaft Frankreichs über Haïti, und zwischen 1810 und 1826 hatten die lateinamerikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit von Spanien und Portugal erkämpft und konstitutionelle Regime eingerichtet. Doch Freiheit und Gleichheit standen auch dort mehr auf dem Papier, als dass sie in Wirklichkeit von den Caudillos, den autoritären Militärherrschern, die die lokalen oder nationalen Regierungen kontrollierten, gewährt wurden. Der Weg der lateinamerikanischen Staaten zu einem Nationalstaat, das heißt zum Gefühl beziehungsweise zur sozialen Praxis der gemeinsamen Zugehörigkeit, war langwierig; zu groß waren die inneren ethnischen und regionalen Gegensätze, die gesellschaftlichen und kulturellen Spannungslagen und Gräben. Das waren Prozesse, die am Vorabend des „Großen Krieges“ in Europa längst nicht abgeschlossen waren und die für die kolonialen Territorien auf ihrem Weg in die nationale Unabhängigkeit erst noch bevorstanden.

Zwei Formen von Großreichen existierten um 1900: die gewaltigen Festland reiche Russland, China, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, die ihre Herrschaft über Jahrhunderte durch Eroberung und Annexion errichtet hatten, die dann um 1920 durch die Folgen von Krieg und Revolution entmachtet oder zerfallen waren; der andere Typus war im 18. und 19. Jahrhundert durch Eroberungen in Übersee entstanden.

Indien als Kolonialbesitz Großbritanniens

Die imperialen Mächte West- und Mitteleuropas kontrollierten ihre kolonialen Besitzungen in der Regel durch direkte politische Herrschaft. Vor allem Großbritannien beherrschte an der Jahrhundertwende ein Viertel der Länder der Erde und ein Viertel der Weltbevölkerung. Das Herzstück und Juwel der britischen Überseeherrschaft war zweifelsohne Indien, dessen Größe und Reichtum Großbritannien zur Führungsmacht in Asien machten. Die britische Macht war durch direkte und indirekte Herrschaft begründet, gesichert war sie durch die Armee von indischen Soldaten, die von britischen Offizieren befehligt wurden. Die Erhebung von Steuern war eine der Hauptbeschäftigung der britischen Regierung in Indien. Die Briten brachten Kapital und teilweise auch britische Institutionen sowie kulturelle Ressourcen. Der Export von Kapital und Kultur verschaffte Großbritannien Einfluss und verschaffte London auch außerhalb der Grenzen der formellen Herrschaft, etwa in Lateinamerika, Einfluss.

Regionalisierung und Periodisierung

Kapital, Waren und Ideen waren die Grundlagen der europäischen Hegemonie, nicht nur von Großbritannien, über das internationale System. Europa stand im Zentrum einer Welt, in der Amerika, Afrika und Asien zur Peripherie gehörten, auch wenn wichtige Länder davon schon ihre Unabhängigkeit erworben oder behauptet hatten – ein Prozess, der durch den Ersten Weltkrieg beschleunigt werden sollte. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der folgenden Kette von Revolutionen begann aus europäischer Perspektive das „kurze 20. Jahrhundert“, was für die außereuropäischen Länder und Staaten in dieser schroffen Periodisierung nicht gilt. Das „kurze 20. Jahrhundert“ endete 1989/1990 ebenfalls mit einer Revolution, doch dieses Mal mit einer Kette von „friedlichen Revolutionen“, die das sowjetische Imperium zusammenbrechen ließen und den Kalten Krieg beendeten. Dieser Wandel hatte, im Unterschied zu 1914, sehr viel weitreichendere, globale Wirkungen. Dazwischen lag ein Jahrhundert der Auflösung von Imperien und von neuerlichen Nationalstaatsbildungen, eine Epoche des Verlustes europäischer Dominanz, des ideologischen Bürgerkriegs und der massenhaften politischen Gewalt, aber auch der Demokratisierung und Emanzipation, der Modernisierung und des Wandels sowie des Gegensatzes von Freiheit und Gleichheit.

Die neue Welt, die sich nach 1918 abzeichnete, war zunächst eine vom Krieg geschaffene Welt, und das belastete die Zukunft der neuen Ordnung, bis sie in den 30er Jahren, dem „elenden, falschen Jahrzehnt“ (Wystan Hugh Auden), sich selbst zu zerstören drohte und in einen zweiten Krieg von nun globalen Ausmaßen mündete. Auch dieser endete teilweise in Rebellionen und Revolutionen, die nun den Zusammenbruch der Kolonialreiche beschleunigten und zur Herausbildung des sowjetischen Herrschaftssystems führten, das über ein Drittel der Weltbevölkerung herrschte und diese Macht für vier Jahrzehnte mit dem Anspruch begründete, eine politisch-gesellschaftliche Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu bilden.

Die Revolution

Die Revolution war dem Krieg entsprungen – nicht nur die beiden russischen Revolutionen von 1917, sondern auch die folgenden Erhebungen und radikalen Umbrüche, die vor allem Mitteleuropa erschütterten. Die Revolution wurde in unterschiedlicher Gestalt zu einer „globalen Konstante der Jahrhundertgeschichte“ (Eric Hobsbawm). Dass bereits der Erste Weltkrieg mit Umstürzen endete, hatte viele Gründe: Dazu gehörten zunächst die heftigen Erschütterungen und Zerstörungen überkommener Lebensformen und Denkhaltungen des 19. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg hatte mehr als alle anderen Kriege zuvor die furchtbare Differenz zwischen Erwartung und Realität, Hoffnung und Enttäuschung, Opfer und Ergebnis erkennbar gemacht. Nicht nur die bürgerliche Sekurität zerbrach, auch die Friedensbewegung vom Vorabend des Krieges scheiterte, und mit ihr zerbrach der europäische Sozialismus als mächtige soziale Bewegung, deren Anhänger den aggressiven Nationalismus abgelehnt und sich für eine internationale Zusammenarbeit eingesetzt haten. Nationale Gefühle hatten sich teilweise als stärker erwiesen und zur Spaltung geführt. Je länger der Krieg dauerte, je größer und unvorstellbarer die Zahl der Opfer und das Leiden an der Front wie in der Heimat wurden, desto deutlicher ließ die Fähigkeit der Soldaten, den Schmerz zu ertragen, nach, desto besorgniserregender wurden die Zeichen der Auflösung der militärischen Disziplin. 1917 wurde zu einem kritischen Jahr. Während die militärische und rüstungswirtschaftliche Effektivität jedoch in den meisten Armeen und kriegführenden Nationen durch eine kalkulierte Mischung aus Härte und Nachgiebigkeit wiederhergestellt wurde, eskalierten die militärischen, sozialen und politischen Unruhen in Russland zu einem Aufstand in St. Petersburg, wo unter anderem Stimmen lauter wurden, die Frieden forderten. Papst Benedikt XV. legte am 1. August eine Friedensbotschaft vor, die einen Frieden ohne Annexionen und Reparationen forderte. In Deutschland brachten die Oppositionsparteien im Juli 1917 eine Friedensresolution im Reichstag ein und stärkten damit nicht nur das Gewicht des Parlaments, sondern nahmen eine Koalitionsbildung vorweg, die sich Ende 1918 unter dem Banner der Reform für eine neue parlamentarisch-demokratische Verfassungsordnung einsetzen sollte.

Russland nach dem Ende des Zarenreichs

Russland war kriegsmüde und reif für eine Revolution, eine bürgerlich-parlamentarische Reform sollte unter diesen Bedingungen wenige Chancen haben. Unter dem Druck und den Anstrengungen des Krieges mündeten die Unruhen in einen Zusammenbruch der jahrhundertealten Herrschaft der Zaren und führten zwar zunächst durch ein spontanes Bündnis zwischen Mitgliedern der politischen Elite, die Reformen wollte, und einer Volksbewegung, die gegen den Krieg war, zu einem erstaunlichen raschen politischen Erfolg der Februarrevolution. Doch dieser war nicht von langer Dauer, denn zwischen der relativ machtlosen „Provisorischen Regierung“ auf der einen Seite und den lokalen und regionalen „Räten“ („Sowjets“) der Bevölkerung andererseits entstand ein politisches Vakuum, in dem die verschiedenen Revolutionsbewegungen die verbreitete Kriegsmüdigkeit und den Friedenswunsch, aber auch den Landhunger der Bauern und den Traum von einer sozialen Revolution zu organisieren versuchten. Zwischen März und November existierte eine Doppelherrschaft, die die Auflösung Russlands nicht aufhalten konnte, sondern – im Gegenteil – nur beschleunigte. Lenin, der – von der deutschen Obersten Heeresleitung aus dem taktischen Motiv der Unterwanderung der gegnerischen Ordnung mit dem D-Zug ins Land gebracht – am 6. April in St. Petersburg eintraf, sah in der Doppelherrschaft den Ausdruck eines sozialen Gegensatzes zwischen der alten „bourgeoisen“ Macht und der aufkommenden Diktatur des Proletariats. Er forderte die Bolschewiki dazu auf, die revolutionäre Gelegenheit, die der Krieg bot, rücksichtslos zu ergreifen. Ein erster Staatsstreich, den Lenin zusammen mit dem nichtbolschewistischen Revolutionär Leo Trotzki im Juli unternahm, scheiterte jedoch. Lenin floh nach Finnland. Die radikale Position wurde durch taktische Fehler und die Schwäche der Provisorischen Regierung gerettet, die sich durch die Verlängerung des Krieges bald jeder Massenunterstützung beraubt hatte. Es war ein Leichtes für Lenin und die Bolschewiki, mit ihren höchst disziplinierten Anhängern die letzten Bastionen der Kerenski-Regierung zu stürmen. Am 6. November besetzten bolschewistische Einheiten die Regierungsgebäude in einem relativ unblutigen Putsch. Einen Tag später gab ein Kongress von Sowjetvertretern der Aktion der entschlossenen Minderheit seine Zustimmung; in einem Dekret wurde der Rat der Volkskommissare unter Lenin mit der Bildung einer „Provisorischen Arbeiter- und Bauernregierung“ bis zum Zusammentritt einer verfassunggebenden Versammlung betraut. Die wurde jedoch, nachdem die Wahlen zu dieser Versammlung am 8. Dezember nicht die erwünschte Mehrheit erbracht hatten, bei Beginn ihrer Arbeit gewaltsam aufgelöst und trat nie wieder zusammen. Lenin nutzte den dritten Kongress der Sowjets zur Durchsetzung seines Programms.

Die Oktoberrevolution von 1917 wurde zur gewaltigsten und wirkungsmächtigsten Revolutionsbewegung des Jahrhunderts, weil sie sich gegen die Gegner im Inneren und sowohl gegen die Folgen des deutschen Diktatfrieden von Brest-Litowsk (MΠrz 1918) wie der alliierten Intervention behauptet hatte und mit rücksichtsloser Gewalt gegen ihre inneren Gegner, die als „Klassenfeinde“ stigmatisiert wurden, vorging. Inmitten der allgemeinen politisch-administrativen Auflösung besaß Lenin mit der kommunistischen Partei und ihren 600.000 Mitgliedern eine zentralisierte Partei und verfügte damit über die einzige Macht, die Russland als Staat zusammenhalten und die Forderungen der Bauern auf Land erfüllen konnte und wollte. Beflügelt wurde dieses Beharrungsvermögen durch die Hoffnung auf die kommende Weltrevolution, die aus den Trümmern der alten Reiche, die nun in Deutschland wie in der Habsburgermonarchie zusammenbrachen, näher zu kommen schien und der Tatsache, dass die Revolution – gemessen an der marxistischen Lehre – im falschen Land ausgebrochen war, eine vorübergehende Rechtfertigung und Perspektive gab. Auch wenn die Weltrevolution, wie sich schon Mitte 1919 andeutete, nicht stattfinden sollte, blieb die Hoffnung, dass die revolutionäre Welle dennoch über Mitteleuropa schwappen und die dortigen politischen Verfassungen unterminieren würde.

Die sowjetischen Politiker Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin 1922 in Gorki nahe Moskau.

Erwartungen der Bevölkerungsmehrheit

Obwohl im Spätherbst 1918 die militärische Niederlage überall in Mittel- und Osteuropa zu politischen Umwälzungen führte und die Herrschaft der Hohenzollern, Habsburger und Osmanen den Krieg nicht überlebten, gelang es den Bolschewiki nicht, ihre Revolution mit der Unzufriedenheit der radikalisierten Massen Mitteleuropas zu verbinden. Keiner der Rätebewegungen außerhalb Russlands, weder in Ungarn noch in Bayern, gelang es, die Unterstützung der Landbevölkerung oder breiterer Teile der städtischen Arbeiterbevölkerung zu erhalten. Die Institutionen der Staaten und Gesellschaften aus dem 19. Jahrhundert waren zäh und geschlossen, ihre daseinssichernde Funktion groß genug und allgemein anerkannt, so dass das kräftezehrende Leiden und der Existenzverlust, die der Krieg Millionen von Europäern auf dem Schlachtfeld und in der Heimat gebracht hatte, zwar vielerorts zu Unruhen, politischer Gewalt und Drohung mit der Revolution führten, aber eben nicht zu einer Totalrevolution nach bolschewistischem Muster. Auch wenn der Umbruch in Deutschland und Österreich, genauer gesagt in den dortigen Städten, sozialrevolutionären Charakter annahm und sich in der Sprache des Klassenkampfes artikulierte, waren bei der Mehrheit der Gesellschaft und auch den protestierenden Massenbewegungen die Erwartung der Ordnungsstiftung und Daseinsvorsorge in einer öffentlichen Ordnung stärker. Es blieb die Überzeugung und Hoffnung, dass diese in veränderter Form wiederherstellbar und reformierbar war, dass sie Raum für die Sicherung der persönlichen und familiären Existenz böte. Die Erwartung der Bevölkerungsmehrheit überall in Europa ging auf die Vermeidung künftiger Konflikte, nur eine militante Minderheit setzte auf die revolutionäre Kraft der Gewalt. Darum gelang es den Vertretern der alten Ordnung, nachdem sie sich an die republikanisierten Verfassungsordnungen angepasst hatten, ihren bestimmenden Einfluss in den gesellschaftlichen Machtzentren von Bürokratie, Armee und Wirtschaft zu behaupten.

Weltrevolutionäre Hoffnungen

Auch in Deutschland gelang es den Sozialisten nicht, bei den ersten Wahlen nach der Revolution eine Mehrheit und damit die erhoffte Legitimation zu tiefergreifenden politisch-sozialen Veränderungen zu gewinnen. Die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung und damit ihre Selbstschwächung wurden noch durch die quasi-diktatorische Forderung der bolschewistischen Kaderpartei vertieft. Man verlangte von den sozialistischen Parteien und Arbeiterorganisationen Mittel- und Westeuropas, dass sie sich mit ihrem Wunsch nach dem Beitritt zur Dritten Kommunistischen Internationalen auch deren diktatorischem Organisationsmodell zu unterwerfen hätten. Das war ein verhängnisvoller Kurs, der die sozial-radikal-utopische Stimmung in der Nachkriegskrise mit einer tatsächlichen revolutionären Situation verwechselte. Denn eine bolschewistische Revolution und damit die Weltrevolution standen trotz aller Rhetorik für die Arbeiterbewegungen des Westens seit 1920 nicht mehr auf der Agenda. Vergeblich richteten sich die weltrevolutionären Hoffnungen auf den kurzen Russisch-Polnischen Krieg, den die territorialen Ambitionen des neugegründeten polnischen Nationalstaates 1920 ausgelöst hatte, die sich zwischen 1920 und 1927 auch in der chinesischen Revolution nicht erfüllen sollten. Zwar war das Bündnis von der Kuomintang und den Kommunisten dort zunächst auf dem Vormarsch, doch als der Kuomintanggeneral Chiang Kai-shek sich in einer politischen Kehrtwende von den Kommunisten trennte, wurde deutlich, dass auch im Osten die Botschaft der Oktoberrevolution keine Erfolgschancen haben würde und dass sich die Bolschewiken auf die Revolution in einem Lande beschränken mussten. Das hielt die Kommunistische Internationale nicht davon ab, die weltrevolutionäre Karte immer wieder zu spielen und kommunistische Aufstände zu organisieren, die von Deutschland und Bulgarien (1923) bis nach Indonesien (1926) und China (1927) mit einem Desaster für die Kommunisten endeten. Die kommunistischen Parteien in Mittel- und Westeuropa blieben Minderheiten, was aber ausreichte, um sie in der politischen Auseinandersetzung zum Schreckbild zu machen und gegenrevolutionären Kräften, die seit 1920 auf dem Vormarsch waren, eine zusätzliche Legitimation und Anhängerschaft zu verschaffen

Faschistische Bewegungen

Ein neuer Typus von sozialer Bewegung und Revolution entstand aus Krieg und Bürgerkrieg: die faschistischen Bewegungen und ihr Versuch der Machteroberung durch eine politische Doppelstrategie, in der sich Tradition und Revolution miteinander verbanden. Revolutionärer Sozialismus und Faschismus zogen aus der Erfahrung des totalen Krieges gegensätzliche, aber doch verwandte Konsequenzen und Strategien: Auch Benito Mussolini und seine faschistischen Squadren verstanden – wie später Hitler und die NSDAP – den Krieg als Motor der Revolutionierung der Gesellschaft, der zur Fortsetzung des Krieges als permanenter Bürgerkrieg beziehungsweise Ausnahmezustand zu berechtigen schien. Beide Ideologien und Konzepte wurden in ihrer Radikalität und Unbedingtheit zur Belastung für den rationalistischen Traum von einer kollektiven Friedenssicherung und dem Entwurf einer liberal-demokratischen Ordnung auf der Basis des gesellschaftlichen Kompromisses und der politischen Verständigung. Das war vor allem die politische Vision des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der den Frieden zur Begründung einer neuen internationalen Ordnung und zur Sicherung der Demokratie nutzen wollte – auch als demokratisches Gegenmodell zum revolutionären Internationalismus Lenins.

Doch die Staaten und Gesellschaften, die die ungeheuren wirtschaftlichen, sozialen und humanen Belastungen des Krieges als Sieger oder auch als Besiegte überstanden hatten, hatten gleich mehreren Herausforderungen zu begegnen, die einen politischen Neuanfang beziehungsweise eine Rekonstruktion der von den Revolutionsdrohungen herausgeforderten bürgerlichen Gesellschaftordnungen erschwerten. Der Übergang vom Krieg zum Frieden erwies sich dabei als besonders schwierig und barg aus mehreren Gründen den Keim des Scheiterns. Das hatte nicht nur mit der bolschewistischen Revolution und ihrem Programm der Weltrevolution zu tun, sondern auch mit der totalen Mobilisierung der Kriegsgesellschaft und der Totalität der Niederlage, vor allem Deutschlands. Der Krieg sollte sich in den Köpfen fortsetzen und die politische Vernunft an den Rand drängen.

„Selbstbestimmungsrecht der Völker“

Mehr noch: Es gab keine mächtigen neutralen Staaten mehr, die hätten vermitteln können. Dafür war eine Vielzahl territorialer Fragen zu lösen, vor allem als Folge des Zusammenbruchs der Donaumonarchie und des Osmanischen Reiches. Die Wiederherstellung der Ordnung in einer vom Krieg zerstörten Welt war das Hauptziel der Friedenskonferenz in den Pariser Vororten. Es entstand eine neue Karte von Mittel- und Osteuropa. Neue Staaten entstanden, die sich auf das von Wilson proklamierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ beriefen und nach Grenzen verlangten, die oft mit machtpolitischen Interessen anderer Mächte kollidierten und vielfach auch nicht mit ethnischen Grenzen identisch waren. Überdies führte das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in vielen Teilen der Welt, etwa in Indien, zu blutigen Aufständen gegen die Kolonialherrschaft. Die Großmächte hatten es, neben der zentralen Aufgabe der Friedens- und Ordnungsstiftung in Europa, eben auch mit einer Serie von Aufständen unter den von ihnen beherrschten Völkern überall auf der Welt zu tun. Es gab Unruhen nicht nur in Indien und Demonstrationen für die Unabhängigkeit in Ägypten, sondern auch bewaffnete Revolten gegen die französische Herrschaft in Syrien, gegen die Briten im Irak, die Italiener in Libyen und die Spanier in Marokko. Überall reagierten die europäischen Mächte mit extremer Gewalt. Im indischen Pandschab befahl General Reginald Dyer, das Feuer auf eine friedliche Menge in der Stadt Amritsar zu eröffnen, um, wie er später sagte, eine „psychologische Wirkung“ auf die einheimische Bevölkerung auszuüben.

Schließlich erwies sich das traditionelle nationale Machtstaatsdenken stärker als der internationale, demokratische Politikentwurf Wilsons. So gab es auch innerhalb des Lagers der Sieger heftige Auseinandersetzungen: Frankreich stellte sein Reparations- und Sicherheitsbedürfnis an die erste Stelle der politischen Ziele und wollte eine hegemoniale Stellung auf dem Kontinent erringen, auch um Deutschland für immer zu schwächen. Großbritannien wollte dagegen das klassische Gleichgewicht bewahren und lehnte darum eine zu weitgehende Schwächung Deutschlands ab. Die USA zogen sich in einen politischen Isolationismus zurück. Damit wurde das Konzept internationaler Konfliktregelung, das Wilson mit der Gründung des Völkerbundes etablieren wollte, von Anfang an geschwächt. Die USA traten dem Völkerbund nicht bei und gaben Frankreich auch nicht die erwünschte Sicherheitsgarantie.

Veränderungen in Westeuropa

Die auf Kompromiss angelegten Muster moderner Staaten und Verfassungsordnungen fanden sich auch im Kompromisscharakter der Versailler Friedensordnung, doch wurde dies nur von wenigen Zeitgenossen so wahrgenommen. Stattdessen verstanden die besiegten Deutschen, die an den Verhandlungen nicht teilnehmen durften, den Frieden als „Schmachfrieden“ oder als „karthagischen Frieden“ und fühlten sich in dieser Einschätzung von dem Urteil des britischen Ökonomen John Maynard Keynes bestätigt. Im historischen Rückblick erscheint der Friedensschluss in seinen konkreten Bestimmungen weniger katastrophal, wohl aber in seinen politisch-psychologischen und ideologischen Folgen. Das eigentliche Problem lag im politischsozialen Erbe des Krieges, der so schmerzhaft und kostspielig war, der eine so gewaltige emotionale und nationalistische Mobilisierung hervorgerufen hatte, dass jede Friedensregelung eine Enttäuschung sein musste. Die Bestrafung der Unterlegenen wurde von den Franzosen als unvollständig verstanden, die neuen Muster internationaler Politik, wie sie Wilson in seinem Idealismus konzipiert hatte, galten den Unterlegenen, die wie das Deutsche Reich am Anfang nicht im Völkerbund vertreten sein durften, als bloßes Instrument der Sieger. Dabei übersah man in Deutschland, dass der Kompromisscharakter den noch relativ jungen deutschen Nationalstaat vor der Zerstückelung bewahrt hatte. Es gab weder eine bloße Rückkehr zur Vorkriegsordnung noch eine völlige Umsetzung der neuen politischen Gestaltungsprinzipien. Machtstaatliche Interessen setzten sich vielerorts gegen Staats- und Grenzregelungen durch, wie sie nach den Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Völker geboten schienen. Das galt für das Verbot, dass sich Deutsch-Österreich dem Deutschen Reich anschloss, wie für die von Italien erzwungene Abtretung des deutschsprachigen Südtirols an Italien und des oberschlesischen Industriegebietes an Polen.

Veränderungen in Osteuropa

Sehr viel einschneidender waren die Veränderungen in Ost- und Südosteuropa. In den Verträgen mit Österreich in Saint-Germain, mit Ungarn in Trianon, mit Bulgarien in Neuilly und der Türkei in Sèvres sollte der gesamte südosteuropäische Raum neu geordnet werden. Die Gemengelage der Nationalitäten ließ sich mit dem neuen Prinzip der nationalen Emanzipation und Selbstbestimmung kaum zufriedenstellend lösen. Der Zusammenbruch der alten Großreiche löste nicht nur übernationale Verbindungen auf und führte zu einer strikten Abschottung, sondern die faktisch unlösbaren Minderheitenfragen, die bei den Grenzziehungen entstanden, sollten auch politischen Zündstoff für die Zukunft in sich bergen. Die ethnischen Gegensätze verbanden sich rasch mit anderen innenpolitischen Krisenherden der neuen Staaten, die keine stabilen demokratischen Systeme entwickeln konnten. Sie waren zudem sehr bald zwischen einer kommunistisch-revolutionären Bedrohung und autoritären-militärischen Diktaturtendenzen eingezwängt.

Überlagert wurden diese Konflikte durch heftige nationalpolitische Gegensätze und Strategien für die kommenden Jahre: Der gesamte Raum zerfiel in Status-quo-orientierte und in revisionistische Mächte, die sozio-ökonomischen Strukturschwächen wurden durch diese Zersplitterung noch gesteigert. Auch Teilallianzen, wie die Kleine Entente der Status-quo-Länder Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien, brachten es unter diesen Umständen zu keiner konstruktiven internationalen Politik, und sie lösten die Erwartungen der westlichen Siegermächte auf Stabilisierung und Abschirmung gegenüber der kommunistischen Revolutionsdrohung aus Moskau nicht ein.

Vertrag von Sèvres

Der problematische Charakter der Neuregelungsversuche von Paris zeigte sich sehr schnell und eindringlich im Vertrag von Sèvres mit der Türkei. England und Frankreich hatten bereits vorher Geheimverträge zur Aufteilung der Türkei abgeschlossen, die dann von den Bolschewiki veröffentlicht wurden, um das System der Macht- und Kabinettspolitik zu diskreditieren. Unter den neuen internationalen politischen Konstellationen wurden sie beim Friedensschluss 1920 noch einmal verändert. Alle arabischen Länder sollten abgetrennt, Kleinasien auf griechische, italienische und französische Gebiete aufgeteilt werden und Konstantinopel sowie die Meerengen unter internationale Kontrolle fallen. Westanatolien um Smyrna (Izmir) sollte fünf Jahre von Griechenland kontrolliert werden, danach sollte ähnlich wie im Saargebiet eine Volksabstimmung stattfinden. Armenien sollte die Unabhängigkeit und Kurdistan eine autonome Regierung erhalten. Der Vertrag von Sèvres, den ein türkischer Vertreter unter Zwang unterzeichnet hatte, wurde aus machtpolitischen Gründen nie umgesetzt und führte zum Sturz des Sultans. Vor allem aber entstand eine nationalistische Massenmobilisierung, deren Führer General Mustafa Kemal (Atatürk) zunächst noch im Namen des Sultans gehandelt hatte, dann aber zunehmend durch seine militärischen Erfolge eigene Autorität und Legitimität errang. Er berief ein Parlament ein, reformierte die türkische Armee und stoppte den griechischen Vormarsch in Anatolien, bis er ihn schließlich auch bis zum September 1922 zurückdrängte. Eine neue Form der autoritären Herrschaft zeichnete sich ab, die auch anderswo Schule machen sollte. „Souveränität wird durch Stärke, Macht und Gewalt errungen“, sagte er seinen Anhängern 1922. Eine andere Folge der nationalistischen Massenemotionalisierung war schließlich der massenhafte Völkermord an Armeniern während der türkischen Offensive (zw. ca. 300.000 und 1,5 Mio.)


Staaten in Europa nach dem Ersten Weltkrieg (1919).

Systematischer Bevölkerungsaustausch

Eine weitere Maßnahme im griechisch-türkischen Konflikt und bei dem Versuch der Konfliktregelung durch den Völkerbund sollte ein Stück unmenschlicher Politik antizipieren, die die Welt im 20. Jahrhundert noch häufiger erleben sollte. Mit dem Vertrag von Lausanne wurde 1923 nicht nur die freie Durchfahrt durch die Meerengen und die Rückgabe Ostthrakiens von Griechenland an die Türkei vereinbart, sondern auch ein systematischer Bevölkerungsaustausch: 400.000 Türken in Gebieten, die seit 1912 griechisch waren, wurden gegen 1,3 Millionen Griechen ausgetauscht beziehungsweise umgesiedelt. Mit dem Ziel der ethnischen Homogenisierung wurden zum ersten Mal in einem internationalen Vertrag Menschen gegen ihren Willen über Grenzen verschoben. Auch anderswo wurden Menschen ausgewiesen oder flohen aus Staaten, die ihnen wegen ihrer ethnischen, kulturellen und sozialen Zugehörigkeit keine Heimstatt mehr gewähren wollten. Adlige und bürgerliche Russen waren auf der Flucht vor der bolschewistischen Revolution. 1924 schätzte der Völkerbund die Zahl der russischen Flüchtlinge auf über eine Million, davon kamen allein eine halbe Million nach Deutschland und 400.000 nach Frankreich. Das 20. Jahrhundert sollte auch das Jahrhundert der Flüchtlinge werden.

Der Völkerbund

Nicht nur die nationalistische Zersplitterung und die von machtstaatlich-nationalistischen Prämissen bestimmte Aufspaltung in Sieger und Besiegte sollte die Friedensschlüsse schwer belasten und deren Prinzipien selbst widerlegen. Auch der zweite Pfeiler der neuen Ordnung, der Völkerbund, war von inneren Widersprüchen begleitet. Zwar war mit seiner Errichtung, was allein schon sein eigentlicher Name „Liga der Nationen“ andeutet, ein Wandel von der europazentrischen Vorkriegsordnung zu einem neuen Konzept von Weltpolitik und kollektiver Sicherheit verbunden, doch die gleichzeitige Fortexistenz des nationalstaatlichen Souveränitätsprinzips auch innerhalb des Völkerbundes musste den Anspruch des Weltgremiums erheblich mindern. Der Sprung in eine „Weltgesellschaft der Staaten“ blieb im Dickicht der nationalstaatlichen Realitäten hängen, weil weder die Grundidee einer Beteiligung aller Staaten noch die Gleichberechtigung aller Mitgliedsstaaten erreicht wurde. Auch verfügte er über nur wenige Möglichkeiten, mit Sanktionen seine Beschlüsse zur Konfliktregelung auch durchzusetzen. Der Völkerbund, die große Verheißung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, sollte Friedenssicherung durch eine offene Diplomatie verwirklichen und günstigstenfalls mit dem erhofften Siegeszug der demokratischen Verfassungsordnungen und einer freien marktorientierten Wirtschaft im Inneren konzeptionell und in der politischen Praxis zusammenpassen, was sich sehr bald als Illusion erweisen sollte. Auch wurde Außenpolitik nirgends wirklich demokratisch geführt oder veränderte sich zu einer Art Weltinnenpolitik. Dennoch blieb der Völkerbund trotz aller negativen Erfahrungen und ungeachtet seines späteren Scheiterns in den 1930er Jahren ein Experiment mit langfristiger Wirkungsgeschichte – der Ansatz eines globalen Staatenbundes, wo es bisher nur eine Welt imperialer Reiche gegeben hatte.

wbg Weltgeschichte Bd. VI

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